Achtzehntes Kapitel
Das letzte Halbjahr
Inzwischen war der Herbst herangekommen, ohne daß sich mein Gemüt in der Zwischenzeit sonderlich beruhigt hätte. Wohl hatte ich Stunden, in denen ichs leichter nahm, aber die Furcht kam immer wieder, und da sich Waffenniederlegung und ähnlich Mutloses nicht empfahl, weil es mir den ersehnten Straßenfrieden doch nicht eingetragen haben würde, so war ich wider meinen Willen gezwungen, mich mit neuen Plänen zu beschäftigen, um in ihnen vielleicht Hilfe zu finden. Ich sann hin und her und fand schließlich zu meiner Beschämung, daß ich, wenn ich mich halten wollte, gezwungen sein würde, die Fortdauer meiner Herrschaft in einer außerhalb meiner Truppe liegenden Hilfsmacht zu suchen, also nach dem Beispiele meiner proletarischen Feinde zu verfahren, die ganz ersichtlich begonnen hatten, sich auf die großen Schiffsjungen mit ihren rotweißblau geränderten Matrosenmützen zu stützen. Ich ging diesem Gedanken eine ganze Weile nach, und weil mir solch Kraftmaterial in meinem Schul- und Freundeskreise nicht zuwuchs, so half nur eines: Anwerbung, Gründung eines Söldnerheers. Das erforderte natürlich Geld. Aber davor erschrak ich nicht; die gute Schrödter, sosehr sie den »Unsinn« mißbilligte, wäre doch schließlich gütig genug gewesen, aus ihren eignen Mitteln alles Nötige herzugeben, und wenn mein Plan trotzdem unausgeführt blieb, so lag dies nur daran, daß mir seine Durchführung, als ich dicht davor stand, doch auch wieder gegen die Soldatenehre war. Ich hatte durch Jahr und Tag hin geglaubt, in erster Reihe durch mich selbst und zum zweiten durch allerlei kleine Künste, denen ich die stolzesten Namen gab, eine Machtstellung einnehmen zu können. Das erschien mir als etwas Besonderes. Blieb mir dies aber in alle Zukunft hin versagt, so hatte das andre keinen Wert mehr für mich und war auf die Dauer voraussichtlich auch nutzlos. Jedes von der andern Seite her bewilligte Glas Wacholder konnte mich sofort wieder übertrumpfen und die Frage zum zweitenmal zu meinen Ungunsten entscheiden. So ließ ich denn, nur noch sehr selten von einem Hoffnungsschimmer neu belebt, die Dinge gehen, wie sie gehen wollten, bis ein kleines Ereignis auch den letzten Rest von Zuversicht in mir tilgte.
November war da, und die kleinen Wasserlachen, die sich um ein Wäldchen, das die »Plantage« hieß, herumzogen, waren schon überfroren. Jeden Nachmittag gegen Sonnenuntergang gingen wir hinaus, um auf diesen Tümpeln Schlittschuh zu laufen. Es war ein herrliches Vergnügen, das Eis blink und blank, und wenn dann der Mond wie eine kupferne Scheibe aufging und sein seltsames Licht durch die Erlen und Binsen warf, die den Tümpel einfaßten, so wurde ich jedesmal von einem geheimen Schauer erfaßt. Ich gab dann das Holländern und das Buchstabenmachen (immer ein lateinisches E) auf etliche Minuten auf und sah in den Mond. Einmal, als wir zu dreien oder vieren auch wieder diese Stelle besuchten, trafen wir schon ein paar andere Jungen da, Schifferjungen, etwas älter als wir, aber nicht viel. Alle trugen hohe Stiefel, drin die Hosen steckten, dazu dicke Friesjacke und Pelzmütze. Wir waren sehr unzufrieden mit der vorgefundenen Gesellschaft, und schon während wir die Schlittschuhe anschnallten, fielen anzügliche Worte. Besonders der Führer der Gegenpartei