Menschen, die der Spezies australischer Ureinwohner zuzurechnen waren, hatten sich schon Zehntausende von Jahren vor ihrer Begegnung mit den Asiaten in Südamerika aufgehalten. Und es offenbar sogar bis nach Nordamerika geschafft, wie die Funde hier bewiesen. Die Asiaten hatten sie überfallen, getötet, unterworfen und von allen nördlichen Gebieten, die sie vielleicht schon erforscht hatten, in den Süden zurückgedrängt. Es musste ein ungeheuer grausamer Krieg gewesen sein, der sich über Millionen von Quadratkilometern und viele tausend Jahre erstreckt hatte.

Seine Grundlage war die Rassenzugehörigkeit gewesen und er war mit brutaler Gewalt ausgetragen worden.

Am Ende war die australoide Spezies fast vom Erdboden verschwunden. Nur an der Ostküste Südamerikas waren einige gemischtrassige Nachkömmlinge zurückgeblieben: die Bewohner von Tierra del Fuego, von denen Darwin und andere Forschungsreisende zu berichten gewusst hatten.

Sie wurden verfolgt und taten sich mit einzelnen Vertretern der Spezies Homo erectus zusammen, weil sie es mit einem gemeinsamen Feind aufnehmen mussten.

Mechanisch wie ein Roboter setzte Mitch einen Fuß vor den anderen, tastete den Boden mit den Augen ab und achtete auf nichts anderes als auf das Geräusch seiner Stiefel, die über die alten abgeschliffenen Flusskiesel stapften. Es war nicht ratsam, in dieser Gegend einen Sturz zu riskieren, schon gar nicht mit einem kaputten Arm.

Zu weit in den Norden vorgedrungen. Umzingelt von Asiaten.

Sie waren den Bären gefolgt und wegen der reichen Fischgründe hierher gekommen; Männer und Frauen, eine erweiterte Sippe. Vielleicht hatte ein Mann mit viel Macht sie alle vereint. Möglicherweise hatte es ihm Spaß gemacht, die Homo erectus- Frauen zu bumsen. Es brachte nichts, in dieser Hinsicht naive Vorstellungen zupflegen.

Aber seine Frauen hatte das nicht gekümmert. Es waren keine Kinder aus solchen Beziehungen hervorgegangen. Man konnte sich fast plastisch vor Augen führen, wie die Frauen und Männer der Spezies Homo erectus den Australoiden hinterhergetappt waren. Am Anfang hatten sie sicher gebettelt, bis die Sippe sie dazu eingesetzt hatte, den Frauen Arbeit abzunehmen. Irgendwann hatten sie sich den Männern der Sippe angeboten und ihre eigenen Gefährten hatten keinen Einspruch erhoben. Verhaltensweisen eines ausgehungerten, aussterbenden Volkes. Schließlich hatte sich so etwas wie Zuneigung zwischen den Spezies entwickelt. Möglich, dass die Dominierenden mehr für die Homines erecti empfunden hatten als Herrchen und Frauchen für ihre Haustiere. Waren sie gleichberechtigt gewesen? Nicht anzunehmen. Aber die untergeordneten Mitglieder dieser Gruppe waren keineswegs Schwachköpfe gewesen. Immerhin hatten sie mehr als eine Million fahre überlebt. In dieser historischen Kette war der Homo sapiens ein noch junges Glied gewesen.

Die Luft, die sich immer mehr aufheizte, war voller Graspollen. Als Mitch einatmete, spürte er die Reizung in der Nase und schnäuzte in sein Taschentuch. Früher war er nicht allergisch gegen Pollen gewesen, aber seit den Jahren im Gefängnis, in denen er moderiger Luft und Schimmel ausgesetzt gewesen war, reagierte er empfindlicher.

Wenn die Männer wirklich da draußen liegen – was natürlich nicht gesagt ist –, haben sie die Frauen nicht mehr retten können. Sie haben es nicht geschafft und sind vermutlich ebenfalls ums Leben gekommen. Oder sie sind vor der Flutwelle aus heißem Schlamm her gerannt, weg von dieser Hölle, und haben die Frauen im Stich gelassen.

Und habe ich selbst mich besser verhalten?

Ich habe meine Frauen im Stich gelassen, deshalb konnten sich die Männer Stella schnappen.

Was, wenn ich die Männer wirklich finde? Wozu soll das gut sein? Wonach, zum Teufel, suche ich überhaupt? Nach meinem Seelenheil? Nach einer Entschuldigung?

Er sah kurz zur Sonne hinauf, schirmte dann die Augen ab und senkte den Blick. Die dicksten Schlammablagerungen bildeten an beiden Ufern des alten Flusses eine dunkelbraune Schicht. An manchen Stellen war daraus durch Verwitterung ein Untergrund entstanden, auf dem Büsche und Bäume gediehen, an anderen waren nur harte, kahle Flächen zu sehen.

Wie mit Blattern war der Boden mit Felsbrocken, so groß und rund wie Fußbälle, übersät. Man konnte nie wissen, ob man nicht irgendwo zufällig über eine Ansammlung von Fossilien stolpern würde.

Er setzte sich auf einen verwitterten, von Rissen durchzogenen Felsblock und zog den linken Ellbogen ans Knie heran, um das kribbelnde Gefühl in seinem schlaffen Arm loszuwerden. Manchmal kam es vor, dass erst die Blutversorgung des Arms abgeschnitten wurde, dann die Nervenbahnen und nach einiger Zeit begann der Arm zu zucken und schmerzte höllisch.

Es fiel ihm nicht leicht, aufmerksam und bei der Sache zu bleiben. Irgendetwas funkte ihm immer wieder dazwischen, vielleicht ein allzu realistisches Gefühl dafür, dass sich sein Vorhaben als völlig aussichtslos entpuppen konnte. »Wo würdet ihr euch hinwenden?«, flüsterte er, schlang die Knie gedankenverloren um den Stein und ließ seinen Blick über das zerklüftete Land schweifen, musterte die Bodenerhöhungen und die Kuhlen, in denen Gestrüpp wucherte. »Wo würdet ihr nach eurem Tod zwanzigtausend Jahre überdauern? Kommt schon, Jungs, helft mir aus der Klemme.«

Eine leichte Brise strich durch das Gestrüpp und berührte wie mit Geisterfingern sein Haar. Er blies eine Fliege von seinen Lippen weg und schob sich das Haar aus den Augen. Kaye hatte früher ständig geschimpft, er müsse sich endlich mal wieder die Haare schneiden lassen. Nach einer Weile hatte sie das Thema fallen lassen und resigniert. Mitch wusste nicht, was ihm mehr gegen den Strich ging: wie ein kleiner Junge behandelt oder von der eigenen Frau als hoffnungsloser Fall abgetan zu werden.

Er knirschte leise mit den Zähnen, wie ein wildes Tier, das Feinde wegscheuchen will. Einsamkeit und Schuldgefühle lagen ihm wie Blei auf der Seele.

Sie waren umhergestreift.

Selbst jetzt noch konnten seine Augen aus zwölf Schritt Entfernung einen Knochensplitter von einem Flusskiesel unterscheiden. Außerdem verfügte er über gut ausgebildete Filter im Gehirn, die dafür sorgten, dass er Eichhörnchen- oder Kaninchenknochen gar nicht erst beachtete – ebenso wenig wie die bleichen, durchgekauten Überbleibsel, an denen womöglich noch Sehnen hingen und die von irgendeinem jüngst gestorbenen Tier stammten.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

Falls die Gruppe von Männern über viel Erfahrung verfügt hatte, mochte sie den Lahar in der Ferne gesehen oder gehört und Angst bekommen haben. Vielleicht hatten die Männer versucht, sich in höher gelegenes Gelände zu retten. Das war der Ort, wo er sich jetzt befand, wo ihn seine Füße hingetragen hatten. Es war die höchste Stelle hier, ein Kamm aus hartem Felsgestein mit Bodensenken voller Erde und Gestrüpp. Er konnte bis zum Lager sehen, zumindest wusste er, wo es sein musste: etwa achthundert Meter entfernt, verborgen von hohen Büschen und Bäumen.

Und im Norden hielt der immer gegenwärtige Mount Hood stille Wacht, dieser kompakte Kegel, der immense Erdenergie unter Verschluss hatte und jetzt nur schwache Dampfwolken spuckte, ohne dass ihm etwas von seinen früheren Wutausbrüchen und üblen Taten anzumerken war.

Mitch machte die Augen ganz zu, um ein inneres Bild vom Anführer der Gruppe zu gewinnen. Das Bild kristallisierte sich immer deutlicher heraus. An die Stelle von Mitch trat der beste Jäger der Gruppe, ihr Oberhaupt.

Sein Gesicht war düster und angespannt, sein Haar mit Asche bestäubt, die Haut voll grauer Aschestreifen. Er sah aus wie ein Gespenst. In Mitchs Fantasie war der Anführer zunächst mit rotbrauner Haut und fast nackt aufgetaucht, doch plötzlich legten sich Stücke von Leder über sein hoch aufgeschossenes, leicht nach vorn gebeugtes Gerippe. Es waren keine primitiven Lumpen, denn selbst damals, vor zwanzigtausend Jahren, hatten die Menschen etwas von Mode und nützlicher Kleidung verstanden; sie hatten Leggings und lose, in der Taille gegürtete Überwürfe getragen, außerdem Beutel für Feuersteine und Obsidianspitzen und alles, was sie sonst noch mit sich herumschleppten.

Ihr Herzschlag beschleunigt sich, als sie die fahle Schicht auf ihrer Haut bemerken. Schon jetzt sehen sie aus wie tot, sie bekommen Angst voreinander. Aber der Anführer hält die Gruppe zusammen. Er springt in die Luft und zieht Grimassen, bis sie über ihr aschebestäubtes Aussehen johlen. Der Anführer ist nicht nur gescheit, ihm liegt auch etwas an diesem kleinen, ungewöhnlichen Männertrupp, an seinen Gefährten in diesem rauen Land. Und er sorgt sich auch um die Frauen, die, wenn das Wild erlegt ist, die Häute durchkauen, um die Kleidung, die er trägt, herzustellen.

Unterschätze niemals deine Vorfahren, deine Cousins. Sie haben eine unglaublich lange Zeitspanne durchgehalten. Und selbst damals gab es Liebe, Mitgefühl und gegenseitigen Schutz.

31

Arizona

Der Bus durchquerte eine Vorstadt von Flagstaff mit Flachbauten aus braunen Ziegelsteinen und Häusern voller Stuckverzierungen, die von staubigen, mit Schotter bedeckten Höfen umgeben waren. Stella hatte als kleines Mädchen in einer solchen Vorstadt gewohnt. Sie lehnte den Kopf im Plastiksitz zurück und starrte auf die vorüberziehenden Häuser.

Trotz der Klimaanlage war es heiß im Bus und ihr Wasservorrat ging schnell zur Neige.

Die Jungen hatten aufgehört zu reden; Will schien neben einem kleinen Stapel zusammengeknüllter vergilbter Seiten aus seinem alten Taschenbuch eingeschlafen zu sein.

Jemand berührte ihre Schulter: der Wachmann. Aus einem größeren Plastikbeutel zog er eine weitere Wasserflasche.

»Dauert nicht mehr lange«, sagte er und hielt ihr die Flasche hin. »Gebt mir die leeren.« Nachdem ihm die Mädchen die leeren Flaschen gereicht hatten, gab er sie an die Frau weiter.

Sie verstaute sie in einem anderen Beutel, den sie fest verschloss. Danach trat der Wachmann vorne im Bus hinter den Vorhang, versorgte die Jungen mit neuen Flaschen und sammelte die leeren ein.

Ehe er Will eine Flasche reichte, schüttelte er den Kopf und betrachtete mit missbilligendem Blick das Chaos auf dessen Platz. »Macht’s Spaß?«, fragte er.

Will starrte ihn an und schüttelte bedächtig den Kopf.

Der Busfahrer bog ständig ab und fuhr so viele Straßen hinauf und hinunter, als habe er die Orientierung verloren.

Stella glaubte allerdings nicht, dass er sich verfahren hatte.

Offenbar ging es darum, bestimmten Leuten oder einem bestimmten Ort aus dem Wege zu gehen.

Das brachte sie dazu, sich aufzusetzen und einen Blick nach hinten zu werfen. Ein kleiner brauner Wagen folgte dem Bus.

Als sie um eine Ecke bogen, entdeckte sie vor dem Bus einen weiteren Wagen, einen grünen, in dem neben dem Fahrer noch ein Beifahrer saß. Der Bus fuhr diesem Wagen hinterher, sie hatten eine Eskorte.

Das war eigentlich nicht sonderlich überraschend. Warum hatte Stella trotzdem das Gefühl, dass dies alles nicht richtig geplant und etwas schief gegangen war?

Will beobachtete sie. Er rückte nahe an den Plastikvorhang heran und bewegte die Lippen, aber wegen des Straßenlärms konnte sie seine Worte nicht verstehen. Sie fuhren jetzt über Schotter, rumpelten über einen Feldweg durch fahlbraunes sandiges Gelände auf eine Hauptverkehrsstraße zu. Während der Bus mit Schwung auf den Asphalt holperte und nach links abbog, verlangsamte der Leitwagen sein Tempo, damit der Bus ihn einholen konnte.

Nachdem sie nicht mehr so durchgerüttelt wurden, gab sie sich größere Mühe, die Worte von Wills Lippen abzulesen.

Sandia, sagte er unhörbar. Ihr fiel ein, dass er sie schon früher gefragt hatte, ob ihr das Wort etwas sage, aber sie hatte noch immer keine Ahnung, was Sandia sein mochte.

Als Will sich mit dem Finger quer über die Kehle fuhr, schloss sie die Augen und wandte sich ab. Sie brachte es nicht fertig, ihm weiter zuzusehen. Sie konnte es nicht brauchen, dass er ihr noch mehr Angst machte, als sie sowieso schon empfand.

Nach einer weiteren Stunde befanden sie sich auf einer geraden Strecke der Bundesstraße und durchquerten eine steinige Wüste, an deren Horizont sich eine rötliche Hügellandschaft abzeichnete. Die Sonne stand fast senkrecht über ihnen. Die Fahrt dauerte bereits viel länger als von Joanie angekündigt.

Die Bundesstraße war fast leer, nur wenige Wagen waren in jeder Richtung unterwegs. Ein kleiner roter BMW mit Kennzeichen von New Mexico scherte nach links aus, überholte den Kleinbus und raste davon. Die Jungen verfolgten das hastige Überholmanöver mit teilnahmslosen Blicken und streckten gleich darauf die Hände hoch, krümmten die Finger zu irgendwelchen Zeichen und lachten.

Stella wusste nicht, was sie damit sagen wollten. Ihr Gelächter klang rau. Die Jungen beunruhigten sie, weil sie so unbeherrscht wirkten.

Die lang gestreckten, mit Sand und Steinen bedeckten Flächen neben der Straße hatten eine einschläfernde Wirkung auf Stella. Die Hügel schienen überhaupt nicht näher zu rücken. Nochmals überlegte sie, was Sandia bedeuten mochte, verdrängte das Wort aber gleich darauf, weil ihr der Klang zuwider war. Umso mehr, als es eigentlich ein hübscher Name war.

Die Reifen quietschten.

Als sie von einem plötzlichen Schlenker des Busses aus ihrem Dämmerzustand gerissen wurde, klammerte sie sich am Vordersitz fest. Der Bus schwenkte nach rechts, dann nach links und geriet schließlich in die Schräglage. Immer noch quietschten die Reifen über den Asphalt. Celias Kopf und Schultern prallten erst an der einen Seite, gleich darauf an der anderen auf. Als Stella nach rechts sah, flog die Außenwelt nach oben, um sich mitsamt den Bergen und der Wüste sofort wieder zu senken. Dann neigte sich alles auf die Seite, sodass sie auf dem Plastiksitz ins Rutschen kam und ins Fenster krachte, wobei sie sich Kopf, Nacken und Schulter stieß.

Während das Kunststoffglas zersplitterte und sich in Scherben auflöste, an denen noch der Maschendraht hing, bohrte sich ihre Schulter in Sand und Schotter.

Einen Augenblick lang war es sehr still im Bus, der offenbar auf die Seite – ihre Seite, die rechte – gekippt war. Das Licht war recht trübe, die dicke Luft roch abgestanden und nach verschmortem Gummi.

Als sie sich zu bewegen versuchte und feststellte, dass sie es noch konnte, spürte sie große Erleichterung: Ihr Körper funktionierte, sie war noch am Leben. Während sie sich langsam hochrappelte, hörte sie ein Scheppern und Geräusche, als reiße etwas auf. Gleich darauf fiel ein Junge auf den Vorhang und rammte ihr das Knie in die Seite. Durch den straffen Kunststoff, der über ihr lag, konnte sie den Hintern eines anderen Jungen erkennen, der Jeans trug, schwach auch ein verzerrtes Gesicht: Will, dachte sie. Ächzend stemmte sie sich gegen den Körper des Jungen, der auf ihr lag und sich nicht von der Stelle rührte.

»Bitte geh von mir herunter!«, bat sie mit erstickter Stimme.

Sie hatte Schmerzen. Einen Augenblick lang dachte sie, sie werde gleich ausrasten, aber als sie die Augen schloss, bekam sie sich wieder in den Griff. Sie konnte ihre Hand nicht so um den Körper herumführen, dass sie sich an die Schulter fassen konnte, nahm jedoch an, dass sie blutete. Offenbar war ihre Bluse zerrissen: An der nackten Haut spürte sie Schotter oder irgendetwas Spitzes, Scharfes.

Von draußen hörte sie Stimmen, die von weit her zu kommen schienen – Männer, die miteinander redeten, einer brüllte irgendetwas. Quietschend ging eine Tür auf. Der Druck auf ihrer Brust lockerte sich, der Junge zog das Knie weg, doch gleich darauf traf sie sein Fuß hart am Knöchel, den er so weit vorschob, dass er sich im Gestell des Vordersitzes verkeilte.

Das tat so weh, dass sie schrie.

»Tut mir Leid.« Der Junge hob den Fuß von ihrem Knöchel.

Über sich sah sie Schatten, die sich ungeschickt und wie in Zeitlupe bewegten und gegen den Plastikvorhang drückten.

Wills Gesicht schien zu verschwimmen und schließlich ganz zu verschwinden, er war nicht mehr da. Durch den leichten Vorhang, der sie umhüllte, hörte sie, wie irgendetwas ächzte.

Es mochte ein Bremszylinder sein, vielleicht aber auch irgendein verletzter Junge. Sie wälzte sich so herum, dass sie schließlich ihre Schulter berühren konnte. Als sie die Hand zum Vorhang hochstreckte, bemerkte sie dort ein bisschen Blut, nicht alarmierend viel. Daraus, dass aus Richtung der Rückenlehne Licht einsickerte, schloss sie, dass irgendjemand wohl den hinteren Notausstieg des Busses geöffnet haben musste, vielleicht auch eine Dachluke.

