Im folgenden Tag erlebte Beatrice eine Überraschung. Sie hatte gerade ihr Frühstück beendet und den letzten Schluck Tee getrunken, als vier Diener einen riesigen Zuber mit dampfendem Wasser in ihr Gemach schleppten. Zwei junge Mädchen folgten ihnen. Die eine trug zwei schwer aussehende Krüge, die andere einen großen Stapel Kleider. Hinter allen trippelte Ming her, kommandierte herum und deutete schließlich auf einen freien Platz im Raum, an dem die Diener den Zuber abstellten. Mit Verbeugungen verschwanden die vier Männer, und nur die jungen Mädchen und Ming blieben zurück.
»Guten Morgen«, sagte Beatrice und war so verblüfft über dieses Schauspiel, dass sie sogar vergaß, sich wie sonst über Mings mangelnde Höflichkeit zu ärgern. »Was hat das hier zu bedeuten?«
»Du sollst baden.«
»Ja, das sehe ich«, erwiderte Beatrice ruhig und beherrscht. »Hättest du trotzdem die außerordentliche Güte, mich darüber aufzuklären, weshalb ich ausgerechnet heute baden soll?«
»Khan kommt«, sagte Ming und sah Beatrice an, als wäre das bereits seit vielen Tagen überall verkündet worden. »Heute Abend findet Audienz statt, sogar du sollst teilnehmen. Nur so…« Sie betrachtete Beatrice geringschätzig. »Du kannst Herrscher nicht so unter die Augen treten.«
Beatrice biss sich auf die Zunge. Jetzt bloß nichts sagen, dachte sie. Es war nicht gut, gleich am frühen Morgen einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu platzen. Dabei sollte man eigentlich meinen, dass sie sich bereits an Mings Arroganz gewöhnt hatte.
Die alte Chinesin gab dem jungen Mädchen mit den Krügen einen kurzen Befehl. Das Mädchen goss Wasser aus einem seiner Krüge in den Zuber, und Beatrice hoffte im Stillen, dass es sich um kaltes Wasser handelte. Denn den Dampfschwaden nach zu urteilen, die aus der Wanne aufstiegen, hatte ein Sadist sie mit kochendem Wasser gefüllt. Ming gab dem Mädchen ein Zeichen, prüfte mit der Hand die Wassertemperatur und nickte.
»Gut. Jetzt kannst du dich entkleiden.«
Sie half Beatrice beim Ausziehen. Sie hatten gerade das obere Nachtgewand abgelegt und öffneten die Bänder des Untergewands, als plötzlich wilde Schreie erklangen.
»Grundgütiger!«, rief Beatrice erschrocken aus. »Was ist denn…«
Doch jedes weitere Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Voller Entsetzen sah sie, was geschehen war. Offensichtlich war das andere junge Mädchen gerade dabei gewesen, das Kohlenfeuer in einem der Eisenbecken neu zu schüren. Dabei musste ein Stück der glühenden Kohle herausgefallen sein und seine Kleidung in Brand gesteckt haben. Der dünne Stoff der weiten Baumwollhose hatte sofort Feuer gefangen. Schreiend vor Angst und Schmerzen warf sich das Mädchen auf den Boden und wälzte sich verzweifelt hin und her.
»Decken!«, rief Beatrice, nachdem die erste Schrecksekunde vorbei war und ihr Gehirn wieder normal funktionierte. »Wir brauchen Decken, um die Flammen zu ersticken.«
Sie stieß Ming zur Seite, die starr und ohne sich zu rühren das schreckliche Schauspiel beobachtete. Beatrice riss die Laken von ihrem Bett und begann auf das am Boden liegende Mädchen einzuschlagen. Immer wieder schlug sie mit der Decke zu, und nach einer Weile hatte sie es tatsächlich geschafft, die Flammen zu löschen. Leise wimmernd und zusammengekrümmt wie ein Embryo lag das Mädchen am Boden. Und erst jetzt fiel Beatrice auf, dass sie die ganze Zeit allein gegen das Feuer gekämpft hatte. Weder Ming noch das andere Mädchen hatten auch nur einen Finger gerührt. Doch die Gefahr war kaum vorüber, als Ming auch schon auf das Mädchen zustürmte, es packte und schüttelte.
»Dummes Ding!«, keifte sie die Kleine an, die ihren Kopf schützend hinter den Armen verbarg, so als würde sie Schläge erwarten. »Pass auf, wenn du Feuer machst! Wir alle hätten sterben können!«
Beatrice biss die Zähne zusammen. Später würde sie Ming dafür zur Rede stellen. Jetzt musste sie sich zuerst um die Verletzte kümmern. Sie schob die Alte unsanft zur Seite und kniete sich neben dem Mädchen auf den Boden. Sanft berührte sie sie an der Schulter und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Sie mochte höchstens fünfzehn Jahre alt sein. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie zitterte am ganzen Körper. Leise und kläglich, wie ein verwundetes Tier, wimmerte sie vor sich hin. Beatrice streichelte ihr beruhigend über das schwarze Haar.