war ein muffliger Junge, häßlich und stubsnäsig, und seine trotzige Art ärgerte mich so, daß ich auf ihn zufuhr und ihn in einen dicht neben uns aufragenden Erlenbusch werfen wollte. Aber es mißglückte. Entweder ich glitt aus oder er war stärker als ich, kurzum ich kam zu Fall und lag nun zu seinen Füßen. Er nahm weiter keine Notiz davon, sah nur sehr überlegen auf mich runter und setzte dann seinen Eislauf ruhig fort, immer in meiner Nähe bleibend. Ich war wieder aufgesprungen, und »meine heilige Schar« riet mir, zum zweitenmal auf den Jungen loszugehen und die Scharte auszuwetzen; ich wagte es aber nicht mehr – in dem Riedgras neben dem Erlenbusch, wo ich zu Fall gekommen war, lag der letzte Rest vom Stolz meiner Jugend begraben. Ich war, vielleicht in kluger Wahl meiner Gegner, bis dahin immer Sieger geblieben; hier hatte mich zum erstenmal eine Niederlage getroffen und so getroffen, daß an eine Wiederaufnahme des Kampfes gar nicht zu denken war. Ich schnallte meine Schlittschuh ab und ging still vom Eise fort, selbst den Racheblick unterlassend, mit dem sonst wohl solche Rencontres zu enden pflegten.
In schwermütiger Verfassung kam ich zu Hause an und nahm hier den oft gehegten und immer wieder verworfenen Gedanken einer Abdikation mit neuer Lebhaftigkeit auf. Es sollte sich aber, so war mein Plan, alles geräuschlos vollziehen, ohne Gespräch darüber und namentlich ohne Vernichtung irgendeines Stücks in der Waffenkammer; nur Spinnweb mochte sich darüber hinziehen. Jeder auf Wiedergewinn meiner Herrschaft abzielende Gedanke war aufgegeben, so ganz und gar, daß ich Begegnungen nach Möglichkeit vermied und mich etwas ängstlich an den Häusern entlangdrückte. Schrecklicher Zustand. Ich war mit einem Male ganz klein geworden und fühlte mich geradezu unglücklich. Der mufflige Bengel stand immer vor meinen Augen. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre solch elendes Leben ganz unerträglich für mich gewesen. Aber glücklicherweise, die Verhältnisse waren inzwischen andere geworden und änderten sich mit jedem Tage mehr. Abgesehen davon, daß Weihnachten vor der Tür stand und mich momentan wenigstens zerstreuen konnte, begann sich auch mehr und mehr all um meinen bevorstehenden Abgang zu drehn, an den ich jetzt mit Begierde dachte. Nicht daß es mir zu Hause nicht mehr gefallen hätte, fast im Gegenteil; die Eltern waren von besonderer Güte, aber das Bewußtsein, daß die Zeit hin sei, wo die »Blinden in Genua auf meinen Schritt gehört«, hatte mich allmählich um die Möglichkeit jeder echten und rechten Freude gebracht, und ich zählte die Stunden, die mich von der Stelle meiner, wenn ich nicht ginge, sich sicherlich immer aussichtsloser gestaltenden Kämpfe hinwegführen sollten.
Am 30. Dezember war mein Geburtstag. Ich erhielt diesmal nicht bloß viele, sondern für unsere kleinen Verhältnisse sogar sehr wertvolle Geschenke: Schellers Lexikon, Stielers Atlas, Beckers Weltgeschichte, sämtlich noch jetzt in meinem Besitz und sehr von mir gehegt. Mein Dank war groß und aufrichtig; aber das beste war doch, daß mich die diese Geschenke begleitenden Ansprachen auf meinen Abgang von Hause verwiesen. »Das alles erhältst du wie eine Aussteuer, weil du fort mußt«, so etwa hieß es, und statt traurig über diese Veranlassung zu sein, war ich froh darüber.
