PROLOG

Polizeinotruf Berlin – 22. Juni 2013 – 19.47 Uhr.

»Ich stehe vor meinem Grab.« Die zittrige Stimme war durch das Telefon kaum zu verstehen.

»Wie bitte?«, fragte Emilia.

»Da ist ein Grab. Mit meinem Namen.«

Emilia hasste die Spätschicht am Samstag. Immer wieder gönnten sich Betrunkene einen Spaß, wählten die 110 und versuchten, sie zu veralbern.

»Ist das ein Witz?«

»Nein«, sagte der Mann verwirrt.

Emilia atmete tief durch. Sie wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, schließlich wurde das Gespräch aufgezeichnet.

»Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Bernhard Valburg.«

»Danke, Herr Valburg. Wo sind Sie?«

»Auf dem Friedhof?«

»Auf welchem Friedhof?«

»Dem Dorotheenstädtischen Friedhof«, sagte der Mann, als wäre er sich nicht sicher.

»Gut, Herr Valburg. Und Sie stehen vor Ihrem Grab?«, fragte Emilia nochmals nach. Vielleicht war der Anrufer ein Junkie mit Halluzinationen.

»Ich bin heute Abend auf den Friedhof gegangen. Meine verstorbene Frau hat morgen Geburtstag. Zu Lebzeiten habe ich ihr immer Rosen geschenkt. Gloria Dei. Sie mochte das Gelb mit dem Rosastich.«

Bernhard Valburg schluckte hörbar. »Erst ist mir nichts aufgefallen, aber als ich mit der Gießkanne Wasser holen wollte, habe ich das neu ausgehobene Grab gesehen. Einen halben Meter tief, viel zu wenig für einen Sarg. Mit Kreuz und Namen.«

»Mit Ihrem Namen?«

»Hier ruht Bernhard Valburg«, las er vor. »Geboren am 3. Dezember 1959. Gestorben am 23. Juni 2013.«

»Ihr Todestag ist morgen?«

Statt einer Antwort kam nur ein Schluchzen über die Leitung. Sie hatte es nicht mit einem Verrückten zu tun. Der Mann hatte Todesangst.

»Herr Valburg?«

Keine Antwort. Emilia kaute nervös auf der Unterlippe.

»Hören Sie mich?«

»Ja.« Die Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Ist jemand in Ihrer Nähe?«

»Ich bin allein. Deshalb gehe ich immer so spät auf den Friedhof. Wegen der Ruhe.«

Sie musste ihm helfen, aber um diese Zeit waren alle Streifen im Dauereinsatz. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, daher konnte eine Stunde vergehen, bis die Kollegen bei ihm waren. Viel zu lange. Sie musste Bernhard Valburg vom Friedhof wegbringen, sonst würde er durchdrehen.

»Ein Vorschlag. Machen Sie mit Ihrem Handy ein Foto vom Grab und dem Kreuz. Kommen Sie damit auf die Wache und berichten Sie den Vorfall einem Kollegen. Er wird die Sache überprüfen und sich mit der Friedhofsleitung in Verbindung setzen. Vielleicht hat ein Mitarbeiter etwas gesehen.«

Stille.

»Herr Valburg?«

Es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete. »Ja.«

»Haben Sie mich verstanden?«

»Entschuldigung«, stammelte er. »Geben Sie mir einen Moment. Dann mache ich ein Foto und komme vorbei.«

»Gut«, sagte Emilia erleichtert. Die Stimme des Mannes war jetzt kräftiger und nicht mehr so zittrig. Er schien sich wieder zu fangen.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Nein. Vielen Dank.«

Dann brach die Verbindung ab.

Der Anruf vom Friedhof war Emilias letztes Gespräch in ihrer Schicht gewesen. Danach übergab sie das Telefon an ihre Kollegin und ging nach Hause.

Die ängstliche Stimme des Mannes würde sie nie mehr vergessen. Bernhard Valburg würde die Polizeiwache nicht erreichen.