»Alles gut«, sagte sie. »Alles wird gut.«
Behutsam untersuchte sie das Mädchen. Gesicht, Arme und Oberkörper waren zum Glück unversehrt. Allerdings waren beide Beine übel zugerichtet. Die weite Baumwollhose war bis zur Mitte der Oberschenkel völlig verbrannt. Vorsichtig, nur mit zwei Fingern hob Beatrice den verkohlten Stoff an den Beinen des Mädchens hoch. Die Haut war rot und blasig, nur an einigen, zum Glück bloß sehr wenigen und kleinen Stellen waren deutliche Anzeichen für tiefer gehende Hautschäden zu erkennen. Beatrice atmete erleichtert auf. Das Mädchen hatte noch Glück im Unglück gehabt, es hatte hauptsächlich Verbrennungen zweiten Grades erlitten. Richtig behandelt, sollte sie das sogar im Mittelalter überleben können.
»Bring mir Wasser, klares, sauberes Wasser und saubere Tücher!«, befahl Beatrice dem anderen Mädchen.
»Wozu?«, fragte Ming. Die Alte stand mürrisch mit vor der Brust verschränkten Armen ein Stück abseits.
»Weil ich die Verletzungen behandeln will. Los, worauf wartet ihr noch? Bewegt euch!«
Doch Ming schüttelte den Kopf. »Öl«, sagte sie. »Du musst Wunden mit Öl einreihen.«
»Jawohl, und am besten danach Mehl darauf streuen und die Blasen aufstechen, damit das arme Ding auch ganz bestimmt an einer Infektion stirbt«, erwiderte Beatrice. Sie kochte vor Wut. »Das sind die Methoden der Ungebildeten. Wir brauchen Wasser. Klares, sauberes Wasser. Und saubere Tücher, am besten aus ungefärbter Baumwolle oder Leinen. Und ein Paar saubere Stäbchen.«
Ming verzog mürrisch ihre Mundwinkel. »Hier, in diesem Land, wir behandeln immer Brandwunden mit Öl. Ich werde nicht…«
»Du wirst, Ming!«, unterbrach Beatrice die Chinesin streng. »Ich bin Ärztin und trage die Verantwortung. Außerdem solltest du immer daran denken, wer von uns beiden das Recht hat, Befehle zu erteilen.«
Ming presste die Lippen aufeinander, ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Wenn diese Augen zwei Samurai-Schwerter gewesen wären, Beatrice hätte ohne Zweifel filetiert und in mundgerechte Stücke zerteilt am Boden gelegen.
»Was ist, bekomme ich jetzt das Wasser?«
Ming nickte dem anderen Mädchen kurz zu. Es war ihr jedoch anzumerken, dass sie es nur widerwillig tat.
Wenig später hatte Beatrice alles, was sie für die Behandlung der Verletzten brauchte. Vorsichtig, wie mit einer Pinzette, entfernte sie mit den Stäbchen die spärlichen, halb verkohlten Stoffreste von der Haut des Mädchens. Dann tauchte sie die sauberen Tücher in das klare Wasser und legte sie behutsam über die Beine. Die Kleine stöhnte und weinte vor Schmerzen.
»Dummes Ding!«, schimpfte Ming und trat wieder zu dem Mädchen hin, das sofort am ganzen Körper zu zittern begann. »Steh endlich auf! Sieh, was du angerichtet hast!
Decken sind schmutzig, deine Kleidung ist verbrannt! Das kostet viel. Du wirst sie bezahlen.«
Die Kleine begann zu schluchzen. Beatrice platzte nun endgültig der Kragen.
»Du hältst jetzt erst einmal den Mund, du alte Hexe!«, fauchte sie Ming an. »Wenn du diesem Mädchen auch nur ein Haar krümmst und es schlecht behandelst, bekommst du es mit mir zu tun. Ich werde dann dafür sorgen, dass du deine Tage als Bettlerin beenden kannst. Und ich rate dir, nicht mit meiner Gnade zu rechnen. Die hast du dir bislang nämlich nicht verdient. Hast du mich verstanden?«
Ming wurde weiß vor Zorn, aber sie sagte kein Wort.
»Nun, ich habe den Eindruck, dass du mich verstanden hast.« Beatrice atmete tief durch. Es tat gut, seiner Wut endlich einmal Luft zu machen. Obwohl sie davon überzeugt war, dass sie jetzt einer Todfeindin gegenüberstand. »Es wird gleich besser werden«, wandte sie sich wieder dem Mädchen zu und streichelte ihm über das Haar. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um die Schmerzen der Kleinen zu lindern. Sie dachte an Buchara. Sollte sie es jetzt auch mit Opium versuchen? Rohopium gab es hier in China sicherlich in ausreichender Menge, aber ob sie es auch ungestraft anwenden konnte, war fraglich. In Buchara hatte Ali es nur unter Einsatz seines Lebens und guten Rufs besorgen können, und hier hatte sie keinen solchen Verbündeten an der Seite. Welche Alternativen gab es noch? Weidenrinde. Die war Salizylsäurehaltig und hatte somit eine ähnliche Wirkung wie Aspirin. Andererseits wusste sie nicht, ob es in China auch Weiden gab. Welche Mittel mochten wohl die Ärzte in China anwenden, um so starke Schmerzen zu lindern? Beatrice dachte angestrengt nach. Und als es ihr endlich einfiel, hätte sie sich am liebsten mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen und laut Trottel gesagt. Akupunktur! Das war die Lösung! Warum war ihr das nur nicht gleich eingefallen?
