Fünftes Kapitel
Sie hatte seine Schritte auf der Treppe erkannt und öffnete ihm im geblümten Morgenrock und in Pantoffeln die Tür. Die Wohnung roch nach Bohnerwachs.
»Entschuldige, daß ich nicht angezogen bin. Man hat angerufen, daß du nicht zum Mittagessen kommen würdest. Das wollte ich ausnutzen, um die Fußböden zu bohnern. Was hast du? Hast du Sorgen?«
»Ich habe einen neuen Fall. Den Fall Maigret.«
Er lächelte ein wenig gezwungen, denn es war peinlich, gegen Ende einer Laufbahn seine Chefs zweifeln zu sehen, zumal diesen stolzen jungen Gockel von Polizeipräfekt, der vor Ehrgeiz glühte.
Wenn sich auch seine Empörung vom Morgen gelegt hatte, es blieb dennoch ein bitterer Nachgeschmack, den der Kommissar vor seinen Mitarbeitern zu verbergen versuchte, vor allem Janvier und Lucas gegenüber.
»Es könnte sein, daß wir früher nach Meung-sur-Loire kommen, als wir es glauben…«
»Wovon sprichst du?«
»Von der Geschichte in der letzten Nacht. Jenes Mädchen, das angerufen hat und das ich in der Rue de Seine getroffen habe.«
»Du willst doch nicht sagen, daß man sie tot aufgefunden hat?«
»Sie ist um acht Uhr morgens nach Hause gekommen. Und für mich ist das fast schlimmer. Sie wohnt am Boulevard de Courcelles, und ihr Onkel ist ein hohes Tier…«
»Merkwürdig, ich habe den ganzen Tag über dieses Mädchen und ihre Geschichte nachgedacht. Irgend etwas war mir da nicht geheuer.«
»Sie bezichtigt mich, ich hätte sie in einem Lokal angesprochen, wo sie eingekehrt war, um eine Freundin anzurufen. Ich hätte versucht, sie zu verführen, indem ich ihr versprach, sie würde Zeuge einer Verhaftung sein. Ihre Unschuld ausnutzend, hätte ich sie betrunken gemacht, von Bar zu Bar geschleppt und schließlich, als sie ihrer Sinne nicht mehr mächtig war, in ein Hotelzimmer gebracht, wo ich sie gegen ihren Willen ausgezogen hätte.«
»Wer hat das geglaubt?«
»Alle diese Herren, scheint es, angefangen mit dem Innenminister bis zum Polizeipräfekten und…«
»Hast du gekündigt?«
»Noch nicht.«
»Du wirst dich doch hoffentlich verteidigen?«
»Ich versuche es seit elf Uhr vormittags. Und vielleicht lade ich dich deshalb zum Abendessen in der Stadt ein.«
»Das trifft sich gut. Da ich nicht wußte, wann du zurückkommst, habe ich nur ein kaltes Abendbrot. Was soll ich anziehen?«
»Das Beste, was du hast…«
Wenige Minuten später versuchte er unter der Dusche zu verstehen, was ihm seine Frau sagte. Sie mußten beide sehr laut sprechen.
»Hast du das Mädchen verhört?«
»Man verbietet mir, mich ihr oder ihrer Wohnung zu nähern.«
»Warum hat sie das getan? Hast du eine Ahnung?«
»Noch nicht. Vielleicht wird es mir heute abend aufgehen…«
Sie zogen sich an, wobei sie sich gegenseitig Mut zusprachen. Madame Maigret war nicht erschrocken, und sie hatte als erste das Wort Kündigung ausgesprochen. Keinen Augenblick hatte sie an ihrem Mann gezweifelt und hatte nichts von ihrer guten Stimmung verloren.
»Wohin gehen wir?«
»In ein Restaurant in der Avenue de la Grande Armee, das im ›Michelin‹ zwei Sterne hat.«
Es waren die längsten Tage des Jahres. Die Sonne war noch nicht untergegangen. Überall standen die Fenster offen, um die kühlere Abendluft hereinzulassen. Männer in Hemdsärmeln rauchten ihre Pfeife oder ihre Zigarette und betrachteten die Vorübergehenden. Frauen im Nachthemd riefen sich von einem Fenster zum anderen etwas zu, und aus vielen Wohnungen hallte quäkende Radiomusik. Sie stiegen beide zur Metro hinunter. Kollegen hänselten Maigret deswegen. Er war einer der wenigen am Quai, die keinen Wagen besaßen. Damals, als er noch jung genug gewesen war, um fahren zu lernen, hatte er nicht die Mittel. Jetzt war es zu spät. Freilich hätte Madame Maigret ihn fahren können. Viele Männer lassen sich von ihrer Frau fahren.
