DIE HURE
Oliver Jones unterschied sich von seinen Brüdern wie die Spreu vom Weizen. Er gönnte ihnen ihre blinde Wildheit. Er lieh ihnen Geld, bis er selbst keines mehr hatte und bedauerte es, aber nicht sehr. Seine Bedürfnisse waren nicht einfach, aber sie hingen nicht am Geld. Er arbeitete in Jobs für Jugendliche, ohne sich zu beklagen, wohl wissend, daß etwas Besseres auf ihn wartete. Manchmal schien es, als wäre er der einzige in der Familie, der fähig war, seiner Mama die Sorgen abzunehmen, nun, da Papa tot war, und sie, selbst mit ihren zwei Babys auf dem Schoß und seiner jüngeren Schwester Yolanda, die bei den Nachbarn schwätzte, einsam war.
Die Stadt war ihm ein Rätsel. Seine älteren Brüder Denver und Reggie glaubten, daß dies ein Ort war, der überwunden werden müßte, aber Oliver teilte ihre Anschauung nicht. Er wollte die Stadt zu einem Teil von sich machen, sie mit seinem Atem einsaugen, sie in Knochen und Hirn einverleiben. Wenn er zu der Musik der Stadt tanzen konnte, hätte er es geschafft, selbst wenn Denver und Reggie sagten, die Stadt wäre weit und grausam und endlos, daß ihre vier Viertel junge Männer verschlängen und sie als alte Leute wieder ausspeien würden. Sieh doch Papa an, sagten sie, er war dreiundvierzig und ging ins fünfte Viertel, Darkside, ein Sack müder Knochen. Sie sagten, nimm, was du kriegen kannst, solange du es kriegen kannst.
Das war nicht, was Oliver sah, obwohl er wußte, daß die Stadt grausam und hungrig war.
Seine Brüder und sogar Yolanda foppten ihn wegen seines Glaubens. Es war mehr als lediglich der Gang zur Kirche, der sie veranlaßte, ihn aufzuziehen, weil sie selbst auch zur Kirche gingen und neben Mama saßen. Reggie und Denver wußten, daß es vorteilhaft war, bei der Andacht gesehen zu werden. Es war nicht seine Musik, die sie lachen ließ, denn er konnte auf dem Klavier genauso hart und schnell spielen wie leise und weich. Sie alle tanzten gern, selbst Mama zuweilen. Es war seine Freundlichkeit. Es war sein Geschmack bei Mädchen, seine Ruhe und sein Fleiß und seine Ehrlichkeit.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien ging Oliver bei Schneefall nach Hause und hielt für eine Weile nachdenklich beim Grab seines Vaters auf dem alten St. John’s Friedhof inne. Umgeben von schuppigen alten Schiefergrabsteinen und neueren aus weißem Marmor, abgenutzt von den Säuretränen der Stadt, dachte er, daß er nun als aufgewachsen betrachtet werden konnte, daß er nun die Familie unterstützen müsse. Er verließ den Friedhof in mürrischer Stimmung und ging zwischen hohen Wohnhäusern aus Back- und Sandstein entlang der schmutzigen, nassen schwarzen Straße. Sein Schatten verlor sich zwischen den größeren Schatten Sleepsides; seine Augen waren auf den Gehsteig gerichtet.
Denver und Reggie waren nicht in der Lage, gutes Geld beizubringen, Geld, das Mama akzeptieren würde. Yolanda war zu jung, und es war nicht wahrscheinlich, daß sie bald irgendeinen Job bekommen würde. Er blieb übrig, der einzige, der die Schule beenden würde. Er könnte mehr Klavierschüler annehmen, aber er müßte ausziehen, um dies zu tun. Wie sollte er etwas finden, das ihn nicht alles, was er verdiente, an Miete kosten würde? Sleepside war übervölkert.
Oliver hörte das Geräusch in der Wohnung, als er noch einen halben Block entfernt war. Er rannte die fünf dunklen, abfallbedeckten Treppenabsätze hinauf und zog den Schlüssel hervor, um die drei Schlösser der Tür zu öffnen. Er öffnete die Tür und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, so außer Atem, daß er nicht sprechen konnte.
Die Wohnung war in Aufruhr. Yolanda, dünn wie eine Stange, stand in der Küchentür, rang ihre großen Hände und jammerte. Die zwei Babys saßen mit raschelnden Windeln und ihren Fäusten im Mund in der Diele. Mrs. Diamond Freeland, die Witwe aus der Nachbarschaft, hastete in nutzlosem Bibbern hin und her. Irgend etwas stimmte nicht.
»Was ist los?« fragte er Yolanda mit dem ersten Atem, der ihm zur Verfügung stand. Sie stöhnte nur und schüttelte den Kopf. »Wo sind Reggie und Denver?« Sie schüttelte den Kopf weniger nachdrücklich, was hieß, daß sie nicht daheim waren. »Wo ist Mama?« Daraufhin wurde Yolanda hysterisch. Sie fiel zurück gegen die Wand, die Fäuste gegen den Mund gepreßt, Tränen in den Augen. »Ist was mit Mama passiert?«
»Deine Mama ist in die Oberstadt gegangen«, sagte Mrs. Diamond Freeland, die plattfüßig vor Oliver stand; ihr blumenbedrucktes Kleid dehnte sich über ihrem fülligen Leib. »Was willst du unternehmen? Du bist ihr Sohn.«
»Wohin in der Oberstadt?« fragte Oliver und versuchte, seine zitternde Stimme zu beherrschen. Er wollte jeden in der Wohnung schlagen. Er war ängstlich, und sie waren ihm überhaupt keine Hilfe.
»Sie i-ist ei-einkaufen gegangen!« jammerte Yolanda. »Sie hat heute ihren Scheck bekommen, und es ist Weihnachten, und sie ist fort, um den Babys neue Sachen und was zum Essen zu holen.«
Olivers Hände verkrampften sich. Mama hatte ihn gefragt, was er sich zu Weihnachten wünsche und er hatte gesagt: »Nichts, Mama. Wirklich nichts.« Sie hatte ihn gescholten, gesagt, daß alles gut sein würde, wenn der Scheck käme. Wozu wäre Weihnachten gut, wenn sie nicht kleine Besonderheiten für jedes ihrer Kinder finden könne? »In Ordnung«, hatte er gesagt. »Ich würde gern Notenblätter haben. So etwas hatte ich noch nie.«
»Sie muß an der falschen Haltestelle ausgestiegen sein«, sagte Mrs. Diamond Freeland, wobei sie Oliver aus den Winkeln ihrer großen Augen anstarrte. »Das ist alles, was ich mir vorstellen kann.«
»Was ist passiert?«
Yolanda zog einen Brief aus ihrer Bluse und gab ihn ihm. Auf einem phantasievollen purpurnen Papier mit einem feinen Blumendekor an den Rändern stand eine unterzeichnete, handgeschriebene Mitteilung in sehr hübscher goldener Füllfederhaltertinte. Er las sie sorgfältig. Dann las er sie noch einmal.
An die Joneses.
Ihre Mama ist in der Oberstadt in meiner Obhut. Sie hatte sich
verirrt, und ich versuchte, ihr zu helfen, aber sie stahl etwas,
das für mich sehr wertvoll ist, sie aber nicht haben soll. Sie
sagt, Sie kämen sie abholen. Mit ›Sie‹ meint sie ihren jüngsten
Sohn Oliver Jones, und wenn nicht ihn, dann Yolanda Jones, ihre
älteste Tochter. Einer von beiden bleibt zum Austausch gegen Ihre
Mama hier, der andere muß hierbleiben, um für mich zu
arbeiten.
Miss Belle
Parkhurst
969 33rd Street
»Wer ist sie, und warum hat sie Mama?« fragte Oliver.
»Ich gehe nicht!« schrie Yolanda.
»Sei still«, sagte Mrs. Diamond Freeland. »Sie ist diese Hure. Sie ist diese Oberstadt-Hure, die das größte Haus dort leitet.«
Oliver blickte ungläubig von Gesicht zu Gesicht.
»Eure Mama muß die falsche Haltestelle erwischt und sich verlaufen haben«, wiederholte Mrs. Diamond Freeland. »Nur so kann ich es mir vorstellen. Sie ging zum Hurenhaus und bekam Schwierigkeiten.«
»Ich gehe nicht!« sagte Yolanda. Sie vermied Olivers Blick. »Du weißt, was sie mich tun läßt.«
»Ja«, sagte Oliver leise. »Aber was läßt sie mich tun?«
Reggie und Denver, erfuhr er von Mrs. Diamonds Freeland, waren nach Hause gekommen, bevor die Nachricht in Empfang genommen wurde. Sie gingen gerade, als die Bote pfeifend im Hur ankam. Oliver seufzte. Seine Brüder waren beinahe nie daheim; sie dachten, sie könnten Mama hinters Licht führen, aber dem war nicht so. Mama wußte, wer kommen und nach ihr sehen würde, wenn sie in Schwierigkeiten steckte.
Reggie und Denver hielten sich für die heißesten Burschen in der Straße. Sie behaupteten, überall in Sleepside und Snowside Frauen zu haben. Oliver war beinahe zu schüchtern, um überhaupt eine Frau anzusprechen. Er war klein, schmächtig und beinahe hübsch, und für seine Größe beachtlich stark. Oliver war nie in seinem Leben einem ehrlichen und lohnenden Kampf ausgewichen, hatte aber auch nie einen angefangen.
Der Gedanke, zu Miss Belle Parkhursts Establishment zu gehen, ängstigte ihn, aber er erinnerte sich an das, was sein Vater ihm eine Woche vor seinem Tod gesagte hatte. »Oliver, wenn ich gegangen bin – das wird bald sein, du weißt es… Yolanda ist intelligent wie eine Schüssel Cornflakes und deine Brüder… nun, ich will nett sein und nur sagen, daß deine Mama dich brauchen wird. Du mußt dich als verläßlich erweisen, so daß du ihr eine Stütze bist.«
Damals waren die Babys noch nicht geboren.
»Welchen Zug hat sie genommen?«
»Den nach Snowside«, sagte Mrs. Diamond Freeland. »Aber sie muß in Sunside ausgestiegen sein. Das ist die Dreiunddreißig.«
»Es wird Nacht«, sagte Oliver.
Yolanda schnaufte und wischte sich die Augen. Davongekommen. »Du gehst?«
»Muß wohl«, sagte Oliver. »Es geht um Mama.«
Mrs. Diamond Freeland sagte: »Ich glaube, diese Hure hat etwas vor.«
Auf der Grenze zwischen Dämmerung und Dunkelheit, unterirdisch, wo es keinen Unterschied hätte machen sollen, leerte sich die Metro von Tagespassagieren und füllte sich mit denen der Nacht.
Manchmal fuhren die Tagleute in dichtgedrängten Gruppen mit der Nachtmetro, aber nicht, wenn sie es vermeiden konnten. Die Nachtmetro war dazu da, um die Verlorenen oder den menschlichen Abschaum zu transportieren. Jeder, der sich schämte oder Angst hatte, tagsüber herauszukommen, kam nachts heraus. Die Nachtmetro transportierte auch die Nuller – Leute, die einfach ihre Leben lebten. Starben sie, konnte sich niemand mehr an sie erinnern. Nachtmetro – besonders in späten Stunden – war keine empfehlenswerte Art zu reisen, aber für Oliver war es der schnellste Weg von Sleepside nach Sunside. Er mußte so früh wie möglich los, um zu Mama zu gelangen.
Oliver stieg die vier Absätze der Betontreppe hinab und knirschte angesichts der Gefahr, in der er sich befand, mit den Zähnen. Am Fuß der Stufen hielt er inne und lockerte seine vor Furcht verkrampften Rückenmuskeln und Nerven. »Es ist wegen Mama; wegen Mama. Niemand außer mir kann ihr helfen.« Er ließ die bronzene Katzenkopfmünze in das Drehkreuz fallen, klapperte hindurch und überquerte die verlassene Plattform. Lediglich zwei unbestimmbare Gestalten, die in schwere Umhänge gehüllt waren, obwohl es ein warmer Abend war, warteten auf der Bahnseite. Oliver behielt sie im Auge und ging auf dem schmutzigen, von Füßen abgewetzten Beton in Form einer Acht vor und zurück und spähte nervös auf die Nässe und den Ruß unter den Schienen hinab. Hinter ihm, auf der schmutzigen Fliesenwand der Station, hing das Goldmosaik einer Trompete und der Zahl Sieben. Die Trompete für Leute, die nicht lesen konnten, um anzuzeigen, daß sie aussteigen mußten. Alle Stationen in Sleepside hatten Musikinstrumente.
Die Nachtmetro wurde von einer anderen Mannschaft betrieben als die Tagmetro. Sein Zug kam an, sauber, glatt und silbern, ohne einen Tupfen Graffiti oder einen getrübten Flecken. Oliver erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Fahrer unter dem SLEEPSIDE/CHASTE RIVER/SUNSIDE-46TH-Schild, das das Ziel angab. Der Fahrer trug oder besaß einen Stierkopf und hatte ein Paar langer schimmernder Scheren bei sich, die an seinem Sam-Browne-Gürtel befestigt waren. Oliver trat durch die geöffnete Tür und ergriff einen glatten Haltegriff, obwohl die Sitze zum größten Teil unbesetzt waren. Wenn man stand, konnte man schnell weglaufen.
Es waren vier Leute im Wagen: zwei Frauen – eine jung, nicht hübsch oder sehr lebendig aussehend; die andere war alt, hatte trübe Augen und eine mit Gänseblümchen bedruckte Plastikeinkaufstasche bei sich – und zwei Männer, beide blond und stämmig, gekleidet in Geschäftsanzüge mit glänzenden Ellbogen. Keiner sah den anderen an. Die Türen schlossen sich, und der Zug rollte an, beschleunigte, bis der Lärm seiner Räder auf den Schienen alle anderen Geräusche übertönte und beinahe auch alle Gedanken.
Es gab mehr tote Stationen als intakte und beleuchtete. Die Nachtmetro hatte nur wenig Stationen mit der Tagmetro gemein. Die meisten Stationen waren abgeschaltet, aber die einzigen Leute, die es dort noch gab, würden sich sowieso nicht im hellen Licht zeigen. Oliver versuchte nicht hinzusehen, seine Augen auf die wenigen gerichtet zu halten, die mit ihm im Wagen waren. Aber ab und zu konnte er sich nicht zurückhalten und spähte hinaus. Jenseits von X-Balken und Barrikaden huschten einzelne orangefarbene Lampen und zerbrochene Fliesenwände vorüber, Plattformen voll von Schmutz und Schatten.
Einige behaupteten, die Toten würden die Nachtmetro benutzen, und daß sie nach Mitternacht den ganzen Weg nach Darkside führe. Oliver wußte nicht, was er glauben sollte. Als der Zug zu seinem Haltepunkt hin langsamer wurde, zog er den Kragen seiner dunkelgrünen Nylonwindjacke hoch und rieb sich mit einem Finger die Nase. Reggie und Denver wären nicht einmal so weit gekommen. Sie schätzten ihre Haut viel zu sehr.
