14
Kopfschmerzen

 

Jutta gab mir meinen Autoschlüssel und wir verließen die Dienststelle. Becker hatte die Befürchtung, dass ihm KPD irgendwo auflauern und zu einem weiteren Museumsbesuch nötigen könnte.

Ich fuhr alleine in den Norden von Schifferstadt. Da mir nach dem harten Arbeitstag der zweihundert Meter lange Fußweg durch die Unterführung zur ehemaligen Möbelfabrik zum Gehen zu weit war, nahm ich die etwa zwei Kilometer längere autotaugliche Strecke in Kauf, um auf die andere Gleisseite zu gelangen. Dafür konnte ich direkt neben dem Haus vor dem Eingang eines Firmengeländes parken. Es war ja nur für ein paar Minuten, außerdem war dort längst Feierabend. Schließlich musste ich meine Kräfte schonen, denn nachher ging es mit dem Küchentransport richtig zur Sache.

Vor dem Haus stand ein Zivilfahrzeug mit zwei Beamten. Aufgrund der Temperaturen war es nicht zumutbar, Polizisten den ganzen Abend und die Nacht im Freien patrouillieren zu lassen. Die beiden stiegen aus ihrem Wagen, um mich zu kontrollieren. Da es mittlerweile sehr dunkel war, konnten sie mich erst erkennen, als sie unmittelbar vor mir standen.

»Guten Abend, Herr Palzki. Wollen Sie uns ablösen?«

Ich kannte die zwei nur vom Sehen.

»Nein, keine Panik, Sie dürfen weitermachen. Ich will mir nur ein Bild der Lage vor Ort machen. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, als hätten wir etwas Entscheidendes vergessen.«

»Bei uns kommt keiner durch. Hinter dem Haus steht zusätzlich der Fritz, der hat erst vor ein paar Minuten Posten bezogen. Da es dort hinten ziemlich zugig und kalt ist, wird alle zwei Stunden gewechselt.«

»Sehr vernünftig. Der Fritz, ist das der Koppler?«

»Ja genau, der Kopplers Fritz. Gehen Sie besser nicht zu ihm, der ist stocksauer. Er wurde direkt von der Fastnachtsfeier seines Kaninchenzuchtvereins abkommandiert und in Dienst gesetzt. Ging nicht anders, wir haben im Moment einen hohen Krankheitsstand.«

Wohl vom Saufen in der Fastnachtszeit, dachte ich. Bei uns in der Kripo konnte sich dies niemand erlauben. Ich verabschiedete mich und ging den Fritz suchen.

Dieser stand mit dem Rücken zum Haus etwa drei Meter vor der Eingangstür. Der Standort war taktisch klug gewählt. Auf beiden Seiten des Zugangsweges wuchsen hohe Büsche als Windbrecher. Außerdem stand hier eine kleine Altpapiertonne, die prima als Sitzgelegenheit taugte.

»Servus, Fritz«, begrüßte ich den Kollegen, den ich seit meiner Grundschulzeit kannte. Ein bisschen Small Talk konnte nicht schaden.

»Kalt heute, was?«

»Hör bloß auf«, begrüßte er mich. »Wegen so einem Deppen muss ich in der Kälte stehen.«

»Was sind das für Töne? So kannst du nicht über Bürger reden, die wir beschützen müssen. Warum sollte Teufelsreute ein Depp sein?«

»Ich mein ja nicht diesen Teufelsreute, sondern den Michael, meinen direkten Vorgesetzten. Nur weil ihn seine Frau heute Abend verdonnert hat, bei ihrem Tupperware-Abend Gastgeber zu spielen, habe ich antanzen müssen. Und dabei bin ich alles andere als nüchtern. Das hat den überhaupt nicht interessiert, er wollte nur seine Frau zufriedenstellen. Wahrscheinlich zufrieden­stellen müssen. Hauptsache, es stehen die ganze Nacht drei Beamte zur Verfügung, so wie es der Palzki möchte, sagte Michael zu mir. Hast du das wirklich so befohlen?«

»Na ja, nicht so direkt«, meinte ich bagatellisierend. »Aber stell dir mal vor, der Mörder würde wieder zuschlagen und wir hätten keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen.«