»Ming, lass Li Mu Bai rufen. Er soll der Kleinen Nadeln setzen, damit sie keine Schmerzen mehr hat.«
»Den weisen Li Mu Bai?«, fragte Ming und runzelte missmutig die Stirn. »Er ist bestimmt nicht bereit, für so eine…«
»Tu einfach, was ich sage!«, unterbrach Beatrice die Alte energisch. »Und denke immer daran, dass ich zu meinem Wort stehe.«
Ming knurrte etwas auf Chinesisch und schickte dann das andere Mädchen los, um Li Mu Bai zu holen. Wie Beatrice vermutet hatte, kam der Mönch auf der Stelle. Sie erklärte ihm kurz, was geschehen war, was sie selbst bereits getan hatte und um was sie ihn nun bat. Er hörte ihr aufmerksam zu und sah sie überrascht an, als sie von klarem Wasser und Tüchern berichtete.
»Von dieser Behandlung habe ich noch nie gehört«, sagte er höflich. »Wir träufeln Öl auf die verbrannten Stellen.«
»Ich weiß«, entgegnete Beatrice. Sie versuchte, Mings triumphierendes Lächeln zu übersehen, während sie überlegte, mit welchen Argumenten sie Li Mu Bai wohl am ehesten überzeugen konnte. »Auch in meiner Heimat haben wir Ärzte lange Zeit Brandverletzungen auf diese Art behandelt. Aber im Laufe vieler Jahre haben wir die Erfahrung gemacht, dass klares Wasser die Überlebenschancen des Verletzten erhöht und die Heilung der Wunden verbessert.«
Li Mu Bai dachte einen Augenblick nach, dann nickte er. »Gut, wir werden es so machen«, sagte er.
Wenn er skeptisch war, so ließ er es sich nicht anmerken. Vielleicht sah er das Ganze aber auch nur als ein Experiment an. Ein spannendes Experiment, dessen Ausgang zwar interessant, im Grunde genommen jedoch unwichtig war, da es sich bei dem Versuchsobjekt lediglich um eine kleine unbedeutende Dienerin handelte.
Er setzte dem Mädchen seine goldenen Nadeln, und schon wenig später schlief es tief und fest.
»Morgen komme ich wieder«, meinte Li Mu Bai und verneigte sich vor Beatrice. »Dann werden wir sehen, wie es ihr geht.«
»Jetzt baden«, sagte Ming mürrisch, als der Arzt gegangen war.
Beatrice entledigte sich der restlichen Kleidung und begab sich zu dem Zuber. Ein Schemel diente als Treppe. Etwas unbeholfen kletterte sie auf den Rand, hielt einen Fuß hinein und schrie auf – das Wasser war immer noch kochend heiß. Wie heiß musste es erst zu Anfang gewesen sein? Ob das Mings Art war, sich an ihr zu rächen? Wollte die Alte sie einfach verbrühen?
»Heiß?«, fragte Ming überflüssigerweise.
»Ja. Gieß noch kaltes Wasser hinzu.«
Die Alte verzog das Gesicht, eine Mischung aus Missfallen und Verachtung gegenüber der barbarischen Europäerin, die nicht einmal in der Lage war, heißes Wasser zu ertragen. Wenigstens gehorchte sie, holte einen weiteren Krug mit kaltem Wasser und schüttete ihn in den Zuber.
Vorsichtig ließ Beatrice sich in die Wanne gleiten und setzte sich, sodass ihr das heiße, nach Zedernholz duftende Wasser bis zu den Schultern reichte. Während Ming ihr die Haare wusch, ließ Beatrice ihre Hände über den Rand der Wanne gleiten. Das Holz war so gut verarbeitet und so glatt geschmirgelt, dass es sich unter ihren Fingern weich und seidig anfühlte.
Beatrice badete gern lange und ausgiebig. Sicher hätte sie die wohltuende Wirkung des warmen Wassers und den köstlichen Duft des Holzes noch länger genossen, doch das strenge Gesicht von Ming erinnerte sie daran, dass sie nicht zu Hause war. Anscheinend widersprach ein zu ausgedehntes Bad dem guten chinesischen Ton. Beatrice seufzte. Sie konnte sich verhalten, wie sie wollte, dieser Frau würde sie es nie recht machen. Und nach dem, was heute passiert war, sowieso nicht.
Während Ming sie ankleidete, ihr die Haare kämmte – ganz sorgfältig, Strähne für Strähne –, hörte Beatrice von draußen Musik. Es waren schrille, laute Flötenklänge, Trommeln, Schellen und etwas Metallisches, das wie gegeneinandergeschlagene Becken klang. Beatrice gab sich die größte Mühe, sich zu beherrschen. Sie presste die Lippen aufeinander, versuchte an alles Mögliche zu denken und biss sich sogar auf die Zunge. Doch schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
»Was hat die Musik zu bedeuten?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war.