Nachdem er ausgestiegen war, bewegte der Zug sich nicht weiter. Für einen Moment stand er an der geöffneten Tür, dann ging er am vorderen Wagen vorbei auf die Treppe zu. Über die Schulter sah er den Fahrer, der im Vorderteil des Wagens in seiner kleinen Kabine in fluoreszierender Kälte stand. Die Augen des Stierkopfes lagen tief im Schatten. Oliver fühlte das sternengleiche Prickeln in den Höhlen des Beobachtenden mehr, als er es sah. Die linke Hand des Fahrers zog an den Schneiden der silbernen Schere.
»Was kümmert es dich, Mann?« fragte Oliver leise und verweilte einen Augenblick, um das versteckte Starren zu erwidern. »Mach weiter mit deiner Arbeit. Wir alle haben was zu tun.«
Die Nase des Stierkopfes deutete lediglich ein von Oliver abgewandtes Zucken an, und die Hand ließ die Schere los, um sich auf einen Schalter zu legen. Die Türen des Zuges schlossen sich. Die silbernen Seiten, Fenster und Lichter nahmen Geschwindigkeit auf, und der Zug legte sich quietschend in eine Kurve in die Dunkelheit. Oliver erklomm die zwei Treppenabsätze zur Sunside-Station.
Die sommerliche Nacht lag schwer und warm auf den üppigen Bäumen und dem Gras des ausgedehnten Parks. Oliver stand vor dem Eingang zur Metro und hörte den Grillen, Heuschrecken und Zikaden zu, die ihre im baum- und graslosen Sleepside ungehörten Lieder sangen. Überall um den Park herum erhoben sich Wände aus Marmor und Backstein mit dunklen Fenstern, graue Steinhotels und gefällige Apartmentgebäude mit Giebeldächern.
Oliver sah sich nach einer Orientierung um, einer Karte oder etwas ähnlichem. Oberhalb der Nachtmetro war es sogar möglich, gewöhnliche Leute anzutreffen und sie zu fragen, wenn er es wagte. Er ging in Richtung der Straße und dachte an Mama, daß sie so weit gekommen war, und an die Angst, die sie dabei gehabt haben mußte. Er liebte Mama sehr. Manchmal schien es, als wäre sie der einzig ordentliche Teil in seinem Leben, obwohl ihn junge Frauen im Laufe der Jahre mehr und mehr ablenkten.
»Oliver Jones?«
Eine lange weiße Limousine wartete am Rinnstein. Eine junge, schlanke Frau in violetter Chauffeurslivree und einer flotten schwarz-silbernen Kappe auf ihrem üppigen Haar nickte schüchtern, lächelte ihn an und winkte ihm mit weißen Lederhandschuhen zu. »Sind Sie Oliver Jones, der kommt, um seine Mama zu retten?«
Er ging langsam auf die weiße Limousine zu. Sie war größer und schöner als alles, was er bisher gesehen hatte. Lange, gerippte Chromrohre lugten schlangengleich aus der Motorhaube hervor, reichten durch das Schutzblech. Einzigartige goldene Frontscheinwerfer und ein weißes Dach aus echtem Leder. »Mein Name ist Oliver«, bestätigte er.
»Dann sind Sie mein Mann. Bitte, steigen Sie ein.« Sie blinzelte und hielt die Tür auf.
Die Tür schloß sich und der Arm der Frau – der alles war, was er durch die rauchigen Fensterscheiben von ihr sehen konnte – verschwand. Die Fahrertür öffnete sich nicht. Sie stieg nicht ein. Die Limousine fuhr von alleine an. Oliver fiel in ein mit Wildleder und Samt überzogenes Innere zurück. Ein elektrischer Flüssigkeitsspender schimmerte silbern, golden und schwarz über einem kaltweiß beleuchteten Paneel, auf dem ein einzelnes Kristallglas mit Eiswürfeln stand. Ein Zapfhahn drehte sich und wartete auf Anweisung. Als keine gegeben wurde, goß er gutriechenden Gin über das Eis und drehte sich zurück auf seinen Platz.
Oliver rührte das Glas nicht an.
Unter dem Flüssigkeitsspender schaltete sich automatisch ein Fernseher ein. Lust und Leidenschaft drang aus kleinen Lautsprechern. »Nein«, sagte er. »Nein!«
Der Fernseher ging aus.
Er rückte näher an die rauchige Scheibe und sah gedämpfte Straßenbeleuchtung und vorbeihuschende Taxischeinwerfer. Ein großes schwarzes Gebäude, geschmückt mit schwarzen Ornamenten und rot umrahmten Fenstern zeichnete sich nach einer Kurve ab; bis auf drei Fenster waren alle unbeleuchtet. Die Limousine bog ab und fuhr hinab in eine unterirdische Garage. Das Licht warf riesige goldene Katzenaugen, Reifen quietschten auf glänzendem Beton, die Limousine schlängelte sich wie im Slalom um Wände und Pfeiler und staubige andere Limousinen und hielt abrupt. Die Tür öffnete sich.
Oliver stieg aus. Die Chauffeurin stand neben der Tür und hielt sie, die Kappe gezogen, lächelnd auf. »Es war mir eine Freude«, sagte sie.
Das Auto parkte neben einer hohen hölzernen Tür, die von behauenem Stein umrahmt war. In dem unebenen Gestein der Wandblöcke waren, klar und deutlich, fossile Knochen und Zähne zu erkennen. Glitzernde Farne in dunklen Teichen umsäumten die Tür. Oliver hörte das Auto wegfahren und wandte sich um, sah aber nicht, ob die Chauffeurin diesmal fuhr oder nicht.
Er ging über eine Brücke aus Holzplanken und probierte die schwarze Türklinke. Die Tür schwang bereits bei der Berührung seiner Finger auf. Jenseits führte eine schmale Treppenflucht zum oberen Geschoß. Sie war mit rotem Teppich belegt und hatte ein mit geschnitzten Rosenbüschen verziertes Ahorngeländer.
Es roch nach Nelken und Minze und irgendwie nach etwas, das Oliver mit dem Geruch von Hunden oder Pferden verband – eine muffige alte Hundedecke, die auf dem Boden lag. (Er hatte niemals einen Hund besessen und nie ein Pferd ohne einen Polizisten darauf gesehen; auch war er nicht so nahe herangekommen, um etwas zu riechen). Niemand war seit langer Zeit hier hindurchgegangen, dachte er. Aber jedermann wußte von Miss Belle Parkhurst und ihrem Aufenthaltsort. Und die Chauffeurin war jung gewesen. Er verzog die Nase; er mochte diesen Ort nicht.
Die dunkle Holztür am oberen Ende der Treppe öffnete sich leise. Niemand wartete dort – sie mochte sich von selbst geöffnet haben. Oliver versuchte etwas zu sagen, aber seine Kehle juckte, und er machte den Mund wieder zu. Er hustete in die Faust und zuckte krampfartig mit den Schultern. Dann, mit feuchten Augen und hitzig vor Zorn und Angst, bekam er seine Lippen auseinander und krächzte: »Ich bin Oliver Jones. Ich bin hier, um meine Mama abzuholen.«
Die Tür blieb leer. Er blickte zurück zur Parkgarage, die dunkel und ruhig war wie eine Höhle, dort gab es für ihn nichts mehr. Dann eilte er die Treppe hinauf, um es hinter sich zu bringen, trat durch die Tür in das berüchtigte Haus der Miss Belle Parkhurst.
Die Stadt dehnte sich bis zum entfernten Horizont. Sie war durch Straßen, Kanäle und ober- oder unterirdische Bahnschienen in Viertel unterteilt. Manchmal kannte man die Bezirke und wußte, daß man sie besser nicht durchquerte; aber manchmal wußte man es auch nicht. Die Stadt ist größer als das Leben eines jeden, und nicht zu verstehen, warum man ist, wo man ist und warum man dort bleiben muß, ist mehr wert als das Leben.
Die Stadt fördert Ignoranz, weil sie konsumieren muß.
Die vier Viertel der Stadt sind Snowside, Cokeside, wo sich die wenigen normalen Menschen aufhielten, Sleepside und Sunside. Sunside ist hell und reich und gefährlich, weil dort das Feudalvolk lebt. Das Feudalvolk duldet keine Eindringlinge. Selbst die Polizei begibt sich nicht ohne Begleitung nach Sunside. Im Zentrum der Stadt befindet sich die Oberstadt. An der Säule des Unbekannten Bürgermeisters in der Mitte der Oberstadt treffen die vier Viertel aufeinander. Außerhalb liegt die Unterstadt und die verstreuten Inseln der Vororte und niemand weiß, wo das alles endet.
Die Joneses leben in der Unterstadt von Sleepside. Selbst gegen Mittag ist das Licht dort nicht sehr hell, aber es brennt auch nicht so grell wie in Cokeside, wo es einem den Schädel versengen kann. In Sleepside kann man es aushalten. Es gibt viele gute Leute in Sleepside und Snowside, und, obwohl verworren, ist der allgemeine Lauf der Dinge nicht bösartig. Oliver wuchs dort auf, und es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne Zweifel hatte der Nachtmetrofahrer seine Herkunft gerochen und wußte, hier war ein junger Mann, der die Grenze zur Oberstadt überquerte. Ohne Zweifel war Oliver noch am Leben, weil Miss Belle Parkhurst ihn schützte. Das hieß, Miss Parkhurst hatte Mama geschützt und sie vielleicht auch angelockt.
Der Weg durch die Halle war an beiden Seiten mit Reihen von Kerzen beleuchtet, die von goldenen Leuchtern, geformt wie Adlerklauen, gehalten wurden. Am Ende der Halle trat Oliver in einen breiten holzgetäfelten Raum, der hier und da Messingspucknäpfe mit üppigen grünen Farnen enthielt. Der Orientteppich offenbarte einen stilisierten orientalischen Garten in Cremefarbe, Schwarz und Rot. Fünf leere schwarze, samtgepolsterte Couchen standen dort – unbesetzt, erwartungsvoll, wie eine Reihe schmachtender Frauen inmitten der Farne. Entlang der Wände zeigten mit Leinen bezogene Stühle ihre hölzernen Armlehnen. Oliver blieb stehen und staunte über diesen für ihn ungewohnten Luxus. Er brauchte einige Zeit, um dies alles in sich aufzunehmen.
Miss Belle Parkhurst war offensichtlich eine sehr wohlhabende Frau und nicht bloß irgendeine Hure. Aus dem, was er bisher gesehen hatte, ließ sich schließen, daß sie nicht nur über Geld, sondern auch über Macht verfügte, Macht über Autos und vielleicht über Männer und Frauen. Vielleicht über Mama. »Mama?«
Ein großer dünner, weißhaariger Mann in einem cremefarbenem Anzug ging durch den Raum und beachtete Oliver nicht. Er sagte nichts. Oliver beobachtete, wie er sich auf einen leinenüberzogenen Stuhl setzte. Er brachte die Leinenbezüge nicht in Unordnung, sondern setzte sich durch sie hindurch, lehnte seinen Kopf nachdenklich zurück und hob eine Zigarettenspitze ohne Zigarette hoch. Er blies klare Luft aus, oder vielleicht überhaupt nichts, und lächelte dann direkt rechts von Oliver etwas an. Oliver wandte sich um. Sie waren allein. Als er sich wieder umsah, war der Mann im cremefarbenen Anzug verschwunden.
Olivers Arme prickelten. Er war in etwas hineingeraten, mit dem er nicht gerechnet hatte, und er hatte mit vielem gerechnet.
»Hierher«, sagte die tiefe Stimme einer Frau opernhaft, würdevoll, ungezwungen und freundlich zugleich. Er konnte sie nicht sehen, aber er blinzelte zum Eingang, und sie trat zwischen zwei Aushöhlungen in grünen Onyxsäulen hervor. Er bemerkte nicht sofort, daß sie ihn meinte; es mochte durchaus noch andere Gentlemen oder Mädchen geben, genauso dünn wie der Mann im cremefarbenen Anzug. Aber diese kleine, imposante Frau mit erhobenen Händen, bekleidet mit goldener und pfirsichfarbener Seide, die sich faltenlos an sie schmiegte, beobachtete aus ihren großen dunklen Augen nur ihn. Sie lächelte warmherzig, aber Oliver dachte, einen verborgenen Bruch in diesem Lächeln, ihrer Selbstsicherheit, zu entdecken. Von dem Augenblick an, als sich ihre Augen trafen, fühlte sie sich unbehaglich, obwohl sie sich vorher behaglich gefühlt haben mochte, lediglich daran denkend, ihn zu treffen. Sie hatte alle Dinge bis zu diesem Moment geplant gehabt.
Wenn er sie etwas aus der Ruhe brachte, erschreckte ihn diese Frau in positivem Sinne. Sie war schön und hatte eine glatte Haut, und er konnte süßen Rosenduft riechen und Kamelien und Magnolienblüten, die sie umgaben wie eine Schar lieber Freunde.
»Hierher«, wiederholte sie und machte eine Geste in Richtung der Tür.
»Ich komme wegen meiner Mama. Ich soll mich mit Miss Belle Parkhurst treffen.«
»Ich bin Belle Parkhurst. Sie sind Oliver Jones… nicht wahr?«
Er nickte mit ernstem Gesicht und großen Augen. Er nickte erneut und schluckte.
»Ich habe Ihre Mama nach Hause geschickt. Ihr geht es gut.«
Er blickte zurück zum Weg durch die Halle. »Sie wird die Nachtmetro nehmen«, sagte er.
»Ich habe sie mit meinem Auto nach Hause geschickt. Ihr wird nichts geschehen.«
Oliver glaubte ihr. Es entstand ein langer Moment der Stille. Er wurde gewahr, daß er seine Hände vor seinem Schoß verdrehte und rang und hörte verlegen damit auf.
»Ihre Mama ist wohlauf. Sie brauchen sich ihretwegen nicht zu sorgen.«
»In Ordnung«, sagte er und zuckte die Achseln. »Sie wollten mich sprechen?«
»Ja«, sagte sie. »Und mehr.«
Seine Nasenflügel blähten sich, seine Augen ruckten nach rechts, sein Torso und dann auch seine Hüften und Beine verdrehten sich ebenfalls in diese Richtung, und er brach in einem karnickelartigen Lauf zur Halle aus. Die goldenen Adlerklauen auf beiden Seiten des Weges ließen ihre Kerzen fallen und griffen mit ihren Krallen nach ihm. Das große Haus schien plötzlich erwacht zu sein, und noch bevor eine Klaue seinen Kragen erwischte, wußte er, daß er keine Chance hatte.
An den Achseln seiner Jacke gepackt, hing er hilflos am Ende der Halle. In der entfernt liegenden Tür erschien verärgert die Hure. Ihre Finger versprühten kleine Tropfen von Feuer auf den Holzboden. Der Boden rauchte und knisterte.