Tags darauf war Silvester und Ressourcenball, und ich schwelgte während desselben in der Vorstellung, über kurz oder lang auch vielleicht mit schönen großen Damen tanzen zu können. Ich lebte so ganz in dieser Zukunftsvorstellung, daß selbst der um Mitternacht eintretende, mich sonst immer erheiternde Nachtwächter mit seinem Horn und seinem abgesungenen Vers keinen rechten Eindruck mehr auf mich zu machen imstande war. Und einen noch geringeren Eindruck machten die Wochen auf mich, die von Neujahr an folgten. Ich erinnere mich erst wieder der Tage kurz vor meiner Abreise, wo meine Habseligkeiten gepackt und überhaupt alle Vorbereitungen für meinen Abgang zur Schule getroffen wurden.
Es hätte dies trotz meiner durchaus auf ein »Hinaus« gerichteten Sehnsucht eine herzbewegliche Zeit sein können, aber sie war so ziemlich das Gegenteil davon, und wie mir das ganze zurückliegende Jahr mit wenigen Ausnahmetagen immer nur Fatalitäten, Kränkungen und Niederlagen gebracht hatte, so schloß es auch mit lauter Disharmonien und Ärgernissen ab. Ich war freilich an allem persönlich schuld, aber etwas von Schicksals Tücke spielte doch auch mit hinein.
»Du wirst nun also Abschiedsbesuche bei dem und dem machen«, sagte mein Vater und übergab mir einen Zettel, darauf die betreffenden Namen standen; der letzte Name war der eines Fräuleins von Hochwächter, welche Dame mit ihrer alten Mutter im Steuerrat Königkschen Hause wohnte. Das Fräulein war eine sehr schöne Dame, Ende dreißig, ganz Brunhilde mit Rembrandthut und Straußenfeder und selbstverständlich auch vorzügliche Reiterin. Ich hatte sie ein paarmal gesehen, aber nie gesprochen. Da sollt ich nun Abschied nehmen. Es war mir sehr zuwider, und kurz und gut, ich unterließ es und sagte nur zu Hause, ich sei dagewesen. Alles in dem Vertrauen, daß es wohl erst herauskommen würde, wenn ich fort wäre. Kam es dann zur Sprache, so hatte das nicht viel mehr zu bedeuten. Es kam jedoch eher heraus, und so hatte ich das Vergnügen, zu guter Letzt noch als Lügner entlarvt zu werden. Ich schämte mich. Aber freilich wohl nicht genug.
Des Schicksals Tücke hatte mir bei dieser Gelegenheit übel genug mitgespielt, ohne sich jedoch dadurch erschöpft zu fühlen. Das Schlimmste kam vielmehr nach und fiel auf den Tag unmittelbar vor der Abreise. Meine Mutter, in unbegreiflicher Verkennung des sonst so gut von ihr gekannten Charakters meines Vaters, hatte diesen beauftragt, mir zum Abschiede noch eine Standrede zu halten und mich zur Sittlichkeit zu ermahnen. An und für sich war dagegen nichts einzuwenden, und wenn meine Mutter selber die Standrede gehalten hätte, so hätte diese, wenn auch vielleicht nicht viel geholfen, so doch im Augenblicke wenigstens mächtig auf mich gewirkt. Ich hätte ihr die Hände geküßt und unter Tränen ein Festhalten an dem von mir geforderten Gelübde versprochen. Aber statt ihrer trat nun mein Vater an. Er war ein sehr stattlicher und mit seinem schönen Blaubart eigentlich wundervoll aussehender Mann, der typische französische Kürassieroffizier. All das hätte nun auf einen zwölfjährigen Jungen, der sich noch dazu sagen mußte: »Das ist dein Vater«, imponierend wirken müssen. Aber dies war nicht der Fall oder doch nur sehr zur Hälfte. Mein Vater, wie oft große, von besonderer Bonhomie getragene Männer, hatte einen unvertilgbar humoristischen Zug in seinem Gesicht, ein eigentümliches Etwas, das sich gerade dann, wenn er am ernsthaftesten sein wollte, über diesen Ernst zu mokieren schien, wodurch sich das Respekteinflößende der Erscheinung wieder in Frage gestellt sah. Dieser humoristische Zug, sonst seine größte Zierde, wurde mir an diesem Abschiedstage verhängnisvoll, denn mit einem Male, während ich noch so vor ihm stand und die Sittlichkeitsermahnungen gesenkten Auges und eigentlich ohne jedes rechte Verständnis mit anhörte, grinste mich ein mir in meiner kleinen Seele sitzender Kobold, der vorhatte, mich à tout prix zum Lachen zu bringen, teuflisch an. Und es gelang ihm auch. Denn mit einem Male barst es krampfhaft aus mir heraus, nicht viel mehr als ein konvulsivisches Zucken, aber doch immerhin von einem leisen Lacheton begleitet.