»Wir holen euch besser raus«. Die Stimme des Mannes klang freundlich. »Habt ihr mich alle gehört?«

Inzwischen lag Stella mit dem Rücken halb auf der Seite des Busses, halb auf Sand und Schotter. Sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich, soweit es der begrenzte Raum zuließ, auf Arme und Knie. Die Bruchlandung hatte die Sitze des Busses eng ineinander geschoben. Irgendwie geriet ihr bei den Turnmanövern ein Zweig voller gefiederter Blätter in den Mund, den sie sofort ausspuckte. Schließlich schaffte sie es, sich so zu winden, dass sie ganz auf die Knie kam. Am ganzen Körper hatte sie Schnittverletzungen, aber keine blutete übermäßig. Sie schlug so lange auf den Plastikvorhang ein, bis jemand ihn wegriss, wobei die Haken klirrten.

»Wer ist da drin? LaShawna, bist du’s?«, fragte eine tiefe, prägnante Männerstimme.

»Celia? Hugh Davis? Johnny? Johnny Lee?«, war eine andere Stimme zu hören.

»Ich bins«, sagte Stella. »Ich bin hier.«

Als Nächstes hörte sie, wie LaShawna aufschrie und zu weinen anfing. »Mein Bein ist verletzt«, jammerte sie.

»Wir holen dich gleich heraus, LaShawna. Sei tapfer. Hilfe kommt sofort.«

Irgendein Mann fluchte laut und lange, schimpfte mit jemandem.

»Halten Sie sich da raus. Bleiben Sie, wo Sie sind. Das ist zwar eine schlimme Sache, aber halten Sie sich da raus!«

»Sie haben uns von der Straße gedrängt, verdammt noch mal!«

»Sie sind ins Schleudern geraten.«

»Was, zum Teufel, hätte ich denn auch tun sollen? In beiden Richtungen waren Wagen unterwegs. Mein Gott, wir brauchen einen Krankenwagen. Rufen Sie die Ambulanz!«

Stella überlegte, ob sie für den Augenblick einfach da bleiben sollte, wo sie war, im Halbdunkel, wo sie bislang noch niemand entdeckt hatte.

Plötzlich zog jemand sie am Arm, zerrte sie zwischen den Sitzen hervor, schob sie in den Raum zwischen den Sitzbänken und dem Dach des Busses, der eine Art Korridor bildete, nur dass die Fenster sich am Boden befanden. Es war Will, dessen Gesicht mit Blut beschmiert war. Er kauerte vor ihr und starrte sie wie ein zotteliger Affe an. »Wir können jetzt abhauen«, sagte er.

»Wohin?«

»Die Leute sind da, um uns abzuholen. Es sind Menschen, die uns befreien wollen. Aber wir können auch gehen.«

»Wir müssen helfen.«

»Was können wir schon tun?«

»Wir müssen helfen!«

Für einen Moment hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt; sie fühlte, wie ihr das Blut in die Ohren schoss.

Will schüttelte den Kopf und krabbelte halb geduckt in den vorderen Teil des Busses. Einen Augenblick lang sah es so aus, als werde er einfach durch ein Fenster nach draußen steigen.

Aber dann streckten sich vier Arme zu ihm hinunter. Als er einen letzten Blick nach hinten zu Stella warf, nahm sein Gesicht einen bitteren Ausdruck an. »Da hinten ist noch ein Mädchen«, sagte er. »Ist aber nicht schlimm verletzt.

Kümmern Sie sich darum, aber lassen Sie mich in Ruhe.«

Stella blieb am Randstreifen der lang gestreckten zweispurigen Schnellstraße sitzen und stützte das Gesicht in die Hände. In dem Buswrack hatte sie sich den Kopf so heftig angeschlagen, dass er jetzt pochte. Durch die gespreizten Finger hindurch warf sie heimlich Blicke auf die Erwachsenen, die um den Bus herumgingen. Seit dem Unfall waren etwa zwanzig Minuten vergangen.

Will, der neben ihr lag, hatte die Hand lässig über die Augen gelegt, als mache er ein Nickerchen. Dort, wo seine Hose aufgerissen war, zeichnete sich ein langer Kratzer auf der Haut ab. Ansonsten schienen sie beide unversehrt zu sein.

Celia, LaShawna und alle Jungen außer Will saßen bereits hinten in zwei Personenwagen, die nicht zur Eskorte gehört hatten. Die Wagen der Eskorte waren in einem Abwassergraben gelandet und hatten dabei einiges abbekommen: Aus den eingedrückten Kühlern zischte und dampfte es, die Kofferraumdeckel waren aufgesprungen.

Stella meinte, auf der anderen Seite des Busses die Stimmen der beiden Sicherheitsleute, vielleicht auch die des Busfahrers zu hören.

Etwa hundert Meter hinter ihnen parkten zwei Streifenwagen der Polizei am Straßenrand. Stella konnte die Insignien zwar nicht erkennen, aber die Blaulichter waren eingeschaltet.

Warum machten sie keine Anstalten dabei zu helfen, die Kinder wieder zurück zur Schule zu bringen? Lag es daran, dass bald ein Transporter des Krisenstabs oder ein Krankenwagen vorfahren würde?

Ein dunkelhäutiger Mann in zerknittertem braunem Anzug kam auf Stella und Will zu. »Die anderen Mädchen und Jungs haben zwar viele blaue Flecken und Blutergüsse, aber nichts Ernstes. LaShawna geht’s so weit gut, mit ihrem Bein ist, Gott sei Dank, alles in Ordnung.«

Stella musterte ihn argwöhnisch, da sie nicht wusste, wer er war.

»Ich bin John Hamilton«, stellte er sich vor, »LaShawnas Vater. Wir müssen hier verschwinden, ihr müsst mitkommen.«

Will setzte sich auf. Wegen der Sonne, aber auch aus Trotz, hatten seine Wangen fast die Farbe von Mahagoni angenommen. »Warum?«, fragte er. »Wollen Sie uns in eine andere Schule bringen?«

»Wir müssen euch zu einem Arzt bringen, der euch untersucht. Der nächste sichere Ort liegt rund achtzig Kilometer von hier.« Er deutete hinter sich. »Wir bringen euch nicht zur Schule zurück. Da geht meine Tochter nie wieder hin, höchstens über meine Leiche.«

»Was ist Sandia?« fragte Stella ihn aus einem Impuls heraus.

»Besteht nur aus einigen Bergen.« John wirkte bestürzt und schluckte etwas hinunter, das wohl bitter schmeckte. »Kommt schon, wir müssen los. Ich denke, wir haben noch Platz für euch.«

Ein dritter Wagen fuhr vor. John unterhielt sich kurz mit der Fahrerin, einer Frau mittleren Alters, die große Ringe mit Türkisen an den Fingern trug und grell orange getöntes Haar hatte. Offenbar kannten sie sich.

Als John zurückkehrte, wirkte er gereizt. »Ihr beide fahrt mit ihr«, erklärte er. »Sie heißt Jobeth Hayden und hat auch eine Tochter in der Schule. Wir dachten, ihre Tochter sei dabei, aber sie ist nicht mit euch mitgefahren.«

»Haben Sie die Wagen von der Straße gedrängt?«, fragte Stella.

»Wir haben versucht, den ersten Wagen zum Bremsen zu zwingen, weil wir euch aus dem Bus holen wollten. Wir dachten, wir könnten das ohne Risiko über die Bühne bringen.

Ich weiß nicht, wies passiert ist, jedenfalls ist einer ihrer Wagen ausgeschert, der Bus ist voll hineingekracht und dann sind alle drei von der Straße abgekommen. Mitten im dichten Verkehr, wir haben verdammt Schwein gehabt.«

Will hatte sein zerfleddertes, zerrissenes Taschenbuch aus dem Schmutz geborgen und hielt es umklammert. Nachdem er den Riss in seinen Jeans und den Kratzer gemustert hatte, starrte er hinter sich, auf die beiden Streifenwagen mit den Blaulichtern, die immer noch am Straßenrand parkten. »Ich werd mich allein auf die Reise machen.«

»Nein, mein Sohn«, erwiderte John Hamilton, der plötzlich viel größer wirkte, mit energischer Stimme. »Du wirst da draußen sterben, denn du wirst keinen Menschen finden, der dich im Wagen mitnimmt. Die erkennen nämlich auf den ersten Blick, mit wem sie’s zu tun haben.«

»Die werden mich sicher festnehmen.« Will deutete auf die Blaulichter.

»Nein, werden sie nicht. Die sind aus New Mexico«, erwiderte Hamilton, ohne zu erklären, welchen Unterschied das machte.

Will, dessen Gesicht sich aus Zorn oder Frust verzerrte, starrte ihn nur an.

»Wir haben die Verantwortung«, sagte Hamilton gelassen.

»Bitte kommt mit uns mit.« An Will gerichtet, wiederholte er mit tiefer, äußerst ruhiger, fast schon schläfriger Stimme:

»Bitte.«

Als Will einen Schritt nach vorn tat, geriet er ins Stolpern.

Hamilton half ihm zu dem Wagen hinüber, in dem die Frau mit dem orange getönten Haar saß, Jobeth Hayden. Auf dem Weg dorthin kamen sie nahe an dem roten Buick vorbei, in dem Celia, Felice, LaShawna und zwei der Jungen Platz genommen hatten. LaShawna hatte sich mit geschlossenen Augen auf dem Sitz zurückgelehnt, in den Schatten des Wagendachs, während Felice aufrecht neben ihr saß. Celia streckte den Kopf aus dem Fenster, in den Händen eine Flasche 7-Up und ein Sandwich.

»Was für eine… kkh… Fahrt«, krähte sie. Um ihren Kopf war ein weißer Verband geschlungen, auf dem Schädel und in den Haaren klebte Blut. »Schätze, die Schule ist aus, wie?«

Will und Stella stiegen zu Jobeth in den Wagen, während John ihr das Fahrtziel nannte, eine Ranch. Stella bekam den Namen nicht richtig mit, vielleicht war es George oder Gorge.

»Ich weiß«, sagte die Frau, »ich liebe ja dort.«

Stella war sich sicher, dass sie nicht lebe, sondern liebe gesagt hatte.

Während Will den Kopf zurücklehnte und die auffällige Erscheinung anstarrte, griff Stella nach der Wasserflasche und der Flasche 7-Up, die John ihr reichte. Gleich darauf fuhren die Wagen los, machten sich auf den Rückweg und ließen neben dem Buswrack auch die beiden Sicherheitsleute und die drei Fahrer hinter sich, die allesamt, sorgsam verschnürt, auf dem Randstreifen hockten.

Die Streifenwagen, die sich als Eigentum der Landespolizei von New Mexico entpuppten, rasten in die andere Richtung davon; das Blaulicht war ausgeschaltet.

»Wird nicht länger als eine Stunde dauern«, sagte Jobeth, die den anderen beiden Wagen hinterher fuhr.

»Wer sind Sie?«, fragte Stella.

»Keine Ahnung«, erwiderte Jobeth locker. »Weiß ich schon seit Jahren nicht mehr.« Sie warf über den Sitz einen Blick zu Stella nach hinten. »Du bist eine Hübsche. Für mich seid ihr alle hübsch. Kennst du meine Tochter? Sie heißt Bonnie, Bonnie Hayden. Ich nehme an, sie ist immer noch in der Schule. Die haben sie vor sechs Monaten abgeholt. Sie hat von Natur aus rote Haare und echt auffällige Tupfen. Liegt sicher an ihrem irischen Blut.«

Will riss eine Seite aus seinem Taschenbuch, zerknüllte sie, wedelte damit vor seiner Nase herum und grinste Stella an.

32

Oregon

Sie sind draußen gewesen, um zu jagen. Die älteren Männer haben die jüngeren mitgenommen, diejenigen, die bald in die Pubertät kommen oder sie gerade hinter sich haben; sie machen sich auf den Weg zu dem höher gelegenen Gelände, weil sie nachsehen wollen, ob es nach dem Ascheregen noch irgendwo Wild gibt. Aber die Asche hat über Hunderte von Kilometern hinweg alles mit Staub überzogen und das Wild ist weiter nach Süden gezogen. Nur die kleinen Tiere, die sich in ihre Höhlen und Bauten verkrochen haben, harren immer noch zitternd aus…

Und dann hören die Männer den Lahar kommen, sehen, wie die Wolke aus Feuer und Lava, die alle Schnee- und Eismassen abgeschmolzen hat, den Fuß des Berges umgibt. Wie ein schmutzig-graues Tuch ist sie von dem dunklen wilden Bär, dessen Tatzen Blitze sind, herabgefallen. Vielleicht kommt es ihnen auch so vor, als habe die Berggöttin ihr Gewand ausgebreitet, als senke sich dessen Saum, viele Meilen weit entfernt, rasch über das Land. Und es klingt so, als rasten alle Büffel der Welt gleichzeitig davon.

Unter diesem Gewand hat sich das Schmelzwasser mit heißem Gas gemischt, nimmt Asche, Schlamm und entwurzelte Bäume in sich auf und rast brüllend und tosend auf den Ort zu, an dem die Männer, bleich und entkräftet vor Angst, stehen geblieben sind.

Der Anführer, der Mann mit den schärfsten Augen, der schnellsten Auffassungsgabe, den stärksten Armen und den meisten Söhnen und Töchtern in dieser Gruppe, der trotz allem vermutlich nicht älter als fünfunddreißig oder vierzig Jahre alt ist… dieser Anführer hat so etwas wie den näher kommenden Lahar noch nie erlebt. Die Asche war schon schlimm genug gewesen. Die ferne, graue Schlammlawine sieht so aus, als brauche sie noch Tage bis zu ihrem Standort. Die Wälder, über die sie sich hinweg wälzt oder die sie durchschneidet, sind weit weg. So wütend und machtvoll sie auch toben mag, wie sollte sie bis zu diesem Ort vordringen, an dem der Anführer mit seinen Söhnen und Jägern steht?

Trotzdem tritt er vorsichtshalber den Rückweg an, weil er sich um die Frauen kümmern will.

Mitch schlug sich aufs Knie, rappelte sich hoch und machte sich auf den Rückweg zum Lager.

Die Männer springen die Hügel hinunter, nehmen die Abkürzung. Ihre Füße wirbeln kleine Aschewolken auf Der Anführer wendet den Blick von der Asche, die seine winzige Gruppe in erstickenden Nebel einhüllt, zum Himmel und merkt, dass die Wolke in diesen wenigen Minuten viel, viel näher gerückt ist. Er zittert, weil ihm klar ist, wie wenig er weiß.

Möglich, dass der Tod sie bald einholen wird.

Mit großen Schritten marschierte Mitch auf die Flussniederung zu, quer durch alte Schlammablagerungen, und schlug einen Bogen um das hier und da wachsende Gestrüpp, durch das der Wind strich.

Der gewaltige Guss kommt immer näher. Der heiße Atem der Hölle, für den sie noch keinen Namen haben, der ihr Vorstellungsvermögen sprengt. Als das Tosen lauter wird, rennt der Anführer schneller. Selbst die größten Herden erzeugen keinen Lärm wie diesen, wenn sie bei der Jagd in wilder Flucht davongaloppieren. Die Wolkenwand verleibt sich schnell und dennoch schwerfälligmit der Würde eines großen Bären – das Land ein.

Der Anführer bleibt kurz stehen, um den anderen zu zeigen, dass die Wolkenwand jetzt nicht mehr näher rückt. Sie lachen und johlen. Die graue Wolke wird dünner und dünner und löst sich schließlich auf. Die Flut unterhalb der Wolke entgeht ihren Augen.

Aber der schlimmste Ascheregen kommt erst noch, dicke Vorhänge, dichte Schwaden, die ihnen die Sicht nehmen, in den Augen brennen, in Mund und Nase dringen, sodass es zwischen Lippen und Zahnfleisch knirscht und sie kaum noch atmen können. Sie versuchen, ihre Augen mit den Händen zu schützen. Blind stolpern sie vor sich hin, fallen, brüllen Jagdrufe, Rufe ihrer Stämme, allerdings noch keine Namen.

Und wieder beginnt das Tosen, wird lauter, ein stampfender Rhythmus, in den sich das Kreischen entwurzelter Bäume mengt.

Mitch machte kurz am Hang vor der Flussniederung Halt, um die verwitterten Schichten, die zerbrochenen, zerfallenen Überreste des uralten Lahars ins Visier zu nehmen. Vor seinen Augen tanzten Funken, die ihm die Sicht nahmen, er versuchte sie durch Reiben loszuwerden.

Halb rutschend, halb laufend machte er sich auf den Weg hinunter, bis er am Rand des Spent River das Steilufer erreichte, das Aussicht auf den ausgetrockneten Flusslauf bot.

Vielleicht waren sie nahe am Fluss gewesen, hatten die Absicht gehabt, ihn in gerade Linie von dem höher gelegenen Gelände aus zu durchqueren – von dem Punkt aus, an dem Mitch (mitsamt dem Anführer) noch vor wenigen Minuten gestanden hatte, nicht weit von seinem jetzigen Standort.

Mitchs schlaffer Arm baumelte wie tot an der Seite, aber er achtete weder auf das Kribbeln, noch auf die silbernen Fünkchen, die vor seinen schmerzenden Augen tanzten.

Während er das Steilufer entlangging, suchte er mit den Augen den Boden vor sich ab und hielt Meter für Meter Ausschau nach irgendwelchen verwitterten Hand- oder Zehenknochen oder noch größeren Teilen, die irgendein Kojote womöglich links liegen gelassen hatte. Vielleicht hatte auch ein Erdhörnchen an den Knochen gezerrt, sodass sie aus ihren kleinen Aushöhlungen in der Asche, dieser hart gewordenen Masse des Todes, herausgerutscht waren.

Das Tosen wird laut und lauten aber die Wolke scheint sich aufzulösen. Was die Männer von ihrem Standort aus nicht sehen können: Der Lahar spaltet sich in lang gestreckte Auslaufen sucht sich Kanäle, die sich schon früher in dieses zerklüftete Land gegraben haben, strömt mit letzter Kraft, drängt nach vorn, weiter und weiter, wird aber gleichzeitig schwächer. Sie können nicht erkennen, dass diese neue Gefahr sie mit dem letzten Aufgebot an schwindender Kraft töten will.

Vielleicht werden wirs überstehen, denken sie.

Wenn sie sich überhaupt irgendwo befanden und noch im Boden lagen, dann zu seiner Rechten. Gut möglich, dass ihre Knochen völlig verwittert und schon vor Jahrhunderten vom Steilufer herabgefallen waren. So nah am Rand musste er damit rechnen, dass von ihnen nichts übrig geblieben war. Der Fluss musste damals höher gelegen haben, sein Bett war noch nicht so tief und ausgehöhlt gewesen. Aber vielleicht war das Steilufer doch so hoch gewesen, dass sie sich hier eine Pause gegönnt hatten…

Der Anführer blickt nach Nordwesten. Mit weit aufgerissenen Augen sieht er, wie der Hauptstrom des sterbenden Lahars durch das Flussbett tost. Seine Nasenflügel beben vor Wut und Enttäuschung, als sich der wirbelnde Strom aus Matsch und dampfendem Wasser mit großen Schüben auf sie zu bewegt, in seine Augen, in sein Hirn dringt. Der Strom kommt schneller heran, als sie rennen können. Sie kauern sich nieder, während er unter ihren Füßen vorbeirauscht und das Ufer wegschwemmt. Um sich in Sicherheit zu bringen, klettern sie die Böschung hinauf, aber der Lahar schwingt sich empor und ergießt sich über sie, als sie die Arme hoch werfen. Die zähe Flüssigkeit ist so heiß, dass sie die Männer verbrüht. Der Anführer hört die Gefährten brüllen, aber das hält nicht lange an.