»Ich habe Ihre Mama gehen lassen«, sagte Belle Parkhurst mit einer Stimme wie aus dem Grab, das Gesicht erschreckend und wundervoll glatt und sehr alt, sehr erfahren. »Das war mein Abkommen. Wenn Sie gehen und das Abkommen brechen, heißt das, daß ich mir Ihre Schwester hole; oder ich hole mir Ihre Mama zurück.«
Sie hob eine elegante, nachgezogene Augenbraue und neigte ihren Kopf fragend zur Seite. Er nickte, so gut er es vermochte, da sein Kinn gegen den Reißverschluß seiner Jacke gepreßt war.
»Gut. Essen wartet auf uns. Ich möchte mich Ihrer Gesellschaft erfreuen.«
Das Eßzimmer war klein, nicht größer als sein Schlafzimmer zu Hause. Es gab zwei Stühle und einen runden Tisch mit einer Decke aus weißem Leinen. Ein goldener Kandelaber in Form einer Adlerklaue warf ein warmes Licht über die Tischplatte. Miss Parkhurst ging Oliver voraus, ihr langes Kleid raschelte leise an ihren Fersen. Es raschelten noch andere Dinge im Raum; der Boden mochte dem Geräusch nach knöchelhoch mit windbewegten Blättern bedeckt sein, aber er war tadellos. Ein kostbarer runder, rot und cremefarbener Orientteppich lag mitten unter dem Tisch und darunter befand sich ein glatter alter Eichenboden. Oliver blickte von seinen Segeltuchschuhen auf. Miss Parkhurst wartete erwartungsvoll einen Schritt hinter ihrem Stuhl.
»Ihre Mama hat Ihnen keine Manieren beigebracht?« fragte sie leise.
Er näherte sich zögernd dem Tisch. Dort lagen nun leere Goldteller und Tischwäsche auf dem Leinen. Servietten schienen aus dünnem Nebel zu fallen und falteten sich selbst auf den Tellern. Oliver verweilte mit geblähten Nasenflügeln.
»Beachten Sie es gar nicht«, sagte Miss Parkhurst. »Ich lebe allein hier. Gute Hausangestellte sind nur schwer zu finden.«
Oliver trat hinter den Stuhl, hob ihn an seiner Ahornlehne an und schob ihn ihr zurecht. Sie setzte sich und er half ihr, näher zum Tisch rücken. Nicht einmal berührte er sie; er bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran.
»Das Essen hier ist sehr gut«, sagte Miss Parkhurst, als er ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Ich bin nicht hungrig«, sagte Oliver.
Sie lächelte ihn herzlich an. Es war ein machtvolles Instrument, ihr Lächeln. »Ich beiße nicht«, sagte sie. »Außer beim Essen. Da beiße ich zu.«
Oliver roch wundervolle Gewürze und süßen Weinessig. Eine Serviette war über seinem Schoß ausgebreitet worden und vor ihm stand ein Salat auf einem dünnen Porzellanteller. Er war sehr hungrig und ihm schmeckten Salate; frisches Gemüse bekam man in Sleepside nur selten zu Gesicht.
»So ist’s recht«, sagte Miss Parkhurst besänftigend und lächelte, während er aß. Sie erhob ebenfalls ihre Gabel und spießte ein Blatt Salat mit Olivenöl auf und führte es an die Lippen.
Der Rest des Essens verlief in gleicher Weise, aber ohne weitere Unterhaltung. Sie beobachtete ihn freimütig und abschätzend, und er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
Miss Parkhurst führte ihn einen großen Korridor mit großen Fenstern in der Ostmauer entlang in sein Zimmer. Dämmerungsgraue und rosa Schatten spielten um ihre undeutlichen Silhouetten an der Westmauer. »Es ist der ruhigste Ort im ganzen Haus«, sagte sie.
»Sie behalten mich hier«, sagte er. »Sie lassen mich nie mehr gehen?«
»Bitte erlauben Sie mir, etwas nachsichtig mit mir selbst zu sein. Ich bin nicht nur allein. Ich bin einsam. Hier können Sie alles haben, was Sie wollen… fast alles…«
Eine Tür am Ende des Korridors öffnete sich von allein. Dahinter brannte ein helles Feuer in einem kleinen Kamin und ein breites Bett mit zurückgeschlagener Decke erwartete ihn. Detailgetreue Wandgemälde von Wäldern und Feldern bedeckten die Wände; die Decke war tiefblau, durchzogen von Gold- und Silberflecken und juwelenartigen Sternen. Bücher füllten einen Schrank in der Ecke und in einer weiteren Ecke stand das schönste Ebenholzpiano, das er je gesehen hatte. Miss Parkhurst kam der Tür nicht zu nahe. Es gab keine Kerzen. Im Raum funktionierten alle Lampen elektrisch.
»Dies ist Ihr Zimmer. Ich werde nicht eintreten«, sagte sie. »Und ab heute abend kommen Sie niemals nach Einbruch der Dunkelheit heraus. Wie reden miteinander und sehen uns während des Tages, aber niemals des Nachts. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich muß Ihnen vertrauen.«
»Ich kann jederzeit gehen, wenn ich will?«
Sie lächelte. Selbst jetzt wirkte ihr Lächeln nicht anders als rätselhaft; ihn schauderte. Sie war tödlich schön, die Art Frau, von denen seine Brüder träumten. Ihr Lächeln besagte, daß sie ihn lebendig verschlingen könnte, alles von ihm, was zählte. Oliver konnte sich die Reaktion seiner Mutter auf Miss Parkhurst vorstellen.
Er betrat das Zimmer und schloß zitternd die Tür. Es gab ein Dutzend Dinge, die er sagen wollte; verärgert, frustriert, flehend. Er lehnte sich gegen die Tür, schluckte alles hinunter, hielt seine Hand davon ab, den Türknopf aus Gold und Kristall zu ergreifen.
Hinter der Tür raschelte ihr Saum, als sie sich durch den Korridor zurückzog. Nach einem Moment stieß er sich von der Tür ab und ging zum Bücherschrank. Miss Parkhurst hätte niemals mit Olivers Schwester Yolanda vorliebgenommen; sie wollte junges Knabenfleisch, dachte er. So wie sie lächelte, wollte sie ihn von Kopf bis zu den Füßen brennen lassen.
Im Schrank waren Bücher, von denen er gehört, die er aber niemals in der Bibliothek Sleepsides gefunden hatte. Er wollte diese Bücher lesen. Die Bibliothekare sagten, daß nur die Leute von Sunside und den Vororten Lust hatten, zu lesen. Seine Finger verweilten am oberen Ende der Buchrücken und zupften sanft daran.
Er beschloß zu schlafen. Wenn sie ihn während des Tages quälen wollte, hatte er nicht viel Zeit. Sie könnte ein Spätaufsteher sein, dachte er; ein Nachtmensch.
Dann wurde ihm bewußt: was immer sie nachts tat, diese Nacht hatte sie es nicht getan. Diese Nacht war für ihn bestimmt gewesen.
Er erschauerte erneut, dachte an das Essen und die Servietten und die Adlerklauen. Spukte es auch in diesem Raum? Würden die Dinge ihn bewachen?
Oliver legte sich voll bekleidet aufs Bett. Seine Sinne waren umnebelt von Gedanken an lebendige Leintücher auf seiner bloßen Haut. Er war müde und schlief beinahe sofort ein.
Die Träume, die kamen, waren süß und erfreulich, und sie kam nicht darin vor. Es war wahrhaftig seine Zeit.
Als die Uhr aus Messing, Gold und Kristall auf dem Bücherschrank elf Uhr anzeigte, streckte Oliver die Beine aus, rieb sein Gesicht in den Kissen, beugte den Rücken und stand auf. Er roch Eier und Speck und Kaffee. Ein verdecktes Tablett wartete auf einem polierten Messingwagen. Eine Vase mit Rosen auf einer Ecke des Wagens erfüllte den Raum mit Wohlgeruch. Ein gefalteter Bogen aus feinem elfenbeinfarbenem Papier lehnte an der Vase. Oliver saß auf dem Rand des Betts und las die Nachricht, die wieder mit goldener Tinte geschrieben war.
Ich warte im Gymnastikraum auf Sie. Treffen Sie mich, nachdem Sie gegessen haben. Habe etwas, was ich Ihnen geben will.
Er hatte keine Ahnung, wo der Gymnastikraum war. Als er sein Frühstück beendet hatte, zog er einen Plüschumhang an, öffnete die schwere Tür zu seinem Zimmer – zugleich erleichtert und verwirrt, daß sie sich nicht von selbst öffnete – und blickte den Korridor hinab. Der Mittag nahte; Sunside-Zeit. Sie hatte ihm reichlich Zeit gegeben, um auszuruhen.
Schwarze Jeans und ein weißes Seidenhemd lagen auf dem Bett für ihn bereit; sie waren gerade in der Zeit entstanden, in der er durch die Halle geschaut hatte. Vorsichtig, nun jedoch weniger ängstlich, streifte er den Umhang wieder ab, zog die bereitgelegte Kleidung und Hirschledermokassins an, die am Fuß des Betts standen und stellte sich in den Eingang, wobei er sich so lässig wie möglich gegen den Türrahmen lehnte.
Ein seidenes Taschentuch hing einige Zentimeter vor ihm in der Luft. Es flatterte wie der Geist einer Taube, um seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Dann trieb es langsam die Halle entlang. Er folgte.
Es schien, als ob sich das Haus endlos hinzöge, leer und prächtig. Jeder geöffnete Raum hatte seine eigene Ausstattung, angefüllt mit antiken Einrichtungsgegenständen, eingetopften Palmen, Plüschcouchen und Stühlen. Verschiedene Male dachte er, das Aufblitzen von Smokings und Zylinderhüten zu sehen, angespannte, begierige Gesichter in Foyers, Korridoren und auf Treppenfluchten, während er dem Taschentuch folgte. Das Haus roch nach Parfüm und Staub, Zigarrenrauch, verschüttetem Wein und altem Schweiß.
Er hatte drei Treppenfluchten genommen, bevor er in der hohen elfenbeinweißen Doppeltür des Gymnastikraums stand. Das Taschentuch verschwand mit einem Schrappen. Die Tür öffnete sich.
Miss Parkhurst stand auf der anderen Seite eines ausgedehnten schwarzgefliesten Tanzbodens vor einer Bühne mit Notenständern und Instrumenten. Oliver musterte das niedrige halbkreisförmige Podest mit verengten Augen. Würde sie von ihm verlangen, mit ihr zu tanzen, während all die Instrumente von selbst spielten?
»Guten Morgen«, sagte sie. Sie trug einen grünen Dress in der Farbe frischen feuchten Grases; es reichte vom Hals bis zu den Waden. Neben dem Dress trug sie weiße Halbstiefel und weiße Handschuhe, eine weiße Feder ringelte sich um ihr schwarzes Haar.
»Guten Morgen«, erwiderte er leise und höflich.
»Haben Sie gut geschlafen? Herzhaft gegessen?«
Oliver nickte, Angst und Schüchternheit kehrten zurück. Was wollte sie ihm nur geben? Sich selbst? Sein Gesicht wurde heiß.
»Es ist eine Schande, daß das Haus tagsüber leer ist«, sagte sie. Und bei Nacht? dachte er. »Ich könnte diesen Raum mit Übungsgeräten füllen«, fuhr sie fort. »Gewichtsbänke, vielleicht sogar eine Laufbahn außen herum.« Sie lächelte. Das Lächeln schien nun weniger grausam, sogar versonnen zu sein – jünger.
Er rieb eine Falte seines Hemdes zwischen zwei Fingern. »Ich habe das Essen genossen, und Ihr Haus ist wirklich schön, aber ich würde lieber nach Hause gehen«, sagte er.
Sie wandte sich halb um und entfernte sich langsam vom Podium. »Du könntest dieses Haus und all meinen Reichtum haben. Ich möchte, daß du es bekommst.«
»Warum? Ich habe nicht das Geringste für Sie getan.«
»Oder gegen mich«, sagte sie und blickte ihn geradeheraus an. »Sie wissen, wie ich an all dieses Geld gekommen bin?«
»Ja, Ma’am«, sagte er nach einer kurzen Weile. »Ich bin kein Narr.«
»Sie haben also von mir gehört. Daß ich eine Hure bin.«
»Ja, Ma’am. Mrs. Diamond Freeland sagt, daß Sie eine sind.«
»Und was ist eine Hure?«
»Sie lassen Männer für Geld an sich ran«, sagte Oliver und fühlte sich kühner, sein Gesicht war allerdings immer noch heiß.
Miss Parkhurst nickte. »Ich habe diese Dinge alle von ihnen«, sagte sie. »Meine Buchhaltung. Ich kenne jeden Namen, jedes Gesicht. Sie bleiben mir treu, auch wenn die Geschäfte nur schleppend laufen.«
»Jeden von ihnen?« fragte Oliver.
Miss Parkhursts mattes Lächeln war stolz, und schwermütig zugleich; ihre Augen starrten feucht in die Ferne. »Sie gaben mir all die Dinge, die ich hier habe.«
»Ich denke nicht, daß sie es wert sind«, sagte Oliver.
»Ich wäre tot, wäre ich keine Hure«, sagte Miss Parkhurst und richtete plötzlich ihre vor Ärger scharf blitzenden Augen auf ihn. »Ich wäre verhungert.« Sie entspannte ihre verkrampften Hände. »Wir haben eine Menge Zeit, um über mein Leben zu sprechen, also lassen wir es für jetzt gut sein. Ich habe etwas, das Sie brauchen, wenn Sie diesen Ort erben.«
»Ich möchte es nicht, Ma’am«, sagte Oliver.
»Wenn Sie es nicht nehmen, nimmt es jemand anders, der es nicht braucht und es viel weniger verdient. Ich möchte, daß Sie es bekommen. Bitte, seien Sie nur dieses eine Mal freundlich zu mir.«
»Warum ich?« fragte Oliver. Er wollte einfach nur raus. Dies alles widersprach völlig seinem geplanten Leben. Er fürchtete sich nun weniger vor Miss Parkhurst, obwohl sich ihm bei ihrem Ärger die Nackenhaare sträubten. Er spürte, daß er kühner sein könnte und vielleicht sogar verlangend. Es gab eine Schwäche in ihr: er war ihre Schwäche, aber er war zu erhaben darüber, daraus einen Vorteil zu ziehen, auch wenn er bedachte, wie verzweifelt seine Situation war.
»Sie sind freundlich«, sagte sie. »Fürsorglich. Und Sie hatten noch nie eine Frau.«
Olivers Gesicht wurde erneut heiß. »Bitte lassen Sie mich gehen«, sagte er ruhig und hoffte, daß es nicht klang als würde er betteln.
Miss Parkhurst kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich kann nicht«, sagte sie.
Während Oliver seinen ersten Tag in Miss Parkhursts Haus verbrachte, kehrten in einem anderen Teil der Stadt, jenseits der Grenze von Sunside, Denver und Reggie Jones nach Hause zurück, um ihr Apartment von Düsternis bedeckt vorzufinden. Reggie, groß und schlaksig, mit langem Hals, kleinem Kopf und einer Hakennase, stand mit hängenden Schultern in der Diele. Vor Überraschung stand ihm der Mund offen. »Er ist einfach los und hat euch alle hier zurückgelassen?« fragte Reggie. Denver kam aus der Küche zurück, kleiner und stämmiger als sein Bruder, bekleidet mit einer schwarzen Vinyljacke und einer Hose.