»Junge, ich will doch nicht glauben, du lachst ...«
»Nein, gewiß nicht, lieber Papa ...«
»Nun, darum möcht ich doch auch gebeten haben.«
Und nun nahm er seine Rede wieder auf, um sie – weil ihm selber wohl auch unheimlich zumute war – so rasch wie möglich zum Schluß zu bringen. Ein wahres Glück. Denn wiewohl ich, mit höchster Anstrengung gegen mich ankämpfend, vor Angst und Erregung zitterte, so wär ich doch zum zweiten Male zum Opfer gefallen, wenn die Rede auch nur noch eine halbe Minute länger gedauert hätte.
»Nun geh, und vergiß diese Stunde nicht.«
Und ich habe sie auch nicht vergessen. Aber nur das Schreckliche der Szene ist mir geblieben, nicht der Inhalt seiner Rede.
Am andern Tage brachen wir auf, meine Mutter und ich. Es war beschlossen, mich auf das Ruppiner Gymnasium zu bringen; dort hatten wir noch Anhang und gute Freunde, die mich, wie vor allem das Predigerhaus, in das ich in Pension kam, in Obhut nehmen sollten.
Eigentlich wäre nun wohl die Reise nicht Sache meiner Mutter, sondern Sache meines Vaters gewesen, und das dreitägige Kutschieren, mit Nachtquartieren in Anklam und Neubrandenburg, in welch letzterem man immer wundervoll zu Abend aß, würde ihm auch sehr gefallen haben; er wog aber ab zwischen angenehm und unangenehm und kam zu dem Resultat, daß das Unangenehme meiner Ablieferung in ein Prediger-, ja genauer genommen sogar in ein Superintendentenhaus, begleitet von Einführung meiner Person bei dem Direktor des Gymnasiums, doch schwerer ins Gewicht falle als das Angenehme des Soupers in Neubrandenburg.
Und so fuhr ich denn mit meiner Mutter – die in diesen Tagen, ganz gegen ihre Gewohnheit, ungemein weich und nachsichtig gegen mich war – in die Welt hinein. Ein neuer Lebensabschnitt, der zweite, begann für mich, und eh ich auch über ihn, wenn überhaupt, berichte, werf ich noch einen Blick auf das Stück Leben zurück, das mit dem Abreisetag für mich abschloß.
Es war, trotz des letzten Halbjahrs mit seinen vielen kleinen Ärgernissen, eine glückliche Zeit gewesen; später – den Spätabend meines Lebens ausgenommen – hatt ich immer nur vereinzelte glückliche Stunden. Damals aber, als ich in Haus und Hof umherspielte und draußen meine Schlachten schlug, damals war ich unschuldigen Herzens und geweckten Geistes gewesen, voll Anlauf und Aufschwung, ein richtiger Junge, guter Leute Kind. Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach, in allen möglichen Gestalten, oft auch durch eigene Schuld.
Am dritten Tage unserer Fahrt trafen wir in Ruppin ein und nahmen, eh ich in der Pension untergebracht wurde, in einem Hause Quartier, das unserer früheren Apotheke gegenüber lag. »Da bist du geboren«, sagte meine Mutter und wies hinüber nach dem hübschen Hause mit dem Löwen über der Eingangstür. Und dabei traten ihr Tränen ins Auge. Sie mochte denken, daß alles anders hätte verlaufen müssen, wenn »das und das« anders gewesen wäre. Und dies »das und das« war – er. Sie war nicht gern von dieser Stelle weggegangen und ist als eine Frau von über funfzig, äußerlich getrennt von ihrem Manne, dahin zurückgekehrt, um dort, wo sie jung und eine kurze Zeit lang auch glücklich gewesen war, zu sterben.