»Könntest du dir vorstellen, wie ich im Hundert-Kilometer-Tempo ein Auto steuere? Was für Angst hätte ich, jemandem etwas anzutun, zumal die Verkehrspolizisten einen unaufhörlich zwingen, schneller zu fahren…«
Janvier hatte einen Citroen. Lucas sprach davon, sich einen zu kaufen. Maigret würde sich, wenn er in Meung-sur-Loire lebte, auch einen anschaffen müssen, es sei denn, er wollte mit seiner Frau das Leben eines Provinzehepaares von 1900 führen. Auf dem Lande würde er sich vielleicht daran gewöhnen, ohne befürchten zu müssen, die roten Ampeln für Luftballons zu halten. Und nach Paris konnte er ja wie früher mit dem Zug fahren.
»Woran denkst du?«
»An nichts.«
An nichts und an alles – an das Leben, an seine Laufbahn, an das Gespräch am Morgen in dem Büro des Polizeipräfekten, an Manuel in seinem Rollstuhl und an das seltsame Mädchen Aline.
Das Restaurant mit den diskret von Tüllgardinen verhüllten Scheiben befand sich fast am unteren Ende der Avenue.
Es war behaglich, elegant und alles andere als überfüllt. Ein Teil der Stammgäste war schon auf dem Lande oder am Meer. Rechts vom Eingang führte eine Treppe in den Keller, die ein großer roter Vorhang verdeckte.
»Wünschen Sie einen Tisch an einem der Fenster?«
»Hier.« Maigret deutete auf einen gegenüber der Treppe, ließ seine Frau auf der Bank Platz nehmen und studierte die Karte.
»Möchtest du Ente essen?«
»Was gibt es sonst noch?«
»Eine ganze Seite…«
Sie wählten schließlich eine frische Kaltschale und die Ente, das Tagesgericht. Der Oberkellner war zu den Kellnern gegangen und flüsterte ihnen gewiß zu:
»Das ist Kommissar Maigret.«
Alle blickten ihn neugierig an. Er war daran gewöhnt, aber obwohl der Polizeipräfekt anderer Meinung war, behagte es ihm nicht.
»Hast du einen Grund, warum du gerade dieses Restaurant gewählt hast. Wir sind hier noch nie gewesen…«
»Ich ja. Vor langer Zeit im Laufe einer Untersuchung. Wenn ich mich nicht täusche, war ich hinter einem internationalen Schwindler her, der hier immer zu Mittag aß.«
»Es wirkt sehr gediegen.«
»Internationale Schwindler essen nur in gediegenen Restaurants und steigen in den besten Hotels ab.«
Es war neun Uhr. Eine junge Frau kam herein und ging die Treppe hinunter. Sie wirkte nicht wie ein Gast, sondern eher wie eine Garderoben- oder Toilettenfrau.
Zehn Minuten später erschien ein Mann mit müdem Gesicht. Auch er gehörte nicht zu der besseren Hälfte, sondern stand auf der Schattenseite der Barriere, der Seite jener Menschen, die die anderen bedienen.
Der Klub unten öffnete gewiß erst später, und man bereitete jetzt alles vor, wie am Morgen in den kleinen Bars und Cafés. Durch den roten Vorhang hörte man gedämpft ein paar Takte Musik, dann andere in verschiedenen Tonarten: Man probierte Schallplatten aus, um die Lautstärke zu regeln.