Yolandas Gesicht war vom stetigen Weinen aufgedunsen. Sie genoß nun die Tränen, die sie vergoß und hatte dabei einen Zwei-Stunden-Rhythmus angenommen, der ihre sorgenvolle Mama verwirrte. Sie hütete die zwei Babys in Mamas Schlafzimmer, schloß ein wackliges Gatter hinter ihnen und putzte dann ihre Hände an ihrer lappigen Bluse ab.
»Ihr habt es nicht verstanden«, sagte sie, ließ ihre Arme theatralisch fallen und blickte sie an. »Diese Hure hatte Mama, und Oliver hat sich gegen sie eingetauscht.«
»Diese Hure«, sagte Reggie, »ist eine reiche alte Hexe.«
»Reiche alte Hurenhexe«, sagte Denver selbstzufrieden.
»Diese Hure ergreift die Gelegenheit beim Schopf«, fuhr Reggie fort und sann nach. »Wie ich höre, lebt sie allein.«
»Darum hat sie Oliver geholt«, sagte Yolanda. Die Babys gurrten und schnieften hinter dem Gatter.
»Weshalb ihn und nicht einen von uns?« fragte Reggie.
Mama stieß die Babys sanft von sich, öffnete das Gatter und marschierte die Diele hinunter. Sie hatte ihren besten Wollrock an, eine bedruckte Bluse und war in ihren Übermantel gegen die sich zusammenziehende Dunkelheit und Kälte draußen gehüllt. »Wohin gehst du?« fragte Yolanda sie, als sie vorbeifegte.
»Zeit, mit der Polizei zu reden«, sagte sie und blickte Reggie finster an. Denver wich ins Schlafzimmer zurück und ging ihr aus dem Weg. Sein Bruder auch. Er schüttelte herablassend den Kopf und grinste: Mama schon wieder.
»Diese Schafsköpfe?« sagte Reggie. »Die haben in Sunside doch nichts zu sagen.«
Mama wandte sich an der Tür um und starrte sie an. »Wie werdet ihr eurem Bruder helfen? Er ist der beste von euch allen, wißt ihr. Ihr steht nur plattfüßig hier rum und haltet Maulaffen feil.«
»Mama ist aufgebracht«, informierte Denver seinen Bruder ernst.
»Wie sollte es anders sein«, sagte Reggie mitfühlend. »Sie wurde von dieser Hurenhexe gefangengehalten. Wir sollten losgehen und Oliver nach Hause holen. Wir könnten uns als Kunden ausgeben.«
»Sie hat keine Kunden mehr«, sagte Denver. »Sie ist zu alt. Sie ist abgenutzt.« Er schaute auf seinen Schoß und neigte den Kopf zur Seite, blickte nachdrücklicher. Sein Blick wurde zum gutmütigen Grinsen.
»Woher weißt du das?« fragte Reggie.
»Ich hab’s gehört.«
Mama schnaubte und öffnete die Riegel und Schlösser an der Vordertür. Reggie ging ruhig hinter ihr her und hielt sie auf. »Polizei ist zu nichts nutze, Mama«, sagte er. »Wir gehen. Wir bringen Oliver zurück.«
Denvers Gesicht wurde beim Gedanken daran grimmig. »Wir müssen es planen«, sagte er. »Wir müssen vorsichtig sein.«
»Wir werden vorsichtig sein«, versicherte Reggie. »Um Mamas willen.«
Mama schnaubte erneut, als seine Hand ihr den Weg versperrte, dann ließ sie die Schultern sinken, und ihr Gesicht wirkte mit einem Mal ausgemergelt. Sie sah nun mehr und mehr wie eine alte Frau aus, obwohl sie erst in den späten Dreißigern war.
Yolanda trat zur Seite, um sie zum Wohnzimmer durchzulassen. »Arme Mama«, sagte sie mit Tränen in den Augen.
»Was hast du vor, für deinen Bruder zu tun?« fragte Reggie seine Schwester beißend, als er an ihr vorbeiging. »Gehen und mit ihm den Platz tauschen, in ihrem Haus arbeiten?« spöttelte er.
»Sie ist reich«, sagte Denver zu sich selbst und rieb sich das Kinn. »Wir könnten eine Menge Geld machen, wenn wir unseren Bruder retten.«
»Wir fangen sofort an, darüber zu beraten«, befahl Reggie und ließ sich auf den Stuhl fallen, der gewöhnlich von ihrem Vater benutzt worden war. Er lehnte den Kopf gegen den Überzug, den Mama gemacht hatte.
Mama, das Gesicht aschfahl, stand an der Couch und starrte auf das Familienporträt, das in einem billigen Holzrahmen an der Wand hing. »Er hat es für mich getan. Ich war so dumm dorthinzugehen, um mir helfen zu lassen. Hätte es wissen müssen«, murmelte sie und griff sich an die Handgelenke. Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Knöchel schwankten unter ihr, sie drehte sich, die Hände ausgebreitet wie eine Tänzerin und brach auf der Couch zusammen.
Das Geschenk, das Ding, das Oliver brauchte, um Miss Parkhursts Haus zu erben, war ein goldenes Kästchen mit drei Knöpfen, in der Form eines Garagenöffners. Sie übergab es ihm nach dem Dinner im Eßzimmer.
Es war nett, mit Miss Parkhurst zu reden, etwas, das Oliver nicht erwartet hatte, das er aber hätte wissen müssen. Huren taten mehr, als nur bei den Männern liegen und sie zum Zurückkommen zu bewegen, um ihr Geld auszugeben. Das hätte offensichtlich sein sollen. Der Tag war nicht die Qual gewesen, die er erwartet hatte. Er hatte sogar aufgehört sie zu fragen, ob er gehen könne. Oliver dachte, es wäre am besten, den rechten Zeitpunkt abzuwarten, zu flüchten, wenn etwas sie ablenken würde. Bisher behandelte sie ihn nicht schlecht oder verlangte etwas von ihm, das er nicht geben wollte.
»Es wird bald dunkel«, sagte sie, als die Teller sich von selbst abräumten. Er gewöhnte sich langsam an diesen geisterhaften Service. »Ich muß bald gehen, und Sie müssen in ihr Zimmer. Nehmen Sie es mit und behalten Sie es dort.« Sie hob eine Tablettabdeckung und enthüllte eine weiße Seidentasche. Sie knüpfte die Tasche auf, holte das goldene Kästchen hervor und präsentierte es ihm schüchtern. »Es wurde mir vor langer Zeit gegeben. Ich brauche es jetzt nicht mehr. Aber wenn Sie diesen Ort betreiben wollen, müssen Sie es haben. Sie dürfen es nicht verlieren oder es jemand anderem geben.«
Zögernd näherte sich Olivers Hand dem Kästchen. Es schien sehr erstrebenswert zu sein, als wenn ihm etwas von Miss Parkhurst innewohnte: warm, machtvoll, ein wenig beängstigend. Es paßte perfekt in seine Hand und war seiner Haut vertraut, als hätte er es schon immer besessen.
Er preßte die Lippen zusammen und gab es ihr zurück. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es ist nicht für mich.«
»Sie erinnern sich an das, was ich Ihnen sagte«, erwiderte sie. »Wenn Sie es nicht nehmen, dann jemand anders, und es würde niemandem damit gedient sein. Ich möchte, daß es gut verwendet wird, nun, da ich damit fertig bin.«
»Wer hat es Ihnen gegeben?« fragte Oliver.
»Ein Zuhälter, vor langer Zeit. Als ich noch ein Mädchen war.«
Olivers Augen verrieten kein Urteil und kein Abscheu. Sie atmete tief durch.
»Es hat Sie dazu gebracht…?« fragte Oliver.
»Nein. Ich war jung, aber bereits eine Hure. Ich hatte einen netten alten Zuhälter, wenigstens schien er alt zu sein, ich war nicht viel älter als ein Kind. Er starb, er wurde umgebracht, also kam dieser neue Zuhälter, und er war mächtig. Er besaß die Magie. Aber er konnte mich nicht bändigen. Also sagte er…«
Miss Parkhurst hob die Hände ans Gesicht. »Er schlitzte mich auf. Ich war schon fast tot. Er sagte: ›Du machst mir Schande, Hure. Du tust mir das an, bringst mich soweit daß ich die Kontrolle verlier. Du bist die einzige, die so etwas je geschafft hat. Deshalb verfluche ich dich. Du sollst die größte Hure sein, die es je gab.‹ Daraufhin gab er mir das Kästchen und richtete mein Gesicht und meinen Körper wieder her, so daß ich hübsch aussah. Dann verließ er mich, und ich hatte die Leitung inne. Seitdem bin ich hier, aber alle anderen Mädchen sind gegangen – es ist schon so lange her, einige sind gestorben, sind gegangen, oder ich habe ihnen gesagt, sie sollten gehen. Ich wollte dieses Haus schließen, aber ich konnte nicht alles auf einmal schließen.«
Oliver nickte bedächtig. Seine Augen waren weit geöffnet.
»Er gab mir auch das meiste von seiner Magie. Ich hatte keine Wahl. Etwas, das er mir nicht gab, war ein Ausweg. Außer…«
Diesmal zeigte ihr Gesicht einen flehentlichen Ausdruck.
Oliver hob eine Augenbraue.
»Was ich brauche, muß freiwillig gegeben werden. Nun nehmen Sie dies.« Sie stand auf und drückte ihm das Kästchen in die Hand. »Gebrauchen Sie es, um Ihre Wege im Haus zu finden. Aber verlassen Sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht ihr Zimmer.«
Sie verließ das Eßzimmer und ließ einen Duft von Moschus und Blumen und etwas Bittersüßem zurück. Oliver steckte das Kästchen in die Tasche und kehrte in sein Zimmer zurück. Er fand seinen Weg, ohne zu zögern, ohne nachzudenken. Er schloß die Tür und ging zum Bücherschrank, bekümmert, aufgebracht und frohlockend zugleich.
Sie hatte ihm ihr Geheimnis erzählt. Wenn er es wollte, konnte er nun verschwinden. Sie hatte ihm die Macht gegeben, dieses Haus zu verlassen.
Von seinem Glas Sherry nippend, das er auf dem Nachttisch neben dem Bett vorgefunden hatte, las er in einem Buch über das Leben von Komponisten und beschloß, bis zum nächsten Tag zu warten.
Nach einigen Stunden konnte ihn nichts mehr von Miss Parkhursts Verbot ablenken – nicht das Piano, die Bücher oder die Happen, die schon beinahe geliefert wurden, bevor er überhaupt an sie gedacht hatte, und auf einem Tablett erschienen, wenn er nicht hinsah. Oliver saß mit gefalteten Händen im Plüschsessel und blinzelte in die dunklen Ecken des Zimmers. Er dachte, er hätte Miss Parkhurst festgenagelt. Sie war eine alte Frau, ihres Lebens überdrüssig, eine alte Frau, die sich gut gehalten hatte, das war sicher, und sehr stark war… Aber sie war freundlich zu ihm, umhegte ihn wie einen Gigolo. Dennoch konnte er nicht anders, als sie zu bewundern, und er konnte sich nicht helfen, aber er wollte nach Hause, in die Nähe von Mama, Yolanda und den Babys, seine Brüder aus Schwierigkeiten heraushalten – nicht daß sie seine Bemühungen würdigten.
Je länger er dasaß, desto ärgerlicher und neugieriger wurde er. Er war sicher, daß zu Hause etwas nicht in Ordnung war. Im Zimmer umherzugehen, beruhigte ihn nicht. Er untersuchte im Schein des Feuers immer wieder das Kästchen, die Augenbrauen verkniffen, und fragte sich, welche Macht es ihm verlieh. Sie hatte gesagt, er könne damit überall im Hause herumgehen und seinen Weg finden, genau wie er ohne ihre Hilfe sein Zimmer gefunden hatte.
Er stöhnte und schüttelte die Fäuste. »Sie kann mich nicht hierbehalten! Sie kann nicht!«
Um Mitternacht konnte er sich nicht länger beherrschen. Er stand vor der Tür. »Laß mich raus, verdammt noch mal!« schrie er, und die Tür öffnete sich mit einem traurigen Wispern. Er rannte den Korridor hinunter. Zerstreutes Mondlicht lag wie Staub auf dem Boden, Tränen schimmerten auf seinen Wangen.
Durch die Wohnzimmer, die langen Hallen der leeren Schlafzimmer – nun mit geschlossenen Türen und Andeutungen von Lauten dahinter –, durch die große, einsame Küche mit ihren Reihen polierter Töpfe und mächtigen Kohleherden, durch einen Hof, umgeben von den fünf Stockwerken des Hauses und nur offen zum goldbestirnten Nachthimmel, vorbei an einem Ziegelbrunnen, der von drei großen weißen Porzellanlöwen bewacht wurde, deren Ohren und leere Augen seinem Lauf folgten. Oliver suchte nach Miss Parkhurst, um ihr zu sagen, daß er weggehen mußte.
Für einen Augenblick schnappte er auf einer Galerie nach Luft. Er sah schwache Lichter unter den Türen und hörte noch mehr vielsagende Laute. Keine Zeit zum Verschnaufen, selbst mit klopfendem Herzen und brennenden Lungen. Wenn er zu lange an einem Ort verweilte, dachte er, würden die Geister real werden und ihn an ihren Lustbarkeiten teilhaben lassen. Dies war Miss Parkhursts Vergangenheit, ihr Alter und ihre Unzucht; es war mehr als er vertragen konnte. Wie konnte jemand ein solches Leben führen, selbst wenn er verflucht war?
Die Versuchung anzuhalten, zu lauschen, nachzugeben und sich dazuzugesellen, war beinahe stärker, als ihr zu widerstehen. Er verlor den Pfad dessen, was er tat, was sein letztendliches Ziel war, aus den Augen.
»Wo sind Sie?« rief er und stieß die Doppeltür zu einem Spielzimmer auf. Es war, bis auf weitere aufgeschreckte Geister, weitere von Miss Parkhursts Buchführung der Ewigkeit, verlassen. Fahle Gestalten erhoben sich vom Billardtisch, durchscheinende Brüste glühten in einem inneren Licht, fahle Liebhaber rollten sich langsam zur Seite, fette Bäuche ragten hervor – Geisteraugen schwarz und aufgeschreckt. »Miss Parkhurst!«
Oliver fegte durch Hunderte von Mädchen mit nicht mehr Substanz als Schleiern aus Regentropfen. Seine neue Kleidung wurde naß von ihren Tränen. Sie hatte diese Ewigkeit an jämmerlicher Lust geleitet. Sie hatte diese Ausschweifungen orchestriert, für das gesorgt, was er in sich spürte: die Stimmungen und tiefsten, unausgesprochenen Wünsche.
Dünnes altes Gelächter folgte ihm.
Er rutschte auf einer sauer riechenden Champagnerpfütze aus und landete abrupt vor einer hölzernen Tür zu einem Raum, den er noch nicht kannte. Der goldene Öffner sagte ihm nicht, was er jenseits dieser Tür finden würde.