Der Tag nach unserer Ankunft war ein heller Sonnentag, mehr März als April. Wir gingen im Laufe des Vormittags nach dem großen Gymnasialgebäude, das die Inschrift trägt: Civibus aevi futuri. Ein solcher civis sollte ich nun auch werden, und vor dem Gymnasium angekommen, stiegen wir die etwas ausgelaufene Treppe hinauf, die zum »alten Thormeyer« führte. Er war vordem Direktor in Stendal gewesen und hatte das Direktorat dort aufgeben müssen, weil er sich an einem Lehrer »vergriffen« hatte. Glücklicherweise wußt ich damals noch nichts davon, ich hätte mich sonst halbtot geängstigt. Oben angekommen, trat uns ein mindestens sechs Fuß hoher alter Herr entgegen, gedunsen und rot bis in die Stirn hinauf, die Augen blau unterlaufen, das Bild eines Apoplektikus – er hätte auf der Stelle vom Schlag gerührt werden können.
»Nun, mi fili, laß uns sehn ... Ich bitte, daß Sie Platz nehmen, meine verehrte Frau.« Und dabei nahm er einen schmuddligen kleinen Band von seinem mit Tabaksresten überschütteten Arbeitstisch und sagte: »Nun lies dies und übersetze.« Es waren zehn Zeilen mit einem Rotstift links angestrichen, höchstwahrscheinlich die leichteste Stelle im ganzen Buch. Ich tat ganz, wie er geheißen, und es ging auch wie Wasser. »Sehr brav ... er ist reif für die Quarta.« Damit waren wir entlassen, und am nächsten Montag, wo die Schule wieder anfing, setzte ich mich auf die Quartabank.
Was ich dahin mitbrachte, war etwa das Folgende: Lesen, Schreiben, Rechnen; biblische Geschichte, römische und deutsche Kaiser; Entdeckung von Amerika, Cortez, Pizarro; Napoleon und seine Marschälle; die Schlacht bei Navarino, Bombardement von Algier, Grochow und Ostrolenka; Pfeffels Tabakspfeife, »Nachts um die zwölfte Stunde«, Holteis Mantellied und beinah sämtliche Schillersche Balladen. Das war, einschließlich einiger lateinischer Brocken, so ziemlich alles, und im Grunde bin ich nicht recht darüber hinausgekommen. Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte Wort vom »Stückwerk« traf auf Lebenszeit buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu.
Fußnoten
1 Nur auf kurze Zeit, denn noch im selben Jahre ging die Verlobung Louise Rogées zurück, weil diese mittlerweile Karl von Holtei kennengelernt hatte, dessen Gattin sie wurde. Mit ihrem ersten Verlobten, der sich neben der eminenten Holteischen Liebenswürdigkeit nicht zu behaupten wußte, würde sie wahrscheinlich glücklichere oder doch minder unglückliche Tage verlebt haben, aber das war damals nicht vorauszusehen und würde, wenn doch, mutmaßlich unbeachtet geblieben sein.
2 Durch einen Nebensächlichkeitsbeweis die Hauptsache beweisen zu wollen, dafür mag aus meinen Erlebnissen hier noch folgendes als ein glänzendes Beispiel dienen. Ein Freund von mir besaß eine etwa anderthalb Fuß hohe Terrakottastatuette, hübsche Arbeit, die einige für das von Michelangelo persönlich herrührende Modell zum »Moses« hielten, während dies von andern bestritten wurde. Nun befand sich an einer Stelle der Figur ein scharf in die Terrakottamasse abgedruckter Finger, derart scharf, daß die kleinen Rinnen und Rillen der Haut ganz deutlich erkennbar waren. Als es nun die Echtheit zu beweisen galt, sagte mein Freund: »Es kann kein Zweifel sein; Sie sehen hier ganz deutlich den Finger.« Das war auch richtig; man sah den Finger, man sah nur nicht, daß es der Michelangelosche Finger war. Trotzdem hab ich es, zunächst an mir selbst, dann aber auch an andern erlebt, daß dieser Beweis momentan für voll angesehn wurde. Ja, der Besitzer selber war, als er das erste Mal auf den Fingerabdruck hinwies, durchaus bona fide dabei verfahren und setzte erst später diese Art von Beweisführung als Spiel und Jokosum fort.
