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Cardinal war auf dem Weg in den Sitzungsraum, als Delorme ihn zu sich an den Schreibtisch rief. »Das musst du dir anhören.« Sie schaltete die Freisprechanlage ein und spielte ihre Mailbox ab. Die synthetische Stimme gab die Zeit mit 23:45 Uhr am Vorabend an. Dann eine Mädchenstimme:
»Hi. Ich möchte meinen Namen nicht nennen, und deshalb spreche ich eine Nachricht auf Band, statt persönlich mit jemandem zu reden. Ich habe Informationen über die Morde an der Island Road. Ich war da. Ich war im Haus, und ich hab – ich habe Leute reden gehört, und ich hab Schüsse gehört. Mehr weiß ich nicht, außer dass der Kerl, der es getan hat, nicht wie ein Russe klang – die Frau ja, aber er nicht. Ich kann nicht sagen, wer ich bin, weil ich weiß, dass ich in dem Haus eigentlich nichts zu suchen hatte. Ich bin eine Diebin. Ich stehle manchmal Sachen. Ich war auf der Suche nach irgendwas, das ich mitgehen lassen kann, aber dann habe ich plötzlich Stimmen gehört und mich versteckt. Als ich die Schüsse hörte, bin ich abgehauen. Mehr weiß ich nicht. Bitte versuchen Sie nicht, mich ausfindig zu machen. Ich hoffe, Sie hören das hier ab.«
»Was hältst du davon?«, fragte Delorme. »Meinst du, die ist echt?«
»Auf jeden Fall klingt sie nervös. Mehr als nervös.«
»Wir wissen, dass jemand geflohen ist. Und wir wissen, dass sich jemand unter dem Bett verkrochen hat.«
»Eine kleine Diebin. Der Stimme nach sechzehn, siebzehn Jahre alt?«
»Keine Ahnung«, sagte Delorme. »Könnte auch Anfang zwanzig sein.«
»Lass noch mal hören.«
Delorme spielte die Nachricht ein zweites Mal ab.
»Ich weiß nicht, ob ich ihr das abkaufe«, sagte Cardinal. »Zumindest nicht alles.«
»Niemand weiß etwas von der flüchtigen Person.«
»›Ich bin eine Diebin‹«, sagte Cardinal. »›Ich stehle manchmal Sachen.‹ Klingt das echt?«
Delorme zuckte die Achseln. »Schon irgendwie.«
»Lise, ich kämpfe jetzt seit dreißig Jahren für die Wahrheit, die Gerechtigkeit und den kanadischen Way of Life, aber ich hab noch nie gehört, dass jemand sagt, ›Ich bin ein Dieb‹. Und dann noch so ein junges Ding?«
»Vielleicht nicht ganz so jung.«
»Ein junger Mensch – ›Ich bin eine Diebin‹? Kriegst du oft Anrufe von Dieben, die dir ein Geständnis machen?«
Als sie alle im Konferenzraum versammelt waren, erteilte DS Chouinard ihnen eine strenge Mahnung, sie könnten es sich nicht leisten, andere Ermittlungen schleifenzulassen, besonders solche, die mit Waffen oder Gewalt verbunden seien. »Zum Beispiel von Ihnen, Szelagy, erwarte ich noch heute einen Vorgehensplan zur Brandstiftung im Lagerhaus. Dasselbe gilt für Delorme und die Raubüberfälle an den Geldautomaten. Die Bürger dieser Stadt liegen nicht nachts wach, weil sie vor Übergriffen von russischen Mafiosi Angst haben. Sie haben Angst davor, dass jemand sie beraubt, wenn sie Geld aus einem Automaten ziehen.«
»Ich glaube nicht, dass wir irgendwas anderes machen sollten«, erwiderte McLeod, »bis Cardinal mit Scriver fertig ist.«
Danach wurde aus dem Meeting eine Show der Spurensicherung in Text und Bild. Arsenault trat an den Projektor – er brüstete sich gerne mit seiner technischen Virtuosität –, Collingwood übernahm die Weißwandtafel und schrieb kreuz und quer mit Leuchtfarben-Markern darauf. Für einen derart reservierten Menschen machte er überraschend großzügig von Kringeln und Pfeilen Gebrauch.
»Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, bei dem es von Spuren nur so wimmelt«, fing Arsenault an. »Wir ertrinken förmlich in Spuren. Mit ein bisschen Glück erhärten sie sich früher oder später zu Beweisen. Wir haben Blut, Haare, Fasern, Finger- und Schuhabdrücke und Reifenprofile. Wir jagen alles, was wir haben, durch jeden erdenklichen Test und sämtliche Datenbanken. Wir haben einen gewissen Fortschritt erzielt und einige Verknüpfungen herstellen können, aber bis jetzt … nun ja, sehen Sie selbst, wo wir stehen. Vielleicht wollen Sie sich Notizen machen.