»Kaiser ist in Shangdou«, sagte Ming mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln. Natürlich hätte sich eine Chinesin niemals zu einer derartig erniedrigenden Neugierde hinreißen lassen; so etwas brachten nur die ungebildeten Barbaren fertig. »Musiker und ganzes Gefolge begleiten ihn zum Palast.«
Gerne hätte sich Beatrice diesen festlichen Zug angeschaut, aber Maffeo hatte sie davor gewarnt. Den Frauen und dem niederen Gefolge war es verboten, an diesem Zug teilzunehmen. Die Gründe konnte auch Maffeo ihr nicht erklären, es gehörte einfach zu dem komplizierten kaiserlichen Protokoll dazu. Sie würde den Kaiser am Abend sehen, wenn die große Audienz stattfand. So begnügte sie sich damit, den fremdartigen Klängen zu lauschen und sich den kaiserlichen Festzug vorzustellen, während Ming ihr das Festtagsgewand anlegte. Es war eine aus mehreren Kleidern bestehende Robe. Sie wurden alle übereinandergetragen, und die letzte Schicht bildete ein Mantel aus einem reich bestickten steifen, brokatähnlichen Stoff.
Als sie endlich das Ergebnis betrachten konnte, brach bereits die Abenddämmerung herein. Beim Blick in den Spiegel erkannte sie sich selbst kaum wieder. Irgendwie hatte Ming es fertiggebracht, ihr lediglich schulterlanges Haar zu einer mondänen Frisur aufzutürmen. In dem strengen, formellen Kleid und dem Kopfschmuck, den Ming ihr in das Haar geflochten hatte, sah sie aus wie eine Kaiserin.
Offensichtlich brauchen sich Kaiserinnen nicht zu bewegen, dachte Beatrice.
In dem steifen Festtagsgewand kam sie sich vor, als hätte sie jemand in eine Ritterrüstung gezwängt. Heimlich versuchte sie, den eng an ihrem Hals anliegenden Kragen zu lockern, doch sie hatte nicht mit Mings wachsamen Augen gerechnet. Kaum war es Beatrice gelungen, sich wieder mehr Luft zu verschaffen, hatte die alte Chinesin es auch schon bemerkt. Verärgert murmelte sie etwas auf Chinesisch und machte sich daran, die Bänder und Stofffalten, die Beatrice in mühsamer Arbeit gelockert hatte, wieder festzuziehen.
Das halte ich nicht aus, dachte Beatrice und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Fünf Minuten, bestenfalls zehn, dann werde ich ohnmächtig, und sie müssen mich zum Gespött aller Anwesenden aus dem Thronsaal tragen.
Beatrice wurde nicht ohnmächtig. Aber das lag nicht daran, dass sie sich im Laufe des Abends an die steife, schwere Festrobe gewöhnte. Sie war wohl nur widerstandsfähiger, als sie selbst geglaubt hatte.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, flüsterte Maffeo ihr zu, sodass sie sich fragte, ob man ihr das Unbehagen derart deutlich ansehen konnte. »Khubilai Khan wird jeden Augenblick erscheinen.«
Beatrice seufzte und versuchte, eine bequemere Sitzposition zu finden, aber das war schwierig. Seit mehreren Stunden – so kam es ihr wenigstens vor – saß sie nun schon auf ihren Knien und wartete auf die Ankunft des erlauchten Kaisers. Maffeo, der sich direkt vor ihr befand und ihr seinen Rücken zuwandte, hatte ihr eingeschärft, sich nur im allergrößten Notfall zu bewegen und unter gar keinen Umständen auch nur ein Wort zu sagen.
»Regungslos und schweigsam wie eine Statue – so sollte sich eine Frau am Hof des Kaisers verhalten.«
Maffeo hatte gut reden. Auch er musste sich in Geduld üben, aber er brauchte weder stumm noch unbeweglich auf seinem Platz zu verharren. Außerdem schien sein Kragen viel weiter zu sein als ihrer. Er unterhielt sich leise mit seinem Nachbarn, einem dunkelhaarigen Europäer mit grauen Schläfen. Fetzen von Italienisch drangen an ihr Ohr.
Das muss Niccolo sein, dachte Beatrice. Maffeos Bruder. Die beiden sind sich wirklich sehr ähnlich.
Beatrice versuchte, nicht an das beengende Gefühl am Hals zu denken, ein Gefühl, als hätte ein sadistischer Killer ihr seine Hände oder eine Garotte um die Kehle gelegt, um sie langsam und qualvoll, über Stunden hinweg, zu erwürgen. Um sich abzulenken, sah sie sich, so gut es eben ging, wenn man sich nicht bewegen durfte, im Thronsaal um. Ob Marco Polo auch hier war? Das war natürlich die spannendste Frage des heutigen Abends. Wie mochte er wohl aussehen, der große Weltreisende, der berühmte Venezianer?