Mitchs Atem kam jetzt stoßweise.

Ihre Frauen auf der anderen Seite des Spent River mussten im selben Augenblick oder wenige Sekunden später gestorben sein.

Als der Anführer fällt, hat er die Hände über dem Kopf.

Genau wie seine Söhne und die anderen Jäger kämpft er Bruchteile von Sekunden gegen den glühend heißen Schlamm an und muss dann reglos liegen bleiben. Der Matsch hüllt ihn ein, eine mehr als fünfzig Zentimeter dicke Decke voller Zweige, Trümmer von Baumstämmen, faustgroßer Steine und Teile toter Tiere.

Beim Laufen wurde Mitch ruhiger. Die Einzelheiten schienen sich wie Mosaikteile zusammenzufügen. Wenn die Suche begann, wurde sein Hirn stets ein stiller See.

Das Land dampft vor Hitze. Am Fluss hat über dem Boden nichts überlebt. Entlaubte Büsche liegen platt gewalzt und verdorrt am Ufer. Halb vergraben unter Schichten dampfenden Schlicks liegen verbrannte Kadaver. Der Boden stinkt nach Schlamm und verschmortem Gemüse. Es riecht nach zerkochten Kräutern in einem Fleischeintopf. Schließlich kühlt der Schlamm ab.

Und dann kommt der dritte Ascheregen, der die Überreste der Männer und Frauen und das verwüstete Land rund um den Spent River unter sich begräbt.

Es ist vorbei.

Mitch hielt den Kopf gesenkt und presste einen Finger aufs Auge, aber der Schmerz hielt trotzdem an. Das war der Preis, den er zahlen musste.

Rod Taylor schiebt den Hebel der alten Zeitmaschine nach vorn. Unter dem grauen Leichentuch des Ascheregens härtet der Schlamm aus. Die Zeit vergeht im Fluge. Die Leichen verwesen in ihren Mulden, verfärben den ausgehärteten Schlamm. Das Fleisch versickert nach und nach, bei Erdbeben rasseln die Knochen. Als sich Risse im zu Stein gewordenen Schlamm auftun, können frisches Wasser und Schlick eindringen und den Hohlraum mit Schlamm einer anderen Dichte und Zusammensetzung füllen, der die Knochen schließlich an Ort und Stelle hält.

Endlich finden die Männer ihre Ruhe.

Mitch wusste, dass sie hier noch irgendwo waren.

Er blieb stehen und sah nach rechts auf eine Stufe, die Jahrhunderte der Erosion in das Steilufer gegraben hatten.

Anfangs konnte er nicht sehen, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, weil ihm das schmerzhafte Flimmern vor seinen Augen die Sicht nahm.

Das obere Ende der Abstufung im Stein gewordenen Schlamm befand sich fast zwei Meter über seinem Kopf. Es war von einer dunkelgrauen Schicht überzogen, die nur lose von Erde und Gestrüpp bedeckt war. In diesem Moment explodierte eine strahlend helle Kugel vor seinen Augen, sodass er nur noch etwas Braunes erkennen konnte, das horizontal im Gestein lag und nahezu glänzte.

Er wagte kaum noch zu atmen.

Mitch beugte sich mit hängendem Arm vor, stemmte die Knie gegen den Wall aus verwitterten Erdklumpen und Kieseln, streckte den rechten Zeigefinger aus und strich an der zusammengepressten grauen Asche und dem

zusammengebackenen Schlammgestein entlang.

Das, was sich von der gehärteten Schicht abhob, war fest. Es hätte der Knochen eines Rehs, einer Bergziege oder eines Dickhornschafes sein können.

Aber das war es nicht, es war Teil eines menschlichen Schienbeins, einer Tibia. Da es sich in dieser Schicht befand, musste es mindestens so alt sein wie die Knochen im Lager.

Während vor seinem rechten Auge Funken tanzten, griff er mit einer Hand nach unten und tastete nach einem weiteren kleinen Knochenstück, das er dort gesehen hatte, ein dunkelbrauner Talus im Geröll.

Er hielt den Knochen hoch und drehte ihn so lange, bis er ihn deutlich erkennen konnte. Er war klein, stammte aber ebenfalls von einem Menschen, zumindest von der Gattung Homo.

Gleich darauf schob er ihn wieder an die ursprüngliche Stelle zurück. Die Lage der Knochen würde sich als wichtig erweisen, wenn sie sich an die Untersuchung machten.

Er zog einen Zahnstocher aus der Jackentasche und bearbeitete damit den gehärteten Schlamm und die Asche rund um das Schienbein, bis er sich vergewissert hatte, dass es tatsächlich eines war, und kämpfte dabei minutenlang gegen den Schmerz in seinem Schädel an. Dann lehnte er sich zurück und zog die Knie an.

Er konnte es nicht länger verdrängen: Die Migräne war da.

Seit mehr als zehn Jahren hatte er keinen so schlimmen Anfall mehr erlebt. Der Zahnstocher fiel ihm aus der Hand, als er sich auf dem Boden zusammenkrümmte und versuchte, das Stöhnen zu unterdrücken.

Er schaffte es noch, einen Finger zu heben und über das halb vergrabene Knochenstück zu streichen.

»Hab euch gefunden«, murmelte er. Dann schloss er die Augen und spürte, wie sein eigener Lahar über ihm zusammenschlug.

33

New Mexico

Dickens Bildschirm zeigte jede Menge Vergleiche der Proteinexpression im Gewebe von Embryonen verschiedener Entwicklungsstadien. Er suchte nach dem schwer nachweisbaren Auslöser, der einem Retrovirus oder Transposon entstammte und sich in einen Komplex von Entwicklungsgenen eingeschlichen und zum Herausbilden des Jungfernhäutchens geführt haben mochte. Selbst wenn er sich auf frühere Untersuchungen und Vergleiche stützen konnte –

kaum zu glauben, aber in der Literatur hatte er tatsächlich einiges darüber gefunden –, sah es so aus, als könne der Nachweis Monate oder Jahre in Anspruch nehmen.

Dr. Jurie hatte Dicken auf die am wenigsten brisante oder interessante Position im Zentrum für Pathogene abgeschoben.

Hatte ihn sicher auf Eis gelegt, bis er gebraucht wurde.

Es war ein merkwürdiger Tanz, den Jurie da zwischen Nützlichkeitsdenken und dem Bedürfnis nach Sicherheit aufführte. Er hielt Dicken unter Kontrolle, um jederzeit zu wissen, wo er sich befand und was er vorhatte, vielleicht auch, um Dickens Gehirn anzuzapfen.

Oder auch, um ihm gegenüber Schuld einzugestehen? Wollte er, dass Dicken ihn auf frischer Tat ertappte?

Bei Aram Jurie konnte Dicken nichts ausschließen.

Der Mann hatte ihm via E-Mail eine ganze Reihe weitschweifiger, langer Mitteilungen geschickt, die rätselhaft, schwer zu deuten waren und für Dickens Geschmack allzu viele Anspielungen enthielten. Dicken hatte das Gefühl, dass Jurie vielleicht auf etwas Wichtiges gestoßen war, eine seltsame, verrückte, aber unbestreitbar wichtige Erkenntnis gewonnen hatte oder kurz davor stand.

Jurie vertrat die – nicht gerade neue – Auffassung, dass Viren in fast jedem Stadium der embryonalen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen, jedoch in einem groben Maßstab.

Allerdings hatte er ein paar interessante Hypothesen dazu entwickelt, auf welche Weise das vor sich ging:

»Genomische Viren wollen beim großen Spiel mitmischen.

Aber wie es bei genetischen Spielern so ist, sind sie primitiv, beschränkt, haben weder Anstand noch Würde. Da sie nichts Großes bewirken können, greifen sie zu rätselhaften kleinen Aktivitäten, die das große Spiel duldet. Später ist es geradezu süchtig nach ihren subtilen Spielchen…

Von sich aus sind sie schwach, aber es kann passieren, dass sich endogene Viren auf eine sehr spezielle Form der Apoptose stützen, indem sie den Selbstmord einer Zelle vorprogrammieren. Zu bestimmten Zeiten exprimieren und präsentieren ERVs Antigene auf der Zelloberfläche. Daraufhin inspizieren die Agenten des Immunsystems die Zelle und töten sie. Indem die genomischen Viren koordinieren, welche Zellen auf welche Weise Antigene aufweisen, können sie auf recht grobe Weise bei der Formung des Embryos, ja selbst beim Wachstum des Körpers nach der Geburt mitmischen.

Selbstverständlich arbeiten sie daran, ihre Anzahl zu erhöhen und ihre Position in der betroffenen Spezies, im erweiterten Genom, zu verbessern. Das tun sie, indem sie trotz der ständigen, heftigen Angriffe des Immunsystems eine schwache, aber hartnäckige Kontrolle ausüben.

Und bei Säugetieren haben sie das Spiel gewonnen. Wir haben uns in einigen der entscheidendsten Aspekte unseres Lebens den Viren ausgeliefert, nur um unseren Babys Zeit zu geben, sich im Mutterschoß statt im beengten Ei zu entwickeln und ein ausgefeiltes Nervensystem herauszubilden. Ein Glücksspiel mit allen Chancen und Risiken. Jede Generation von Menschen ist dadurch erpressbar, dass sie den viralen Genen so viel schuldet. Es ist so, als nehme man ein Darlehen bei der Mafia auf…«

Maggie Flynn klopfte an Dickens offene Bürotür. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Eigentlich nicht, warum?« Dicken wandte sich in seinem Drehstuhl um. Flynn wirkte erregt und niedergeschlagen.

»Es hat sich was getan. Jurie hat den Campus verlassen und uns aufgetragen, uns nicht von der Stelle zu rühren. Ich glaube nicht, dass wir das schaffen. Wir sind auf so etwas einfach nicht vorbereitet.«

»Worum geht es überhaupt?«

»Wir brauchen den Rat eines Experten. Und das könnten Sie sein.«

Dicken stand auf und schob die Hände in die Hosentaschen.

Plötzlich war er hellwach, sein Argwohn war geweckt.

»Welche Art von Rat soll das sein?«

»Wir haben einen neuen Gast. Und es ist kein Affe.« Flynn wirkte keineswegs glücklich über das, was dieser Neuzugang implizierte.

Wenn Maggie Flynn annahm, dass Jurie ihn ins Vertrauen gezogen hatte, warum sollte ausgerechnet er selbst sie dann über die wirkliche Situation aufklären? Flynns Passwort konnte ihnen beiden Zugang zu den Informationen verschaffen, die ihm selbst verwehrt wurden – so viel hatte er gestern gelernt, als er Presky in seinem Forschungslabor mit den Monotremata besucht hatte.

Flynn nahm Dicken mit nach draußen, führte ihn zu einem kleinen Elektrowagen und fuhr mit ihm um die fünf miteinander verbundenen Lagerhäuser herum, die den Zoo beherbergten. Hier im Freien, jenseits von Überwachungsgeräten, äußerte sie sich deutlicher.

»Im Gegensatz zu mir haben Sie schon mit SHEVA-Kindern gearbeitet. In medizinischer wie in ethischer Hinsicht befinden wir uns in einer schwierigen Situation. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Da ich hier die einzige verheiratete Frau bin, hat Turner mich damit beauftragt, ihr moralische Unterstützung zu geben und eine persönliche Beziehung zu ihr herzustellen… Aber, ehrlich gesagt, bin ich damit völlig überfordert.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

Flynn wirkte jetzt noch nervöser und brachte den Wagen zum Stehen. »Sie wissen gar nicht Bescheid?«, fragte sie mit schriller Stimme.

In Dickens Kopf begann es wie rasend zu arbeiten, denn er merkte, er war drauf und dran, eine einmalige Chance zu verpatzen. Sie haben schon mit SHEVA-Kindern gearbeitet…

Da ich hier die einzige verheiratete Frau bin…

Sie tuns tatsächlich, sie sind bereits dran. Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte, und hoffte, dass es nicht auffiel.

»Ach so«, sagte er und schaffte es einigermaßen, locker zu wirken. »Es geht um die Virus-Kinder.«

Flynn biss sich auf die Lippen. »Den Ausdruck mag ich nicht.« Sie griff nach dem kleinen Steuerhebel und fuhr wieder an. »Jurie hat noch nie direkt mit ihnen gearbeitet. Nur mit Proben. Genau wie Turner. Und Presky ist natürlich jemand, der sich nur mit Tieren auskennt, hat überhaupt keine Umgangsformen. Deshalb haben wir an Sie gedacht. Turner hat behauptet, genau deswegen müssten Sie wohl hier sein.

Nur deshalb hätte Jurie Ihnen diese scheißtheoretische Arbeit aufgehalst – damit Sie jederzeit abkömmlich sind, wenn es so weit ist.«

»Okay.« Dicken gab sich den Anschein berufsbedingter Skepsis und presste die Lippen aufeinander, damit ihm keine dumme oder verräterische Bemerkung entfuhr.

»An der Grenze ist irgendetwas schief gegangen, ich weiß nicht, was, da ich nicht zum engsten Kreis der Eingeweihten gehöre. Jurie ist jetzt in Arizona. Turner hat mir aufgetragen, Sie zu holen, noch ehe Jurie zurückkommt.« Ihr flüchtiges Lächeln wirkte recht verzweifelt. »Wenn die Katze aus dem Haus ist…«

Es handelte sich also um eine interne Verschwörung, allerdings wirkte sie nicht besonders überzeugend. Offenbar erwartete Flynn von ihm einige beruhigende, schlagfertige Worte. Das ganze verdammte Labor funktionierte nur aufgrund dieser übertriebenen Schlagfertigkeit, dieses glatten Umgangstons, der so klang, als stünden sie fortwährend unter Drogen. Es kam ihm so vor, als wollten sie damit eine Erkenntnis überspielen, die ständig an ihnen nagte: die Erkenntnis, dass ihr Treiben irgendwann womöglich die Aufmerksamkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag auf sich ziehen würde.

»Gott segne die Tiere und Kinder«, sagte Dicken. »Gehen wir.«

Auf der Nordseite der Lagerhäuser thronte auf einem Ausläufer des schwarz geteerten Parkplatzes eine separate Anlage mit einer aufblasbaren Hülle aus silbernem Kunststoff, die wie eine riesige außerirdische Larve anmutete. Eine Zugangsröhre führte von der Anlage ins Lagerhaus 5, das die meisten der Forschungslabore für Primaten beherbergte. Am südlichen Ende dieser ,Wurst’ fielen Dicken zwei Kompressoren und eine komplizierte, gerade erst montierte Sterilisierungsapparatur auf.

Wie groß diese Anlage war, merkte er erst, als sie fast davor standen. Der ganze Komplex war so weitläufig wie eines der Lagerhäuser und musste mindestens viertausend Quadratmeter umfassen.

Nachdem sie den Wagen abgestellt hatten, betraten sie durch den Lieferanteneingang das Lagerhaus 5. Drinnen empfing sie Turner in einer kleinen Ambulanz – einer klinischen Ambulanz, die offensichtlich nicht nur auf Primaten, sondern auch auf Menschen vorbereitet war.

»Bin froh, dass Sie kommen konnten, Christopher«, sagte Turner. »Jurie kümmert sich gerade um einen Zwischenfall an der Landesgrenze. Irgendwelche Oppositionellen haben einen Laborbus blockiert und sich geweigert, ihn nach Arizona hineinzulassen. Offenbar hat die örtliche Polizei ihnen geholfen. Jurie musste in letzter Minute einen anderen Bus anfordern und ihn um die Straßensperren herumleiten.«

»Das ist nicht weiter überraschend«, bemerkte Flynn. Als Dicken von einem zum anderen sah, fröstelte er innerlich: Der glatte Umgangston war völlig verschwunden. Sie wussten, dass ihre Karrieren auf dem Spiel standen.

»Die Vorbereitungen waren ja nicht zu übersehen, aber Jurie hat uns erst gestern eingeweiht«, erklärte Turner. Ihre Bemerkungen fügten sich nach und nach so zusammen, dass Dicken sich ein Bild machen konnte.

»Die Kleine ist sehr unglücklich«, sagte Flynn.

»Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir sie überhaupt hier haben sollten«, ergänzte Turner.

»Sie ist schwanger«, sagte Flynn.

»Wurde vergewaltigt, wie man uns erzählt hat. Vom eigenen Pflegevater.«

»Oh Gott, ich wusste nicht, dass es eine Vergewaltigung war.« Flynn presste die Handknöchel gegen die Wangen. »Sie ist erst vierzehn.«

»Man hat sie von einer Schule in Arizona hierher gebracht.

Jurie nennt sie nur unsere Schule. Von dort haben wir die meisten Proben bekommen.«

»Sie ist schwanger?«, fragte Dicken verblüfft und überlegte gleich darauf, ob er sich damit eine Blöße gegeben hatte.

»Selbst in der Klinik ist das nicht allgemein bekannt«, erwiderte Turner. »Es wäre mir lieb, wenn Sie das nicht weiter verbreiten.«

Daraufhin ließ Dicken seiner Verwunderung freien Lauf.

»Das ist ja ein Ding«, krächzte er. »Aber ihre Körperzellen haben doch zwei Sätze von je 26 Chromosomen. Wie passt das denn zusammen?«

»Ich weiß nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe«, entgegnete Turner schroff. »Ihr eigener Pflegevater hat sie geschwängert.«

»Das ist wirklich ein Ding«, bemerkte Dicken.

»Sie ist vor einem Monat in der Schule angekommen. Dass sie schwanger ist, haben wir entdeckt, als wir eine Reihe von Blutproben von ihr aufbereitet haben. Jurie hätte fast einen Herzschlag bekommen, als er die Laborergebnisse erhielt. Er war offenbar begeistert. Letzte Woche ließ er sie hierher bringen, ohne uns einzuweihen.«

»Ich war so wütend, dass ich ihn am liebsten verprügelt hätte«, sagte Flynn.

»Was hätten wir denn tun sollen? Die Schule konnte sich nicht um sie kümmern. Und mit verdammter Sicherheit will kein Krankenhaus irgendetwas mit ihr zu tun haben.«

Dicken hob die Hand. »Wer ist für die Klinik zuständig?«

»Maggie, Tommy Wrigley – den haben Sie auf der Party kennen gelernt – und Thomas Powers. Dazu noch einige, die man uns aus Kalifornien geschickt hat, wir kennen sie nicht.