»Findest du sie besser als meine?«
»Nein. Nichts im Restaurant ist besser als bei uns zu Hause…«
Sie meinte die Ente. Sie redeten von allem möglichen. Manchmal, wenn sie sich nicht beobachtet fühlte, blickte Madame Maigret ihren Mann ernst an und versuchte herauszubekommen, wie tief er getroffen war. Er hatte einen alten Saint-Emilion bestellt, an dem sie kaum nippte. Fragte sie sich auch, ob er zuviel trank und ob das nicht zu einem guten Teil der Grund für seine Erschöpfung war? Denn er wirkte erschöpft. Sie hatte zwischen zwei Türen flüsternd mit Pardon darüber gesprochen. Ihr Mann hatte es gemerkt. Was hatte der Arzt ihr geantwortet?
»Käse?«
»Ich nehme einen Brie, der gut durch ist.«
»Ich werde ein kleines Stück davon essen.«
»Sagen Sie, Oberkellner… Der Klub, der sich im Keller befindet…?«
»Ja, Monsieur… Der ›Klub der Hundert Schlüssel‹.«
»Warum hundert?«
»Er gehört nicht zu meinem Ressort. Ich kümmere mich um das Restaurant, nicht um den Klub.«
»Kann jeder dort hinein?«
»Nein. Es ist ein Privatklub. Man muß Mitglied sein.«
»Wie wird man Mitglied?«
»Möchten Sie wirklich eintreten?«
Er schien überrascht und blickte abwechselnd den Kommissar und Madame Maigret an, die diese Prüfung erröten ließ.
»Erstaunt Sie das?«
»Nein… Ja… Es ist vor allem ein Klub junger Leute, die dort tanzen. Sie werden bald kommen. Soll ich den Leiter rufen?«
Er war schon auf dem Wege zum Keller, wo er ziemlich lange blieb und von wo man ihn in Begleitung eines jungen Mannes im Smoking, den Maigret zu kennen glaubte, wieder auftauchen sah.
»Dies ist Monsieur Landry, der Ihnen Auskunft geben wird…«
Dieser reichte ihm die Hand.
»Guten Abend, Herr Kommissar.«
Er verneigte sich vor Madame Maigret.
»Sehr geehrt, Madame. Wenige Leute in Paris haben das Glück, Sie zu kennen, denn Ihr Mann zeigt sich nicht gern in der Öffentlichkeit. Gestatten Sie?«
Er ergriff einen Stuhl an der Lehne, setzte sich darauf und zog aus seiner Tasche ein silbernes Zigarettenetui.
»Der Rauch stört Sie doch wohl nicht?«
Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt. Sein Smoking war sehr gut geschnitten. Er trug ihn mit der Ungezwungenheit jener Männer, die ihn jeden Abend anziehen.
Ein schöner Junge. Man konnte ihm höchstens vorwerfen, daß er zu sicher war und etwas Spöttisches, wenn nicht Aggressives im Blick hatte. Sein Lächeln war charmant, ja sogar von bezwingender Liebenswürdigkeit, aber man spürte, daß er bei der geringsten Drohung seine Krallen zeigen würde.
»Man sagt mir, Sie interessierten sich für unseren Klub.«
»Ich bin versucht, ihm beizutreten. Es sei denn, daß es eine Altersgrenze gibt.«
»Anfangs war davon die Rede. Man hat von dreißig Jahren gesprochen, wodurch aber ausgezeichnete Leute ausgeschlossen gewesen wären. Haben Sie von den ›Hundert Schlüssel‹ gehört, Herr Kommissar?«
»Ziemlich vage, und ich bin ein wenig überrascht, Sie hier wiederzusehen. Sie haben den Posten des Leiters, hat man mir gesagt.«
»Des Leiters, des Sekretärs, des Mannes für alles sozusagen…«
Maigret hatte Landry gekannt, als er kaum älter als achtzehn Jahre war. Er kam aus der Provinz. Sein Vater war Vorsteher des Postamts in Angiers oder Tours, jedenfalls in einer der großen Städte an den Ufern der Loire. Er brannte darauf, seinen Weg in Paris zu machen, schrieb Artikel für Zeitungen, mischte sich geschickt unter die Menge bei Empfängen oder Cocktailparties, wo er bekannte Leute sprechen konnte.
Eines Tages hatte er sehr selbstbewußt Maigret am Quai des Orfevres aufgesucht, den Presseausweis einer Wochenzeitung gezückt, die auf sensationelle Enthüllungen spezialisiert war.
Marcel Landry zweifelte an nichts, vor allem nicht an sich.