Menschen aller Nationen hatten sich hier versammelt. Beatrice erkannte die Kleidung der Kaufleute von Buchara, sie sah Männer in verschiedenen Stammestrachten arabischer Nomaden, viele Mongolen, Tibeter und Chinesen, aber auch Juden mit Schläfenlocken, Inder mit Turbanen und sogar andere blonde und braunhaarige Europäer. Es war ein Kaleidoskop der ganzen den Menschen des Mittelalters bekannten Welt. Nur Vertreter des schwarzafrikanischen Kontinents sah Beatrice nicht. Aber vermutlich konnte sie sie in der Masse der Menschen bloß nicht entdecken. Denn eines war sicher: Sollte Khubilai Khan eine Möglichkeit gefunden haben, bis nach Afrika vorzudringen, so hätte er es getan. Sein Eroberungswahn kannte offensichtlich keine Grenzen.
Der Thronsaal war riesig, riesig und rund wie eine Zirkusarena oder ein Stadion. Tatsächlich war er so groß, dass hier ohne Weiteres ein Fußballspiel hätte stattfinden können. Wegen der runden Form war es vermutlich allen Anwesenden, selbst jenen, die wegen ihres niederen Rangs nicht wie Maffeo in unmittelbarer Nähe des Throns platziert waren, möglich, den Kaiser gut zu sehen.
Beatrice schätzte die Zahl der Geladenen auf mindestens zweitausend Mann. Gab es wirklich so viele Aufgaben am Hof des Kaisers? Oder hatten sie alle im Grunde nutzlose Posten, wie die Untertanen des Sonnenkönigs in Frankreich, der sogar über einen »Königlichen Taschentuchhalter« verfügte? Ob der große Khan jeden dieser unzähligen Untergebenen kannte? Wohl kaum. Es sei denn, er wäre ein Genie.
Sie ließ ihren Blick weiterwandern und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. Allmählich wurde diese Warterei nicht nur anstrengend, sondern auch noch langweilig.
Hoffentlich erscheint der Kaiser bald, dachte Beatrice, sonst bekomme ich wirklich Schwierigkeiten, meine Haltung zu bewahren.
In diesem Moment fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, einen Europäer. Er saß links von ihnen, näher beim Thron. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. War das etwa…
Er drehte seinen Kopf ein wenig und sah Beatrice an, als hätte er bemerkt, dass sie ihn beobachtete. Er neigte leicht seinen Kopf, wie zur Begrüßung, und lächelte. Es war ein beinahe unverschämtes, herausforderndes Lächeln. Beatrice spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und hastig wandte sie den Blick ab. Ihr Herz klopfte heftig. Dieser Mann hatte sie angesehen, als würden ihre Kleider trotz der vielen Schichten Stoff für ihn nicht existieren. Noch einmal schaute sie in seine Richtung. Er sah immer noch zu ihr her – und lächelte wieder, als würde er sich über ihre Verlegenheit lustig machen.
Ein Gongschlag rettete Beatrice. Das Gemurmel in der Menge verstummte, und jeder blickte starr geradeaus, sogar der junge Europäer. Es wurde still im Thronsaal. Es wurde so still, dass Beatrice ihre eigenen Atemzüge hören konnte. Der Gong schlug zum zweiten Mal, und jeder, dem es erlaubt war, sich zu bewegen, wandte seinen Kopf dem Eingang zu, durch den der Kaiser den Thronsaal betreten würde. Es musste sich um einen riesigen Gong handeln, denn der tiefe Ton dröhnte in den Ohren, und es dauerte lange, bis er sich im weiten Rund des Thronsaals verlief. Erst als auch der letzte Widerhall verklungen war, wurde der Gong zum dritten Mal geschlagen. Alle Anwesenden verneigten sich, bis ihre Stirnen den Boden berührten. Auch Beatrice verneigte sich, so gut es einer Schwangeren im Knien eben möglich ist. Dann öffneten sich die großen Flügeltüren an der dem Thron gegenüberliegenden Seite, jene Türen, durch die, so hatte Maffeo es ihr erklärt, niemand außer dem Kaiser und den Angehörigen seiner Kernfamilie, also sein jüngerer Bruder, seine erste Gemahlin, seine Söhne und ältesten Töchter, schreiten durften. Alle anderen hatten den Saal durch die schmalen Seiteneingänge betreten. Der Gong wurde erneut geschlagen, als der Kaiser seinen Fuß über die Schwelle des Thronsaals setzte, und gleich darauf wieder. Während des ganzen Weges des Kaisers zu seinem Thron wurde der Gong geschlagen. Der erhabene, metallische Klang summierte sich und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Nicht nur die Luft, sogar der Boden und das Kissen, auf dem Beatrice kniete, vibrierten. Die Schwingungen setzten sich in ihrem Körper fort, bis sie die Gongschläge in jedem einzelnen Knochen spürte. Die Gänsehaut, das Schauern und Beben, ja sogar Angst, die der dröhnende, tiefe Klang des Gongs verursachte, waren sicherlich in der Lage, selbst den hartnäckigsten Abtrünnigen und Rebellen dazu zu bringen, sich vor dem Kaiser zu Boden zu werfen. Dieses Gefühl erinnerte an Ehrfurcht. Ehrfurcht, die man vielleicht angesichts eines Menschen wie den Dalai Lama oder Buddha empfinden konnte. Doch hatte sie vor Khubilai Khan Ehrfurcht? Nein. Sie kannte ihn schließlich gar nicht. Von ihrem Platz aus, hinter den Rücken der Männer und mit dem zu Boden gerichteten Gesicht, hatte sie den Kaiser noch nicht einmal sehen können. Menschen, denen die physikalischen Zusammenhänge von Schallleitung und Vibrationen jedoch nicht bekannt waren, mussten angesichts ihrer starken Empfindungen glauben, allein die Anwesenheit des Kaisers würde sie erzittern lassen, so wie der Boden, auf dem sie knieten, unter jedem seiner Schritte bebte. Der Kaiser als Gesandter – oder sogar Sohn? – der Götter. Hier konnte man daran glauben. Vermutlich wusste keiner der hier Anwesenden, worum es sich wirklich handelte. Das Ganze war eine genial durchdachte Inszenierung. Nichts weiter.