»Öffnen!« rief er, wurde aber nicht erhört. Die Tür war nicht verschlossen, aber sie widerstand seinem Eintritt, als würde sie Tonnen wiegen. Er stieß mit beiden Händen, dann mit der Schulter gegen die Täfelung und stützte seine Segeltuchschuhe gegen den dicken Wollflor eines champagnergetränkten Läufers. Die Tür schwang mit einem eisernen Grollen nach innen auf und Oliver stolperte hinein, bewahrte sich in letzter Minute davor, gerade aufs Gesicht zu fallen. Mit gespreizten Beinen und auf beide Hände gestützt, blickte er vom Holzboden auf und sah, wo er war.
Der Raum war schmal, schien sich aber über Kilometer hinzuziehen. Auf einer Seite befanden sich schlichte Betten in einer endlosen Reihe, auf der anderen Seite befand sich eine endlose Reihe freistehender großer Spiegel. Ein alter Mann, der älteste, den er je gesehen hatte, erhob sich nackt und weiß wie Talkum vom Bett und murmelte vor sich hin. Neben ihm lag, rot und warm wie ein Haufen glühender Kohlen, Miss Parkhurst mit gespreizten Beinen. Der Dunst von Moschus und Schweiß hing über ihr. Sie hob Kopf und Schultern, die Augen auf Oliver fixiert und zog einen schwarzen Morgenrock über ihre Blöße. Durch die Düsterkeit im äußersten Ende des Raums waren weitere Männer, alte und junge, an ihren Betten stehend, zu erkennen. Sie rauchten Zigaretten oder Zigarren oder tranken Champagner oder Whisky. Alle schauten Oliver an. Einige grinsten wissend.
Miss Parkhursts Züge runzelten sich qualvoll wie ein alter Apfel, sie warf den Kopf zurück und schrie. Der alte Mann auf dem Bett packte schwerfällig einen Umhang und seine Kleidung.
Ihr Schrei hallte von der Decke und den Wänden wider und trieb Oliver durch die Tür, die Halle und die Treppenflucht hinab zurück in sein Zimmer. Der Luftzug seiner überstürzten Flucht fuhr ihm durch die tränendurchweichte Kleidung kalt bis in die Knochen. Irgendwie fand er den Weg durch die plötzliche Dunkelheit und Leere und schloß sich in seinem Zimmer ein, wo das Feuer immer noch warm und fröhlich gelb brannte. Hemmungslos zitternd zog Oliver die nassen Sachen aus und rief mit wimmernder Stimme nach seinen eigenen. Aber die unsichtbaren Diener brachten sie ihm nicht.
Er fiel aufs Bett, zog die Decke über sich und schloß die Augen. Er betete, daß sie ihm nicht nachkam, daß sie nicht in sein Zimmer kam, ihren Morgenmantel beiseite warf und ihren feurigen Körper offenbarte; er betete, daß ihr Geruch ihn nicht den Rest seines Lebens verfolgen würde.
Seine Zimmertür öffnete sich nicht. Draußen war alles still. Nach einiger Zeit, als die Dämmerung die Dächer, dann die Wände und schließlich die Straßen erreichte, schlief Oliver.
»Sie kamen letzte Nacht aus Ihrem Zimmer«, sagte Miss Parkhurst beim späten Frühstück. Oliver hörte für einen Moment mit dem Kauen auf, blickte sie mit blutunterlaufenen Augen an und zuckte die Achseln.
»Haben Sie gesehen, was Sie erwartet haben?«
Oliver antwortete nicht. Miss Parkhurst seufzte wie ein junges Mädchen.
»Es ist mein Leben. So habe ich lange Zeit gelebt.«
»Das geht mich nichts an«, sagte Oliver, teilte ein Brötchen in zwei Hälften und bestrich sie mit Butter.
»Widere ich sie an?«
Wieder keine Antwort. Miss Parkhurst erhob sich inmitten seines Schweigens und ging zur Tür des Eßzimmers. Sie blickte ihn über ihre Schulter hinweg mit feuchten Augen an. »Sie haben jetzt keine Furcht mehr vor mir«, sagte sie. »Sie denken, Sie wüßten, was ich bin.«
Oliver erkannte, daß sein Schweigen und seine mißachtende Haltung sie verletzte, und genoß für einen Moment diese Macht. Als sie im Eingang stehenblieb, blickte er mit einem absichtlich harten Ausdruck – zugleich sarkastisch und verärgert, von Reggie kopiert – auf und sah Tränen über ihre Wangen rinnen. Sie schien nun jünger denn je, nicht gefährlich, lediglich sehr bekümmert. Sein Ausdruck schwand. Sie wandte sich ab und schloß die Tür.
Oliver knallte das halbe Brötchen auf seinen Teller mit Eiern und stieß seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ich bin nicht einmal erwachsen!« schrie er gegen die Tür. »Ich bin noch kein Mann! Was wollen Sie von mir?« Er stand auf und trat den Stuhl weg, dann steckte er die Hände in die Taschen und wanderte in dem kleinen Raum umher. Er fühlte sich eingeschlossen, und sie hatte sogar gesagt, er könne jederzeit gehen, wenn er es wünsche.
Wohin gehen? Nach Hause?
Er starrte auf das Goldbesteck und die mit ausgezeichneten Speisen gefüllten Teller. Zuhause gab es das nicht. Zuhause war ein Ort, dachte er zuweilen, gegen den er kämpfen mußte, um von ihm loszukommen. Er konnte Mama nicht für immer vor dem Rest der Familie schützen, er konnte nicht den Rest seines Lebens der Brötchenverdiener für fünf Extramäuler sein…
Und wenn er hierbliebe, wissend, was Miss Parkhurst jede Nacht tat? Könnte er jeden Morgen mit dem Wissen frühstücken, wie die Speisen verdient worden waren, genau wie alle seine Kleider, Bücher und das Piano? Er würde dann wahrhaftig ein Gigolo sein.
Sunside. Er war hier, vielleicht könnte er hier leben, Arbeit finden, von Sleepside weggehen.
Allein der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Er setzte sich und vergrub sein Gesicht in den Händen, wischte sich mit den Fingerspitzen über die Augen, zog an seinen Lidern, um eine Fratze zu schneiden. Er beobachtete sich selbst in der goldenen Karaffe – die große Nase, die monströs getrübten Augen. Er mußte mit Mama reden. Selbst ein Gespräch mit Yolanda mochte helfen.
Aber Miss Parkhurst war nirgends zu finden. Oliver durchsuchte das Haus bis zum Einbruch der Dämmerung, dann aß er allein im kleinen Eßzimmer. Als sich die Dunkelheit durch die Hallen ausbreitete wie Tinte in Wasser, zog er sich in sein Zimmer zurück. Um die Nacht zu bannen und alles, was in ihr geschehen konnte, spielte Oliver laut auf dem Piano.
Als er schließlich zum Bett stolperte, sah er eine einzelne gelbe Rose auf dem Kissen liegen, zerbrechlich und süß. Er legte sie zur Lampe auf dem Nachttisch und zog die Decke über seinen noch angekleideten Körper.
In den frühen Morgenstunden träumte er, daß Miss Parkhurst aus der Villa geflohen wäre und ihn zurückgelassen hätte. Die Geister und alten Männer waren überall und fragten ihn, warum er so rechtschaffen sei. »Sie hatte niemals eine Mama wie Sie«, sagte ein altersschwacher Bursche in schwarzem Samtnachtkleid. »Sie hat Dinge erlebt, die Sie sich nicht vorstellen können. Nun werfen Sie sie einfach raus. Wohin wird sie gehen?«
Oliver erwachte gerade so lange, um sich an den Traum zu erinnern, dann fiel er in einen leichten, unruhigen Schlaf zurück.
Mrs. Diamond Freeland blickte Yolanda finster an, die die Hände rang und vor sich hin murmelte. »Damit kannst du deiner Mama nicht helfen«, sagte sie.
»Ich bin kein Arzt«, beschwerte sich Yolanda.
»Kein Arzt kann ihr helfen«, sagte Mrs. Freeland und spähte zu Mamas Schlafzimmertür.
Denver und Reggie lungerten unruhig im Wohnzimmer herum.
»Ihr zwei Lümmel geht nach eurem Bruder schauen?«
»Wir müssen nicht nach ihm schauen«, sagte Denver. »Wir wissen, wo er ist. Wir haben einen Plan, ihn zurückzuholen.«
»Und weshalb tut ihr dann nichts?« fragte Mrs. Freeland.
»Wenn die Zeit gekommen ist«, sagte Reggie entschieden.
»Eure Mama sehnt sich nach Oliver«, erklärte Mrs. Freeland ihnen nicht zum ersten Mal. »Es wühlt ihr Inneres auf, daran zu denken, daß er bei der Hexe ist und was sie ihm antun könnte.«
Reggie versuchte erfolglos, ein Grinsen zu verbergen.
»Was ist so lustig?« fragte Mrs. Freeland streng.
»Nichts. Vielleicht braucht unser kleiner Bruder etwas von dem, was sie bieten kann.«
Mrs. Freeland starrte sie an. »Yolanda«, sagte sie und verdrehte ihre Augen angewidert zur Decke. »Die Babys. Sind sie noch trocken?«
»Nein, Ma’am«, sagte Yolanda. Sie wich vor Mrs. Freelands scharfem Blick zurück. »Ich werde sie wickeln.«
»Danach bringe sie zu deiner Mama hinein.«
»Ja, Ma’am.«
Das Frühstück fand statt, als wäre nichts geschehen. Miss Parkhurst saß ihm gegenüber, aß und lächelte. Oliver versuchte, höflicher zu sein und den rechten Zeitpunkt zu finden, um einen Gefallen zu bitten. Als das Frühstück vorüber war, schien der rechte Augenblick gekommen.
»Ich möchte nachschauen, wie es Mama geht«, sagte er.
Miss Parkhurst dachte einen Moment lang nach. »Heute abend wird ein Fernseher in Ihrem Zimmer stehen«, sagte sie, faltete ihre Serviette und legte sie neben ihren Teller. »Sie können ihn dazu benutzen, nachzuschauen, wie es allen geht.«
Das war annehmbar. Bis dahin jedoch würde er den ganzen Tag mit Miss Parkhurst verbringen. Es war an der Zeit, entschied er, höflich zu sein. Dann konnte er seine Freiheit tatsächlich auf die Probe stellen.
»Sie sagen, ich kann gehen«, sagte Oliver und versuchte, freundlich zu klingen.
Miss Parkhurst nickte. »Jederzeit. Ich halte Sie nicht zurück.«
»Wenn ich gehe, kann ich zurückkommen?«
Sie lächelte ihr schwaches Lächeln. Da war wieder das junge Mädchen in diesem Lächeln und sie schien sehr verwundbar. »Das Kästchen bringt Sie zu jedem Ort in der Stadt.«
»Niemand kommt mir in die Quere?«
»Niemand belästigt jemanden unter meinem Schutz«, sagte Miss Parkhurst.
Oliver faltete die Hände unterm Kinn. »Sie sind sehr nett zu mir«, sagte er. »Selbst wenn ich Ihnen Ärger bereite, verletzen Sie mich nicht. Warum?«
»Sie sind meine letzte Chance«, sagte Miss Parkhurst und richtete ihre dunklen Augen auf ihn. »Ich lebe schon lange Zeit und niemand wie Sie ist mir bisher über den Weg gelaufen. Ich glaube nicht, daß noch jemand gekommen wäre. Wenigstens kann ich nicht so lange warten. Ich lebe schon so lange auf diese Weise, ich kenne keine andere, aber ich will das alles nicht mehr länger.«
»Mögen Sie es, eine Hure zu sein?«
Miss Parkhursts Züge verhärteten sich. »Es hat seine guten Seiten«, sagte sie steif.
Oliver nahm seinen Mut zusammen und sagte, was er dachte, blickte sie allerdings nicht an, während er es tat. »Sie genießen es, bei jedem Mann zu liegen, der das Geld dafür hat?«
»Es ist Arbeit. Ich bin gut dabei.«
»Auch häßliche Männer?«
»Häßliche Männer brauchen auch ihre Freude.«
»Schlechte Männer? Lassen Sie sich von ihnen anfassen, auch wenn sie andere Menschen verletzt oder getötet haben?«
»Welche Arbeiten haben Sie bisher geleistet?«
»Ich war Verkäufer in einem Lebensmittelladen. Habe Musik gelehrt.«
»Haben Sie im Laden schlechte Menschen bedient?«
»Wenn ich es tat«, sagte Oliver schnell, »wußte ich nichts davon.«
»Ich auch nicht«, sagte Miss Parkhurst. Dann, ruhiger: »Zum größten Teil wenigstens.«
»All diese Mädchen, die Sie zu Huren gemacht haben…«
»Sie müssen einige Dinge lernen«, unterbrach sie. »Es ist nicht die Arbeit, die so furchtbar ist. Es ist, was man sein muß, um sie zu tun. Die Art, wie die Leute von einem denken, wenn man sie tut. Sollte eine Hure, in einer guten Welt, wie ein Arzt sein oder ein Heiliger, würde sie nicht mehr als diese darauf achten, ihre Hände schmutzig zu machen. Sie schenkt Freude und Lächeln. Aber in der Stadt lassen es die Leute nicht zu, so zu handeln. Eine Hure genießt Respekt, aber nicht vor sich selbst. Sie verliert ihn, sobald jemand sie ansieht. Sie kann nach außen hin eine Million Dollar wert sein, aber innerlich weiß sie, was sie zu einer Hure macht. Das ist der Fluch. Jeder sucht seinen Vorteil, als wäre man Dreck. Sehr bald schon denkt man selbst, man wäre Dreck, und wer kümmert sich schon darum, was mit Dreck passiert? Bald läßt man den Dingen ihren Lauf, versucht nicht verletzt oder getötet zu werden, aber wen kümmert’s?«
»Sie sind reich«, sagte Oliver.
»Ich kann nicht alles kaufen«, kommentierte Miss Parkhurst trocken.
»Sie besitzen Magie.«
»Ich besitze Magie, weil ich hier bin und hier bleibe. Ich muß eine Hure bleiben.«
»Warum können Sie nicht gehen?«
Sie seufzte, ihre Finger spielten nervös mit dem Saum der Tischdecke.
»Was hält Sie davon ab, einfach zu gehen?«
»Wenn Sie sich bereiterklären, diesen Ort zu betreiben«, sagte sie, und er dachte zunächst, sie wolle seiner Frage ausweichen, »müssen Sie alles darüber wissen. Alles über mich. Wir sind beinahe gleich, ich und dieser Ort. Eine Hure ist nicht mehr als das, was sie in der Börse hat, jeder Zuhälter weiß das. Wissen Sie, wie oft ich verheiratet war?«
Oliver schüttelte seinen Kopf.