»Das ist aber ein Haus und keine S-Bahn. Egal, in eineinhalb Stunden werde ich abgelöst. Apropos, könnte ich mich mal kurz in die Büsche schlagen? Das Weizenbier treibt wie die Wutz.«

Ich ließ ihn ziehen und setzte mich auf die Papiertonne. Sofort fing es an, mich zu frösteln. Seltsam war es hier, dunkel, unangenehm, ja richtig unheimlich. Der bewölkte Himmel ließ kein Mondlicht durch, auch das Haus schien wie ausgestorben. Die Büsche raschelten im Wind, kein Vogel war zu hören, von menschlichen Geräuschen ganz zu schweigen. Wo der Fritz nur so lange blieb? Gefühlsmäßig war er seit zehn Minuten verschwunden, meine Armbanduhr zeigte mir dagegen realistische 30 Sekunden. Wie sollte das jemand zwei Stunden aushalten? Ein Horrorfilm ohne Handlung, ja, genau so wirkte die Szene auf mich. Sie hatte alle Zutaten eines Horrorfilms, nur halt ohne Personen. Ich hörte das Knacken eines Zweiges, und gleich darauf zum zweiten Mal. Doch der Weg war leer, keine Spur von Fritz. Das Gefühl, dass irgendjemand in der Nähe sein musste, wurde in mir immer mächtiger. Mist, wie konnte ich mich nur so reinsteigern? Die Kollegen würden lachen, wenn Sie mich so sehen würden. Trotz Kälte war ich binnen einer Minute klatschnass geschwitzt. Jetzt kam noch eine Panikattacke hinzu. Das hatte ich bisher nie. Sollte ich weglaufen? Ich drehte mich hektisch nach allen Seiten um. Niemand da. Nur die Natur, die mir mit ihren Kapriolen einen Streich spielte. Noch eine Minute würde ich warten und dann den Fritz suchen. Vielleicht war ihm etwas passiert? Da war es wieder, dieses Knacken. Deutlicher als vorhin, näher, direkter. Und es kam von hinten. Ich drehte mich um, ich wollte mich vielmehr umdrehen. Nur mit dem Kopf hatte ich es beinahe geschafft. Dann sah ich, wie der breite Prügel auf mich niedersauste und mir wurde schwarz vor Augen.

 

*

 

»Oh, oh, das sieht nicht gut aus.«

Dies waren die ersten Worte, die ich vernahm. Sie schienen aus endloser Entfernung zu mir zu dringen. Irgendjemand hob meine Hand. Mühsam gelang es mir, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Eine zähflüssige Masse hatte mir die Wimpern verklebt. Meine Pupillen hatten trotz allem genügend Freiraum, um die Person, die sich gerade über mich beugte, zu erkennen.

»Herr Palzki, da sind Sie ja wieder. Mannomann, müssen Sie einen Elefantenschädel haben. Andere wären mit dem Loch stundenlang außer Gefecht gesetzt. Soll ich Ihnen gleich einen Katheter setzen? Oder wollen wir warten, bis ein Arzt kommt? Also einen Arzt, der Ihrer Krankenkasse genehm ist. Ich kann das selbstverständlich auch, nur müsste ich privat abrechnen.«

Das eklige Frankensteinlachen, das nun folgte, hätte mich fast wieder in eine erlösende Ohnmacht zurückgebracht.

»Ich habe Ihre Wunde provisorisch mit Mull abgedeckt«, fuhr Doktor Metzger fort. »Ist zwar preisgünstige Secondhand-Ware, aber besser als nichts. Außerdem tropft es damit nicht so eklig auf den Weg.«

»Was ist passiert? Wo bin ich?«

Das waren meine ersten Worte, die ich nur mühsam herausquetschen konnte.

»Oh, oh, der Herr Palzki hat einen Gedächtnisverlust. Das ist jetzt etwas blöd, für ambulante Hirnoperationen bin ich im Moment nicht gerüstet. Wenn ich das vorher gewusst hätte –«

Langsam kam meine Orientierung zurück. Ich lag auf dem Pflaster neben der Altpapiertonne. Es war dunkel, also dürfte es sich um dieselbe Nacht handeln. Metzger saß neben mir auf dem Boden und wühlte in einer Tasche. Ich musste reagieren, bevor er mir eine mit was auch immer gefüllte Spritze verpasste. Im Hintergrund sah ich Fritz auf uns zukommen.