Endlich hatte der Kaiser seinen auf einem hohen Podest stehenden Thron erreicht, und der Gong verstummte. Neben ihm, an seiner linken Seite, nahm die Kaiserin Platz. Und bis der letzte Ton verklungen war, hatte jeder der Söhne und Töchter des großen Khans, alles in allem ein Gefolge von mindesten einhundert Menschen, seinen Platz eingenommen. Von seinem Thron aus war Khubilai Khan nicht nur für jeden im Saal sichtbar, sondern er konnte natürlich auch die Menschenmenge bestens überblicken.
Der Gong wurde erneut geschlagen. Wie Maffeo erklärt hatte, war dies das Zeichen, dass der Kaiser gut gestimmt war und die Untertanen sich wieder vom Boden erheben durften. Jeder vollführte nun nach einem überaus komplizierten Ritual eine Drehung, sodass der Kaiser die Gesichter aller Untertanen sehen konnte.
Beatrice hatte diese Drehung den ganzen letzten Abend heimlich geübt. Doch in dem steifen Festgewand war es eine Tortur. Sie befürchtete, dass ihre Ungeschicklichkeit die Aufmerksamkeit aller erregen würde, und fühlte schon die missbilligenden, strengen und verächtlichen Blicke auf sich ruhen. Als sie es endlich geschafft hatte, warf sie Maffeo einen nervösen Blick zu. Er lächelte und nickte. Hatte er nichts bemerkt, oder wollte er sie nur aufmuntern und trösten? Doch als sie sich heimlich, mit mikroskopisch kleinen Bewegungen des Kopfes umsah, stellte sie fest, das niemand in ihrer Nähe sie zu beachten schien. Entweder hatte sie sich doch nicht so ungeschickt angestellt, wie sie gedacht hatte, oder sie war eine zu unwichtige Person, um ihr Beachtung zu schenken.
Beatrice atmete erleichtert auf und entspannte sich ein wenig. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf den jungen Europäer. Er sah sie an, hob anerkennend eine Braue und lächelte. Beatrice wandte hastig ihren Blick ab und sah starr nach vorne zum Thron.
Es reicht!, dachte sie und merkte, wie ihre anfängliche Verlegenheit dem Zorn wich. Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst.
Ein Mann mit kahl geschorenem Kopf trat vor den Thron, entrollte ein Pergament oder etwas Ähnliches und begann vorzulesen.
Das ist kein Pergament, das ist Papier, richtiges, echtes Papier, schoss es Beatrice durch den Kopf. Natürlich, die Chinesen hatten bereits zu Marco Polos Zeiten das Papier erfunden. Sie hatten sogar schon Papiergeld im Umlauf.
Einige Männer traten vor, gingen zur untersten Stufe des Throns, warfen sich dort auf die Knie und trugen, so vermutete Beatrice, ihr Anliegen vor. Manchmal nickte der Kaiser nur, manchmal schüttelte er den Kopf, manchmal sagte er auch einige, wenige Worte. Doch wie seine Reaktion auch ausfiel, jede wurde von einem Schreiber, einem dicken, einem Sumo-Ringer ähnlichen Mann, der abseits des Throns an einem niedrigen Tisch saß, mit Pinsel und schwarzer Tinte festgehalten.
Beatrice verstand natürlich kein Wort. Und da der junge Europäer es immer wieder fertig brachte, sie anzusehen, obwohl er einige Reihen vor ihr saß, widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit der kaiserlichen Familie.