»Verstehen Sie, Herr Kommissar, was unsere Leser interessiert, ist nicht die Organisation der Kriminalpolizei, über die die Tagespresse oft berichtet hat, sondern die Kulissen eines Hauses, in dem, wenn ich es so sagen darf, die ganze schmutzige Wäsche von Paris landet. Ich hoffe, der Ausdruck schockiert Sie nicht. Es geht natürlich nicht darum, Namen zu veröffentlichen. Und ich darf hinzufügen, daß meine Zeitung nicht zögern würde, einen ziemlich hohen Preis dafür zu zahlen.«
Er war damals noch zu jung, als daß Maigret sich über ihn hätte ärgern können, und der Kommissar hatte ihn ziemlich sanft vor die Tür gesetzt. Zwei oder drei Jahre später hatte er seine Stimme im Radio gehört, wo er Sprecher des Werbefunks geworden war.
Dann war es mehrere Jahre still um ihn geworden. Landry gehörte zu jenen Menschen, die man eine Zeitlang überall trifft, denen die Hand zu drücken man sich angewöhnt, ohne eigentlich zu wissen, wer sie sind. Die gleichen Menschen verschwinden dann plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, verschwinden und tauchen später in einer neuen Gestalt wieder auf.
Von welchen obskuren Tätigkeiten hatte Landry jahrelang gelebt? Wenn er sich gegen das Gesetz vergangen hatte, so war das der Polizei nicht zu Ohren gekommen. Man hatte ihn als Sekretär einer bekannten Chansonsängerin wiedergefunden, deren ständiger Begleiter er war.
Nachdem er sich zwei oder drei Jahre später von ihr getrennt hatte, schrieb er seine Memoiren, in denen er alle Details aus dem intimen Leben der Sängerin enthüllte, die daraufhin einen Prozeß gegen ihn anstrengte.
Ob er ihn gewonnen oder verloren hatte, wußte Maigret nicht. Nun stand er hier vor ihm, lächelnd und nervös zugleich, der um sechzehn oder siebzehn Jahre älter gewordene junge Mann von einst, trotzdem aber noch recht jugendlich.
»Der ›Klub der Hundert Schlüssel‹, wissen Sie, unterscheidet sich von all den Klubs, die jede Woche in Paris eröffnet werden, darin, daß er ein wirklicher Klub ist. Man muß Mitglied sein, um durch den roten Vorhang hindurchgehen zu dürfen. Die Zahl hundert bedeutet, daß nicht mehr Mitglieder aufgenommen werden. Jetzt sind es übrigens erst fünfundachtzig oder sechsundachtzig…«
»Wohl junge Männer und junge Mädchen aus vermögenden Familien?«
»Ja, einer strengen Auswahl wegen haben wir den Beitrag auf sechshundert Francs festgesetzt Dagegen ist der Verzehr kaum teurer als üblich. Tanzen Sie?«
Maigret war so überrascht, daß er den Sinn der Frage nicht sofort begriff.
»Was sagten Sie?«
»Ich fragte Sie, ob Sie gern tanzen, moderne Tänze natürlich, denn Sie werden nicht erwarten, daß man hier Walzer oder Polka tanzt… Tanzen Sie auch, Madame Maigret?«
Da sie nicht wußte, was sie antworten sollte, blickte sie ihren Mann hilfesuchend an.
»Ja, wir tanzen beide. Wundert Sie das?«
»Ein wenig. Ich habe Sie noch nie auf einer Tanzfläche gesehen, und so, wie man Sie darstellt…«
»Als dicken Tölpel, der an seiner Pfeife zieht und dabei eine mürrische Miene macht.«
»Das habe ich nicht gesagt. Haben Sie ernstlich vor, Mitglied zu werden?«
»Ernstlich.«
»Kennen Sie zwei Mitglieder des Klubs, die für Sie bürgen könnten? Auch das zeigt Ihnen, daß es sich um einen wirklichen Klub handelt. Jeder Kandidat muß von zwei Bürgen eingeführt werden, und ein Komitee aus zwölf Mitgliedern entscheidet mit Mehrheit über seine Zulassung…«
»Wenn ich die Liste der Mitglieder einsehen könnte, würde ich dort bestimmt mehr als zwei mir bekannte Personen finden, die meine Kandidatur unterstützen würden.«
Marcel Landry zuckte nicht mit der Wimper. Sie wußten beide, daß sie Komödie spielten. Landry musterte den Kommissar mit einem scharfen, mehr ärgerlichen als beunruhigten Blick, fand dann aber sein Lächeln wieder und ging zur Treppe. Bald darauf kam er mit einem in Leder gebundenen Register wieder.