»Herr Doktor Metzger, wir können im Moment keinen anderen Arzt erreichen. Die scheinen alle irgendwo Fastnacht zu feiern.«

In diesem Moment erkannte er, dass ich wieder bei Bewusstsein war.

»Reiner ist ja schon wieder wach. Dann kann’s ja nicht so schlimm sein. Kommen Sie notfalls alleine zurecht, Herr Doktor Metzger?«

Metzger grunzte wie ein Ferkel, zog eine seiner überreifen Bananen aus dem Kittel und antwortete: »Alles unter einer Stunde Bewusstlosigkeit gilt als leicht verletzt. Das könnte genauso gut einer meiner Praktikanten übernehmen. Aber abends darf ich die nicht mehr beschäftigen. Die Kontrollen sind messerscharf geworden. Letztens war die Berufsgenossenschaft bei mir. Hat meine ganze Mobilklinik auf den Kopf gestellt. Von wegen Unfallverhütungsvorschriften und so. Das Einzige, was in ihr Resort fiel und sie zu bemängeln hatten, war, dass ich nur eine Toilette habe. Ja, um Himmels willen, wie soll ich in meiner Klinik zwei Toiletten einbauen? Um die Typen von der Genossenschaft zufriedenzustellen, habe ich zwei Zettel ausgedruckt, einen mit ›Herren‹ und einen mit ›Damen‹. Je nachdem, wie ich’s gerade brauche, hänge ich den einen oder anderen Zettel an die Tür des Chemieklos. Ich schütte das Zeug anschließend sowieso in den Wald. Die Wildschweine scheißen schließlich auch rein.«

»Herr Doktor Metzger?«, fragte ich zaghaft. »Dürfte ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Der Notarzt drehte sich tatsächlich zu mir um. Fritz nutzte die Gelegenheit zur Flucht.

»Na, können Sie sich wieder erinnern? Oder soll ich Ihnen einen kleinen Chemiecocktail spritzen? Ist allerdings noch in der Experimentierphase.«

Ich musste jetzt stark sein. Ich musste Metzger in den nächsten Minuten überleben. Ich bin gesund. Ich bin fit. Ich kann aufstehen. Das alles redete ich mir ein.

»Helfen Sie mir mal, ich möchte aufstehen.«

»Wenn Sie meinen …«

Er stellte sich vor mir hin, nahm meine Hand und zog daran, als müsste er einen Gullideckel aus der Straße herauswuchten.

Ich kam auf die Beine, mir wurde sofort schwindlig und ich kotzte in weitem Strahl über die Altpapiertonne. Wer das wohl sauber machen würde?

»Sehen Sie?« Metzger lachte. »Sie haben eine massive Gehirnerschütterung. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Soll ich nicht doch –«

»Nein, nein«, wehrte ich so laut ab, wie ich konnte. »Ich brauche nur ein paar Minuten Zeit. Schlecht ist mir nur, weil ich was Falsches gegessen habe. Wie kommen Sie überhaupt hierher?«

Ich fand, das war eine gute Frage. Damit konnte ich wertvolle Zeit gewinnen. Zeit, um mich zu erholen.

»Sie meinen, weil wir uns zufällig in der direkten Nachbarschaft zum Bahnhof befinden? Nein, es ist nicht so, wie Sie denken. Heute Abend habe ich keinen Kunden. Seit Freddie, Kurt und die anderen abgehauen sind, ist der Anstaltsdirektor skeptisch geworden. Das kostet mich in den nächsten Tagen wieder stundenlange Aufklärungsarbeit. Dabei weiß er so gut wie ich, dass jeder kleine Erfolg mühsam erarbeitet werden muss.«

Sein Lachen dröhnte durch die Nacht und in meinem Schädel.