Die Kaiserin wirkte überraschend jung und sah aus wie eine zierliche Porzellanfigur. Sie verschwand fast unter der schweren kaiserlichen Robe. Dennoch trug sie das steife Gewand mit einer Anmut, um die Beatrice sie nur beneiden konnte. Sie selbst ächzte unter dem Gewicht der Kleidung. Doch diese kleine zierliche Frau ließ sich nichts davon anmerken. Sie blickte regungslos mit leicht versonnenem Lächeln in die Unendlichkeit, als würden die Menschen zu ihren Füßen sie ebenso wenig interessieren wie das Gewicht des Festgewands, das auf ihre Schultern drückte. »Regungslos und schweigsam, wie eine Statue« – die Kaiserin beherrschte diese Rolle perfekt. Sie war ein Wunder an Disziplin und Selbstbeherrschung, ein Vorbild für jede Frau. Beatrice dachte an Ming. Das Herz der alten Chinesin würde sicherlich höher schlagen. Dieses Ausmaß an Vollkommenheit war ein Angriff auf das Selbstbewusstsein jeder Frau, die nur aus Fleisch und Blut bestand und nicht aus dem Stoff, aus dem man Kaiserinnen machte. Beatrice spürte, wie sich das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihr breit machen wollte. Sie versuchte, sich immer wieder zu sagen, dass diese Frau wohl kaum in der Lage war, eine Appendizitis zu diagnostizieren, ein künstliches Hüftgelenk einzusetzen oder einem Menschen mit einer Leber- und Milzruptur nach einem schweren Verkehrsunfall das Leben zu retten. Und vermutlich hatte sie noch nie Wäsche gewaschen, gekocht und geputzt und – so ganz nebenbei – auch noch für ihren Lebensunterhalt gearbeitet. Wahrscheinlich war sie seit ihrer Geburt auf die Rolle der Kaiserin vorbereitet worden. Und auch wenn sie darin gut war, so war es noch lange kein Grund, selbst Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln. Es war ihr Job, sie war Kaiserin, Beatrice war Chirurgin. Doch all diese durchaus vernünftigen Argumente halfen nichts. Sie fühlte sich bedeutungslos, unbrauchbar, wertlos und hässlich, je länger sie die junge Kaiserin betrachtete. Das war bereits die zweite Niederlage für ihr Ego an diesem Abend.
Wenn das so weitergeht, fange ich noch an zu heulen, dachte Beatrice und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit von der Kaiserin auf Dschinkim zu lenken, der direkt unterhalb des kaiserlichen Ehepaares seinen Platz eingenommen hatte.
Auch er saß mit fast unbewegtem Gesicht auf seinem Stuhl. Allerdings drückte seine Miene nicht die Gelassenheit und Gleichgültigkeit der Kaiserin aus. Sein markantes Gesicht war finster. Und obgleich er den Kopf nicht oder nur wenig bewegte, huschten seine Blicke zwischen den Untertanen hin und her, als würde er in jedem von ihnen einen potenziellen Attentäter vermuten. Es war der Blick eines Jägers, der nur darauf wartet, dass seine Beute ihre Tarnung preisgibt, um sich dann mit lautem Geheul auf sie stürzen und sie erlegen zu können.
Wehe dem, der eine falsche Bewegung macht oder ein unbesonnenes Geräusch von sich gibt, dachte Beatrice und erinnerte sich mit Schaudern an das Gefühl des eiskalten Dolches an ihrem Hals. Wer die Möglichkeit hatte, sollte Dschinkim besser aus dem Weg gehen.
Dann wandte sie ihren Blick dem großen Kaiser selbst zu.
Khubilai Khan saß aufrecht auf seinem Thron. Graues lockiges Haar schaute unter seiner hohen kaiserlichen Haube hervor, sein Gesicht zierte ein grauer, aber gepflegt aussehender Schnurrbart. Aufmerksam hörte er denjenigen zu, die ihm ihre Anliegen vortrugen, dachte kurz nach und gab dann seine Antwort. Nicht wie der wilde Mongole, als den Beatrice sich Khubilai Khan immer vorgestellt hatte, sondern so gemessen und würdevoll, wie es von einem Kaiser erwartet wurde. Jeder der Untertanen war offenbar zufrieden. Und doch hatte Beatrice den Eindruck, dass sich Khubilai insgeheim langweilte. Manchmal, so schien es wenigstens, konnte er ein Gähnen nur mühsam unterdrücken.
Endlich war die Audienz beendet. Der Kaiser erhob sich von seinem Thron und stieg mit der Kaiserin das Podest hinunter. Der Gong wurde erneut geschlagen, die Versammelten warfen sich auf den Boden, alles bebte und zitterte und verharrte in dieser Stellung, bis Khubilai Khan den Thronsaal verlassen hatte und die riesigen Flügeltüren wieder geschlossen worden waren. Erst danach durften sich die Untertanen erheben. Zum Glück verließ der junge Europäer als einer der Ersten nach der kaiserlichen Familie den Thronsaal, und Beatrice musste sich seine unverschämten Blicke nicht mehr gefallen lassen.
»Meine Güte, ich bin steif wie eine Neunzigjährige«, sagte sie zu Maffeo, der ihr beim Aufstehen half. »Und in den Beinen habe ich überhaupt kein Gefühl mehr.«
»So ist es mir anfangs auch immer ergangen«, erwiderte Maffeo und griff ihr unter die Arme. »Aber keine Sorge, mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen.«
»Fragt sich bloß, ob ich das überhaupt will«, sagte Beatrice und bis die Zähne zusammen. Das Nervenkribbeln setzte gerade ein. Tausende kleiner spitzer Nadeln, die in ihre Haut stachen, als würden Hunderte von kleinen Kobolden ihre Beine mit winzigen Nähmaschinen bearbeiten. »Wenn ich ehrlich bin, will ich nur eines – auf dem schnellsten Wege wieder nach Hause.«
Maffeo wurde ernst. Er sah sich rasch um, aber das Gewirr und Gewimmel von Menschen um sie herum, die sich in allen bekannten und unbekannten Sprachen unterhielten, war so laut, dass niemand auf sie achtete. Und auch Maffeos Bruder Niccolo war verschwunden. Trotzdem senkte er seine Stimme zu einem Flüstern.