»Dieses Buch liegt immer auf einem Tischchen hinter dem Vorhang. Wie Sie sehen, enthält es nicht nur die Namen und Adressen der Mitglieder, sondern auch der Bürgen von jedem.
Es würde mich überraschen, wenn Sie darin einige von Ihren Klienten fänden.
Buchstabe A: Abouchère, Sohn des Senators Abouchère… Graf d’Arceau… Bei uns trägt er seinen Titel nicht. Sein Vater ist Mitglied des Jockeiklubs, und er wird es ebenfalls werden, wie sein Großvater und sein Urgroßvater es schon gewesen sind… Barillard, von der Firma Barillardôle… Mademoiselle Barillard, die im nächsten Monat Eric Cornal von der Keksfabrik Cornal heiratet, den sie hier kennengelernt hat.
Einige studieren, und wir sehen sie im Augenblick wenig, denn es ist jetzt die Zeit der Prüfungen. Andere arbeiten. Wir haben auch Ehepaare als Mitglieder…«
Die Adressen waren das, was man gute Adressen nennt, sie verrieten, daß es sich um ›jemand‹ handelte.
Maigret ließ seinen Finger über die Seite gleiten, wobei er die Lippen bewegte. Dann tippte er auf einen Namen:
Francois Mélan, achtunddreißig Jahre, Zahnarzt, Rue des Acacias 32.
»Ist das nicht der Zahnarzt, der in der kleinen Villa wohnt?«
»Ich muß gestehen, ich bin noch nie bei ihm gewesen. Er kommt oft, obwohl er kaum tanzt. Er scheint ein bemerkenswert intelligenter Mann zu sein…«
Der Finger glitt weiter die Seite hinunter und hielt dann von neuem inne, wobei Maigret sich bemühte, sein Interesse nicht zu zeigen.
»Nicole Prieur, siebzehn Jahre, Boulevard de Courcelles 42.«
Das Interessanteste aber stand in der Kolonne, die den Bürgen vorbehalten war: Bei Nicole war es niemand anders als Dr. Francois Mélan und Martine Bouet.
»Ist Mademoiselle Bouet nicht eine große Blondine?«
»Ich sehe daran, daß Sie sie kennen. Sie ist eine der besten Tänzerinnen des Klubs und mit Mademoiselle Prieur eng befreundet…«
»Kommt Mademoiselle Prieur oft?«
Landry klopfte mit den Fingern auf den Tisch. Vielleicht hatte er sich nichts vorzuwerfen, aber in dem zwielichtigen Beruf, den er sich gewählt hatte, war es unklug, es mit der Polizei zu verderben.
Die Instruktionen des Polizeipräfekten waren noch nicht in die Avenue de la Grande Armee gelangt. Madame Maigret sah ihrem Mann interessiert bei seiner Arbeit zu. Es war das erstemal, daß sich ihr dazu die Gelegenheit bot. Sie versuchte zu erraten, was sich unter den scheinbar banalen Worten, die die beiden Männer wechselten, verbarg.