Und natürlich Jurie, was die Forschung betrifft. Aber er hat das Mädchen noch nicht einmal besucht.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist etwa im dritten Monat. Es geht ihr nicht gut. Wir nehmen an, dass sie vielleicht Shiver hat, selbst induziert«, sagte Flynn.

»Das steht noch keineswegs fest«, warf Turner wütend ein.

»Es sieht alles nach Grippe aus – und das ist möglicherweise auch alles. Aber wir sind noch vorsichtiger als sonst. Diese Information darf diesen Raum nicht verlassen… Erzählen Sie’s nicht einmal im Zentrum für Pathogene weiter.«

»Aber Dr. Dicken würde merken, wenn es wirklich Shiver ist, nicht wahr?«, fragte Flynn trotzig. »Hat Jurie Sie nicht genau deswegen hierher geholt?«

»Am besten, wir sehen uns das Mädchen mal an«, wich Dicken aus.

»Sie heißt Fremont, Helen Fremont. Kommt ursprünglich aus Nevada. Aus Las Vegas, glaube ich.«

»Nein, aus Reno«, berichtigte Turner. Während sich sein Gesicht so verzog, dass er wie ein Häufchen Elend wirkte, und die Schultern heruntersackten, fügte er hinzu: »Ich glaube nicht, dass ich das noch lange aushalte, wirklich nicht.«

34

Baltimore – Washington

Kaye und Marge Cross saßen schweigend auf der Rückbank des Taxis. Kaye musterte den Nacken des Fahrers, der unter dem Turban hervorsah, und merkte bei einem flüchtigen Blick in den Rückspiegel, dass er leicht grinste. Er pfiff munter vor sich hin. Offensichtlich war seine SHEVA-Enkelin keine große Belastung für ihn.

Kaye wusste nicht viel darüber, unter welchen Bedingungen SHEVA-Kinder in Pakistan lebten. Im Allgemeinen hatten traditionelle Kulturen wie die der Moslems, Hindus und Buddhisten die neuartigen Kinder besser akzeptiert als andere.

Was einerseits überraschend war, andererseits beschämend.

Cross trommelte mit den Fingern auf den Knien herum und sah aus dem Fenster auf die Straße und den Verkehr. Ein langer Sattelschlepper mit zwei Anhängern fuhr an ihnen vorbei, auf dessen Seiten mit riesigen roten Lettern die Aufschrift TRANSNATIONAL BIRMINGHAM PORK

prangte.

»Dafür hab ich viel Geld ausgegeben«, murmelte Cross.

Kaye nahm an, dass sie sich auf Transplantationen von Schweinegewebe bezog. »Wohin fahren wir, Marge?«, fragte sie.

»Nur so durch die Gegend.« Cross’ Kinn wippte auf und ab, wobei Kaye nicht genau wusste, ob sie nickte oder sich einfach im Takt der Unebenheiten im Straßenbelag bewegte.

»Die Adresse weist auf ein Wohngebiet hin. Ich kenne mich in Baltimore und Maryland ganz gut aus«, bemerkte Kaye.

»Ich nehme mal nicht an, dass Sie mich kidnappen wollen.«

Cross bedachte sie mit der Andeutung eines Lächelns.

»Teufel noch mal, Sie zahlen doch. Es gibt da ein paar Leute, die Sie vielleicht gern kennen lernen würden.«

»In Ordnung.«

»Lars hat’s Robert ganz schön gegeben.«

»Robert ist ein scheinheiliger Sack.«

Cross zuckte mit den Achseln. »Trotzdem werde ich Lars’

Rat nicht beherzigen.«

»Das hatte ich auch nicht angenommen.« Selbst in dieser Situation war es für Kaye ein schrecklicher Gedanke, ihre Labors und die Forschungsassistenten zu verlieren. Die wissenschaftliche Arbeit war ihr letzter Trost gewesen, ihr Labor der letzte Zufluchtsort, an dem sie sich in Arbeit hatte versenken können.

»Ich lasse Sie ziehen«, erklärte Cross.

Zu ihrer Überraschung spürte Kaye den Schlag doch nicht so heftig wie erwartet. Jetzt war sie an der Reihe, im Rhythmus der Radaufhängungen des Taxis zu nicken.

»Ihre Arbeit bei mir ist beendet.«

»Na prima«, erwiderte Kaye angespannt.

»Ja, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Kaye mit klopfendem Herzen. Was habe ich zu tun versäumt? Das, was ich allein nicht schaffen konnte.

»Was würden Sie bei Americol tun, wenn Sie bleiben würden?«

»Reine Forschung über hormonelle Aktivierung von retroviralen Elementen bei Menschen«, erwiderte Kaye, die sich immer noch an dem Vergangenen festhielt. »Ich würde mich auf mit Stress verbundene Signalsysteme konzentrieren. Auf die Übertragung von Transkriptionsfaktoren und regulierenden Genen in somatische Zellen durch ERVs. Ich würde die Viren als ganz alltägliche genetische Transport- und Regulierungssysteme untersuchen – Systeme, die dem Körper nützen. Würde den Nachweis erbringen, dass das Modell, nach dem Viren nur Krankheiten erzeugen, falsch ist.«

»Ein lohnendes Forschungsgebiet«, bemerkte Cross. »Für Americol ein wenig zu kühn, aber ich kann ein paar Anrufe tätigen und Ihnen anderswo eine Stelle besorgen. Allerdings glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, dass Sie die Zeit dafür haben werden.«

Kaye zog die Augenbrauen hoch und presste die Lippen zusammen. »Wenn ich nicht mehr bei Ihnen beschäftigt bin, wie wollen Sie dann wissen, über wie viel Zeit ich verfügen werde?«

Cross lächelte, aber das Lächeln verschwand gleich wieder.

Mit finsterem Blick starrte sie aus dem Fenster. »Robert hat die falsche Waffe benutzt, als er sie treffen wollte«, sagte sie.

»Zumindest hat er sie in Gegenwart der falschen Frau eingesetzt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Im August sind es dreiundzwanzig Jahre, dass ich damit anfing, Risikokapital für meine erste Firma zusammenzutrommeln. Mein Stundenplan war gespickt mit Besprechungen und anstrengenden Arbeitsessen.« Ihr Gesicht nahm einen wehmütigen Ausdruck an, als erinnere sie sich an eine wunderbare alte Romanze. »Und dann kam Gott ins Spiel.

Zur falschen Zeit, harmlos ausgedrückt. Er traf mich so hart, dass ich nach Hampton fahren und dort eine Woche lang in einem Hotelzimmer abtauchen musste. Im Prinzip habe ich dabei das Bewusstsein verloren.«

Wie ein kleines Mädchen, das ein Geständnis ablegt, vermied sie den direkten Augenkontakt. Kaye beugte sich vor, um ihr Gesicht deutlicher sehen zu können. Noch nie hatte sie Marge Cross derart verletzlich erlebt.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Angst ich empfand.

Für mich war ER ein Anzeichen von Wahnsinn, von Epilepsie oder noch Schlimmerem.«

»Sie haben ihn als Mann empfunden?«

Cross nickte. »Erscheint unsinnig, bei zwei so starken Frauen wie uns, nicht? Damals hat mich das sehr gestört. Aber egal, wie beunruhigt, wie verängstigt ich auch war, wäre ich doch niemals auf die Idee gekommen, ein Radiologiezentrum aufzusuchen. Das war brillant, Kaye. Nicht gerade billig, aber brillant.«

Kaye betrachtete das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel.

Offensichtlich bemühte er sich, nicht auf die Worte zu achten, die auf dem Rücksitz gesprochen wurden, versuchte, ihnen das Gefühl von Privatsphäre zu geben – jedoch ohne Erfolg.

»Liebe ist nicht das richtige Wort dafür, aber wir haben kein anderes. Es ist Liebe ohne Begehren.« Cross hob die Hand, um sich mit den perfekt manikürten Fingern die Augen zu reiben.

»Ich habs keinem Menschen erzählt. Jemand wie Robert hätte es gegen mich benutzt.«

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte Kaye.

»Nein, stimmt nicht«, entgegnete Cross verdrießlich. »Es ist eine rein persönliche Erfahrung. Für Sie und für mich war sie real, aber das nützt uns nichts in dieser alten, grausamen Welt.

Vielleicht hat dieselbe Vision einen anderen Menschen dazu gebracht, alte Frauen als Hexen zu verbrennen oder, wie Jeanne d’Arc, Engländer umzubringen. Oder die gute alte Inquisition angekurbelt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wie wollen Sie wissen, ob nicht auch die Schlächter und Mörder eine Botschaft erhalten haben?«

Kaye musste ihr Recht geben.

»Ich habe so viel Zeit mit dem Versuch vertan, das alles zu vergessen. Und zwar einfach deswegen, weil ich die Arbeit tun wollte, die ich tun musste, um dorthin zu kommen, wo ich hin wollte. Manchmal war das eine brutale Angelegenheit, bei der ich die Träume von anderen mit Füßen getreten habe. Und jedes Mal, wenn mir diese Erfahrung mit Gott einfiel, war ich wieder wie erschlagen. Weil mir klar war, dass dieses Ding, ER oder ES, mich niemals strafen würde, egal, was ich getan oder wie schlimm ich mich verhalten hatte. Es geht dabei nicht nur um Vergebung, sondern darum, dass ER kein Urteil über einen fällt. Pure Liebe. ER kann nicht real sein. Was ER gesagt und getan hat, ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Mir kam er real vor«, sagte Kaye.

»Haben Sie je gehört, was Thomas von Aquin passiert ist?«

Kaye schüttelte den Kopf.

»Er war der am meisten bewunderte Theologe. Ein äußerst begnadeter Denker, über alle Maßen logisch – und heute recht schwierig zu lesen. Aber zweifellos gescheit und noch jung, als er sich einen Namen machte. Ein Student von Albertus Magnus. Verteidigte Aristoteles in seiner Kirche. Schrieb große, lange Traktate. Wurde von der ganzen Christenheit bewundert und wird bis heute als Denker verehrt. Am Morgen des 6. Dezember 1273 las er in Neapel die Messe. Da war er schon älter, etwa in meinem Alter. Mitten in der Predigt hat er einfach zu reden aufgehört und ins Leere gestarrt. Oder auf alles gestarrt. Ich stelle mir vor, dass er wie ein Fisch geglotzt hat.« Cross’ Miene wirkte spöttisch und distanziert.

»Er hörte mit dem Schreiben und Diktieren auf, trug nichts mehr zur Summa, seinem Lebenswerk, bei. Und als man eine Erklärung von ihm verlangte, sagte er: Ich kann nichts mehr tun; mir sind solche Dinge offenbart worden, dass alles, was ich geschrieben habe, mir wie leeres Stroh vorkommt. Jetzt erwarte ich mein Ende. Wenige Monate später starb er.« Cross rümpfte die Nase. »Kein Wunder, dass es Thomas von Aquin, dem armen Mistkerl, die Sprache verschlagen hat. Auch ich erkenne eine höhere Instanz, sobald ich sie vor der Nase habe.

Im Vergleich zu dem, was mich berührt hat, bin ich wenig mehr als ein Wurm, der sich in einer Pfütze windet. Ich würde keinen Versuch wagen, Gott vorzuschreiben, wie er sich zu verhalten hat.« Sie lächelte. »Ja, meine Liebe, auch ich kann demütig sein.« Sie streichelte Kayes Hand. »So viel dazu. –

Sie sind gefeuert. Für den Augenblick haben Sie in meiner Firma alles geleistet, das Sie leisten mussten.«

»Und was ist mit Jackson?«

»Er ist beschränkt, aber immer noch nützlich und hat immer noch wichtige Arbeit zu erledigen. Ich werde dafür sorgen, dass Lars ein Auge auf ihn hat.«

»Jackson hat keine Ahnung.«

»Falls Sie damit meinen, dass sein Horizont begrenzt ist, dann ist das genau das, was ich derzeit brauche. Er wird sich damit beschäftigen, alle kleinen t mit Querbalken zu versehen und lauter Pünktchen über die kleinen i zu malen, um zu beweisen, dass er Recht hat. Schön für ihn.«

»Aber er wird alles vermasseln.«

»Und das überaus gründlich.« Cross blieb eisern. »Thomas von Aquin war mit Roberts Problem vertraut. Er nannte es die ignorantia affectata, die kultivierte Ignoranz.«

»Gott sollte ihn berühren«, sagte Kaye bitter und wurde gleich darauf vor Verlegenheit rot. Als wäre das irgendeine Bestrafung!

Cross dachte einen Augenblick ernsthaft darüber nach. »Ich wundere mich, dass Gott mich berührt hat«, sagte sie. »Aber ich wäre schockiert, wenn ER irgendetwas mit Robert zu tun haben wollte.«

35

New Mexico

Innerhalb des silbernen Riesenzeltes befanden sich acht einzelne große Wohnmobile, die auf Podeste aufgebockt waren. Im Abstand von etwa zehn Metern umgab sie ein dichter Kreis von hohen Wandschirmen aus transparentem Kunststoff, die oben mit Stacheldraht versehen waren. Der Fußboden bestand aus eingedelltem, zusammengeflicktem grauem Plastik. Die Wohnmobile wirkten in keiner Weise gemütlich oder freundlich.

Dicken versuchte sich im Zwielicht, das im ganzen Zelt herrschte, zu orientieren. Sie waren an der westlichen Seite hereingekommen. Also musste Norden dort sein, wo ein kleiner Transporter des Krisenstabs stand, vermutlich derselbe, der Helen Fremont aus Arizona hierher gebracht hatte. Südlich der Wohnmobile und Wandschirme war ein kleines Labyrinth aus Tischen und Laborbänken aufgebaut, ausgestattet mit den Standardutensilien für die medizinische Versorgung und Labordiagnostik.

Einige Jupiterlampen, auf hohe Stahlpfosten montiert, ergänzten das schwache Sonnenlicht, das ins Zelt sickerte.

Außer ihnen war kein Mensch hier, soweit Dicken sah.

»Wir haben noch kein Personal hier«, sagte Flynn. »Sie ist erst heute Morgen krank geworden.«

»Gibt es eine Telefonverbindung zum Wohnmobil, eine Gegensprechanlage, ein Megaphon, irgendwas?«

Flynn schüttelte den Kopf. »Wir sind noch beim Aufbauen.«

»Herrgott noch mal, sie ist allein da drin?«

Turner nickte.

»Wie lange schon?«

»Seit heute Morgen. Ich bin hineingegangen und hab versucht, sie zu untersuchen. Sie hat sich geweigert, aber ich hab ein paar Aufnahmen gemacht. Und dann gibt’s natürlich das Video. Wir sind noch dabei, die Flüssigkeit in den Abwasserrohren und die Luft zu testen, aber ich kenne mich mit den Geräten hier nicht aus und traue ihnen nicht, deshalb hab ich die Proben ins Primatenlabor gebracht. Die sind noch bei der Auswertung.«

»Weiß Jurie, dass sie krank ist?«

»Wir haben ihn angerufen.«

»Hat er irgendwelche Instruktionen gegeben?«

»Er hat gesagt, wir sollten sie in Ruhe lassen. Und niemanden hineinlassen, bis wir sicher sind, was mit ihr ist.«

»Aber Maggie ist hineingegangen?«

»Ich konnte nicht anders, sie sah so verängstigt aus.«

»Sie haben einen Schutzanzug getragen?«

»Selbstverständlich.«

Dicken schwang sein steifes Bein herum, neigte den Kopf und sog die Wangen ein, damit ihm nichts Unüberlegtes entfuhr. Innerlich tobte er.

Flynn wich seinem Blick aus. »Es ist das übliche Verfahren.

Alle Tests werden nach den Vorschriften der Sicherheitsstufe 3

durchgeführt.«

»Ja, ja, dass wir uns an die gottverdammten Vorschriften halten, ist so sicher wie das Amen in der Kirche, wie?«, sagte Dicken. »Haben Sie das Mädchen nicht wenigstens gebeten, nach draußen zu kommen, damit ein Arzt es untersuchen kann?«

»Sie will nicht herauskommen«, erwiderte Turner. »Unsere Videokameras verfolgen jeden ihrer Schritte. Sie ist im Schlafzimmer. Liegt einfach nur da.«

»Na toll«, sagte Dicken. »Und was, zum Teufel, erwarten Sie von mir?«

»Wir haben die Aufnahmen«, sagte Flynn und zog ihr Handy mit Bildschirm aus der Tasche.

»Zeigen Sies mir.«

Sie rief nacheinander fünf Fotos auf dem Schirm des Telefons auf. Dicken sah ein junges SHEVA-Mädchen mit dunkelbraunem Haar, hellblauen, gelb gesprenkelten Augen, blasser Haut, zarten Gesichtszügen, jedoch stark ausgeprägten Backenknochen. Das Mädchen wirkte wie eine verängstigte Katze. Mit seinen Augen suchte es die Winkel ab, die auf dem Foto nicht zu sehen waren. Selbst in ihrem Elend weigerte es sich, sich einschüchtern zu lassen.

Dicken konnte sagen, dass das Mädchen keine offensichtlichen Anzeichen von Shiver aufwies – keine krankhaften Veränderungen an den mageren Armen, keine gürteiförmigen scharlachroten Verfärbungen am Hals. Am Ende der Fotoserie leuchtete ein Feld auf, das direkt aufgenommene aktuelle Messwerte zeigte: Die Körpertemperatur betrug fast neununddreißig Grad.

»Ferngesteuerte Sensoren zur Messung der

Körpertemperatur?«

Flynn nickte.

»Sie sagten, sie weise eine hohe Konzentration von Viren auf.«

»Beim Einsteigen in den Transporter hat sie sich geschnitten.

Die Begleiter waren instruiert, ihr kein Blut abzunehmen, aber sie haben den Blutflecken sichergestellt und wir haben unter kontrollierten Bedingungen eine Probe entnommen. Deshalb ist der Transporter noch hier. Sie produziert HERVs.«

»Selbstverständlich, schließlich ist sie schwanger. Sie zeigt keinerlei Symptome von Shiver. Wie kommen Sie darauf, dass es Shiver ist?«

»Dr. Jurie hat gesagt, es könne sich um Shiver handeln.«

»Allerdings ist Jurie im Gegensatz zu Ihnen nicht hier.«

»Aber sie ist schwanger«, sagte Turner mit finsterem Blick, als ob das die Angelegenheit erklären würde.

»Haben Sie auf Pseudoviren getestet?«

»Wir sind immer noch bei der Analyse der Proben«, erwiderte Turner.

»Liegen schon Ergebnisse vor?«

»Nein, noch nicht.«

»Sie selbst haben ja Shiver gehabt«, sagte Flynn mürrisch.

»Sie sollten noch vorsichtiger sein als wir.« Inzwischen wirkte sie eher wütend als deprimiert. Sie fragten sich, auf welcher Seite er stehen mochte. Und er neigte halb dazu, es ihnen zu verraten.

»Ich werde nicht einmal einen Schutzanzug brauchen«, entgegnete er von oben herab, warf Flynn das Handy hinüber und ging auf das Wohnmobil zu.