3 Ein solches Hinüberrollen schwerer Geschütze von der einen Seite des Schiffs auf die andere hat sich im Kriege zu Zwecken der Verteidigung öfters zugetragen; einmal aber kam es auch mitten im Frieden vor und führte, weil unvorhergesehen, eine schreckliche Katastrophe herauf. Das war in den siebziger oder achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Um diese Zeit lag der »Royal George« auf der Reede von Portsmouth, und der Admiral veranstaltete an Bord dieses seines Flaggschiffes einen Ball, zu dem, außer der vornehmen Welt von Portsmouth, auch die jungen Offiziere der Kanalflotte geladen waren. Alles war Glanz und Glück. Aber mit einem Male, während man, so wenigstens wird angenommen, eben zu einem neuen Tanze antrat, senkte sich das Schiff, wenn auch zunächst nur langsam, nach links hinüber, und ehe man das volle Gefühl der Gefahr noch haben konnte, schlug es um und versank lautlos. Die Kanonen der rechten Seite, die man versäumt hatte festzulegen, waren, als eine Brise von derselben Seite her heranwehte, durch ein Sich-schräg-Legen des Schiffs nach links hinübergerollt und hatten das Unglück herbeigeführt. – Ein halbes Jahrhundert und mehr hatte den Vorfall in Vergessenheit geraten lassen, als die mittlerweile seitens der Taucherkunst gemachten Fortschritte zu dem Versuche führten, das Schiff wieder zu heben oder wenigstens den Wertinhalt desselben wieder ans Licht zu schaffen. Ich lebte gerade damals, 1858, in England und verfolgte diese Versuche mit dem höchsten Interesse. Die Taucher waren selbstverständlich die Helden des Tages. Ihr beständiges Sichbewegenmüssen unter den geputzten Balldamen in der Salonkajüte hatte manches, was auf die Nerven fiel, aber eine ganz bestimmte Szene, die vorkam, war doch noch von etwas besonders Schreckhaftem begleitet. Es galt, als man mit dem Leichteren fertig war, zuletzt noch die Hinaufschaffung der Geschütze, die denn auch dadurch bewerkstelligt wurde, daß die Taucher eine von oben her herabgelassene Eisenkette um die Rohre legten und dann das Zeichen zum Aufziehen gaben. Einem der Taucher war dies schon etliche Male geglückt, als er aber damit fortfuhr und sich eben wieder mit dem Umlegen der Kette beschäftigte, sah er, daß ein ungeheurer Seefrosch, der sich in dem mächtigen Geschützrohr einquartiert hatte, seinen Kopf neugierig vorstreckend, ihn mit seinen Riesenfroschaugen ziemlich mißmutig ansah. Er erschrak heftig, aber voll Geistesgegenwart den Kanonenwischer packend, der noch auf der Lafette lag, stieß er den Neugierigen in seine Wohnung zurück, ließ den Wischer wie einen Verschlußpfropfen drin stecken und gab, während er sich rittlings auf die Kanone schwang, das Signal, auf das hin nun die Hebemaschine sowohl ihn wie das Geschütz selbst und den gefangenen Seefrosch nach oben zog.
4 In eigentlichen Künstlerfamilien ist ein forterbendes Sichbetätigen auf ihrem eigensten, also künstlerischen Gebiet eine Durchschnittserscheinung; die Keans, die Kembles, die Devrients weisen Schauspieler und immer wieder Schauspieler auf, die Vernets immer wieder Maler. Die Scherenbergs aber, und darin liegt die Besonderheit ihres Falles, waren zunächst immer wieder Kaufleute; sie wurden nicht durch Verhältnisse, die sie bei ihrer Geburt schon vorfanden, in die Kunst eingeführt, sondern hatten sich den Eintritt in dieselbe meist erst durch Überwindung aller möglichen Schwierigkeiten zu erobern.