»Mademoiselle Prieur ist eine unserer Treuesten. Man sieht sie mindestens zwei- oder dreimal in der Woche hier…«
»Allein?«
»Allein oder mit einer Gruppe.«
»Bleibt sie bis zum Schluß?«
»Ziemlich häufig.«
»Wann schließen Sie?«
»Das kommt auf die Gäste an. Manchmal bringen Mitglieder einen Theater- oder einen Filmstar mit, einen Sänger oder eine Sängerin, irgendeine Berühmtheit. Es ist vorgekommen, daß wir erst um sechs Uhr morgens das Licht gelöscht haben, aber meistens ist um zwei Uhr, drei Uhr niemand mehr da.«
»War Mademoiselle Prieur schon einmal in Begleitung ihres Onkels hier?«
»Einmal im Anfang. Bei den meisten jungen Mädchen ist das fast eine Tradition. Am ersten Abend wollen die Eltern sich selber überzeugen… Monsieur Prieur hat uns alle in Erstaunen versetzt. Man war darauf gefaßt, eine feierliche Persönlichkeit zu sehen. Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Er ist Berichterstatter im Staatsrat, und man behauptet, er sei einer unserer besten Juristen. Nun, stellen Sie sich einen Mann von fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren vor, breitschultrig, mit einem verwitterten Gesicht wie dem eines Bauern, einem kurzen, harten Bart, der Wangen und Kinn bedeckt, und mit Haarbüscheln in den Ohren. Ein sanfter Eber… Er hat einen doppelten Whisky bestellt. Kaum eine Viertelstunde später war er auf der Tanzfläche und tanzte mit seiner Nichte. Er ist zwei Stunden geblieben, und als er ging, hat er mich beglückwünscht und hinzugefügt, wenn er nicht sehr früh aufzustehen gewohnt sei, wäre er noch länger geblieben.«
»Man macht sich falsche Vorstellungen von den Menschen… Ist er nicht noch einmal dagewesen?«
»Nein.«
»In der letzten Nacht auch nicht?«
»Bestimmt nicht.«
»Mit wem war Mademoiselle Prieur in der letzten Nacht zusammen?«
»In der letzten Nacht? Moment… Ich muß erst nachdenken, wer an den verschiedenen Tischen saß… In der letzten Nacht habe ich sie nicht gesehen.«
»Ihre Freundin auch nicht?«
»Meinen Sie Martine Bouet? Nein… die auch nicht.«
»Ich danke Ihnen.«
»Möchten Sie immer noch Mitglied werden? Haben Sie in der Liste Leute gefunden, die als Bürgen für Sie in Frage kämen?«
»Mehr als genug… Ich werde es mir noch überlegen… Ich sehe, Ihre Mitglieder beginnen zu erscheinen…«
»Es ist tatsächlich Zeit, daß ich hinuntergehe.«
»Übrigens, kennen Sie Manuel?«
»Den Schauspieler?«
»Manuel Palmari.«
»Was tut er?«
»Nichts.«
»Ich wüßte nicht… Nein. Müßte ich ihn kennen?«
»Besser nicht… Noch einmal besten Dank, Monsieur Landry.«
»Wollen Sie nicht einen Blick in den Keller werfen? Sie auch nicht, Madame? Nun, dann gestatten Sie…«
Madame Maigret wartete geduldig, bis ihr Mann die Rechnung bezahlt hatte und sie draußen waren, ehe sie ihn fragte: »Hast du erfahren, was du wolltest?«
»Ich habe viele Dinge erfahren, aber ich bin mir über ihre Bedeutung noch nicht klar. Da wir einmal in dem Viertel sind, laß uns durch die Rue des Acacias gehen.«
Unterwegs seufzte er:
»Vorausgesetzt, daß Nicole Prieur nicht die Lust verspürt, heute abend im Klub zu tanzen.«
»Glaubst du, er wird ihr sagen, daß du da warst?«
»Er wird sie bestimmt davon in Kenntnis setzen und ihr sagen, ich hätte mich genau bei ihm nach ihr erkundigt. Wenn sie es ihrem Onkel berichtet, können wir morgen unsere Koffer packen.«
Er sagte das in einem so leichten Ton, daß sie seinen Arm stärker drückte und bemerkte:
»Bist du traurig? Versuchst du es mir zu verbergen?«
»Nein. So wie die Dinge liegen, frage ich mich, was besser wäre: zu gehen oder weiterzumachen.«
»War der Schlag heute morgen sehr hart?«
»Es hat mir gereicht. Ich war zum erstenmal in meinem Leben der Angeklagte. Ich frage mich, ob ich noch den Mut habe, gewisse Verhöre vorzunehmen.«
»Warum hast du dich nicht verteidigt?«
»Weil das nichts genützt und ich riskiert hätte, einen Wutanfall zu kriegen.«
»Glaubst du, daß dieses Mädchen…?«
»Die zählt nicht. Sie ist nur eine Schachfigur. Alles ist zu gut eingefädelt. Man hat sogar die Zeit und die beiden möglichen Zeugenaussagen einkalkuliert. Erst Martine Bouet. Die Telefonmünze. Eine einzige. Dann Desiré. Sie hat bestimmt nicht wie eine Betrunkene mit ihm gesprochen. Mit mir sprach sie halblaut, und er konnte sie nicht verstehen. Die Bars, in denen ich sie angeblich zum Trinken animiert habe… Die Beschreibung, die sie von ihnen gibt, paßt auf fünfzig Bars und Keller in Saint-Germain-des-Près, und in mindestens einem Dutzend dieser Lokale herrscht ein solches Gedränge, daß wir unbemerkt bleiben konnten.