»Siebzehn Mal. Manchmal haben sie mich verlassen, ein oder zweimal blieben sie. War nie sehr gut. Aber vielleicht habe ich es nicht besser verdient. Jene, die mich verließen – sie kamen zurück, als sie alt waren und wollten, daß ich sie vor Darkside rette. Ich konnte es nicht. Aber ich behielt sie ohnehin hier. Kommen Sie mit.«
Sie stand auf, und Oliver folgte ihr durch die Halle, die Treppe hinab, bis unterhalb der Garagenebene, tief im vollgestopften Kellergeschoß des Hauses. Die Luft war zeitlos, besaß die Kühle des Erdinneren und roch nach altem Stadtregen. Einige wenige klare Lichtkugeln warfen schwachgelbe, halbmondförmige Lichtflecken in die trübe Dunkelheit. Sie gingen auf Brettern über eine schlammige Pfütze. Miss Parkhurst hob ihren Rock an, um ihn nicht mit Schlamm zu beschmutzen. Oliver sah ihre schlanken Fesseln und schluckte, um die Verengung in seiner Kehle zu beseitigen.
Vor ihnen, in einer Reihe von moosbedeckten Betontrögen ausgelegt, waren fünfzehn schwarze Eisenzylinder, jeder zwei Meter lang und auf der Oberseite abgeflacht. Sie sahen aus wie große Luftminen. Der erste war in eine dunkle Ecke hineingezwängt. Miss Parkhurst stand an seinem Fußende und ließ ihre Hand seine rostige Oberfläche entlangstreifen.
»Zwei kamen nicht zurück. Vielleicht waren sie die besten von allen«, sagte sie. »Ich konnte kein Urteil fällen. Ich konnte es nicht wissen. Sie beurteilen Männer nach dem, was in ihnen ist und wenn sie innerlich leer sind, gehen sie dort verloren.«
Oliver trat näher an den letzten Zylinder heran und sah eine klare Glasscheibe, die am Kopfende montiert war. Zaudernd, aber fasziniert wischte er das Glas mit zwei Fingern ab und spähte hinein. Der Sarg war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Ein olivgrünes Gesicht blickte ihm entgegen; trübe blinde Augen und schlaffe Lippen. Die Flüssigkeit und der Tod hatten die runzligen Gesichtszüge geglättet, aber Oliver wußte, daß dieser Bursche alt war, sehr alt.
»Sie starben alle«, sagte sie. »Alle außer mir. Ich erhielt sie alle, jeden einzelnen, jeden Mann, kein Vergessen, kein Gehenlassen. Wir hatten stets dieses Band zwischen uns. Das ist der Fluch.«
Oliver zog sich vom Sarg zurück, hielt den Atem an, sein Herz klopfte vor Schreck. Was war schlimmer, dies oder die alten Männer in der Nacht? In die Dunkelheit am anderen Ende der Reihe von Flaschensärgen gehüllt, schien Miss Parkhurst für einen Augenblick in der gleichen feurigen Macht zu glühen, die er gespürt hatte, als er sie zum ersten Mal sah.
»Ich vermisse einige von ihnen«, sagte sie. Ihre Stimme so leise, an Kraft gerade soviel abnehmend, als ob sie in seinem Geist wäre. »Wir hatten schöne Zeiten miteinander.«
Oliver versuchte sich vorzustellen, was Miss Parkhurst in ihrem Leben schon durchgemacht hatte, die guten Zeiten und die schlechten. »Haben Sie Kinder?« fragte er, seine Stimme so dünn wie das Summen einer Fliege in einer Flasche. Er sprang zurück, als einer der Särge von seinen zittrigen Worten widerhallte.
Miss Parkhursts Schultern bebten. »Viele«, sagte sie knapp. »Alle tot, bevor sie geboren wurden.«
Zuerst war seine Betroffenheit normal, hervorgerufen durch seine sonntäglichen Kirchgänge. Dann kam der Gedanke an die ungeheure organische Verschwendung über ihn wie eine Lawine. All die Gefühle, das Sehnen und nichts kam dabei heraus, nur diese Eisenflaschen und die lebhaften Geister.
»Aber was ist schon das Kind einer Hure?« fragte Miss Parkhurst. »Besonders, wenn die Mutter eine Hure bleibt.«
»War Ihre Mutter…?« Es schien nicht recht zu sein, dieses Wort auf jemandes Mutter anzuwenden.
»Sie war… und ihre Mutter auch. Ich habe keinen Vater oder viele Väter.«
Oliver erinnerte sich an den alten Mann, der ihn im Traum gezüchtigt hatte. Noch bevor er seine Worte, die ihr Trost spenden und ihr ein Zeichen dafür sein sollten, daß er ihrer Situation nicht gleichgültig gegenüberstand, so recht gewählt hatte, sagte er: »Eine Hure zu sein, kann nicht immer nur schlecht sein.«
»Vielleicht nicht«, sagte sie. Miss Parkhurst war kaum als Fleck im Schatten auszumachen. Sie mochte durchaus zu Staub zerfallen, wenn er gerade nicht hinschaute.
»Sie sagten, eine Hure zu sein, bedeute, innerlich leer zu sein. Nicht jeder, der innerlich leer ist, ist eine Hure.«
»Oh?« erwiderte sie leichthin. Er war in eine für ihn uncharakteristische Position gedrängt, aber Oliver wollte, egal ob er sich lächerlich machte oder nicht. Seine gemischten Gefühle verrieten ihn.
»Sie haben gelebt«, sagte er. »Sie besitzen Erinnerungen wie niemand anderes. Sie könnten Bücher darüber schreiben. Man könnte Filme über Sie machen.«
Ihr Lächeln war ein schwaches Leuchten im Schatten. »Ich hatte einige interessante Leute zu Besuch«, sagte sie. »Mächtige Männer. Ich hatte etwas, das sie brauchten. Manchmal öffneten sie sich und erzählten, wie schwer sie sich taten, keine kleinen Jungs mehr sein zu dürfen. Zuweilen, wenn wir uns entspannten, weinten sie sich an meiner Schulter aus, als wäre ich ihre Mama. Aber dann gehen sie fort und versuchen, mich zu vergessen. Wenn sie es nicht verdrängen würden, hätten sie wegen dem, was ich über sie weiß, Furcht vor mir. Nun, sie wissen, daß ich schwach werde«, sagte sie. »Von Büchern oder Filmen halte ich nichts. Ich würde nicht sagen, was ich weiß. Und nebenbei bemerkt, sind viele dieser Männer tot. Wenn sie es nicht sind, warten sie nur darauf, daß ich sterbe, so daß sie ruhig schlafen können.«
»Was meinen Sie mit ›schwach werden‹?«
»Ich habe noch zwei, vielleicht drei Tage: Dann sterbe ich als Hure. Meine Zeit ist vorüber. Der Fluch ist fast vollendet.«
Oliver schnappte nach Luft. Als er sie das erste Mal sah, schien sie so kraftvoll wie eine Diesellokomotive, als könne sie ewig leben.
»Und wenn ich übernehme?«
»Bekommen Sie das Haus, das Geld.«
»Wieviel Macht?«
Sie antwortete nicht.
»Sie können mir keine Macht geben, nicht wahr?«
»Nein«, schwach wie eine Brise, die von ihren Augenwimpern verursacht wurde.
»Das Kästchen wäre zu nichts nütze?«
»Nein.«
»Sie haben mich angelogen.«
»Ich lasse Ihnen alles, was übrig ist.«
»Das ist es nicht, warum Sie mich haben kommen lassen. Sie haben Mama genommen…«
»Sie hat mich beraubt.«
»Meine Mama hat noch nie irgendwas gestohlen!« rief Oliver. Die Eisensärge summten.
»Sie nahm etwas, nachdem ich ihr meine Gastfreundschaft angeboten hatte.«
»Was könnte sie von Ihnen nehmen? Sie ist kein Dieb.«
»Sie nahm ein Notenblatt.«
Olivers Züge verzogen sich schmerzvoll. Er kehrte sich ab, die Hände zu Fäusten geballt. Sie hatten nahezu kein Geld für seine Musik. Seit sein Vater gestorben war, hatte er des öfteren seine Musik aufgeben müssen, weil er keine neuen Partituren hatte. »Warum haben Sie mich geholt?« krächzte er.
»Mir macht es nichts aus, zu sterben. Aber ich möchte nicht als Hure sterben.«
Oliver wandte sich um, diesmal verärgert wegen seiner Mama und auch sich selbst. Er näherte sich dem substanzlosen Schatten. Miss Parkhurst schimmerte wie ein Vorhang. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich brauche jemanden, der mich liebt. Mich aus keinem besonderen Grund liebt.«
Für einen Augenblick sah er ein dürres Mädchen in einem roten Hemd mit großen Augen vor sich stehen. »Wie könnte Ihnen das helfen? Kann Sie das zu etwas anderem machen?«
»Nur Liebe«, sagte sie. »Nur das Vergessen von dem allen hier« – sie deutete auf die Särge – »und allem dort«, sie wies nach oben.
Olivers Körper entspannte sich; er atmete auf. »Ich kann Sie nicht lieben«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, was Liebe ist.« Stimmte das? Oben hatte sie sich in seinen Verstand gebrannt, und er hatte sie gewollt, obwohl es ihn aufbrachte, wenn er sich daran erinnerte. Was konnte er für sie empfinden? »Lassen Sie uns jetzt zurückgehen. Ich muß nach Mama schauen.«
Miss Parkhurst erschien aus dem Schatten und ging schweigend an ihm vorbei, nicht einmal ihr Rock raschelte. Sie signalisierte ihm mit dem Finger, ihr zu folgen.
Sie verließ ihn an der Tür zu seinem Zimmer und sagte: »Ich warte im großen Wohnzimmer.« Oliver sah einen kleinen Fernseher auf dem Nachttisch am Bett und eilte hin, um ihn einzuschalten. Der Bildschirm füllte sich mit Statik und unscharfen Bildern. Er sah Ausschnitte von Gesichtern, Farbflecken und Strukturen, die so schnell vorübergingen, daß er sie nicht identifizieren konnte. Die gesamte Stadt mochte gleichzeitig auf dem Schirm sein, aber er konnte nichts klar erkennen. Er drehte den Kanalknopf und erhielt noch mehr Statik. Dann sah er die Aufschrift über dem Kanal 13 auf der Kanalleiste: Zuhause – in kleinen goldenen Lettern. Er drehte den Knopf auf diese Position und der Schirm wurde scharf.
Mama lag im Bett, die Beine hochgelegt, das Haar unfrisiert. Sie sah nicht gut aus. Ihre Hand, die ausgestreckt auf dem Bett lag, zitterte. Ihr Atem ging schwer und rauh. Im Hintergrund hörte Oliver Yolanda, die mit den Babys beschäftigt war und schließlich frustriert ihre älteren Brüder anschrie.
Warum helft ihr mir nicht mit den Babys? verlangte seine Schwester mit ferner blecherner Stimme zu wissen.
Mama hat es dir gesagt, erwiderte Denver.
Hat sie nicht. Sie hat es uns allen gesagt. Ihr könntet mal helfen.
Reggie lachte. Wir müssen Pläne machen.
Oliver wandte sich vom Fernseher ab. Mama war krank und vielleicht würde sie sterben, egal was seine Brüder, seine Schwester und die Babys taten. Er konnte sich auch denken, warum sie krank war – aus Sorge wegen ihm. Er mußte zu ihr gehen und ihr sagen, daß es ihm gut ging. Ein Anruf wäre nicht genug.
Er zögerte jedoch erneut, das Haus und Miss Parkhurst zu verlassen. Etwas über ihre schwindende Magie hinaus wirkte hier. Er wollte ihr zuhören und mehr von diesem faszinierenden Horror erfahren. Er wollte sie wieder ansehen, ihre sanfte, alte Schönheit. In gewissen Sinne brauchte sie ihn genauso, wie Mama ihn brauchte. Miss Parkhurst brachte alles in ihm durcheinander, was gesetzmäßig und ordentlich war. Letztendlich mußte er aber bei dem Gedanken an die Rückkehr zu Mama zugeben, daß er das Durcheinander genossen hatte.
Er ergriff den goldenen Öffner und rannte von seinem Zimmer zum Wohnzimmer. Sie wartete dort auf ihn in einem roten Samtsessel, ihre Hände lagen auf zwei Löwen am Ende der Armlehnen. Die hölzernen Gesichter der Löwen grinsten unter ihrer Berührung. »Ich muß gehen«, sagte er. »Mama ist vor Sorge um mich krank.«
Sie nickte. »Ich halte Sie nicht auf«, sagte sie.
Er starrte sie an. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte er.
Sie lächelte hoffnungsvoll, mitleiderregend. »Dann versprechen Sie zurückzukommen.«
Oliver schwankte. Wie lange würde Mama ihn brauchen? Was, wenn er sein Versprechen gab, zurückkehrte und Miss Parkhurst wäre bereits tot?
»Ich verspreche es.«
»Bleiben Sie nicht zu lange«, sagte sie.
»Werde ich nicht«, murmelte er.
Die Limousine wartete in der Garage auf ihn – weiß und schön, träge, schlank und schnell zugleich. Eine Chauffeurin wartete diesmal nicht auf ihn. Die Tür öffnete sich von selbst, und er stieg ein. Die Tür schloß sich hinter ihm, und er lehnte sich, das Kästchen in der Hand, steif in den Ledersitzen zurück. »Bring mich nach Hause«, sagte er. Die Glastrennwand und die Scheiben rundherum verdunkelten sich mit einem undurchsichtigen, rauchigen Gold. Er spürte das Gefühl einer gleitenden Bewegung. Wie wäre es, stets solche Macht zu besitzen?
Aber es war nicht an ihr, die Macht zu geben.
Oliver erreichte das Apartmentgebäude in einem Blizzard wirbelnden Schnees. Schnee lag auf der Straße und bedeckte den Gehsteig, er war etwa dreißig Zentimeter hoch. Sleepside steckte in tiefstem Winter. Oliver stieg aus der Limousine und betrat die Stufen. Die Kälte berührte ihn trotz seiner leichten Bekleidung kaum. Er war umgeben von Miss Parkhursts Magie.
Denver war gerade in der Küche und dabei, grüne Bohnen in einer Pfanne zu dünsten, als Oliver durch die Tür trat, wobei sich die Scharniere vor ihm von selbst öffneten. Oliver hielt im Eingang zur Küche inne. Denver starrte ihn an, das Gesicht schlaff, zu überrascht, um etwas zu sagen.
»Wo ist Mama?«
Yolanda hörte seine Stimme im Wohnzimmer und schrie.
Reggie traf ihn mit offenen Armen in der Diele und lächelte breit. »Gottverdammt, kleiner Bruder! Du bist weggekommen?«
»Wo ist Mama?«
»Sie ist in ihrem Zimmer. Sie fühlt sich nicht gut.«
»Sie ist krank«, sagte Oliver und drängte sich an seinem Bruder vorbei. Yolanda stand vor Mamas Tür, als wolle sie Oliver nicht eintreten lassen. Sie saugte an der Unterlippe und sah verängstigt aus.
»Laß mich vorbei, Yolanda«, sagte Oliver. Er richtete beinahe das Kästchen auf sie, zog es zurück, fürchtete, daß er damit was anrichten mochte.