»Ich habe am Samstag, direkt nach diesem Teufelsmord in der Bahnhofskneipe mit so einem grusligen Typ Bekanntschaft geschlossen. So ein richtig uriger, alles total mit Haaren zugewuchert. Mit dem bin ich heute Abend verabredet. Nur mit seinem Dialekt, da tue ich mir noch schwer. Falls ich es noch nicht erwähnt habe, die haben drüben in der Kneipe ein gutes Exportbier. Sollten Sie mal probieren, das läuft runter wie Öl.«

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Da war so ein Kerl vor dem Haus, der hat gewunken, als er mich mit meiner Klinik vorbeifahren sah. Er sagte, dass er Zivilbeamter sei und ein Kollege verletzt hinter dem Haus liegt. Dass das ausgerechnet Sie waren, konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht wissen. Übrigens, an wen schicke ich die Rechnung?«

Ich hatte genügend Zeit herausgeschunden, da nun Gerhard und Jutta angerannt kamen.

Sie beugten sich zu mir runter.

»Alles in Ordnung, Reiner?«

Meine Kollegen klangen ernsthaft besorgt.

Ich nickte. »Mein Schädel brummt etwas, aber das wird auch wieder aufhören. Gerhard, könnten wir den Umzug auf morgen Abend verschieben?«

»Sonst hast du keine Sorgen, Kollege!« Gerhard schüttelte den Kopf. »Ich ruf gleich bei Stefanie an. Ich habe ihr versprochen, so schnell wie möglich Bescheid zu geben.«

Er stand auf und zog sein Handy aus der Tasche. Während er ein paar Schritte nach hinten ging, sprach Jutta zu mir.

»Kannst du mir sagen, was passiert ist? Dieser Fritz Koppler hat dich gefunden. Er sagte, du hättest ihn kurz vertreten, weil er mal austreten musste. Höchstens eine Minute, meinte er. Seine Kollegen vor dem Haus und er schwören, dass sie niemand anderes gesehen haben.«

»Dem muss ich mich anschließen. Ich habe nur einen Prügel auf mich niedersausen sehen. Es war eine Sache von Millisekunden und außerdem war ich unvorbereitet.«

Das Sprechen ging zwar mittlerweile besser, war aber trotzdem noch sehr anstrengend.

»Ich kann dir nicht einmal sagen, was für ein Prügel das gewesen ist. Er schien mir aber dicker als ein Besenstiel gewesen zu sein.«

»Die Tatwaffe wurde gefunden, es handelt sich um ein langes Kantholz. Das hätte auch anders ausgehen können.«

»Unkraut vergeht nicht, Jutta. Bei meinem Dickkopf müsste ich eigentlich beim Motorradfahren von der Helmpflicht befreit werden.«

»Zum Glück fährst du kein Motorrad«, wandte Jutta ein. »So, wie du manchmal Auto fährst …«

»Fängst du auch damit an? Reicht es nicht, wenn dieser Becker immer an meinem Fahrstil herummäkelt?«

»Ich will dich ja nur ein bisschen aufheitern, Reiner. Tut’s noch arg weh?«

»Nur wenn ich lache«, erwiderte ich.

»Dann geht’s ja. Zum Lachen haben wir nämlich keinen Grund. Übrigens, in dem Gebüsch neben der Tonne haben wir ein paar saubere Schuhabdrücke gefunden. Die Spurensicherung kommt gleich dazu, sie aufzunehmen. Normalerweise wäre das längst erledigt, dummerweise haben die alle irgendwo Fastnacht gefeiert und mussten erst zusammengesucht werden.«

»Jutta?«

»Ja, Reiner?«

»Erinnere mich morgen bitte an diese Schuhabdrücke, falls dieser Student Dietmar Becker auf die Idee kommen sollte, darüber einen Roman zu schreiben.«

»Einen Roman über Schuhabdrücke?«

»Ach was, ich meine doch über diese S-Bahn-Morde.«

»Dann sag’s doch gleich. Was willst du unserem Polizeireporter wegen der Abdrücke sagen? Wir wissen nicht einmal, ob sie vom Täter stammen.«

»Das meine ich nicht, Jutta. Es ist wegen der Authentizität. Wenn Becker schon über die Polizeiarbeit schreibt, soll sie wenigstens korrekt beschrieben sein. Die meisten Krimiautoren sind da nämlich ziemlich unbeleckt und schreiben etwas von Gipsabdrücken, die die Polizei anfertigt.«