Das Hotel schließlich, in dem ich tatsächlich mit ihr in den zweiten Stock hinaufgegangen bin und wo sie es geschickt genug verstanden hat, mich gut zehn Minuten in ihrem Zimmer festzuhalten…«
»Hast du eine Idee?«
»Nur eine sehr verschwommene. Viele. Leider ist eine die richtige, und es ist wichtig, die richtige herauszufinden.«
Die Rue des Acacias war fast menschenleer. Einige Fenster waren noch erleuchtet, darunter zwei im Hause des Zahnarztes. Maigret ging auf das Schild zu, das er bei seinem Besuch bei Manuel nur von fern gesehen hatte. »Dr. Francois Mélan, Zahnarzt und Kieferspezialist, Sprechstunden von zehn bis zwölf und nach Vereinbarung.«
»Warum steht da Kieferspezialist?«
»Das wirkt besser als nur Zahnarzt.«
Er blickte zu Manuels Fenstern hinauf und bemerkte Aline, die an dem einen lehnte und eine Zigarette rauchte.
Einige Meter weiter murmelte ein Mann, der unter einem Mauervorsprung stand, beim Vorübergehen der Maigrets:
»Guten Abend, Herr Kommissar.«
Es war Jaquemain, einer seiner Inspektoren, der in dieser Nacht die Straße überwachte.
»Guten Abend, mein Lieber.«
Das Ehepaar stieg an der Station Ternes in die Metro. Es war ein deprimierender Tag gewesen, aber durch Madame Maigrets Anwesenheit endete er relativ heiter.
Am Boulevard Richard-Lenoir sah ein rosa gefärbter dicker Mond sie Arm in Arm zu ihrem Hause gehen.
Ein Verkehrsunfall hielt den Autobus auf. So kam er erst um zehn Minuten nach neun am Quai an.
»Hat mich niemand verlangt?«
»Nein, Herr Kommissar. Nur Inspektor Lourtie.«
»Ich werde ihn nach dem Rapport sehen.«
Er nahm die Akten von seinem Schreibtisch und eilte in das Büro des Leiters der Kriminalpolizei, in dem die anderen Kommissare sich schon versammelt hatten.
»Entschuldigen Sie, Herr Direktor…«
»Was sagten Sie, Bernard?«
Der Chef des Spielerdezernats setzte mit monotoner Stimme seinen Bericht fort.
»Gut… Und Sie, Maigret? Dieser Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft gestern wieder…«
Maigret war auf Peinliches gefaßt gewesen, auf ausweichende oder vorwurfsvolle Blicke, aber nichts von dem, was sich gestern bei dem Polizeipräfekten zugetragen hatte, schien durchgesickert zu sein.
Die allmorgendliche Routine. Die Fenster geöffnet. Vogelgezwitscher. Ein Clochard am Seineufer, der eifrig seine Wäsche wusch.
Eine Viertelstunde später kam Barnacle in Maigrets Büro, wie immer schwarz gekleidet.
»Ich habe drei Frauen fotografiert«, sagte er, während er dem Kommissar die vergrößerten Fotos zeigte, »aber ich weiß nicht, welche die richtige ist.«
Er meinte damit Nicole Prieur. Die erste, ein pausbäckiges Ding mit naiven Augen, glich ihr ganz und gar nicht Die zweite war kaum sechzehn Jahre alt – der arme Barnacle schien ziemlich wenig von jungen Mädchen zu wissen.