Also gut. Zuerst das Blut. Da wir in der realen Welt leben und nicht bei CSI: Dem Täter auf der Spur, haben wir die DNA-Analyse noch nicht erhalten. Nicht weiter verwunderlich. Dafür haben wir die Blutgruppen. Lev und Irena Bastov haben beide Gruppe B. Das Blut auf der Fensterbank und davor ist Rhesus positiv. Die Schumachers haben A und Rhesus positiv, aber ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Mrs. Schumacher dieses Fenster einschlägt und sich in den Schnee stürzt.«
Collingwood schrieb die jeweiligen Fundstellen und Blutgruppen mit quietschendem Textmarker auf die Tafel.
»Und jetzt zu den Haaren. Irena Bastovs Haar ist blond gefärbt, mit braunen Wurzeln. Lev Bastovs ist kurz, graumeliert, überwiegend grau, mit ein wenig Schwarz am Hinterkopf. Wir haben außer an ihren eigenen Kleidern keinerlei Haar auf dem Tisch oder an anderen Kleidern gefunden. Dafür haben wir im Elternschlafzimmer auf der Fensterseite des Bettes ein langes, schwarzes Haar gefunden, hier.« Er zeigte auf eine Stelle zwischen Kissen und Nachttisch. »Offensichtlich gehört es nicht den Schumachers, also wäre es gut, herauszufinden, wem es gehört und wie es dahin gekommen ist. Aber zunächst mal zu den Fingerabdrücken. Um die Frage zu beantworten, die Ihnen allen unter den Nägeln brennt: Nein, wir haben keinerlei Treffer in der Verbrecherdatei. Aber in Bezug auf diese Henkersmahlzeit haben wir ein paar interessante Entdeckungen gemacht.«
Er drückte auf seine Fernbedienung, und auf dem Bildschirm erschien ein Bild von dem Tisch, an dem die Opfer und ihr Mörder gesessen hatten.
»Die Abdrücke an den Gläsern gehören zu den Bastovs, passen zu denen, die wir von ihnen, in ihrem Hotelzimmer und von ihren Pässen genommen haben. Soweit wir erkennen konnten, haben sie am Tatort nichts weiter angefasst. Die Abdrücke an der Flasche könnten sich auf bis zu drei Personen verteilen, aber wenn man an die Leute im Spirituosengeschäft, im Lagerhaus und so weiter denkt, ist das nur logisch.
Der Daumenabdruck, der genau an der Stelle ist, wo man ihn erwarten würde, wenn man eingießt – übrigens mit der linken Hand –, stimmt mit einem Daumenabdruck überein, den wir vom Messer im Rücken des männlichen Opfers genommen haben. Derjenige hat sich offenbar nicht das Geringste daraus gemacht, Fingerabdrücke zu hinterlassen, weshalb ich mir keine großen Chancen ausrechne, dass er vorbestraft ist. Beziehungsweise sie – auch wenn wir keinerlei Hinweise darauf haben, dass es mehr als einen Mörder gibt, könnte es trotzdem das Werk von zwei oder drei Personen sein. Wir haben Übereinstimmungen dieses Daumenabdrucks mit einem am Knauf der Haustür, mit Teilabdrücken an der Hintertür und mit der Tür zum Elternschlafzimmer.«
Er blendete nacheinander Nahaufnahmen von der Wodkaflasche sowie Bilder von den jeweiligen Türen ein. Collingwood zog Kreise und malte Pfeile. »Wie Sie wissen, schien das Haus größtenteils unberührt, außer der Hintertür, die aufgehebelt war, und dem Elternschlafzimmer, in dem eine vierte Person ein Fenster eingeschlagen hat und dann abgehauen ist. Zunächst zum Fenster.«
Er klickte auf ein Foto von der zerbrochenen Scheibe, dann eine Nahaufnahme von der Fensterbank. »Im Blut auf der Fensterbank haben wir einen sehr guten Abdruck. Bis jetzt keine Übereinstimmungen in den Datenbanken. Allerdings stimmt dieser Abdruck mit dem latenten Abdruck an dem Stuhl überein, mit dem das Fenster eingeschlagen wurde. Und jetzt kommt das Interessante: Wir haben auch eine Übereinstimmung an dem Nachttisch auf der Fensterseite. Nicht an dem Möbel selbst, sondern am Radiowecker. Sämtliche anderen Abdrücke an diesem Nachttisch lassen sich Mrs. Schumacher zuordnen. Wie Sie wissen, ist die Person nach unserer vorläufigen Theorie vom Tatort geflohen und wurde vom Mörder verfolgt. Wir wissen nicht, was diese Person dort wollte, doch es sieht ganz danach aus, dass sie sich unter dem Bett versteckt hat – da unten haben wir keine brauchbaren Abdrücke nehmen können –, was darauf hinweisen könnte, dass sich eine Person zu einem vom Tatgeschehen unabhängigen Zweck, vielleicht einem Einbruch, dort befand. Ich weiß, das klingt nicht sehr wahrscheinlich – zwei unabhängige Straftaten zur selben Zeit –, wenn Sie also einen besseren Vorschlag haben …«
Bilder vom Stuhl und vom Radiowecker erschienen, gefolgt von einer Weitwinkelaufnahme, auf der das Bett, der Stuhl, das eingeschlagene Fenster zu sehen waren.