»Du hast Mama krank gemacht«, quiekte Yolanda, aber sie trat beiseite. Oliver drängte sich durch die Tür in Mamas Zimmer. Sie saß aufrecht im Bett, ihr Gesicht gezeichnet und eingefallen, aber ihre Augen tanzten vor Freude. »Mein Junge!« Sie seufzte. »Mein guter Junge.«
Oliver setzte sich neben sie, und sie umarmten sich heftig. »Bitte verlaß mich nicht noch einmal«, sagte Mama; ihre Stimme wurde von seiner Schulter gedämpft. Oliver stellte das Kästchen auf ihren kleinen Nachttisch und weinte sich an ihrer Schulter aus.
Der Tag nach Olivers Rückkehr. Denver stand langbeinig am Fenster, seine Hände steckten in durchgescheuerten Hosentaschen. Er schaute mit müden Augen auf den Schnee. »Es ist zu kalt, um irgendwohin zu gehen«, sann er.
Reggie saß mit nachdenklichem Gesicht im Stuhl ihres Vaters. »Ich habe gehört, was er zu Mama gesagt hat«, sagte er. »Diese Hure hat unseren kleinen Bruder in einer Limousine hierher zurückgeschickt. Einer großen weißen Limousine. Siehst du sie dort draußen?«
Denver spähte hinunter auf die Straße. Eine weiße Limousine wartete am Rinnstein, nicht einmal von Schnee bedeckt. Eine winzige weiße Locke erhob sich von ihrem Auspuff. »Sie ist immer noch da«, sagte er.
»Hast du gesehen, was er hatte, als er hereinkam?« fragte Reggie. Denver schüttelte seinen Kopf. »Ein goldenes Kästchen. Sie muß es ihm gegeben haben. Ich wette, daß, wer auch immer dieses Ding besitzt, Miss Belle Parkhurst besuchen kann. Wetten?«
Denver grinste und schüttelte erneut den Kopf.
»Es würde nicht allzu kalt sein, wenn wir die Limousine hätten, nicht wahr?« sagte Reggie.
Oliver brachte seiner Mama Hühnersuppe und eine halb verfaulte, aber sorgfältig geschnittene Orange. Er schüttelte ihr Kissen für sie auf und hieß sie schweigen, bis sie gegessen hatte. Sie lächelte matt und selig und ließ ihn ihr behilflich sein. Als sie gegessen hatte, legte sie sich zurück und schloß die Augen. Tränen sammelten sich und liefen ihr über die Wangen. »Ich hatte solche Angst um dich«, sagte sie. »Ich wußte nicht, was sie tun würde. Sie schien anfangs so nett. Ich sah sie nicht. Nur ihre Stimme, die mich über den Sicherheitssummer einlud, mich Platz nehmen hieß, um meine Füße ausruhen zu lassen. Ich wußte, wo ich war… War es schlecht von mir, dort zu bleiben, obwohl ich es wußte?«
»Du warst müde, Mama«, sagte Oliver. »Übrigens, Miss Parkhurst ist gar nicht so übel.«
Mama blickte ihn zweifelnd an. »Ich sah ihr Piano. Da war ein Regal in der Nähe, mit den schönsten Notenblättern, die du je gesehen hast, sogar Bücher voll damit. Ich habe mir einige angesehen. Oh, Oliver, ich habe niemals in meinem Leben irgend etwas genommen…« Sie weinte nun frei heraus, verbrauchte die wenige Kraft, die ihr das Essen gegeben hatte.
»Sorg dich nicht, Mama. Sie hat dich benutzt. Sie wollte, daß ich komme.« Als Nachgedanke fügte er, nicht sicher, warum er log, hinzu: »Oder Yolanda.«
Mama nahm es zur Kenntnis, während ihre Augen liebevoll sein Gesicht musterten. »Du willst zurück«, sagte sie, »nicht wahr?«
Oliver blickte auf die gefalteten Blätter unter ihrem Arm. »Ich habe es versprochen. Sie stirbt, wenn ich es nicht tue«, sagte er.
»Diese Frau ist eine Lügnerin«, stellte Mama nachdrücklich fest. »Wenn sie dich will, wird sie alles tun, um dich zu bekommen.«
»Ich glaube nicht, daß sie lügt, Mama.«
Sie blickte weg, ein ärgerliches Aufblitzen in den Augen. »Warum hast du es ihr versprochen?«
»Sie ist nicht so schlecht, Mama«, sagte er wieder. Er hatte angenommen, die Rückkehr nach Hause würde seinen Verstand klären, aber Miss Parkhursts Gesicht, ihre Bitte, haftete ihm an, als wäre sie nur ein Zimmer entfernt. Das Haus schien nur ein schwindender Traum zu sein, unwichtig; aber Belle Parkhurst blieb. »Sie braucht Hilfe. Sie will sich ändern.«
Mama plusterte ihre Backen auf und blies durch ihre Lippen. Sie hatte dies oft bei seinem Vater getan, aber noch nie bei ihm. »Sie wird immer eine Hure bleiben«, sagte sie.
Olivers Augen verengten sich. Er erkannte eine Boshaftigkeit und Verbitterung in Mama, die er vorher nicht bemerkt hatte. Nicht, daß die Boshaftigkeit ungerechtfertigt gewesen wäre – Miss Parkhurst hatte Mama grob behandelt. Dennoch…
Denver stand in der Tür. »Reggie und ich müssen mit Mama reden«, sagte er. »Über dich.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Allein.« Reggie stand grinsend hinter seinem Bruder. Oliver nahm das Tablett mit dem Geschirr, drängte sich an ihnen vorbei und ging zur Küche.
In der Küche spülte er das Geschirr der letzten paar Tage ab und ließ das lauwarme Wasser über die Hände laufen, wobei er den Blick auf den matten Schimmer des Hahns richtete. Beinahe hatte er sein Gefühl für die Zeit verloren, als er das Zuschlagen der Vordertür hörte. Er hob den Kopf, trocknete den letzten Teller ab, stellte ihn weg und ging in Mamas Zimmer. Sie blickte ihn schuldbewußt an. Etwas war nicht in Ordnung. Er suchte mit den Augen das Zimmer ab, aber nichts hatte sich verändert. Nichts, was normalerweise da war…
Das Kästchen.
Seine Brüder hatten das Kästchen mitgenommen.
»Mama!« sagte er.
»Sie statten ihr einen Besuch ab«, sagte sie. Ihre Verbitterung war nun offenkundig. »Sie mögen es nicht, wenn ihre Mama mißhandelt wird.«
Es wurde dunkel, und der Schnee fiel in dicken Flocken. Er hatte gehofft, an diesem Abend zurückzukehren. Wenn Miss Parkhurst nicht gelogen hatte, würde sie nun sehr schwach sein und morgen vielleicht tot.
Seine Lungen schienen sich zusammenzuziehen, und es fiel ihm schwer, Luft zu holen.
»Ich muß gehen«, sagte er. »Sie könnte sie umbringen, Mama!« Aber das war es nicht, was ihn beunruhigte. Er zog seinen schweren Mantel und Vaters alte Gummistiefel mit den Schneesohlen an. Yolanda kam aus dem Zimmer, das sie sich mit den Babys teilte. Sie stellte keine Fragen und beobachtete mit trüben Augen, wie er sich gegen die Kälte ankleidete.
»Sie haben dieses Goldkästchen«, sagte sie, als er die letzte Metallklammer an den Stiefeln einschnappen ließ. »Ist wahrscheinlich eine Menge wert.«
Oliver zögerte in der Diele, ergriff dann Yolandas Schultern und schüttelte sie. »Du gibst auf Mama acht, hörst du?«
Sie klappte ihren Mund zu und riß sich los. Oliver war aus der Tür, bevor sie etwas sagen konnte.
Das letzte Licht des Tages erfüllte den Himmel mit einem tief pfirsichfarbenen Glanz, der mit einem kalten Grau durchsetzt war. Schnee fiel golden auf die Gebäude und schmutzigbraun in ihre Schatten. Der Wind wirbelte traurig um ihn herum und drang durch seinen Mantel, um ihm die Wärme zu stehlen. Für einen erschreckenden Augenblick war seine gesamte Entschlossenheit wie weggeblasen. Die Straßen waren verlassen. Er fragte sich, welche Nacht dies eigentlich war und erinnerte sich, daß es der 23. Dezember war. Aber es war zu kalt, als daß sich Kauflustige hinauswagten. Wozu hinausgehen? Um zwei solche Idioten zu retten? Nicht deshalb – obwohl es ausreichend gewesen wäre, da ihr Verlust Mama verletzt hätte; außerdem waren es seine Brüder. Nicht wegen seines Versprechens. Aus einem anderen Grund.
Er hatte Angst um Belle Parkhurst.
Er hielt seinen Mantelkragen zusammen und lehnte sich in den Wind. Er hatte keinen Hut aufgesetzt. Seine Stirn wurde kalt, und für einen Moment fühlte er sich ausgepumpt und erschöpft. Aber er schaffte es zum Eingang der Untergrundbahn und stolperte die Stufen hinab in das warme Herz der Stadt, wo stets 17 Grad herrschten.
Hinter dickem Glas und einer metallenen Bude verschanzt, saß die Münzverkäuferin mit müden, wissenden Augen. Sie ließ die Katzenkopfmünzen in die stählerne Ablage fallen. Oliver blickte ihr ins Gesicht und sah das der Hure. Diese Frau mittleren Alters würde ihre Beine nicht für Geld breit machen, hatte aber ihre Jugend und ihr Leben verkauft, um in dieser Höhle zu sitzen. Welche Leere war beklemmender?
»Seien Sie vorsichtig«, warnte sie ihn freimütig durch das Sprechgitter. »Die Nachtmetro ist jetzt jeden Moment fällig.«
Er warf eine Münze ins Drehkreuz und drängte sich hindurch. Dann stand er fröstelnd auf dem Bahnsteig und wartete auf den Sunside-Zug. Es schien ewig zu dauern, bis er kam. Als es dann soweit war, war er nicht besonders erleichtert. Die hohlen Augen des Fahrers blinkten grün, sein Stierkopf wandte sich, als der Zug am Bahnsteig zum Stehen kam. Die Türen öffneten sich mit einem öligen Ächzen, und Oliver stieg in die harte, kalte, unversöhnliche Helligkeit des Zuginneren ein.
Zunächst dachte Oliver, der Wagen wäre leer. Er setzte sich jedoch nicht. Das Haar in seinem Nacken und an seinen Armen sträubte sich. Seine Hand ergriff einen rostfreien Stahlgriff, lehnte sich der Beschleunigung des Zuges entgegen und atmete tief durch, wobei er sich beinahe verschluckte.
Er nahm die anderen Passagiere erst bewußt wahr, als sich ihre Silhouetten gegen das gedämpfte Licht von vorüberziehenden Geisterstationen abzeichnete. Sie saßen beinahe unsichtbar dort, bevölkerten den Wagen. Sie standen neben ihm, weniger greifbar als ein Atemzug. Sie beobachteten ihn eindringlich, hegten im Augenblick keine Feindseligkeit. Vielleicht waren sie sich bisher noch nicht bewußt, daß er lebte und sie nicht. Sie trugen keine offensichtlichen Anzeichen von Verwundungen, aber woran es lag, daß sie hier waren, sagten ihm seine Instinkte.
Dieser Zug beförderte Selbstmörder: Männer, Frauen, Teenager und sogar einige Kinder, zerbrechlich wie teures Kristall in einem Schaufenster. Vielleicht hatte der stierköpfige Fahrer sie eingesammelt, aussortiert und eingesperrt, als sie zufällig in seinen Zug stolperten. Vielleicht beherrschte er sie.
Oliver versuchte, in seinem Mantel zu versinken. Er fühlte sich schuldig, weil er lebendig und gesund war, eingebettet in starke Gefühle; sie waren so fadenscheinig, besaßen so wenig Halt in dieser Realität.
Er murmelte ein Gebet und hielt inne, als sich alle in seine Richtung wandten und ihn mißbilligend ansahen. Still betete er weiter, aber das schien seine Mitpassagiere nur noch mehr zu verwirren. Sie quiekten sich zu mit Stimmen, die nur ein Hund oder eine Fledermaus zu vernehmen mochte.
Die Stationen zogen vorüber. Mosaiksymbole und Namen blitzten in Lichtteichen vorbei. Als sich die Sunside-Station näherte und der Zug langsamer wurde, bewegte sich Oliver schnell zur Tür. Er trat auf den Bahnsteig, wandte sich um und stieß gegen die dunkle Uniform des stierköpfigen Fahrers. Die Luft um ihn herum stank nach Schmiere und Elektrizität und etwas süßlicherem, vielleicht Blut. Er war etwa einen halben Meter größer als Oliver. In einer ausgestreckten, ledernen Hand mit schwarzen Fingernägeln hielt er seine lange Silberschere mit weit auseinanderstehenden Spitzen – eine kurze Andeutung von Belle Parkhursts Position unter den alten Männern.
»Du bist am falschen Ort zur falschen Zeit«, warnte ihn der Fahrer mit einer Stimme, die tiefer war als das Geräusch des Zugmotors. »Hier unten kann ich dir den Lebensfaden abschneiden.« Er ließ die Schere zuschnappen.
»Ich gehe zu Miss Parkhurst«, sagte Oliver mit zitternder Stimme.
»Wohin?« fragte der Fahrer.
»Ich gehe jetzt«, sage Oliver und ging rückwärts. Der Fahrer folgte und beugte sich langsam über ihn. Die Schere öffnete sich flüsternd, richtete sich gegen seine Augen. Die Kristalltoten im Zug traten durch die geöffnete Tür und glitten an ihm vorbei. Klebrige Wellen der Kälte ließen die Luft erschaudern.
»Du bist ein kühner kleiner Bastard«, sagte der Fahrer. Seine Stimme brachte es fertig, unterhalb jeder menschlichen Wahrnehmung zu liegen und trotzdem vernehmbar zu sein.
Die weiße Fliesenwand vibrierte. »Alles, was ich tun muß, ist, dir deinen Lebensfaden vor deinen Augen abzuschneiden« – er ließ die Schere Zentimeter vor Olivers Nase zuschnappen –, »und du findest deinen Weg nach Hause nicht mehr.«
Der Fahrer drängte ihn gegen die kalte Barriere der Selbstmörder. Olivers Furcht konnte seine Neugierde nicht überwinden. War der Stierkopf echt oder befand sich ein Mann unter den Hörnern, der Haut und den Knochen? Die Augen in den tiefliegenden Augenhöhlen glühten jetzt eisblau. Die Schere schloß sich noch einmal vor Olivers Gesicht, noch näher, schnippte Haare von seiner Nase.
»Du gehörst mir«, flüsterte der Fahrer, und die Schere schloß sich um etwas Unnachgiebiges, Unsichtbares. Olivers Kopf explodierte vor Schmerz. Mit den Armen rudernd drängte er sich durch die Toten und zog den Fahrer an der Schere, die in etwas Unsichtbarem und Wichtigem festhakte, mit sich mit. Brüllend langte der Fahrer mit beiden Händen nach den Griffen der Schere. Oliver fühlte sich, als würde sein Kopf aufgeschlitzt. Mit aller Kraft trat er dem schwarzuniformierten Fahrer zwischen die Beine. Sein Fuß traf auf Heisch und Knochen, so hart wie Fels und seine Todesangst verdoppelte sich.