»Halt!«, rief Turner mit rotem Gesicht. »Wenn Sie ohne Schutzanzug in das Wohnmobil steigen, können Sie gleich da bleiben. Wir werden… wir können Sie dann nicht mehr herauslassen.«

Dicken wandte sich um, verbeugte sich und streckte entnervt die Hände aus, um sie zu besänftigen. Es lag Arbeit vor ihm, ein Problem, das er lösen musste. Wut würde dabei nicht helfen. »Dann besorgen Sie mir einen gottverdammten Schutzanzug! Und ein Telefon oder eine Gegensprechanlage.

Sie muss mit der Außenwelt kommunizieren können. Sie muss mit jemandem reden können. Wo sind ihre Eltern – ich meine, die Mutter?«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Flynn.

Die engen Zimmer innerhalb des Wohnmobils sahen ordentlich und freudlos aus. Die Möbel im Stil einer x-beliebigen Mietwohnung – alles war in Beige oder gelb kariertem Vinyl gehalten – verliehen den Räumen eine Atmosphäre schäbiger und seelenloser Nützlichkeit. Das Mädchen hatte keine persönlichen Habseligkeiten mitgebracht und keines der ausgestopften Spielzeugtiere angerührt, die, immer noch in Plastik verpackt, auf den Regalen im winzigen Wohnzimmer aufgereiht waren.

Dicken fragte sich, wie lange es her war, dass sie die Stofftiere besorgt hatten. Seit wann hatte Jurie geplant, SHEVA-Kinder ins Zentrum für Pathogene zu holen? Seit einem Jahr?

In der Essecke waren zwei Stühle umgekippt. Als Dicken sich vorbeugte, um sie wieder hinzustellen, quietschte der Kunststoff seines Schutzanzugs. Trotz der Klimatisierung begann er bereits zu schwitzen. Schon seit langem hatten ihn seine Erfahrungen dazu gebracht, Schutzanzüge wirklich zu hassen.

Während er nach weiteren Hindernissen Ausschau hielt, die seinen Schutzanzug beschädigen konnten, ging er langsam auf das Schlafzimmer im hinteren Teil des Wohnmobils zu. Er klopfte an den Türrahmen und spähte durch die halb offene Tür. Das Mädchen, das Radlerhosen, Bluse und Jeansjacke nicht ausgezogen hatte, lag rücklings auf dem Bett und starrte zur Decke. Der grüne Plastikbettüberwurf war zur Seite geschleudert.

»Hallo?«

Das Mädchen würdigte ihn keines Blickes. Er konnte sehen, wie die magere Brust sich hob und senkte. Die Wangen waren von Fieber oder Angst, vielleicht auch von Verzweiflung, gerötet.

»Helen?« Durch den engen Gang neben dem Bett trat er auf sie zu und beugte sich vor, damit sie sein Gesicht sehen konnte.

»Ich heiße Christopher Dicken.«

Sie warf den Kopf zur Seite. »Gehen Sie weg. Sie werden sich anstecken.«

»Das bezweifle ich, Helen. Wie fühlst du dich?«

»Ich hasse Ihren Schutzanzug.«

»Ich mag ihn auch nicht besonders.«

»Lassen Sie mich in Ruhe.«

Dicken richtete sich auf und verschränkte mit einiger Mühe die Arme. Der Schutzanzug raschelte und quietschte so laut, dass er sich wie eines der von Plastik umhüllten Stofftiere vorkam.

»Sag mir, wie du dich fühlst.«

»Ich würde gern kotzen.«

»Hast du dich übergeben müssen?«

»Nein.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

»Ich versuch’s aber weiter.« Das Mädchen setzte sich im Bett auf. »Sie sollten Angst vor mir haben. Meine Mutter hat mir aufgetragen, das zu jedem zu sagen, der mich anzufassen oder zu kidnappen versucht. Nutze das, was du hast, hat sie gesagt.«

»Du machst die Leute aber gar nicht krank, Helen.«

»Ich wünschte, ich könnte es. Ich möchte ihn krank sehen.«

Dicken, der sich gar nicht recht ausmalen konnte, wie groß ihr Kummer und ihre Verzweiflung waren, fühlte sich nicht wohl dabei, weiter zu sondieren. »Ich will nicht sagen, dass ich das verstehe, ich versteh’s nämlich nicht.«

»Hören Sie auf zu reden, gehen Sie weg.«

»Einverstanden, wir werden nicht darüber reden. Aber wir müssen darüber reden, wie du dich fühlst, und ich würde dich gern untersuchen. Ich bin Arzt.«

»Das war er auch«, schnappte sie und wälzte sich auf die Seite. Immer noch weigerte sie sich, Dicken anzusehen. Ihre Augen wurden schmal. »Meine Muskeln tun mir weh. Werde ich sterben?«

»Das glaube ich nicht.«

»Es wäre aber besser.«

»Bitte, sag so was nicht. Wenn sich irgendetwas verbessern soll, muss ich dich untersuchen. Ich verspreche, dass ich dir nicht wehtun werde oder sonst was mache, das dir unangenehm ist.«

»Ich bin es gewöhnt, Blut abgenommen zu kriegen. Wenn wir uns dagegen wehren, binden die uns fest.« Sie fixierte sein Gesicht unter der Schutzhaube. »Sie klingen so, als hätten Sie schon vielen Menschen geholfen.«

»Recht vielen, ja. Manche waren sehr, sehr krank und sind wieder gesund geworden.«

»Und manche sind gestorben.«

»Ja, manche schon.«

»Ich fühl mich eigentlich gar nicht so krank. Bis auf den Brechreiz.«

»Das könnte an deinem Baby liegen.«

Das Mädchen riss den Mund auf und wurde blass. »Ich bin schwanger?«

Dicken drehte sich plötzlich der Magen um. »Hat man dir das nicht gesagt?«

»Oh, mein Gott.« Das Mädchen rollte sich zusammen und von ihm weg. »Ich wusste es, ich wusste es. Ich konnte etwas riechen. Es war das Baby in mir. Oh, mein Gott.« Helen setzte sich abrupt auf. »Ich muss auf die Toilette.«

Offenbar war Dickens Sorge ihm selbst durch die Schutzhaube anzumerken.

»Ich werde mir nichts antun, ich muss nur brechen. Sehen Sie nicht hin, sehen Sie mir nicht dabei zu.«

»Ich werde im Wohnzimmer auf dich warten.«

Sie schwang ihre Beine aus dem Bett, stand auf und blieb kurz stehen, wobei sie die Arme ausstreckte, als könne sie nur so das Gleichgewicht halten. »Er hat Nasenpfropfen benutzt«, sagte sie, während sie auf den Fußboden starrte. »Erst hat er mich mit Seife abgeschrubbt und dann mit billigem Parfüm eingesprüht. Ich konnte ihn nicht davon abhalten. Ich will wissen, ob ich jemals Enkel haben werde, hat er gesagt. Dabei war er nicht einmal mein richtiger Vater. Ein Baby, oh, mein Gott.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einem so komplexen Ausdruck, dass Dicken ihn stundenlang hätte studieren können, ohne daraus schlau zu werden. Jetzt konnte er sich vorstellen, wie sich Schimpansen fühlen mussten, wenn sie Gefühlsausbrüche bei Menschen beobachteten.

»Tut mir Leid«, sagte Dicken.

»Haben Sie schon mal ein Mädchen meiner Art getroffen, das schwanger war?« Sie zwang ihn, sie anzusehen, und hielt seinen Blick fest.

»Nein.«

»Ich bin also die Erste?«

»Die Erste, der ich begegne.«

»Tja.« Mit panischem Blick marschierte sie steif zur Toilette.

Dicken konnte hören, wie sie sich zu übergeben versuchte. Er ging ins Wohnzimmer. Der Geruch seines Kummers und Ekels füllte den Schutzhelm, in dem er keine Möglichkeit hatte, sich über die Augen zu wischen oder sich zu schnäuzen.

Als Helen aus der Toilette kam, blieb sie in der Tür stehen und schlängelte sich dann so hindurch, als habe sie Angst, den Rahmen zu berühren. Sie streckte die Arme wie Flügel aus.

Ihre Wangen leuchteten jetzt beständig in goldbraunem Ton und die gelben Feuersteinfunken in ihren Augen wirkten noch größer und heller. Als sie ihn fragend ansah, wirkte sie mehr denn je wie eine Katze. Durch die Plastikhaube konnte sie seine verschwollenen Augen und tränenfeuchten Wangen erkennen. »Was bekümmert Sie das?«, fragte sie.

Dicken schüttelte den Kopf. »Schwer zu erklären. Ich war von Anfang an dabei.«

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß nicht, ob für Erklärungen Zeit ist. Wir müssen herausfinden, warum du krank bist.«

»Erklären Sie’s mir, danach können Sie mich untersuchen.«

Dicken fragte sich, wie sie da draußen reagieren würden, wenn er stundenlang im Wohnmobil blieb. Falls Jurie zufällig in dieser Zeit zurückkam…

Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er musste etwas für dieses Mädchen tun. Es verdiente so viel mehr als das hier.

Er zog den Klettverschluss der Schutzhaube hoch, machte den Reißverschluss auf und legte sie ab. Es war bestimmt nicht das schlimmste Risiko, das er in seinem Leben eingegangen war. »Ich war einer der Ersten, die es erfuhren«, fing er an.

Das Mädchen hob die Nase und schnüffelte. Die Art und Weise, wie die Oberlippe dabei ein V bildete, war so seltsam schön, dass Dicken lächeln musste.

»Besser?«, fragte er.

»Sie haben keine Angst, Sie sind wütend«, stellte Helen fest.

»Wütend wegen dem, was mit mir geschieht.«

Er nickte.

»So etwas hat noch niemals jemand für mich empfunden. Es riecht irgendwie süß. Setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Aber halten Sie ein bisschen Abstand für den Fall, dass ich gefährlich bin.«

Im Wohnzimmer nahm Dicken auf einem Esszimmerstuhl Platz, während sie mit verschränkten Armen bei der Couch stehen blieb, als sei sie jederzeit bereit, davonzurennen.

»Erzählen Sie’s mir«, forderte sie.

»Darf ich dich untersuchen, während ich erzähle? Du kannst die Kleidung anbehalten. Und ich werde dich auch nicht mit irgendwelchen Instrumenten pieksen. Es reicht, wenn ich dich ansehe und abtaste.«

Das Mädchen nickte.

Gerüchte und Halbwahrheiten waren alles, was Helen je gehört hatte. In den ersten paar Minuten blieb sie stehen, während Dicken seine Finger vorsichtig unter ihr Kinn drückte, die Achselhöhle abtastete und sich die Haut zwischen den Fingern und Zehen ansah.

Ein Weilchen später nahm sie auf der Couch Platz, hörte ihm aufmerksam zu und sah ihn mit diesen unglaublichen gefleckten Augen an.

36

Arizona

An einer Kreuzung in einer kleinen Wüstenstadt trennten sich die drei Wagen. Durch das Heckfenster blickte Stella auf einen Punkt, der kleiner und kleiner wurde: der Wagen, in dem Celia, LaShawna und zwei der Jungen saßen. Dann drehte sie sich um und sah zu Will hinüber, der offenbar eingeschlafen war.

In der ersten halben Stunde, vielleicht auch länger, hatte Jobeth Hayden von ihrer Tochter gesprochen – davon, wie froh sie gewesen sei, dass Bonnie nicht in dem Bus gesessen hatte, der sie nach Sandia bringen sollte, und gleichzeitig so enttäuscht, dass sie ihre Tochter nicht habe Wiedersehen und befreien können.

Nach einer Weile hatte Stella gespürt, wie sich ihre Muskeln aufgrund der Nachwirkungen des Unfalls verkrampften. Sie hatte Jobeths Stimme einfach ausgeblendet und sich stattdessen auf den Stoß zusammengeknüllter Seiten konzentriert, die Will auf dem Sitz zwischen ihnen aufgestapelt hatte.

Will machte die Augen auf und beugte sich vor. »Mrs.

Hayden«, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, ohne Stellas neugierigen Blick zu beachten.

»Ja, du heißt William, stimmt’s?«

»Will. Ich würde das hier gern bei Ihnen deponieren.« Er ließ einige zusammengeknüllte Seiten auf die Mitte der vorderen Sitzbank gleiten.

»Das ist doch nur Müll«, erwiderte Jobeth Hayden missbilligend.

»Ich kann das nicht hier hinten aufbewahren«, erklärte Will.

»Ich sehe nicht ein, warum das nicht hinten bleiben kann.«

Stella konnte sich nicht erklären, was Will damit bezweckte.

Sie rieb sich die Nase. Die vordere Sitzbank war in volles Sonnenlicht getaucht. Will produzierte Fieberdüfte, wie sie jetzt schwach, aber deutlich wahrnehmen konnte. Es duftete nach Kakaopulver und Butter, eine solche Mischung hatte sie noch nie gerochen.

»Darf ich?«, fragte Will.

Jobeth Hayden schüttelte bedächtig den Kopf. Stella konnte ihre Augen im Rückspiegel sehen, sie wirkte verwirrt. »In Ordnung«, sagte sie schließlich.

Stella griff nach einer zerknüllten Seite und roch daran.

Sofort fuhr sie zurück und verdrängte den Trieb, gründlich daran zu schnuppern. Sie starrte Will voller Ablehnung an, denn das Taschenbuch war ein ganz bestimmtes Reservoir: Will hatte sich mit den Seiten über die Stelle hinter den Ohren gerieben, um den Duft zu speichern. Sie stieß ihn mit dem Finger an und sorgte dafür, dass ihre Wangen fragend aufflammten. Er nahm ihr das Stück Papier aus den Händen.

»Wir wollen nicht zu der Ranch«, teilte er Mrs. Hayden mit.

»Da fahren wir aber hin. Dort ist ein Arzt, außerdem ist es ein sicherer Ort, und ihr werdet dort erwartet.«

»Ich kenne einen besseren Ort«, erwiderte Will. »Können Sie uns nach Kalifornien fahren?«

»Das ist doch Quatsch.«

»Ich versuche schon seit mehr als einem Jahr, dort hinzukommen.«

»Wir fahren zur Ranch – und damit basta!«

Will ließ eine weitere zusammengeknüllte Seite in den Sonnenfleck auf dem Vordersitz fallen. Inzwischen konnte Stella Wills spezielle Art der Manipulation sehr deutlich riechen. Und wie sehr sie auch dagegen ankämpfte: Was er sagte, schien nach und nach ganz vernünftig zu klingen.

Während Mrs. Hayden weiterfuhr, fragte sich Stella, ob allzu viel Manipulation sie verwirren und von der Straße abbringen würde.

Will bettete den Kopf in die Arme. » Uns gehts gut. Ich brauche keinen Arzt! Und ihr gehts auch gut, sie kann immer noch fahren.«

»Wir werden in einem kleinen Ort in Arizona einen Arzt aufsuchen und danach direkt zur Ranch fahren.«

»Der Ort liegt unmittelbar hinter der Landesgrenze«, sagte Will. »Allerdings müssen Sie ein Stück durch Nevada fahren.

Darf ich mal die Karte sehen?«

Mrs. Hayden blickte inzwischen sehr finster drein und begann, die zerknüllten Seiten wieder nach hinten zu verfrachten. »Das halte ich für keine gute Idee. Was treibst du da überhaupt?«

»Ich möchte nur die Karte sehen.«

»Na ja, ich nehme an, das ist in Ordnung, aber bitte wirf mir keinen Müll mehr herüber. Ich dachte, ihr Kinder würdet euch besser benehmen.«

Stella fasste Will am Arm. »Hör auf«, flüsterte sie und beugte sich dabei so weit zu ihm vor, dass nur er es hören konnte.

Will achtete nicht auf Stella und warf das Papier auf den Vordersitz zurück, genau in den Sonnenfleck, der es erwärmen und den Geruch freisetzen würde.

»Das ist wirklich unerträglich«, sagte Mrs. Hayden, aber sie hob den Kopf und klang nicht wütend. Gleich darauf griff sie zum Handschuhfach hinüber, machte es auf und reichte Will die Karte eines Auto-Clubs, die Arizona und New Mexico zeigte. »Ich benutze sie nicht oft«, sagte sie. »Sie ist ziemlich alt.«

Nachdem Will die Karte aufgeklappt und über die Knie gebreitet hatte, verfolgte er mit dem Finger die Schnellstraßen nach Norden und Westen. Stella lehnte sich in die Ecke an der Wagentür und verschränkte die Arme.

»Du musst dich gerade hinsetzen, Liebes«, mahnte Mrs.

Hayden. »Der Wagen hat Airbags an der Seite. Wenn du dich da anlehnst, kann es gefährlich werden.«

Als Stella sich aufsetzte, sah Will sie an. Der Rücken tat ihr jetzt wirklich weh. Gelassen griff Will zu ihr hinüber, um ihre Hände, ihre Beine und schließlich den Rücken zu berühren.

»Was treibt ihr da hinten?«, fragte Mrs. Hayden leicht beunruhigt.

Als Will keine Antwort gab, ließ sie es auf sich beruhen.

Seine Finger marschierten vorsichtig über Stellas Wirbelsäule.

Sie drehte sich herum, damit er ihren Rücken untersuchen konnte.

»Das wird bald vorbei sein«, erklärte Will.

»Wie willst du das wissen?«

»Wenn du innere Blutungen hättest oder irgendwas gebrochen wäre, würdest du anders riechen. Du hast nur einen leichten Schlag abbekommen, ich glaube nicht, dass irgendwelche Nerven verletzt sind. Einmal habe ich einen Jungen gerochen, dessen Rückgrat gebrochen war, das roch traurig, ganz schrecklich. Aber du riechst gut.«

»Mir gefällt nicht, dass du uns vorschreibst, was wir zu tun und zu lassen haben«, bemerkte Stella.

»Ich hör damit auf, sobald wir in Kalifornien sind.« Will wirkte nicht sonderlich zuversichtlich und roch auch nicht so, als wisse er genau, was er eigentlich wolle. Eher wie ein sehr nervöser junger Mann.

»Ist ein schöner Tag! In North Carolina hab ich viel gelernt«, sagte Will in Doppelsprache. »Ich freu mich, dass du hier bist.

Das war, ehe sie unser Lager niedergebrannt haben.« Stella war noch nie jemandem begegnet, der ein solcher Meister der Manipulation war. Sie fragte sich, ob dieses Talent bei ihm angeboren war oder ob er es irgendwo gelernt hatte. Darüber hinaus überlegte sie, ob sie in irgendeine gefährliche Situation geraten würden. Allerdings wollte sie Mrs. Hayden nicht –

oder noch nicht – ins Vertrauen ziehen. Offenbar hatte die selbst schon irgendeinen Verdacht geschöpft. »Ich würde gern die Fenster aufmachen«, sagte Mrs. Hayden. »Allmählich wird’s stickig hier drinnen.«

»Ich find’s wirklich angenehm so«, erwiderte Will, während er Stella gleichzeitig mit Unterstimme mitteilte: »Ich brauche deine Unterstützung. Möchtest du denn nicht wissen, was wir unternehmen können?«

Stella schüttelte den Kopf und dachte an Mitch und Kaye und ohne erkennbaren Grund auch an das Haus in Virginia – den letzten Ort, an dem sie sich wirklich sicher gefühlt hatte, wenn es sich auch als Illusion erwiesen hatte.