Aber die dritte war wirklich Nicole. Sie trug ein helles Kleid und hatte eine weiße Handtasche unter den Arm geklemmt. »Ich habe noch ein Foto von ihr in ganzer Größe.«
Der Inspektor zog es wie ein Zauberer aus einer Tasche seiner zu weiten Jacke. Es war vor dem Gitter des Parks aufgenommen worden. Das junge Mädchen führte einen Dackel an der Leine, der gerade pinkelte.
»Entspricht es Ihrem Wunsch?«
»Vollkommen, Monsieur Barnacle.«
»Möchten Sie noch weitere Abzüge haben?«
»Wenn möglich, ja. Drei oder vier…«
Es war jetzt schon weniger wichtig. Ohne Oscar, den entfernten Verwandten von Lucas oder vielmehr von Madame Lucas, hätten diese Fotos eine größere Rolle gespielt. Vielleicht würden sie noch eine spielen, obwohl der Kommissar glaubte, schon auf einer Spur zu sein.
»Brauchen Sie die Abzüge sofort?«
Maigret vergaß fast, daß der Inspektor seine Stellung riskiert hatte, um diese Fotos heimlich zu machen.
»Hat es Sie große Mühe gekostet?«
»Keine allzu große. Wissen Sie, auf der Straße falle ich nicht auf. Auf den Plätzen und in den Parks findet man fast immer einen oder zwei Männer meiner Art und achtet gar nicht mehr auf sie.«
Er sprach von sich ohne Bitterkeit und Ironie.
»Sie hat nichts davon gemerkt, war ganz mit ihrem Hund beschäftigt, der sich weigerte, den Fahrdamm zu überqueren und den sie auf den Arm nehmen mußte. Ich habe eine Aufnahme von ihr mit dem Hund auf dem Arm, aber sie ist unscharf. Ich habe keinen Abzug davon gemacht…«
»Danke, Monsieur Barnacle. Sie sind prima.«
»Sie sind immer prima zu mir gewesen…«
Nachdem Barnacle gegangen war, kam Janvier an die Reihe.
»Ist das jenes junge Mädchen?«
»Ja. Ich hätte gern, daß du dich in die Rue Fontaine begibst.«
»In den ›Clou Doré‹?«
»Ja. Zeig das Foto den Kellnern. Versuch zu erfahren, ob sie sie schon in dem Restaurant gesehen haben. Du kannst dich dann auch noch in anderen Lokalen in der Gegend erkundigen.«
»Gehen Sie nicht aus, Chef?«
»Doch, ich gehe in die Rue des Acacias.«
»Soll ich Sie nicht hinfahren?«
»Es ist mir lieber, du gehst nach Montmartre, ehe dort Hochbetrieb ist. Sag Lucas, er soll unten mit einem Wagen auf mich warten…«
Es war schon ein heißer Dunst in der Luft, wie man ihn über dem Meer sieht, und die Champs-Elysées vibrierten in einem goldenen Licht.
»Ich danke dir, daß du mich mit deinem Verwandten bekannt gemacht hast, mein alter Lucas.«
»Gern geschehen, Chef. Es hat mir freilich einen Brummschädel eingebracht. Er war so stolz, Sie kennengelernt und mit Ihnen getrunken zu haben, daß er einen Anis nach dem anderen spendiert hat. Er wird in Zukunft von seinem Freund Maigret sprechen, als wäre er mit Ihnen zur Schule gegangen. Wo soll ich Sie hinfahren? Zu Manuel?«
Das war schon eine Gewohnheit geworden.
»Ja. Ich gehe in das Haus gegenüber.«
»Soll ich auf Sie warten?«
»Ja. Es ist möglich, daß es sehr schnell geht.«
Er klingelte an der Tür. Eine Frau mit langem Gesicht, die wie eine Spanierin aussah, musterte ihn wenig freundlich und fragte:
»Was wünschen Sie?«
»Ich will zu dem Zahnarzt.«
»Sind Sie angemeldet?«
»Ja.«
»Dann gehen Sie hinauf! Die Tür rechts…«
Sie blickte ihm nach, während er die alte Eichentreppe hinaufstieg, die zum Teil mit einem grünlichen und fleckigen Läufer belegt war. Die Schürze des Mädchens war auch nicht gerade sauber. Madame Maigret hätte bestimmt gesagt: das ist kein gepflegtes Haus.