Aber die Schere hing für einen Augenblick in der Luft vor Olivers Gesicht, und der Fahrer beugte sich langsam vornüber.
Oliver riß die Schere an sich, öffnete sie, befreite den Faden zwischen sich und seiner Vergangenheit, seinem Zuhause und drängte sich durch die Toten. Die Schere warf Reflexe über die verwunderten, wäßrigen Gesichter der Selbstmörder. Plötzlich, eine Chance erkennend zu entkommen, schwärmten sie über den Bahnsteig aus, einige auf die Treppe, einige zu beiden Seiten der Plattform. Oliver rannte durch sie hindurch, die Stufen hinauf und stand im warmen Abend auf dem Gehsteig Sunsides. Alles, was er im Stationseingang ausmachen konnte, war ein saurer Geruch von Öl und Blut und ein schwacher Kältehauch von den Händen der Toten, die in der milden Nacht verschwanden.
Eine schweigende Menge hatte sich am Vordereingang von Miss Parkhursts Haus versammelt. Sie warteten auf etwas, ihre schweißigen Gesichter leuchteten gierig.
Er sah die Limousine nicht. Seine Brüder mußten längst da sein; also waren sie schon drinnen.
Er rannte am braunen Sandsteingebäude entlang und suchte nach dem Eingang der unterirdischen Garage. Auf der Südseite fand er die Rampe und ging sie hinab, schlug die Hände gegen die geriefte Metalltür. Echos antworteten ihm. »Ich bin’s!« rief er. »Lassen Sie mich ein!«
Ein Mann mittleren Alters betrachtete ihn gelassen vom oberhalb gelegenen Gehsteig aus. »Was wollen Sie denn da drin, junger Mann?« fragte er.
Oliver blickte über die Schulter. »Das geht Sie nichts an«, sagte er.
»Vielleicht doch, wenn Sie hineinwollen«, sagte der Mann. »Es gibt einen Weg in das Haus, den alle Männer nehmen können. Es lehnt niemals Gold ab.«
Oliver ließ einen Moment verdutzt von der Tür ab. Der Mann zuckte die Achseln und ging weiter.
Er hatte immer noch die Schere des Fahrers in der Hand. Sie war nicht aus Gold, sondern aus Silber, aber sie mußte etwas wert sein. »Lassen sie mich ein!« sagte er. Dann, den Einsatz erhöhend, grub er in seiner Tasche und brachte eine verbliebene Katzenkopfmünze zum Vorschein. »Ich bezahle auch!«
Die Tür öffnete sich ächzend. Die Garagenlichter waren ausgeschaltet, aber im milden gelben Schein des Straßenlichts sah er eine Adlerklaue, die knapp hinter dem Türrahmen aus einer Ziegelwand herausragte und eine goldene Tasse hielt. Die Münze in einer Hand, die Schere in der anderen, kniff Oliver die Augen zusammen. Jetzt Beiles Haus zu bezahlen war keine ehrenvolle Tat; er ließ die Münze in die Tasse fallen, behielt aber die Schere und rannte in die Dunkelheit.
Ein schwacher Lichtschein zeichnete sich unter der Treppentür ab. Um die Tür herum schimmerten die Knochen uralter Stadtbewohner im kompakten Gestein, die Zähne und Knöchel so hell wie Leuchtkäfer. Oliver probierte die Tür; sie war verschlossen. Er steckte die Scherenspitze zwischen Tür und Rahmen und hebelte solange, bis das Schloß aufsprang.
Das ruhige Wohnzimmer wurde lediglich von einigen tropfenden Kerzen beleuchtet, die in herabhängenden Adlerklauen steckten. Die Luft war angefüllt mit den derben Gerüchen von seit langem erloschenen Zigarren und Zigaretten. Oliver hielt einen Moment lang inne, schloß die Augen und lauschte. Es gab ein Zimmer, das er in der Zeit seiner Anwesenheit in Belle Parkhursts Haus nicht gesehen hatte. Sie hatte ihm nicht einmal die Tür gezeigt, aber er wußte, das sie existieren mußte, und dort würde er sie finden, tot oder lebendig. Wo sich seine Brüder befanden, wußte er nicht; im Augenblick kümmerte ihn das auch nicht. Er bezweifelte, daß sie in einer tödlichen Gefahr schwebten. Beiles Macht war so schwach, wie das Licht der vereinzelten Kerzen.
Oliver schlich die dunklen Korridore entlang und hielt die schimmernde Schere als Warnung gegen alles vor sich, was ihn aufhalten könnte. Er erklomm zwei weitere Treppenabsätze bis zur dritten Etage, wo er einen teppichlosen Flur mit bloßen Wänden vorfand, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Die trockenen Bodenbretter knarrten unter ihm. Die Luft war kühl und unbewegt. Er konnte eine Spur von Beiles Rosenparfüm riechen. Am Ende des Flurs befand sich eine schlichte, getäfelte Tür mit einem angelaufenen Messingknauf.
Diese Tür war ebenfalls unverschlossen. Er nahm seinen Mut zusammen, atmete tief ein und öffnete sie.
Dies war Belles Zimmer, und sie befand sich tatsächlich darin. Sie hing in einem Gewebe schimmernder Fäden über ihrem schlichten Eisengestellbett. Er schreckte zurück, dachte einen Moment lang, sie sei eine Spinne, aber es wurde ihm augenblicklich klar, daß sie mehr die Beute einer Spinne war. Die Fäden reichten in alle Ecken des Raums. Sie waren transparent und hüllten sie eng ein. Für ihn hatten sie jedoch lediglich die Substanz von Luft.
Belle wandte den Kopf und sah ihn an. Sie war schwach, ihre Augen umwölkt, die Haut wie Papier. »Warum hat es so lange gedauert?« fragte sie.
Von der anderen Seite des Hauses her hörte er Reggies erfreutes Lachen.
Oliver trat vor. Die Schneiden der Schere rupften an den Fäden; er kam ungehindert durch. Sein Arm war durch den Gebrauch des silbernen Instruments angespannt. Dann erkannte er, was die Fäden waren; es waren die Fäden, die Belle an das Haus banden, sie mit all ihren Kunden verknüpfte. Belle hatte nicht nur einen Faden zu ihrer Vergangenheit, sondern tausende. An jeder Stelle, an der sie berührt worden war, hielt sie ein Strick. Dicke gewundene Stränge der Vergangenheit entsprangen ihrem Mund, ihren Brüsten und zwischen ihren Beinen; selbst die Zehen waren nicht frei davon.
Ohne nachzudenken, hob Oliver die Silberschere des Fahrers und begann damit die Fäden abzuschneiden. Einen nach dem anderen oder in klebrigen Knäueln schnitt er sie durch. Mit jeder Begegnung der Schneiden verschwanden sie. Er fragte sich nicht, welches ihr erster Faden war, der, der sie mit ihrer Kindheit verband, den wenigen Jahren, bevor sie zur Hure wurde; es gab keine Zeit an solche Feinheiten zu vergeuden.
»Ihre Brüder sind in meinem Gewahrsam«, sagte sie. »Sie haben mein Gold und meine Juwelen gefunden. Ich habe mich hierher geschlichen.«
»Bleib ruhig«, sagte Oliver mit zusammengebissenen Zähnen. Die Stricke wurden, je näher er an ihren dünnen grauen Körper gelangte, zäher, fühlten sich mehr wie Drähte an. Seine Armmuskeln verknoteten sich, und kalter Schweiß durchweichte seine Kleider. Sie rutschte Zentimeter näher auf das Bett zu.
»Ich habe noch niemals einen Mann mit hierhergebracht«, sagte sie.
»Schsch.«
»Dies war mein Platz, der einzige Platz, den ich hatte.«
Nun waren statt Tausender nur noch Hunderte von Stricken übrig. Minutenlang arbeitete er weiter, beobachtete, wie sie immer bleicher wurde, beobachtete, wie sich ihre einstige Feuerofenhitze zu weniger als der einer einzelnen Kerze abschwächte. Ihre Augen verloren ihren fiebrigen Glanz. Für einen schrecklichen Moment dachte er, sie mit dem Abschneiden der Fäden in Wirklichkeit zu schwächen, aber er hackte und schnitt ungeachtet dessen weiter. Sie waren nun noch dichter, elastischer.
Weit entfernt im Haus lachten Denver und Reggie, und ein schweres klingendes Geräusch war zu vernehmen. Der Flur erbebte. Dutzende von Fäden waren noch vorhanden. Er hatte bereits eine Ewigkeit an ihnen gearbeitet und nun forderte jeder einzelne Faden sein konzentriertes Bemühen, all die Kraft, die ihm noch im Arm und in den Händen verblieben war. Er glaubte, er müsse ohnmächtig werden oder sich übergeben. Beiles Augen hatte sich geschlossen. Ihr Atem war nicht mehr auszumachen.
Fünf Stricke verblieben. Er schnitt durch einen hindurch, dann durch einen weiteren. Als er die Schere an den dritten anlegte, erschien ein großer Mann auf der anderen Seite ihres Betts. Er war in blassem Grau gekleidet und trug einen breitrandigen grauen Hut. An seinen Fingern steckten goldene Ringe. Eine goldene Adlerklaue hielt seine weiße Seidenkrawatte.
»Ich war ihr Freund«, sagte der Mann. »Sie kam zu mir und hat mich betrogen.«
Oliver hielt die Schere zurück, seine Augen schmerzten vor Zorn. »Wer sind Sie?« verlangte er zu wissen, krümmte sich vor Anstrengung. Er starrte zu dem grauen Mann hinauf.
»Dieser andere alte Mann, er hat kaum mit ihr gearbeitet. Ich ließ sie hier arbeiten, sie hat mich betrogen.«
»Sie sind ihr Zuhälter!« Oliver spuckte das Wort aus.
Der graue Mann grinste.
»Schneide diesen Faden durch, und sie wird zu Nichts.«
»Sie ist bereits nichts. Sie stirbt.«
»Sie hätte es sich mit mir nicht verderben sollen«, sagte der Zuhälter. »Ich war stark, hatte viele Verbindungen. Was willst du mit so einer alten ausgevögelten Hure, Junge?«
Oliver antwortete nicht. Er bemühte sich, den dritten Faden durchzuschneiden, aber dieser wand sich wie eine Schlange zwischen den Schneiden der Schere.
»Sie wäre auch ohne mich eine Hure geworden«, sagte der Zuhälter. »Vom Tage ihrer Geburt an war sie eine Hure.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Oliver.
»Warum willst du zu ihr gelangen? Sie schenkt dir die Syphilis, und du willst ihr den Gnadenstoß geben?«
Oliver warf den Kopf zurück. Er blickte nicht hin, als er die Schere mit aller verbliebener Kraft zusammendrückte und mit tödlichem Zorn den Druck noch einmal verstärkte. Der dritte Faden wurde abgetrennt. Dabei schwirrte eine Schneide durch den Raum und blieb mit einem Aufspritzen von Putz in der Wand stecken. Der graue Mann verschwand wie Zigarettendunst und hinterließ einen Geruch nach Zwiebeln und schalem Bier.
Belle hing nur noch an zwei Fäden. Die verbleibende Schneide wie ein Messer schwingend, zerteilte er die Fäden und fiel über ihren kühlen Körper. Es war, als wäre sie tot.
»Miss Parkhurst«, sagte er. Er berührte ihr Gesicht, das fast so weiß war wie die Bettücher. Ihre hohen Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer wächsernen Haut ab. Er küßte sie.
Weit entfernt gackerten fröhlich Denver und Reggie.
Das Haus wurde still. Alle Geister waren mit beglichenen Rechnungen geflohen, waren befreit.
Die einzige Kerze im Raum erlosch, und sie lagen allein im Dunkeln. Gegen seinen Willen fiel Oliver in einen erschöpften Schlummer.
Kühle, nach Rosen duftende Finger berührten seine Stirn. Er öffnete die Augen und sah ein Mädchen, kaum älter als er selbst, in weißem Nachthemd über ihn gebeugt stehen. Ihre Augen waren sehr groß, und ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. »Wo sind wir?« fragte sie. »Wie lange sind wir schon hier?«
Die Morgensonne füllte den kleinen dunstigen Raum mit Wärme. Er blickte um das Bett herum, hielt Ausschau nach Belle. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Sie ähnelte der Chauffeurin, die ihn in jener ersten Nacht zum Haus gebracht hatte. Sie war nur jünger, ihr Gesicht milder und arglos.
»Du erinnerst dich nicht?« fragte er.
»Liebling«, sagte das Mädchen freundlich, die Hände in die Hüften gestemmt, »ich erinnere mich an vieles nicht. Außer, daß du mich geküßt hast. Willst du mich noch einmal küssen?«
Mama war von der seltsamen jungen Frau, die er mit nach Hause brachte, nicht angetan und wollte wissen, wo Reggie und Denver waren. Oliver brachte nicht übers Herz, es ihr zu sagen. Sie lagen, gebannt von der Magie des Zuhälters, so kalt wie Eis in einem Raum, angefüllt mit Hügeln von Katzenkopfmünzen für die Untergrundbahn. Sie hatten sich in Weiß gekleidet, mit breiten weißen Hüten; gekleidet wie Zuhälter. Aber das Haus war leer, von der habgierigen Menge aller Wertsachen beraubt.
Sie waren Zuhälter in einem Hurenhaus ohne Huren.
»Wo hast du das Mädchen gefunden? Sie verbirgt etwas, Oliver. Paß auf!«
Oliver ignorierte die Befürchtungen seiner Mutter.
Da seine Brüder, die sich Geld liehen und nicht mehr zurückzahlten, nicht mehr da waren, sparte er Geld und mietete bald ein preiswertes Studio in der sechsten Etage des gleichen Gebäudes. Das Mädchen kam zu ihm ins Bett. Auf seine Weise liebte er – und fürchtete sie, doch dies Tag für Tag weniger.
Sie spielte auf dem Piano beinahe so gut wie er, und sie planten, Unterricht zu geben. Sie hatten einen großen Koffer voller alter Notenblätter und Bücher aus dem Haus mitgebracht. Die Menge hatte ihnen wenigstens dies gelassen.
Nachdem sie umgezogen waren, besuchte sie Mama, und das Mädchen gewann sie schließlich für sich.
»Sie kocht nicht schlecht«, sagte Mama. »Du hattest eine ganz gute Hand.«
Yolanda schloß schnell und leicht Freundschaft mit ihr, und Oliver erkannte einen tieferen Kern in seiner jüngeren Schwester als zuvor.
Manchmal in der Nacht musterte er sie, während sie schlief, und fragte sich, ob es noch Geschichten und vielleicht auch Fähigkeiten gab, die hinter ihrem lieblichen, friedvollen Gesicht verborgen waren. Hatte sie alles vergessen?
Zur rechten Zeit heirateten sie.
Und lebten…
Nun, genug.
Sie lebten.
Originaltitel: ›SLEEPSIDE STORY‹ • Copyright © 1988 by Greg Bear • Erstmals erschienen bei Cheap Street Press in einer limitierten Ausgabe • Copyright © 1997 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Irle