»Wolltest du denn noch nie weglaufen?« Wills Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Es ist wirklich stickig hier drinnen«, wiederholte Mrs.

Hayden. Will gingen allmählich die Seiten aus.

»Hilf mir«, bat Will mit leiser, ernster Stimme.

»Was ist das für ein Ort?«

»Ich glaube, er liegt in den Wäldern. Gut versteckt, weit weg von den Städten. Sie haben Tiere und sind Selbstversorger! Sie bauen Hanf an und verkaufen Marihuana, damit sie Geld zum täglichen Leben haben.«

Inzwischen war Marihuana in den meisten Bundesstaaten legal, aber es klang trotzdem so gefährlich, dass Stella plötzlich auf der Hut war. Mit dem wirren Haar, dem penetranten Geruch nach Kakao und dem Gesicht, das offenbar unglaublich viele verschiedene Ausdrücke annehmen konnte, wirkte und roch Will beängstigend. Er ist mit anderen zusammen gewesen, die ihm viel beigebracht haben. Was können sie mir beibringenund was kann ich zur Gemeinschaft beitragen?

»Könnte ich von dort aus meine Eltern anrufen?«

»Sie sind nicht so wie wir! Sie würden dich zurückbringen«, wandte Will ein. »Wir müssen bei unseren eigenen Leuten leben! Du wirst erwachsen werden und erfahren, wer du wirklich bist.«

Stella merkte, wie sich ihr Magen vor Verwirrung und Unentschlossenheit zusammenzog. Genau darüber hatte sie in der Schule nachgedacht. In der Umgebung von Menschen war es unmöglich, Deme zu bilden; stets fanden sie Möglichkeiten, einem dabei in die Quere zu kommen. Soweit sie wusste, waren Deme für die Kinder lediglich zum Üben da. Aber sie würden bald erwachsen sein und wie würden sie dann leben?

Wie sollten sie es je herausfinden, wenn die Menschen stets wie Kletten an ihnen hingen?

»Zeit, erwachsen zu werden«, bemerkte Will.

»Du meine Güte, ihr seid doch noch so jung«, warf Mrs.

Hayden mit verträumter Stimme ein. Sie fuhr zwar geradeaus und sicher, aber ihre Stimme klang seltsam. Stella war klar, dass sie bald gemeinsam etwas unternehmen mussten, denn es war nicht vorherzusehen, welche Richtung Mrs. Hayden einschlagen würde.

»Ich bin erst fünfzehn«, sagte Stella. In Wirklichkeit hatte sie ihren fünfzehnten Geburtstag noch gar nicht gefeiert, aber sie fügte ihrem Alter stets die Zeit hinzu, in der ihre Mutter den Embryo des Vorstadiums ausgetragen hatte.

»Da soll ein Mann unserer Art leben, der schon über sechzig ist«, sagte Will.

»Unmöglich«, entgegnete Stella.

»Das erzählt man sich aber. Er stammt aus einem südlichen Land, aus Georgien. Oder Russland. Die wussten es nicht genau.«

»Weißt du, wo dieser Ort liegt?«

Will schlug sich gegen den Kopf. »Sie haben uns eine Karte gezeigt, ehe das Lager niedergebrannt wurde.«

»Gibt’s den Ort wirklich?«

Das konnte Will auch nicht sagen. »Ich glaube schon! Ich hoffe es jedenfalls. «

Stella schloss die Augen. Sie spürte die Wärme hinter den Lidern, die Sonne, die über ihr Gesicht wanderte, den unbestimmten rötlichen Schimmer. Und tief innen merkte sie, wie all ihre Sinne erwachten und ihr ganzer Körper sich nach diesem Ort sehnte. Wie sie sich danach sehnte, unter Ihresgleichen zu leben, den eigenen Weg zu finden und all das zu lernen, was man – umgeben von Menschen, die einen hassten – zum Überleben brauchte…

Das kam ihr wie ein unglaubliches Abenteuer vor und wert, ein so großes Risiko einzugehen.

»Es ist genau das, was du dir immer gewünscht hast, das weiß ich«, sagte Will.

»Wie kann ich wissen, ob du nicht auch mich einfach manipulierst?« Ohne dass es ihr selbst bewusst war, kommentierten ihre Wangenmuster das hervorgehobene Wort, das so falsch klang, so menschenähnlich, so undifferenziert.

»Hör auf deine innere Stimme«, sagte Will.

»Hab ich ja getan«, erwiderte Stella in leichtem Jammerton, sodass Mrs. Hayden den Kopf wandte.

»Mir geht’s gut«, erklärte Stella und verschränkte die Arme eng vor der Brust. Als Mrs. Hayden den Wagen wieder auf die gerade Spur lenkte, quietschten die Reifen.

Stella umklammerte die Sitzlehne. »Ich schwitze wie ein Schwein«, teilte sie Will kichernd mit.

»Ich auch.« Will lächelte verschlagen.

Sie hatte noch eine letzte Sache auf dem Herzen. »Was ist mit Sex?«, fragte sie so leise, dass Will sie nicht hörte und sie die Worte wiederholen musste.

»Das weißt du nicht? Die Menschen können uns zwar vergewaltigen, aber wir vergewaltigen einander nicht. So läuft das einfach nicht.«

»Was, wenn’s trotzdem passiert und wir nicht wissen, was wir tun oder wie wir Schwierigkeiten aus dem Weg gehen sollen?«

»Das weiß ich auch nicht, weiß es überhaupt jemand? Aber eines weiß ich genau: Bei uns passiert das erst, wenn es in Ordnung geht. Und das tut es jetzt noch nicht.«

Das war ehrlich genug. Sie spürte, dass ihre Unabhängigkeit wiederhergestellt war und alle Antworten auf dieselbe Entscheidung hinausliefen.

Sie war stark und wusste, was sie konnte.

Also konzentrierte sie sich darauf, Fieberdüfte zu produzieren. Für Mrs. Hayden.

»Huch«, machte Will und wedelte mit der Hand durch die Luft. »Echt stark, Lady.«

»Ich bin eine Frau! Ich bin stark«, sang Stella leise, worauf beide kicherten. Sie beugte sich vor. »Würden Sie uns bitte nach Kalifornien fahren?«

»Wir müssen erst anhalten und tanken. Ich hab nur wenig Geld dabei.«

»Das wird schon reichen«, sagte Will.

»Brauchst du das Buch noch?«, fragte Stella. Es war ein vergilbtes, eselohriges und inzwischen sehr dünnes Exemplar von Howard Fasts Spartacus.

»Kann sein, keine Ahnung.«

»Hast du das auch in den Wäldern gelernt?«

Will schüttelte den Kopf. »Das hab ich selbst erfunden. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig, als schlau zu sein. Die wollten uns nach Sandia schaffen und uns alle umbringen. Wir müssen selbstständig denken.«

37

Maryland

Das Taxi setzte Kaye und Marge Cross vor einem einstöckigen Backsteinhaus ab, das an einer freundlichen, hier und da von Unkraut überwucherten Straße in Randallstown, Maryland lag.

Das Gras im Vorgarten war etwa dreißig Zentimeter hoch und hatte sich längst strohgelb verfärbt. Ein großer alter Buick aus dem letzten Jahrhundert, mit Rost und einzelnen Flächen halbherzig angebrachter Grundierungsmasse überzogen, war auf Blöcken in der ölbefleckten Einfahrt aufgebockt.

Durch das Unkraut machten sie sich auf den Weg zur vorderen Veranda. Unsicher, wohin sie blicken oder was sie erwarten sollte, blieb Kaye auf der unteren Stufe stehen, während Cross auf den Klingelknopf drückte. Irgendwo im Haus waren die Anfangstöne von Beethovens Fünfter Sinfonie als Klingelzeichen zu hören. Kaye starrte auf ein Dreirad aus Kunststoff mit großen weißen Rädern, das im hohen Gras neben der Veranda kaum noch zu sehen war.

Die Frau, die aufmachte, war Laura Bloch aus Senator Gianellis Büro. Sie bedachte Kaye und Cross mit einem Lächeln. »Wie schön, dass Sie kommen konnten. Willkommen bei der Beratungsgruppe Maryland, die sich mit der Bundespolitik in Sachen Biologie befasst. Wir sind ein eigens zu diesem Zweck gegründeter Ausschuss und dieses Treffen soll einer ersten Sondierung dienen.«

Kaye, die ihren Ohren kaum traute und völlig verblüfft war, verzog den Mund und sah Cross an.

»Sie gehören hierher«, versicherte Cross. »Ob ich hierher gehöre, weiß ich nicht so genau.«

»Natürlich gehören Sie hierher, Marge«, sagte Bloch.

»Kommen Sie herein, alle beide.«

Nachdem sie eingetreten waren, blieben sie in dem kleinen Vorraum gegenüber dem Wohnzimmer stehen, der durch eine niedrige Wand und eine Reihe gedrechselter Holzsäulen abgetrennt war. Die Inneneinrichtung – brauner Teppichboden, cremefarbene, mit Familienfotos verzierte Wände, Ahornmöbel im Kolonialstil, ein Kaffeetisch übersät mit Zeitschriften, auf dem auch ein Computer mit Flachbildschirm stand – hätte sich in jedem x-beliebigen Haus im ganzen Land befinden können. Es war typischer Mittelstandskomfort.

Im Esszimmer saßen sieben Menschen an einem Ahorntisch.

Kaye kannte die Leute nicht, bis auf eine Frau, bei deren Anblick ihr Gesicht aufstrahlte.

Luella kam quer durchs Zimmer auf sie zu. Einen Augenblick lang blieben sie voreinander stehen, Kaye in ihrem Hosenanzug, Mrs. Hamilton in einem langen orange-braunen Kaftan. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie stark zugenommen, und das lag in erster Linie nicht an der Schwangerschaft.

»Ach, du lieber Herr Jesus«, platzte Mrs. Hamilton leise lachend mit aufgeregtem Blick heraus. »Wir haben doch gerade erst telefoniert. Sie sollten doch an Ort und Stelle das Weitere abwarten. Marge, was geht hier vor?«

»Ihr kennt euch?«, fragte Cross.

»Aber sicher«, erwiderte Kaye, ohne Näheres zu erläutern.

»Willkommen bei der Revolution«, sagte Luella und lächelte herzlich. »Laura kennen Sie ja schon. Kommen Sie, ich stelle Ihnen auch die anderen vor. Hier ist eine ganz schön hochkarätige Truppe versammelt.« Sie machte Kaye mit den drei Frauen und vier Männern am Tisch bekannt. Die meisten waren mittleren Alters; die Jüngste schien Mitte dreißig zu sein. Alle trugen Anzüge oder elegante Bürokleidung und kamen Kaye, die schon viele solcher Leute getroffen hatte, wie Insider vor, die in Washington mitmischten. Sie war froh darüber, dass alle Namensschilder trugen.

»Die meisten dieser Leute kommen aus den Büros von Senatoren und Abgeordneten mit Schlüsselfunktionen, deren Augen und Ohren sie sind, aber sie besitzen nicht unbedingt Vollmachten«, erklärte Laura Bloch. »Wir werden die einzelnen Stützpunkte erst später miteinander verbinden.

Meine Damen und Herren, Kaye ist sowohl SHEVA-Mutter als auch Wissenschaftlerin, die sich mit diesen Fragen befasst.«

»Sie sind diejenige, die SHEVA entdeckt hat«, sagte einer der beiden grauhaarigen Männer. Als Kaye versuchte, Einwände zu erheben, brachte Bloch sie zum Schweigen.

»Keine falsche Bescheidenheit, Kaye«, sagte sie. »Wir werden dem Präsidenten noch diese Woche eine Stellungnahme vorlegen. Marge hat uns die Ergebnisse Ihrer Analysen zu genomischen Viren zusammen mit vielen weiteren Abhandlungen geschickt, die wir uns erst noch einverleiben müssen. Ich bin sicher, dass sie viele Fragen aufwerfen.«

»Meine Güte, das kann man wohl sagen«, kicherte ein Mann mittleren Alters namens Kendali Burkett. »Schlimmer als Hausaufgaben.«

Kaye erinnerte sich jetzt wieder an Burkett. Sie waren sich vor vier Jahren auf einer Konferenz zum Thema SHEVA begegnet. Er kümmerte sich darum, Prozesskostenbeihilfen für die Eltern von SHEVA-Kindern aufzutreiben.

Als Luella aus der Küche zurückkehrte, brachte sie einen Krug mit Orangensaft, einen großen Teller Kekse und Selleriestangen mit, die mit Erdnussbutter und Schmelzkäse gefüllt waren. »Ich weiß gar nicht, warum ihr hier seid«, frotzelte sie. »Ihr wisst doch, dass ich keine große Köchin bin.«

Bloch legte ihr den Arm um die Schultern. Sie gaben ein recht gegensätzliches Paar ab. Kaye konnte sehen, dass Luella mindestens im sechsten Monat war, obwohl es aufgrund ihrer sowieso üppigen Figur nicht besonders auffiel.

»Kommen Sie, setzen Sie sich«, lud die jüngere Frau Kaye ein, deutete auf einen leeren Stuhl neben sich und lächelte. Sie hieß Linda Gale, wie das sauber gedruckte Namensschild verriet. Kaye kam ihr Name irgendwie bekannt vor.

»Es ist unser zweites Treffen«, sagte Burkett. »Wir sind immer noch dabei, uns zu beschnuppern.«

»Ist Ihnen Orangensaft recht, meine Liebe?«, fragte Luella.

Als Kaye nickte, schenkte sie ihr ein Glas ein. Kaye fühlte sich überwältigt. Sie wusste nicht, ob sie es Cross verübeln sollte, dass diese sie nicht vorgewarnt hatte, oder ob sie ihr – und danach Luella – um den Hals fallen sollte. Stattdessen ging sie um den Tisch herum und ließ sich auf dem Stuhl neben Linda Gale nieder.

»Linda ist Assistentin des Stabsleiters«, bemerkte Bloch.

»Im Weißen Haus? Beim Präsidenten?«, fragte Kaye so hoffnungsfroh wie ein Kind, das ein Weihnachtspäckchen betrachtet.

»Beim Präsidenten«, bestätigte Bloch.

Gale lächelte ihr zu. »Bin ich jetzt schon berühmt?«

»Wurde ja auch Zeit«, erwiderte Luella und reichte den Teller mit den Keksen herum.

Gale sagte, sie müsse in Kampfform bleiben und lehnte ab, aber die anderen schnappten sich die Kekse und streckten die Gläser nach Saft aus.

»Es geht im Wesentlichen um die Vererbung«, sagte Burkett.

»Wie die Meinungsumfragen zeigen, ist die Bevölkerung in dieser Frage eins zu eins gespalten. Das Netz und die Medien wollen nicht länger als Panikmacher dastehen. Marge hat uns verraten, dass sich die akademische Gemeinschaft demnächst dazu äußern wird. Die Wissenschaftler werden bestätigen, dass die SHEVA-Kinder nach den vorliegenden Analysen keine Seuchen in die Welt setzen werden. Teilen Sie diese Auffassung?«

In der Politik konnte selbst die Gewissheit einiger weniger Berge versetzen. »Ja«, erwiderte Kaye.

»Der Präsident holt jetzt aus allen wissenschaftlichen Bereichen Rat ein«, erklärte Gale.

»Das hätte schon vor Jahren geschehen können«, erwiderte Kaye.

»Linda steht auf unserer Seite«, bemerkte Bloch leise.

»Wird nicht mehr lange dauern«, sagte Luella und nickte mit zornigem, wissendem Blick. »Nein, nein, jetzt nicht mehr.«

»Dr. Rafelson, ich habe eine Frage, die Ihre Arbeit betrifft«, sagte Burkett. »Wenn ich darf, möchte ich…«

»Die wichtigsten Dinge zuerst«, unterbrach ihn Bloch.

»Marge weiß schon Bescheid, aber Kaye, Sie müssen sich völlig im Klaren darüber sein, dass alles, was in diesem Zimmer gesprochen wird, in strengstem Sinne vertraulich ist.

Niemand wird irgendjemand außerhalb dieses Zimmers irgendwelche Informationen von diesem Treffen geben, unabhängig davon, ob sich der Präsident zum Handeln entschließt oder nicht. Ist das klar?«

Immer noch verwirrt, nickte Kaye.

»Gut. Wir müssen noch einige Papiere unterzeichnen und dann kann Kendali seine Fragen loswerden.«

Burkett zuckte nachsichtig mit den Achseln und kaute auf einem Keks herum.

Plötzlich klingelten zwei Telefone gleichzeitig: eines in der Küche, worauf Luella sofort durch die Schwingtür eilte und abnahm, und ein Handy in Laura Blochs Tasche.

»Oh, mein Gott«, sagte Luella an dem altmodischen Apparat mit der langen Schnur. »Wo?« Als ihre Augen Kayes Blick trafen und ihr irgendetwas signalisierten, stand Kaye auf und hielt sich so krampfhaft an der Stuhllehne fest, dass ihre Handknöchel weiß wurden. »Ist LaShawna bei ihnen?«, fragte Luella und wiederholte »oh, mein Gott.« Ihr Gesicht strahlte vor Freude. »Wir haben in New Mexico einen Bus geschnappt!«, rief sie. »John sagt, sie haben unsere Kinder herausholen können! Sie haben LaShawna, lieber Herr Jesus, mein süßes kleines Mädchen ist jetzt bei John!«

Laura Bloch beendete das Gespräch und ließ ihr Handy wütend zuschnappen. »Die Dreckskerle haben es jetzt tatsächlich getan«, erklärte sie.

38

Oregon

»Du hast sie gefunden«, sagte eine Stimme. Als Mitch die Augen aufschlug, nahm er im Schatten undeutlich mehrere Gesichter wahr. Der Migräneanfall war noch nicht ganz ausgestanden, aber wenigstens konnte er wieder hören und denken.

»Der Arzt sagt, Sie werden sich bald wieder erholen.«

»Freut mich zu hören«, erwiderte Mitch erschöpft. Er lag in einem Zelt auf einer Luftmatratze, die quietschte, als er sein Gewicht verlagerte.

»Einer dieser Migräneanfälle?« Das war Eileen.

»Tja.« Als er sich aufzusetzen versuchte, schob ihn Eileen sanft auf die Matratze zurück. Irgendjemand gab ihm aus einem Plastikbecher einen Schluck Wasser zu trinken.

»Sie hätten uns sagen sollen, wo Sie hingehen«, sagte eine ihm unbekannte Frau vorwurfsvoll, worauf Eileen dazwischen fuhr. »Das wusstest du ja selbst nicht, oder? Du wusstest nur, was du finden wolltest.«

»Das ganze Lager bewegt sich am Abgrund der Anarchie«, bemerkte die andere Frau.