»Gipsabdrücke?« Jutta schaute verwundert. »Das wird doch seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht.«

»Genau deswegen, Kollegin. Wer als Autor heutzutage noch von Gipsabdrücken schreibt, bringt nur seine Unkenntnis zum Ausdruck.«

»Ich hab’s verstanden. Ich erinnere dich morgen daran, dass du Becker erklärst, mit welchen speziellen fototechnischen Schnickschnacks heutzutage Schuh- und Fußabdrücke vermessen und fotografiert werden. Sonst hast du keine Probleme, Reiner? Geht’s dir wirklich gut?«

»Ich habe mich selten wohler gefühlt. Nur der Kopf halt. Wie sieht’s da oben überhaupt aus?«

Da Metzger nicht in Sichtweite war, konnte ich diese Frage ohne eine Not-OP riskieren.

»Ein bisschen blutverkrustet, würde ich sagen. Ich wusste gar nicht, dass es graues Verbandsmaterial gibt. Stammt das Zeug von Metzger?«

Zu meinem Selbstschutz war es besser, diese Feststellung zunächst zu ignorieren. Ich versuchte, mich in den menschenwürdigeren Zweibeinstand zu bringen, was mir mit einer zweiten, diesmal kleineren Übelkeitswelle, die aus meinem Mund schoss, auch gelang. Die ungetroffene aber betroffene Jutta besah sich zweifelnd meine letztendlich erfolgreichen Bemühungen.

»Hat in der Zwischenzeit jemand nach den beiden Teufelsreutes geschaut?«

»Gerhard ist gleich rein, nachdem er Stefanie angerufen hatte. Er ist noch nicht zurück. So langsam mache ich mir Gedanken.«

»Die mache ich mir auch. Lass uns ihm nachgehen.«

»Ich glaube nicht, dass du in der Verfassung bist, Treppen steigen zu können.«

Meine Widerrede war nur von kurzer Dauer, da sie obsolet wurde. Unser Kollege kam aus dem Haus.

»Du stehst ja schon wieder. Ich sag’s immer wieder: Unkraut vergeht nicht.«

»Danke für die Blumen, mein Exfreund. Was machen die beiden Teufelsreutes?«

»Denen geht’s gut. Die haben nichts bemerkt. Es hat niemand außer mir geklingelt oder sich telefonisch gemeldet.«

»Wie geht’s dem Vater? Hat er den Schlag gut weggesteckt?«

»Martin, der Sohn war an der Tür. Sein Vater hat vom Arzt ein starkes Schlafmittel bekommen und würde schnarchen wie ein Bär. Er selbst wolle noch ein bisschen Fernsehen schauen, dann würde er ebenfalls schlafen gehen. Also kein Grund zur Beunruhigung.«

»Wie wird’s mit der Bewachung weitergehen?«, fragte ich interessiert.

»Gleicher Plan, so wie vorhin. Mehr Beamte kriegen wir für die Nacht nicht frei. Wir haben zurzeit einfach zu viele Urlaubs- und Krankheitsfälle. Immerhin ist kaum davon auszugehen, dass der Täter heute Nacht nochmals zuschlagen wird. Er ist ja jetzt gewarnt.«

»Hoffentlich geht das gut.«

Mein Kopf fing wieder verstärkt an zu brummen. Ich bräuchte dringend eine Kopfschmerztablette. Aber keine von Doktor Metzger, und meine Kollegen wollte ich auch nicht danach fragen.

»Ist von euch jemand so nett, mich heimzufahren? Vermutlich lasst ihr mich im Moment kein Auto fahren, oder?«

»Worauf du Gift nehmen kannst«, antwortete Gerhard. »Ich habe deiner Frau versprochen, dass ich dich höchstpersönlich daheim abliefern werde. Sie meinte, dass sie dir etwas Gutes kochen würde.«

Das verschmitzte Lächeln meines Kollegen konnte mich in meiner Verfassung nicht wirklich auf die Palme bringen.