Delorme meldete sich zu Wort. »Jemand hat gestern Nacht eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Eine junge Frau, vielleicht um die zwanzig? Sie behauptet, sie sei eine Diebin und habe sich im Haus befunden, als sie plötzlich Leute kommen hörte. Sie versteckte sich und lief weg, als sie Schüsse hörte.«
Plötzlich knisterte es im Raum. Die Anwesenden wechselten die Stellung, und alle blickten zu Delorme. »Wieso erfahre ich das erst jetzt?«, fragte Chouinard.
»Ich hab’s gerade erst abgehört«, antwortete Delorme. »Sie hat mitten in der Nacht angerufen.«
»Wieso ruft sie bei Ihnen an? Wieso nicht bei Crime Stoppers? Wieso nicht bei der Mailbox der Zentrale?«
»Keine Ahnung. Viele glauben nicht, dass Crime Stoppers anonym ist. Vielleicht wollte sie mit einer Frau sprechen.«
McLeod, der bis jetzt erstaunlich schweigsam gewesen war, legte plötzlich los.
»Dieser Radiowecker ist etwa dreißig Jahre alt. Ich hab im Lauf meiner Dienstzeit ja schon so manchen verzweifelten Junkie zu Gesicht gekriegt, aber keiner von denen wäre auf die Idee gekommen, dieses Scheißding zu klauen. Selbst die unterprivilegiertesten von unseren kriminellen Gegenspielern würden sich nicht so weit erniedrigen.«
Arsenault starrte zu Boden. Als er aufsah, fragte er: »Sie sagt, sie hat sich unter dem Bett versteckt?«
Delorme schüttelte den Kopf. »Sie hat nur gesagt, sie hätte sich versteckt.«
»Na ja, das würde schon irgendwie zu dem passen, was wir bis jetzt haben …« Er sah Collingwood an, der den Kopf schüttelte und auf die Weißwandtafel schrieb: Zu verkaufen.
»Ja, genau«, sagte Arsenault und blendete ein anderes Bild ein. Eine Außenaufnahme von der Island Road, von der Zufahrt. Der Briefkasten mit den Lettern FAM. SCHUMACHER und das Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN, CARNWRIGHT-IMMOBILIEN.
»Beachten Sie, dass es rund um das Verkaufsschild und den Briefkasten keine Spuren gibt. Halten Sie mich meinetwegen für analfixiert, jedenfalls hab ich trotzdem von beiden Abdrücke genommen. Hab einen guten Daumen und ein paar Fragmente vom Schild. Und jetzt kommt’s: Die stimmen mit einigen von denen überein, die wir im Elternschlafzimmer am Kopfteil des Betts gefunden haben.«
Während Collingwoods Marker Kreise und Pfeile zauberte, wechselte Arsenault zu einem anderen Bild und zeigte zuerst den Nachttisch und dann das Kopfteil. »Hier haben wir einen richtig schönen Daumenabdruck gefunden.« Er zeigte auf eine Stelle nahe der oberen linken Ecke. »Und der gehört nicht zu den Schumachers oder irgendeiner anderen Person, von der wir bis jetzt Abdrücke haben.«
»Also, der Makler stellt gewöhnlich die Schilder auf«, sagte Chouinard. »Haben wir ihn oder sie schon ausgeschlossen?«
»Ihn«, sagte Cardinal. »Randall Wishart drüben bei Carnwright. Ist er schon zur Erfassung vorbeigekommen?«
Arsenault verneinte.