»Dass du diesen Wunsch äußerst, kann nur bedeuten, dass du noch nicht viel über den Stein und seine Macht weißt, Beatrice«, sagte er. »Du kommst wieder nach Hause, so viel ist gewiss. Der Stein sorgt für seine Hüter. Aber es ist kein Zufall, dass du ausgerechnet hierher geführt wurdest. Der Stein hat dir eine Aufgabe zugedacht. Und erst, wenn du diese erfüllt hast, lässt er dich wieder gehen.«
Beatrice seufzte. Wieso nur mussten alle immer in Rätseln sprechen, wenn es um den Stein der Fatima ging? Frau Alizadeh, die alte Frau, von der sie ihren Stein bekommen hatte, hatte es getan, und Maffeo setzte diese Tradition fort. Es war lästig.
»Kannst du mir denn wenigstens sagen, um welche Aufgabe es sich handelt? Dann könnte ich mich heute noch darum kümmern und rechtzeitig zum Frühstück wieder daheim in meiner eigenen Wohnung sein.«
Maffeo schüttelte den Kopf. »Nein, Beatrice, diese Frage kann dir niemand beantworten. Du musst es schon selbst herausfinden – wie jeder Hüter.«
»Nett, dass du mich aufheitern willst.«
»Sei nicht ungeduldig«, erwiderte Maffeo und legte ihr aufmunternd eine Hand auf den Arm. »Es wird schon alles seinen rechten Gang gehen. Und nun zerbreche dir nicht mehr den Kopf. Auch die längste Reise beginnt mit einem Schritt. Auf diesen solltest du deine Gedanken und deine Kraft richten, dann ergibt sich alles andere wie von selbst.«
Beatrice seufzte. Diese asiatische Gelassenheit – sie zweifelte stark daran, dass sie sich jemals an sie gewöhnen würde. Aber sie musste sich fügen, ob sie nun wollte oder nicht.
Wenn Maffeo schon nicht bereit ist, mir mehr über den Stein der Fatima zu erzählen, dachte Beatrice, wird er mir vielleicht andere Fragen beantworten.
»Wer war das eigentlich, der zwei Reihen vor dir und deinem Bruder gesessen hat?« Sie versuchte, dabei nicht rot zu werden. Ihr Interesse an dem Mann war ihr selbst peinlich. »Ein Europäer. Etwa Mitte zwanzig, mittelgroß, schlank, dunkles, leicht gewelltes Haar…«
Maffeo warf ihr einen kurzen, forschenden Blick zu, einen Blick voll väterlicher Strenge.
»Du meinst den dunkelhaarigen Mann in der Kleidung der Ehrengarde des Khans?« Beatrice nickte und Maffeo stieß einen verzweifelt klingenden Seufzer aus. »Das war Marco, mein Neffe, der Sohn meines Bruders Niccolo.« Er rieb sich die Stirn, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. »Ich wusste, dass das passieren und er früher oder später deine Aufmerksamkeit erregen würde. Er zieht immer alle Blicke auf sich. Selbst wenn er sich unter Tausenden von Menschen versteckt, fällt er auf. Der Herr im Himmel allein weiß, wie er das zu Wege bringt. Manchmal frage ich mich…« Er brach ab und schüttelte sich.
Beatrice fand Maffeos Verhalten mehr als seltsam. Sicher, Marco war ein junger attraktiver Mann, viel attraktiver als alle anderen Männer, die sie bisher am Hof des Khans zu Gesicht bekommen hatte. Ein Mann, der vermutlich seinen Charme überaus geschickt einsetzen konnte und dem sicherlich viele Frauen zu Füßen lagen. Und wenn die Geschichtsbücher recht hatten und er tatsächlich so hoch in der Gunst des Kaisers stand, so musste er in der Tat ein besonderer Mensch sein. Aber war das ein Grund, so grau im Gesicht zu werden? Marco Polo… Sie konnte es immer noch nicht fassen.
»Lass uns später noch einmal darüber reden. Es gibt andere, erfreuliche Dinge, die ich dir noch nicht mitgeteilt habe«, sagte Maffeo. Doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er einfach nur das Gesprächsthema wechseln wollte. »Khubilai Khan hat uns zu sich gerufen.«
»Was, mich auch?«
»Ja.«
Beatrice schluckte. Ihr Herz begann zu klopfen. Vergessen war Marco Polo.
»Warum?«
Maffeo zuckte mit den Schultern. »Ihm ist deine Anwesenheit zu Ohren gekommen. Jeder, der in seinem Palast lebt, muss vor seine Augen treten. Der große Khan will seine Untertanen kennen.«
»Und wann sollen wir…«
»Jetzt. Er erwartet uns in wenigen Augenblicken. Wir sollten uns beeilen.« Maffeo lächelte ihr aufmunternd zu. »Keine Angst, der Khan wird dir nichts tun. Im Gegenteil, du wirst Khubilai mögen.«