»Halt die Klappe, Nancy«, sagte Eileens Kollegin, wie hieß sie doch gleich? Mitch mochte sie, sie schien klug zu sein.

Soundso Fitz. Dann fiel es ihm wieder ein: Connie Fitz. Wie zur Belohnung wich der Schmerz aus seinem Kopf – wie Luft aus einem Ballon. Sein Schädel fühlte sich kalt an. »Was hab ich gefunden?«

»Etwas Tolles«, sagte Fitz bewundernd.

»Wir machen gerade Scans, mit dem Handgerät«, bemerkte Nancy.

»Gut.« Mitch ließ sich von Eileen eine Wasserflasche reichen und schluckte lange und ausgiebig. Er war völlig ausgedörrt, musste wohl mindestens eine Stunde draußen auf dem Felsen im Sand gelegen haben. »Tut mir Leid.«

»De nada«, sagte Eileen mit einer Andeutung von Stolz.

»Es ist eine Tibia, nicht wahr?«

»Mehr als das«, erwiderte Eileen. »Wir wissen noch nicht, wie viel mehr.«

»Ich hab die Jungs gefunden.«

Darauf wollten sich die Frauen nicht festlegen.

»Du kannst froh sein, dass du da draußen nicht gestorben bist«, sagte Eileen.

»So heiß ist es nun auch wieder nicht.«

»Du lagst nicht einmal einen Meter vom Abgrund entfernt.

Du hättest abstürzen können.«

»Die sind völlig verwittert«, sinnierte Mitch und nahm noch einen Schluck Wasser. »Ich frag mich, was wohl noch übrig ist.« Durch das bläuliche Licht, das im Zelt herrschte, blickte er zu den drei Frauen hinüber: zu Nancy, einer großen, auffallenden Frau mit langen schwarzen Haaren und strengem Gesicht, zu Connie Fitz und zu Eileen.

Als sich die Zeltklappe öffnete, tat ihm das Licht weh und brachte den stechenden Schmerz zurück.

»Tut mir Leid«, sagte Oliver Merton. »Hab gerade von Ihrem Missgeschick gehört. Wie geht’s unserem Wunderknaben denn?«

»Erklären Sie’s mir«, sagte Merton.

Mitch saß allein mit Oliver unter dem Sonnendach und trank ein Bier. Oliver arbeitete an seinem kleinen Laptop vor sich hin – oder tat jedenfalls so, als ob. Über einen Finger hatte er einen elektronischen Tracer gestreift, sodass er die Tasten gar nicht berühren musste. Bis auf zwei jüngere Frauen, die an der größten Ausgrabungsstätte Wache schoben, waren alle Archäologinnen des Lagers zum Steilufer gegangen und hatten Mitch Hausarrest verordnet – »damit du dich erholst«, wie Eileen es ausgedrückt hatte. Allerdings hatte er den starken Verdacht, dass sie ihn nur aus dem Weg haben wollten, damit er keine Probleme machte, solange nicht eindeutig klar war, was er entdeckt hatte.

»Was soll ich erklären?«, fragte Mitch.

»Wie Sie das machen. Ich erkenne ein bestimmtes Muster darin.«

Mitch legte die Hände über die Augen. Das Sonnenlicht blendete immer noch.

»Sie erleben eine Art geistiger Offenbarung, treten in ein Stadium der Trance ein, machen sich auf die Suche nach etwas, das Sie innerlich bereits gesehen haben… Läuft es so?«

»Nein, um Gottes willen.« Mitch schnitt eine Grimasse.

»Ganz und gar nicht. Hab ich mich etwa auffällig verhalten, Oliver?«, fragte er und wusste dabei selbst nicht, ob er aus einer Genugtuung, aus einem Stolz heraus fragte oder wirklich wissen wollte, was Merton dachte.

Ehe Merton etwas erwidern konnte, zuckte Mitch zusammen, weil ihn irgendetwas bei diesen Gedanken störte. Seine Nackenhaare sträubten sich.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

»Aber ganz eindeutig«, erwiderte Merton mit einem Nicken und einem verschlagenem kleinen Grinsen. »Genau wie Sherlock Holmes, stimmt’s?«

»Holmes war nicht medial veranlagt. Sie haben die Frauen doch selbst gehört: Sie wissen noch immer nicht, was ich gefunden habe.«

»Sie haben einen humanoiden Beinknochen entdeckt. Die Studentinnen von Eileen, die hier seit zwei Monaten alles absuchen, haben nicht einmal einen Knochensplitter gefunden.«

»Bei denen waren wir unten durch«, bemerkte Mitch. »Die Männer im Allgemeinen, meine ich.«

»Ein Lager voll zorniger Frauen, die ein Lager verlassener Frauen ausgraben«, sagte Merton. »Unten durch? Allerdings.«

»Sind hier je irgendwelche Männer gewesen?«

»Wie bitte?«, fragte Merton gereizt.

»Ich meine Männer, die im Lager gearbeitet, bei den Ausgrabungen geholfen haben.«

»Außer mir kein Einziger.« Merton starrte mit finsterer Miene auf den Bildschirm.

»Warum nicht?«

»Eileen ist lesbisch, wissen Sie. Connie Fitz und sie… stehen sich sehr nahe.«

Mitch dachte ein paar Sekunden darüber nach, konnte es allerdings nicht gleich mit der Wirklichkeit, seiner persönlichen Wirklichkeit, in Einklang bringen. »Soll das ein Witz sein?«

Merton bemühte sich, zum Schwur beim eigenen Leben die Hand aufs Herz zu legen, bekam es aber nicht so recht hin.

Mitch konnte diese Information nur soweit verdauen, dass er sich fragte, warum Eileen ihm Connie Fitz nicht offen als ihre Geliebte vorgestellt hatte. »Hätte ja auch sein können, dass Sie mich für dumm verkaufen wollen.«

Aber das ist es nicht, was mich so stört.

»Mr. Daney findet diese Dinge belustigend. Er sieht das eher aus anthropologischer Perspektive.«

Mitch löste sich gewaltsam aus den unangenehmen Gedanken, die sich ihm immer stärker aufdrängten. »Sie sind doch nicht alle lesbisch, oder?«

»Nein, nein, aber es ist tatsächlich ein leicht verrückter Zufall. Die anderen scheinen, bis auf eine Frau, alle solo zu sein und keine hat irgendein Interesse an mir gezeigt. Schon komisch, wie das meine Sicht der Welt in die Schräglage bringt.«

»Tja.«

»Nancy glaubt, Sie wollten alle Lorbeeren für sich einheimsen. In diesem Punkt sind die Frauen empfindlich.«

»Stimmt.«

»Bis Mr. Daney ankommt, sind wir hier die einzigen Männer.«

Mitch trank die Dose Coors aus und stellte sie vorsichtig auf der hölzernen Armlehne des Campingsessels ab.

»Soll ich die Dose für Sie zusammenquetschen?«, fragte Merton augenzwinkernd. »Nur um den Schein von Männlichkeit zu wahren.«

Mitch antwortete nicht. Das Lager, die Knochen, sein Fund bedeuteten ihm plötzlich nichts mehr. Sein Verstand war wie ein leeres Blatt, auf dem sich, wie von Geisterhand gemalt, nach und nach eine schwer lesbare Schrift abzeichnete. Er konnte sie zwar nicht entziffern, aber sie gefiel ihm nicht.

Als er herumfuhr, fiel die Dose von der Sessellehne und traf mit hohlem Scheppern auf dem Schotter auf. »Mein Gott«, sagte er. Nie zuvor hatte er so etwas wie eine Halluzination erlebt.

»Stimmt was nicht?«, fragte Merton.

»Eileen hat Recht gehabt, vielleicht bin ich immer noch krank.« Er stemmte sich hoch. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?«

»Selbstverständlich.«

»Danke.« Mitch machte unbeholfen einen Schritt nach links, als sei er drauf und dran, sein Gleichgewicht zu verlieren –

vielleicht auch seinen Verstand. »Wie sicher ist die Leitung?«

»Sehr sicher.« Merton beobachtete ihn besorgt. »Mr. Daneys privater Apparat.«

Mitch wusste nicht, wem er sich anvertrauen, an wen er sich wenden sollte. Noch nie im Leben hatte er sich so von Gespenstern verfolgt und gleichzeitig so ohnmächtig gefühlt.

Hoffe nur, dass es keine außersinnliche Wahrnehmung gewesen ist, dachte er. Bitte, lass es keine außer sinnliche Wahrnehmung gewesen sein.

39

New Mexico

Dicken nahm neben Helen Fremont auf der Couch Platz. Helen starrte auf die gegenüberliegende Wand. Er nahm an, dass sie Fieberdüfte produzierte, wusste allerdings nicht, was sie damit bezweckte – falls überhaupt irgendetwas. Die Luft im Wohnmobil roch nach altem Käse und Teebeuteln. Vor zehn Minuten hatte er seinen Bericht abgeschlossen. Geduldig hatte er die alte Geschichte wieder aufgerollt und gleichzeitig versucht, sich zu rechtfertigen. Nicht nur seine Arbeit und die eigene Existenz, sondern auch seinen Widerwillen gegen die eigene Isolation, die er all diese Jahre über gespürt hatte. Jahre, in denen er sich in die Arbeit vergraben hatte, als sei sie ebenfalls eine Art Schutzanzug, der ihn gegen das wirkliche Leben abschirmte. Seit mehreren Minuten war kein Wort gefallen. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, geschweige denn, was als Nächstes passieren würde.

Schließlich brach das Mädchen das Schweigen. »Haben Sie denn überhaupt keine Angst, dass ich Sie anstecke?«

»Ich hänge hier sowieso fest.« Dicken hob die Hände hoch.

»Die werden mich hier nicht mehr herauslassen, bis sie andere Vorkehrungen treffen können.«

»Und Sie haben keine Angst?«

»Nein.«

»Könnte ich Sie anstecken, wenn ich es wollte?«

Dicken schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Aber wenn die das wissen, warum behalten sie mich dann hier? Warum halten die uns überhaupt von den Menschen fern?«

»Na ja, wir wissen einfach nicht, was wir tun oder glauben sollen. – Wir verstehen das alles nicht«, fügte er leise hinzu.

»Und das macht uns schwach und dumm.«

»Es ist grausam«, sagte das Mädchen. Und dann, als sei ihr erst jetzt klar geworden, dass sie wirklich schwanger war:

»Was werden die mit meinem Baby machen?«

In diesem Augenblick wurde die Tür zum Wohnmobil aufgerissen. Aram Jurie trat als Erster ein. Unverzüglich flankierten ihn zwei Sicherheitsleute, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Alle drei trugen Schutzanzüge. Selbst durch die Schutzhaube hindurch war Juries blassem Gesicht die geballte Wut anzusehen. »Das ist pure Dummheit«, sagte er, während die Sicherheitsleute vortraten. »Wollen Sie alles sabotieren, was wir erreicht haben?«

Dicken erhob sich von der Couch und sah dabei das Mädchen an, das jedoch weder verblüfft noch beunruhigt wirkte. Gott sei uns gnädig, sie kennt es nicht anders. »Sie halten diese junge Frau widerrechtlich fest«, sagte er.

Für einen Mann, der stets Gelassenheit zur Schau trug, wirkte Jurie so fassungslos, dass es fast schon komisch war. »Was, um Himmels willen, haben Sie sich dabei gedacht?«

»Ihre Einrichtung ist nicht dazu autorisiert, Kinder aufzunehmen«, fuhr Dicken fort. Allmählich kam er in Fahrt.

»Sie haben dieses Mädchen ohne gesetzliche Befugnis über die Landesgrenzen gebracht.«

»Sie stellt eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar.«

Plötzlich wirkte Jurie wieder ganz ruhig. »Und dasselbe gilt jetzt auch für Sie.« Er schwenkte die Hand. »Schaffen Sie ihn raus.«

Die Sicherheitsleute konnten sich anscheinend nicht entschließen, wie sie darauf reagieren sollten. »Kann er nicht einfach bleiben, wo er ist? Hier kann er doch keinen Schaden anrichten, oder?«, fragte einer der beiden. Durch die Schutzhaube war seine Stimme nur gedämpft zu hören.

Das Mädchen streckte die Hand nach Dicken aus und klammerte sich an seinem Arm fest. »Es besteht keinerlei Gefahr«, entgegnete er Jurie.

»Das können Sie gar nicht wissen«, widersprach Jurie, Dicken fest im Blick, allerdings war die Bemerkung eher für die Sicherheitsleute gedacht.

»Dr. Jurie hat seine Befugnisse weit überschritten«, sagte Dicken. »Die Entführung von Menschen ist eine schwere Straftat, Jungs. Diese Einrichtung arbeitet für den Krisenstab, und der ist dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziales unterstellt. All diese Institutionen haben strenge Richtlinien, was das Experimentieren mit Menschen betrifft.«

Und niemand weiß, ob diese Richtlinien noch in Kraft sind.

Aber es ist für uns die beste Möglichkeit sie zu überrumpeln.

»Sie haben keine gesetzliche Vollmacht, über den Verbleib des Mädchens zu entscheiden. Wir verlassen Sandia, ich nehme das Mädchen mit.«

Jurie schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Schutzhaube wackelte. »Klingt ganz nach John Wayne, das haben Sie sehr hübsch herausgebracht. Soll ich jetzt knurren und den Schurken spielen?«

Die Situation war völlig unglaublich und überaus angespannt, aber auch sehr komisch. »Ja, genau«, erwiderte Dicken und verzog sein Gesicht unvermittelt zu einem aufmüpfigen Leck-mich-doch-am-Arsch-Grinsen. Er hatte einen Hang dazu, wenn er mit Autoritätspersonen aneinander geriet. Und das war wiederum einer der Gründe, warum er einen Großteil seines Lebens mit Feldforschung verbracht hatte.

Jurie missdeutete Dickens Lächeln. »Uns bietet sich hier eine unglaubliche Chance. Warum sollten wir sie vertun?«, sagte er mit schmeichelnder Stimme. »Wir können dadurch so viele Probleme lösen, so vieles lernen. Und unser neues Wissen wird Millionen von Menschen nützen, es könnte uns alle retten.«

»Aber weder dieses Mädchen noch eines der anderen Kinder.« Als Dicken die Hand ausstreckte, stand das Mädchen auf. Gemeinsam, Hand in Hand, gingen sie vorsichtig auf die Tür zu.

Jurie stellte sich ihnen in den Weg. »Wie weit, glauben Sie, werden Sie kommen?« Das Gesicht unter der Schutzhaube war aschgrau.

»Wir werden’s herausfinden«, erwiderte Dicken. Als Jurie ihn aufhalten wollte, schnellte sein Arm hoch. Als wolle er Jurie daran erinnern, dass er im Gegensatz zu ihm verwundbar war, griff er nach dessen Gesichtsschutz. Jurie ließ die Hände sinken, worauf Dicken ihn so abrupt losließ, dass er zurückfuhr und sich an einem Stuhl festhalten musste, um nicht zu fallen.

Offenbar hatten die Sicherheitsleute auf dem Fußboden des Wohnmobils Wurzeln geschlagen. »Gut für euch«, murmelte Dicken. »Nehmen Sie sich Rechtsanwälte, meine Herren. Für gutes Benehmen bekommen Sie Strafnachlass. Vor Urteilsverkündung können Sie mildernde Umstände geltend machen.« Immer noch juristische Ratschläge vor sich hin murmelnd, spähte er durch die Außentür des Wohnmobils.

Draußen sah er eine ganze Traube von Sicherheitsleuten und Wissenschaftlern stehen, darunter auch Flynn und Powers.

Presky war mittlerweile ebenfalls dazu gestoßen, aber hinter dem offenen Tor in der mit Stacheldraht verstärkten Umzäunung stehen geblieben. »Gehen wir, meine Liebe«, sagte er. Gemeinsam traten sie auf die kleine Veranda des Wohnmobils.

Als er hinter sich ein Handgemenge hörte und den Kopf herumwarf, sah er, dass Jurie mit verzerrtem Gesicht eine Pistole zu schnappen versuchte, während die Sicherheitsleute einen seltsamen kleinen Tanz aufführten, um ihre Waffen außerhalb seiner Reichweite zu halten.

Wissenschaftler als Revolverhelden, dachte Dicken. Das bedeutete wirklich das Ende aller wissenschaftlichen Rationalität. Aus irgendeinem Grund fand er es so absurd, dass es ihn heiter stimmte. Er drückte die Hand des Mädchens und marschierte auf die Leute am Tor zu.

Niemand stellte sich ihm in den Weg, im Gegenteil: Maggie Flynn hielt ihm sogar das Tor auf. Sie wirkte erleichtert.

40

Kalifornien

Nachdem ihnen in der Nähe eines Ortes namens Lone Pine das Benzin ausgegangen war, waren Stella und Will aus dem Wagen gestiegen. Inzwischen hatten sie die Wälder erreicht, aber Stella hatte dennoch nicht das Gefühl, der Freiheit oder ihrem Ziel ein Stückchen näher gekommen zu sein.

Sie hatten Mrs. Hayden, die fest schlief, im Wagen zurückgelassen. Sie war völlig erschöpft, weil sie die ganze Nacht durchgefahren und danach den ganzen Morgen auf Landesautobahnen, gebührenfreien Schnellstraßen und Nebenstraßen kreuz und quer gefahren war. Will, zwei leere Plastikflaschen in den Händen, stapfte Stella voraus.

Gegen Mittag kühlte es ab und die Luft wurde diesig. Der Sommer ging bereits in den Herbst über. Als Windböen über die Bäume fegten und Wolken über die niedrigen Berge rasten, kam es Stella so vor, als schimmerten die Kiefern, Lärchen und Eichen.

Sie hatten zwar nur wenige Häuser an der Straße gesehen, dennoch war die Gegend besiedelt. Dagegen hatte Will von einem Ort gesprochen, der mitten im Niemandsland lag: Meilen und Meilen von Land, vielleicht Hunderte von Kilometern, ohne eine Menschenseele. Stella war zu erschöpft, um sich davon entmutigen zu lassen. Ihr war inzwischen klar, dass sie nirgendwo hingehörten, zu niemandem gehörten; sie waren schlicht und einfach vom Weg abgekommen, innerlich wie äußerlich. Die Füße taten ihr weh, der Rücken schmerzte.

Wenigstens spürte sie kaum noch etwas von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Monatsblutung, das war ein kleiner Trost. Doch allmählich fragte sie sich, wer oder was Will eigentlich war.

Mit seinem verschwitzten Haar, das an der Stelle, wo er sich in Mrs. Haydens Wagen auf die Nackenstütze gelehnt hatte, immer noch steil hoch stand, wirkte er ganz schön wild. Er roch auch wie Wild, zornig und verängstigt, allerdings war Stella bewusst, dass sie nicht besser roch.

Sie fragte sich, was Celia, LaShawna und Felice jetzt wohl treiben mochten und was mit den Fahrern geschehen war, die sie fest verschnürt am Straßenrand zurückgelassen hatten.

Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo ihr derzeitiger Aufenthaltsort auf der Landkarte verzeichnet sein mochte, die in Wills Hosentasche steckte. Die Straße sah wie ein langer schwarzer Fluss aus, der hinter einer von Bäumen gesäumten Kurve verschwand und sich in der Ferne verlor.

Sie blieb einen Augenblick stehen, um ein Erdhörnchen zu beobachten, das wachsam auf einem flachen Felsblock neben dem Randstreifen kauerte. Es hatte glänzende schwarze Augen, genau wie die Stofftiere in ihrem Zimmer in Virginia.

Sie hoffte, sie würden auf einem Bauernhof landen, wo sie mit Tieren Zusammensein konnte. Sie verstand sich gut mit Tieren.

Will kam zurück und das Erdhörnchen floh. »Wir sollten weitergehen«, sagte er. Als zwei Wagen vorbeirumpelten, verzogen sie sich mit müden Gliedern in den Schutz der Bäume.

»Vielleicht sollten wir per Anhalter fahren«, schlug Stella vor, die sich hinter einem Kiefernstamm verborgen hatte. Der süßliche, penetrante Geruch des Baumharzes erinnerte sie so sehr an die Schule, dass sie die Lippen verzog und sich von der rauen Borke wegschob.

»Wenn wir per Anhalter fahren, werden sie uns schnappen«, wandte Will ein. »Wir sind nahe dran, das weiß ich.«

Während sie Will hinterherstapfte, konnte sie fast plastisch vor Augen sehen, wie ein großer blauer Chevy oder ein kleiner Lieferwagen, an dessen Steuer Mitch saß, die Straße hinunterraste. Mitch, der gemeinsam mit Kaye Ausschau nach ihr hielt.

Als sie das nächste Mal einen Wagen kommen hörten, lief sie einfach weiter, während Will eiligst hinter den Bäumen verschwand.

Nachdem der Wagen vorbeigefahren war, holte er sie wieder ein und bedachte sie mit einem kritischen Blick.

»Wir sind hilflos hier draußen«, sagte Stella, als sei das eine plausible Erklärung für ihr Verhalten, und gab ihm den kritischen Blick zurück.

»Umso mehr Grund, sich zu verstecken.«

»Vielleicht weiß irgendjemand, wo dieser Ort liegt. Wenn sie anhalten, können wir fragen.«

»Ich hab nur selten Glück.« Wills Mund zog sich zu einem Strich zusammen, der kein Lächeln, aber auch kein richtig höhnisches Grinsen ausdrückte. Es wirkte sarkastisch und unsicher. »Hast du oft Glück?«

»Schließlich bin ich ja hier und mit dir zusammen, nicht?«, erwiderte sie, ohne die Miene zu verziehen.

Will lachte, lachte so sehr, dass er schließlich die Arme hochriss und schnaufte. Er hörte nur auf, um sich die Nase am Ärmel abzuwischen.

»He, du«, sagte Stella.

»Entschuldigung.«

Wider besseres Wissen mochte Stella ihn wieder.

Beim nächsten Wagen streckte Will die Hand mit erhobenem Daumen aus und setzte sein schönstes Lächeln auf. Der Wagen raste mit mehr als hundert Sachen vorbei. Durch die beschlagenen Fenster waren undeutlich mehrere Gesichter zu sehen, die nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatten.

Als Will weiterging, zog er die Schultern ein.

Zwanzig Minuten später hörten sie das nächste Fahrzeug kommen. Stella warf einen Blick über die Schulter und sah, wie ein alter Ford, ein Mini-Van, eine Steigung auf der zweispurigen Straße erklomm und dabei eine dünne Wolke öligen weißen Rauchs hinterließ. Weder Will noch sie zogen sich von der Straße zurück. Ihre Wasserflaschen waren leer.

Nicht mehr lange, dann würden sie umdrehen und den Rückweg antreten müssen.

Der Mini-Van bremste ab, wich, als er sie überholte, auf die Gegenspur aus und fuhr mit leisem Rauschen vorbei. Vorne saßen ein älterer Mann und eine Frau, die sie aus Eulenaugen musterten. Die Heckfenster waren blau getönt und reflektierten ihre eigenen Gesichter.

Der Mini-Van wechselte wieder zur rechten Fahrspur hinüber und hielt etwa fünfzig Meter weiter an der Straße.

Während Stella vor Verblüffung Schluckauf bekam und die Arme verschränkte, stellte Will sich wie ein Fechter, der einen Hieb erwartet, auf die Seite. Stella sah, dass seine Hände zitterten.

»Sie sehen nicht gemein aus«, sagte Stella, dachte dabei aber an den roten Lastwagen, Fred Trinket und seine Mutter, die damals in Spotsylvania County Hähnchen gebraten hatte.

»Wir brauchen wirklich jemanden, der uns mitnimmt«, räumte Will ein.

Der Mini-Van setzte langsam zurück und hielt etwa fünf Meter vor ihnen. Die Frau beugte den Kopf aus dem Beifahrerfenster. Ihr Haar war grau meliert und das blasse Gesicht wies viele Runzeln auf. Es war ein kantiges, kräftiges Gesicht, aus dem wache Augen blickten. Als sie den Ellbogen herausstreckte, war zu sehen, dass ihr Arm mit Sommersprossen übersät war. An ihrer linken Hand, die auf dem rechten Unterarm ruhte, während sie zu ihnen hinüberblickte, entdeckte Stella viele große Silberringe.

»Seid ihr zwei Virus-Kinder?«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte Will. Obwohl seine Hände jetzt noch stärker zitterten, versuchte er zu lächeln. »Wir sind ausgerissen.«

Die alte Frau dachte nur einen Augenblick nach, dann schürzte sie die Lippen. »Könntet ihr uns anstecken?«

»Das glaube ich nicht.« Will schob die Hände in die Jeanstaschen.

Die alte Frau drehte sich wieder zum Fahrer, um sich durch einen einzigen Blick mit ihm zu verständigen. Stillschweigend, wie es nur ein Paar fertig bringt, das schon sehr lange zusammenlebt, trafen sie eine Abmachung. »Sollen wir euch irgendwohin mitnehmen?«

Will sah Stella fragend an, aber sie konnte nur den penetranten Ölgestank ausmachen. Der Mann, der mindestens zehn Jahre älter als die Frau war, hatte ein hageres Gesicht, helle graue Augen und eine auffällig große Nase. Er trug ebenfalls mehrere Ringe an den Händen, die auf dem Steuerrad ruhten: Silberringe mit Türkisen und Korallen, die Vögel und abstrakte Formen darstellten.

»Klar doch«, sagte Will.

Gleich darauf sprang die Tür auf und glitt automatisch zur Seite. Im Wagen stank es nach Zigaretten, Hamburgern und Pommes frites.

Stella rümpfte zwar die Nase, trotzdem lief ihr bei den Essensdüften das Wasser im Mund zusammen. Seit dem Morgen des Vortags hatten sie nichts mehr gegessen.

»Wir haben von Kindern wie euch gelesen«, erklärte der alte Mann, während sie einstiegen. »Schwere Zeiten, wie?«

»Tja«, erwiderte Will. »Vielen Dank auch.«

Teil 3

SHEVA

+ 18

»Wir befinden uns im achtzehnten Jahr dessen, was manche als Jahrhundert der Viren bezeichnen. Die ganze Welt spielt vor Angst immer noch verrückt, obwohl es einige schwache, noch recht verschwommene Anzeichen dafür gibt, dass eine politische Lösung angestrebt wird.

Dennoch hat die Mehrheit der jüngst befragten Menschen nicht die leiseste Ahnung, was ein Virus überhaupt ist. Die meisten von uns können darüber wenig mehr aussagen, als dass Viren klein sind und uns krank machen.

Die Mehrzahl der Wissenschaftler hält an der Auffassung fest, dass Viren genetische Piraten sind, die Zellen entern und töten, um sich zu reproduzieren – selbstsüchtige Gene mit Schnappmessern’ oder ,DNA, die Terror ausübt’. Andere Wissenschaftler setzen dagegen, wir hätten ihre Funktion größtenteils missverstanden: Viele Viren seien genetische Boten, die Signale zwischen den Körperzellen, ja selbst zwischen Ihnen und mir vermitteltensozusagen ein genetischer Bundespaketdienst.

Die Wahrheit umfasst vermutlich beide Aspekte. Wir haben es hier mit einem seltsamen alten Ballspiel der Biologie zu tun, und die meisten Wissenschaftler sind sich darin einig, dass wir noch nicht einmal die erste Halbzeit beendet haben.«

Journalist von Fox Media in einem Beitrag für Floodnet

Real Life, Sondersendung der Real News – nicht ausgestrahlt

Wer würde in einer solchen Sendung denn für teures Geld einen Werbespot platzieren wollen? Dafür ist die Sache viel zu unheimlich. Und was zum Teufel soll ,noch recht verschwommene Anzeichen’ bedeuten? Mir hängt dieser ganze wissenschaftliche Mist zum Hals raus. Die Wissenschaft macht mir den ganzen Tag kaputt. Geben Sie mir Bescheid, ob und wann sich der Präsident so lange auf den Topf setzt, dass er sein Geschäft erledigen kann. Er ist unser Mann. Vielleicht bringen wir Ihren Beitrag, falls und wenn sich der Präsident zum Handeln entschließt, aber versprechen will ich gar nichts.

Aktennotiz des Geschäftsführers und Programmdirektors von

Fox Media

1

Fort Detrick, Maryland

Kaye starrte in Mrs. Rhines abgedunkeltes Wohnzimmer. Das Mobiliar war auf bizarre Weise umgestellt: Eine mit einem Laken verhängte Couch stand auf dem Kopf, sodass deren Beine mitsamt den Fußbodenschonern in die Luft ragten, Kissen lagen in Form eines Kreuzes auf dem Fußboden; in einem Winkel lehnten zwei Holzstühle mit den Sitzflächen zur Wand, als müssten sie zur Strafe in der Ecke stehen. Auf dem Kaffeetisch lagen kleine weiße Kartons verstreut.

Freedman schaltete die Gegensprechanlage ein: »Carla, wir sind jetzt da. Ich habe Kaye Lang Rafelson mitgebracht.«

Mrs. Rhine trat mit forschem Schritt ins Wohnzimmer, holte sich einen Stuhl aus der Ecke, schwang ihn in die Raummitte, knapp zwei Meter von den dicken Fensterscheiben entfernt, und ließ sich darauf nieder. Sie trug eine einfache Kombination aus blauem Jeansstoff, die ihren Körper von Kopf bis Fuß bedeckte. Ihre Arme, Hände und ein Großteil des Gesichts waren in Mullverbände gehüllt. Sie trug ein Kopftuch. Es sah nicht so aus, als hätte sie noch Haare. Das Wenige, das von ihrer Haut zu sehen war, wirkte rötlich und geschwollen. Die Gazeschichten, die an die Umhüllung einer Mumie erinnerten, ließen zumindest die angespannt blickenden Augen frei.

»Ich werde hier abdunkeln«, sagte sie mit klarer, fast schneidender Stimme über die Gegensprechanlage. »Drehen Sie Ihre Lampen voll auf. Ist nicht notwendig, dass Sie mich ansehen.«

»In Ordnung«, erwiderte Freedman und stellte die Lampen in dem Besucherraum mit Sichtfenster heller.

Das Licht in Mrs. Rhines Wohnzimmer wurde schwächer, bis sie nur noch ihre Silhouette erkennen konnten. »Willkommen in meinem Zuhause, Dr. Rafelson.«

»Ich habe mich über Ihre Nachricht gefreut.«

Freedman verschränkte die Arme und hielt sich im Hintergrund.

»Christopher Dicken hat mir früher immer Blumen mitgebracht.« Mrs. Rhine bewegte sich unbeholfen und ruckartig. »Jetzt darf ich keine Blumen mehr in der Wohnung haben. Einmal in der Woche muss ich in einer kleinen Kammer verschwinden, weil sie dann einen Roboter hereinschicken, der alles von oben bis unten reinigt. All diese kleinen Dinger, die mit dem Hausstaub zu tun haben, müssen beseitigt werden. Pilze, Bakterien und solche Sachen, die auf abgestoßenen Hautschuppen gedeihen können. Wenn die sich hier drinnen entwickeln, könnten sie mich in der jetzigen Situation umbringen.«

»Über Ihren Brief habe ich mich sehr gefreut.«

»Das Netz ist das, was mich am Leben hält, Kaye – wenn ich Sie so nennen darf.«

»Selbstverständlich.«

»Christopher hat so oft von Ihnen gesprochen, dass es mir vorkommt, als würde ich Sie schon kennen. Mittlerweile bekomme ich nicht mehr allzu viel Besuch. Ich hab ganz vergessen, wie man auf wirkliche Menschen reagiert. Wenn ich meine saubere kleine Tastatur bediene, reise ich um die ganze Welt, aber in Wirklichkeit gehe ich ja nirgendwohin, berühre nichts, sehe nichts. Ich dachte, ich hätte mich daran gewöhnt, aber dann bin ich einfach wieder wütend geworden.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Erzählen Sie mir, was Sie sich vorstellen«, forderte Mrs.

Rhine Kaye auf und warf den Kopf herum.

»Ich stelle mir vor, dass Sie sich des Lebens beraubt vorkommen.«

Die dunkle Silhouette nickte. »Meiner ganzen Familie beraubt. Deshalb hab ich Ihnen geschrieben. Als ich las, was Ihrem Mann und Ihrer Tochter zugestoßen ist, dachte ich: Sie ist nicht nur Wissenschaftlerin, ein Symbol der Bewegung oder eine Berühmtheit, sie ist so wie ich. Aber natürlich besteht für Sie die Möglichkeit, dass Sie Ihre Lieben eines Tages zurückbekommen.«

»Ich arbeite ständig daran, meine Tochter zurückzubekommen. Wir suchen immer noch nach ihr.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, wo sie ist.«

»Das wünschte ich auch.« Kaye schluckte unter der Schutzhaube. Die Belüftung in dem steifen Schutzanzug war nicht gerade die beste.

»Haben Sie Karl Popper gelesen?«, fragte Mrs. Rhine.

»Nein, noch nie.« Kaye zog eine Falte im Kunststoff an der Taille glatt. Dabei fiel ihr auf, dass der Schutzanzug mit etwas geflickt war, das wie Klebeband für Kabel aussah. Das lenkte sie einen Augenblick ab. Sie hatte zwar gehört, dass die finanziellen Mittel inzwischen gekürzt worden waren, hatte sich aber nicht die Konsequenzen klar gemacht.

»… behauptet, dass eine ganze Gruppe von Philosophen und Denkern, der auch er sich zurechnet, das Selbst als soziales Attribut betrachtet«, sagte Mrs. Rhine. »Wenn man fern von der Gesellschaft aufwächst, entwickelt man kein vollständiges Ich. Nun ja, ich bin dabei, mein Ich zu verlieren. Ich fühle mich nicht mehr wohl, wenn ich dieses persönliche Fürwort benutze. Ich würde wahnsinnig werden, aber ich… dieses Ding, das ich bin…« Sie ließ die Worte in der Luft hängen.

»Marian, ich muss mit Kaye unter vier Augen reden. Geben Sie mir wenigstens das Gefühl, dass uns niemand zuhört oder das Gespräch aufzeichnet.«

»Ich bespreche es mit dem Techniker.« Nachdem Freedman kurz mit dem Techniker vom Sicherheitsdienst geredet hatte, entfernte sie sich diskret aus dem Besucherzimmer, wobei sie die Nabelschnur des Schutzanzuges hinter sich her schleifte.

Die Tür fiel zu.

»Warum sind Sie hier?«, fragte Mrs. Rhine so leise, dass es kaum zu verstehen war.

Kaye konnte sehen, wie sich die helleren Lampen des Besucherzimmers in ihren Augen spiegelten.

»Wegen Ihrer Nachricht. Und weil ich es an der Zeit fand, Sie kennen zu lernen.«

»Sie sind nicht hier, um mir zu versichern, dass man ein Heilmittel für mich finden wird? Manche Leute kommen nämlich genau deswegen vorbei, und das ist mir zuwider.«

»Nein.«

»Warum also? Warum wollen Sie mit mir sprechen? Ich schicke vielen Leuten E-Mails. Ich glaube, die meisten kommen gar nicht an. Es wundert mich tatsächlich, dass Sie meine Nachricht erhalten haben.«

Dafür hatte Marian Freedman gesorgt.

»Sie schreiben, Sie hätten das Gefühl, klüger zu werden und mehr Distanz zur Situation zu gewinnen, aber gleichzeitig Ihr Ich einzubüßen.« Kaye musterte die schattenhafte Gestalt im dunklen Zimmer. Vor dem Treffen mit Marian Freedman hatte man sie informiert, dass Mrs. Rhines Ekzeme sich sehr böse entwickelt hätten. »Ich würde gern mehr darüber hören.«

Plötzlich beugte sich Mrs. Rhine vor. »Ich weiß, warum Sie hier sind«, erklärte sie mit erhobener Stimme.

»Warum?«

»Weil wir beide das Virus gehabt haben.«

Einen Augenblick schwiegen beide.

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, erwiderte Kaye leise.

»Asketen setzen sich auf hohe Felsen, um die Berührung mit Menschen zu vermeiden. Sie warten auf Gott und werden dabei wahnsinnig. So geht’s mir auch. Ich bin der heilige Antonius, nur sind die Teufel zu schlau, ihre Zeit auf ein Schwätzchen mit mir zu verschwenden. Ich bin schon in der Hölle, sie müssen mich nicht daran erinnern. Ich habe mich verändert. Mein Gehirn kommt mir jetzt zwar größer vor, aber es gleicht einem großen Warenlager mit lauter leeren Kartons.

Ich versuche die Kartons zu füllen, indem ich lese. Früher war ich dumm, nichts als ein Muttertier. Das Virus hat mich für meine Dummheit bestraft. Ich wollte leben, also habe ich mir das Schweinegewebe transplantieren lassen. Und das hätte ich nicht tun dürfen, stimmt’s? Ich bin keine Jüdin, aber Schweine sind imposante Kreaturen mit sehr viel geistig-seelischem Innenleben, meinen Sie nicht auch? Sie spuken in mir herum.

Ich hab ein paar Gespenstergeschichten über Schweine gelesen, Gruselgeschichten, sehr beängstigend. – Ich weiß, ich rede wie ein Wasserfall. Marian hört mir zu, die anderen auch, aber für sie ist es Schwerstarbeit. Ich glaube, ich mache ihnen Angst. Sie fragen sich, wie lange ich noch durchhalte.«

Kayes Magen war so angespannt, dass sie die Magensäure in der Kehle spürte. Obwohl sie starkes Mitgefühl mit der Frau hinter der Glasscheibe hatte, fiel ihr nichts ein, das sie ihr zum Trost hätte sagen oder unternehmen können. »Ich höre immer noch zu«, bemerkte sie schließlich.

»Gut. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich bald sterben werde. Ich kann’s in meinem Blut spüren. Auch Sie werden sterben, auch wenn es bei Ihnen vielleicht noch länger dauert.«