»Hab ich ihm aber gesagt.«
Dunbar richtete sich auf und räusperte sich. »Ich habe Informationen, die vielleicht helfen könnten. Ich hab die Schumachers mit zum Haus genommen.«
»Bevor es in Ordnung gebracht und gereinigt wurde?«, fragte Chouinard. »Wer hat Ihnen das denn aufgetragen?«
»Wir mussten wissen, ob irgendwas gestohlen worden war – besonders, da wir einen geständigen Dieb am Tatort haben.«
»Seit fünf Minuten«, sagte Cardinal. »Wieso haben Sie das nicht mit mir abgeklärt?«
»Ich hielt das nicht für nötig, ich meine, schließlich sind wir alle Ermittler, oder?«
»Wir arbeiten bei einer koordinierten Ermittlung zusammen. Ziehen Sie nicht los und befragen einfach Leute, ohne mir Bescheid zu geben.« Cardinal spürte, wie sein Gesicht heiß anlief. »Das sollte eigentlich selbstverständlich sein.«
»Okay, schon verstanden. Wollen Sie trotzdem wissen, was sie gesagt haben?«
»Nachdem es ihnen den Magen umgedreht hat?«
»Unter den gegebenen Umständen waren sie ziemlich gefasst. Ihnen ist nichts aufgefallen, was gefehlt hätte. Rein gar nichts. Ich hab sie auch gefragt, was sie gewöhnlich tun, wenn sie ihr Haus für den Winter dichtmachen. Sie verriegeln Türen und Fenster, drehen die Heizung runter, stellen das Wasser ab und so. Vor allem zieht Mrs. Schumacher sämtliche Betten ab und breitet frische Tagesdecken darüber. Sie haben keine Putzfrau, dieses lange schwarze Haar könnte daher ziemlich wichtig sein.«
»Okay, das ist gut zu wissen«, sagte Cardinal. »Ich bin zwar immer noch sauer auf Sie, aber Schwamm drüber.«
»Was wissen wir über diesen Wishart?«, fragte Chouinard. »Diesen Makler.«
»Er arbeitet erst seit ein paar Jahren bei Carnwright«, antwortete Cardinal. »Er ist mit Carnwrights Tochter verheiratet.«
»Laura Carnwright?«, fragte Delorme. »Die ist eine Senkrechtstarterin. Vermutlich in so ziemlich jedem Ausschuss in der Stadt.«
»Wishart selbst scheint auch recht gut zu wissen, was er will. Ist seit Wochen nicht mehr draußen an dem Haus der Schumachers gewesen. Behauptet er zumindest.« Cardinal sah Arsenault an. »Haben wir schon was zu den Reifen?«
»Reifenprofile«, sagte Arsenault. Er blendete ein Bild von der Zufahrt zum Wasserkraftwerk ein. »Unsere flüchtige Person ist offenbar hier in ihren Wagen gestiegen – falls sie es denn war –, und es wurden Schüsse abgefeuert, die ihr Rücklicht beschädigt haben. Die Profile sind an diesem Fahrzeug alle verschieden, alle alt und abgenutzt, und sie könnten zu allen möglichen Kleinwagen gehören: Honda, Mazda, was weiß ich. Dasselbe gilt für die Scherben vom Rücklicht. Wir machen uns mehr Hoffnung bei der Zufahrt.«
Wieder wechselte das Bild. »Fahrzeug Nummer eins kam zuerst an. Oder anders gesagt – Fahrzeug Nummer eins war das erste Auto nach dem Schneefall am Donnerstagmorgen. Die Reifen von Fahrzeug zwei bringen uns nicht weiter. Der Reifenabstand sagt uns, dass wir es mit einem Wagen der unteren Mittelklasse zu tun haben, dazu die gängigsten Goodyear-Winterreifen, an allen vier Rädern. Fahrzeug eins ist mittelgroß mit Bridgestone-Winterprofil, wiederum an allen vier Rädern. Reifengröße und -tragfähigkeit würde zu einer Reihe teurer Limousinen passen: BMW, Saturn und Acura. Die Reifen werden seit drei Jahren nicht mehr hergestellt, aber die Händler registrieren ihre Verkäufe, und falls sie hier aus der Gegend sind, haben wir vielleicht Glück.«
Chouinard zeigte auf Cardinal. »Sie haben nicht zufällig rausgefunden, was Wishart fährt?«
»Doch, hab ich. Er fährt einen Acura TL.«
»Ich wusste, dass ich Sie nicht ohne Grund eingestellt habe«, sagte Chouinard und stand auf.
»Sie haben mich nicht eingestellt.«
»Irgendjemand muss einen Grund gehabt haben.«