Ich ließ es zu, dass Gerhard mich regelrecht zu seinem Wagen führte und sich fürsorglich darum kümmerte, dass ich bequem saß und richtig angeschnallt war. Frau Ackermann stand nicht drohend vor ihrem Haus, keine Kondome hingen an den Büschen, es war einfach friedlich, als wir zuhause ankamen. Stefanie empfing mich mit sorgenfaltigem Gesicht, während Gerhard sich verabschiedete.

»Lass deinen Mann morgen ruhig daheim, wir packen das auch mal einen Tag ohne ihn.«

»Spinnst du«, antwortete ich barsch. »Selbstverständlich sehen wir uns morgen früh auf der Arbeit. Morgen werde ich den Teufel austreiben. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber heute ist er einen Schritt zu weit gegangen.«

Stefanie nickte Gerhard heimlich und viel wissend zu, was ich aber trotzdem mitbekam. Jetzt verschwor sich meine Gattin sogar mit meinem Kollegen. Egal, ich war erstmal zuhause.

Stefanie geleitete mich zunächst ins Bad. Gottseidank sah mich dabei keines unserer Kinder.

»Wer hat dir dieses unhygienische Dreckzeug auf deinen Kopf gebunden?«, fragte sie mich, während sie die Binden abnahm.

»Es war nichts anderes da, es musste schnell gehen wegen des Blutverlustes.«

Dass es Metzger war, verschwieg ich. Ich musste Rücksicht auf die fortgeschrittene Schwangerschaft meiner Frau nehmen.

»Da ist ein schönes Stück Haut aufgeplatzt. Warum hat der Arzt das nicht genäht?«

»Ach, weißt du, auf dem Kopf wächst das von alleine zusammen. Wenn man das nähen würde, gäbe es nur eine hässliche Narbe und an der Stelle wachsen dann keine Haare mehr.«

Mein Einfallsreichtum schien unter dem Schlag nicht gelitten zu haben.

»So, jetzt putzt du dir mal anständig die Zähne, du riechst nämlich etwas streng. Hast du heimlich Süßigkeiten gegessen?«

Selbstverständlich widersprach ich mit energischer Stimme, befolgte aber ihre Anweisung.

Stefanie meinte es wirklich gut mit mir. Anders konnte ich den Berg Rosenkohl auf meinem Teller nicht deuten. Daneben stand eine Flasche Pils. Rosenkohl gehörte zu den schrecklichsten Nahrungsmitteln, die es gab. Alleine schon der Geruch oder der Gedanke daran ließ heftige Übelkeit in mir aufsteigen. Wahrscheinlich handelte es sich um nicht verarbeitete Kindheitserlebnisse, die zum Vorschein kamen.

»Jetzt iss mal in Ruhe, Reiner«, forderte mich Stefanie auf, während ich mir das Pils einschenkte.

»Rosenkohl ist gut gegen Gehirnerschütterung. Das habe ich erst vor ein paar Tagen in der Zeitschrift ›Gute Ernährung für die ganze Familie‹ gelesen. Außerdem ist er mit Vitaminen und Spurenelementen geradezu vollgesogen.«

»Mir ist schlecht«, murmelte ich krächzend wie jemand, der kurz vor dem Exitus stand.

»Reiner? Alles in Ordnung?« Sie klang besorgt.

»Ich kann jetzt nichts essen, Stefanie.« Meine Stimme klang hohl und ausgetrocknet. Ich hoffte, die Stimmlage lange genug simulieren zu können. Ich griff nach dem Glas Pils.

Stefanie war schneller und entriss es mir.

»Bist du noch ganz bei Trost? Wenn dir schlecht ist, kannst du doch kein Bier trinken. Leg dich ins Bett, ich bringe dir einen Kamillentee.«

Kamillentee? Mein Sieg über den Rosenkohl war höchstens ein Remis. Dem Rosenkohltod entronnen musste ich unter Stefanies Aufsicht zwei Magnumtassen Kamillentee zu mir nehmen. Es war leider unmöglich, kurz in meinem Arbeitszimmer zu verschwinden, um ein oder zwei Powerriegel zu mir zu nehmen. Ohne Sodbrennen, hungrig und todmüde schlief ich wenig später ein.