5 Ich habe in Vorstehendem den Grund für meine geteilten Sympathien in einem gewissen Ordnungssinne gesucht, in einem an die Zahl bzw. die Machtüberlegenheit zu stellenden natürlichen Anspruch. Und es liegt in der Tat so. Wenn sich zwei Jungen auf der Straße schlagen und der ganz Kleine siegt über den ganz Großen, so freuen wir uns über den Kleinen, ärgern uns aber über den Großen dermaßen, daß die dem Kleinen zugute kommende Freude sehr erheblich beeinträchtigt wird. Also noch einmal, wir ziehen aus dem Machtverhältnis ganz bestimmte Konsequenzen. Aber vielleicht spielt in dieser Frage auch noch ein anderes, aufs Moralische hin angesehn, ganz gleichgültiges Moment mit, dessen trotzdem hier gedacht werden muß: die Macht der rein äußerlichen Erscheinung. Friedrich Wilhelm III., als es sich um den Einzug in Paris handelte, wollte von der Heranziehung des Yorkschen Korps, das doch die Hauptsache getan hatte, zu diesem Einzugszwecke nichts wissen, weil die Hosen der Landwehrleute zu sehr zerrissen waren. Manche hatten gar keine Hosen mehr und deckten ihre Blöße nur noch mit ihrem Mantel. Der König ist oft dafür getadelt worden, ich meinerseits aber habe mich immer auf seine Seite gestellt. Das Ästhetische hat eben auch sein Recht, mitunter sogar ein weit- und tiefgehendes, trotzdem ich nicht verkenne, daß dabei schließlich ein Dorfspitz herauskommen kann, der wohlgekleidete Lumpen passieren läßt und ehrliche Leute, die gerad um ihrer Tugenden willen in Lumpen gehn, anbellt. Bedarf das der Abstellung, muß das aus unserer Seele heraus, so müssen wir nach ganz anderen, von der Erscheinung absehenden Prinzipien erzogen werden und es lernen, unter allen Umständen immer nur das Eigentliche, den Kern der Sache zu befragen. Davon sind wir aber vorläufig noch weit ab.
6 Wilhelm Krause, dem zuliebe der Hauslehrer überhaupt gehalten wurde, war ein bildhübscher Junge, aber sehr zart und von jenen roten Backen (»wie gemalt«), die kein langes Leben prophezeien. Und so kam es auch. Mit kaum zwanzig Jahren schickte man ihn nach Malaga, von dessen Klima man sich Gutes für seine Gesundheit versprach. Er war sehr musikalisch und nahm an Bord des Schiffes, auf dem er die Reise machte, seinen schönen Kinstingschen Flügel mit. Dieser Flügel nun war bei Ankunft in Malaga wegen zu enger Türen und Treppen nicht gleich unterzubringen und stand eine Stunde lang oder länger auf der Straße, was viel Volk herbeilockte. Jedem sollt er sagen, was es mit dem Kasten eigentlich sei, worauf er die prompteste Antwort gab, indem er den Flügel aufschlug und darauf spielte. Das Volk war entzückt, so daß sich sagen läßt, dieser glückliche Zufall habe ihn von Anfang an zu einer populären Figur gemacht. Er erholte sich anscheinend auch gesundheitlich, nahm an allem teil und schrieb reizende Briefe, die Willibald Alexis, ein Freund des Krauseschen Hauses, herausgegeben hat. Aber sein Leiden war schon zu weit vorgeschritten, und so starb er denn bereits im Sommer 1842. Als der Begräbnistag da war, war gerade Prinz Adalbert auf seiner Brasilienfahrt im Hafen von Malaga gelandet und nahm, in freundlicher Erinnerung an die im Krauseschen Hause verlebten Tage, Veranlassung, sich mit seinen Offizieren an der Trauerfeierlichkeit zu beteiligen.