Elftes Kapitel

 

Hugo wußte nicht recht, ob er froh oder verstimmt sein sollte. So schwach war er nicht, um nicht einzusehn, daß Thilde mit ihm machte, was sie lustig war, und so uneinsichtig war er nicht, daß er das sehr Unheldische seiner Situation nicht herausgefühlt hätte. Ja, das hätte nicht sein sollen. Aber das waren nur kurze Anwandlungen, eigentlich war er froh, daß jemand da war, der ihn nach links oder rechts dirigierte, wie's grade paßte. Daß es gut gemeint war und daß er dabei vorwärtskam, empfand er jeden Augenblick, und was ihm über gelegentliche Mißstimmungen am besten forthalf, war die Beobachtung der Methode, nach der Thilde mit ihm verfuhr. In seinem ästhetischen Sinn, der sich an Finessen erfreuen konnte, sah er mit einem gewissen künstlerischen Behagen auf die Methode, nach der Thilde verfuhr, und freute sich der Erleichterungen, die das pädagogische Verfahren ihm unmittelbar gewährte. Es stand nämlich für Thilde fest, daß sie sich hüten müsse, seiner Tragekraft mehr zuzumuten, als diese doch nur schwache Kraft beim besten Willen leisten konnte, weshalb sie mit Klugheit und Geschick für Unterbrechungen Sorge trug oder, wie sie sich scherzhaft ausdrückte, für »Entrefilets«, ein Wort, das sie sich aus Hugos etwas feuilletonistischem Sprachschatz angeeignet hatte. Wenn das Examinieren, das sie nach Möglichkeit in ein quickes Frage-und-Antwort-Spiel verwandelte, bedrücklich zu werden anfing und sich in Hugo[s] Zügen etwas von Ermüdung zeigte, so brachte sie ein Glas Tee oder Rotwein oder eine Ingwertüte, und während sie ihm daraus präsentierte und auch wohl selber ein Stückchen nahm und von den Molucken sprach, wo der Ingwer am besten eingemacht würde und wo sie von China her (oder vielleicht würden sie auch nachgemacht) auch die großen blaugeblümten Porzellankrüge hätten, glitt sie zu Tagesfragen über und las ihm von Christenverfolgungen in China vor oder von den Franzosen in Annam und Tonkin oder von dem Kriege, den die Holländer mit den Eingebornen führen müßten. Die Japaner seien den Chinesen doch weit voraus, und ein Volk, das solche Naturbeobachtung habe und solche Blumen und solche Vögel machen könne, das repräsentiere doch eine allerhöchste Kultur, was man jedem Teebrett absehen könne. Dabei wolle sie noch nicht einmal von dem Lack sprechen, der doch auch unerreicht dastehe. Dabei war Thilde groß in Übergängen, und wenn sie so mit Hülfe der Ingwertüte bei den Molucken und Japan und China begonnen hatte, war es ihr ein leichtes, sich bis zu Kroll und der Sembrich und sogar bis zu Rybinski zurückzufinden, und wenn sie dann noch was Pikantes, das sie eigens für Hugo sammelte, zum besten gegeben und ihn erfrischt hatte, sagte sie: »Nun aber, bricht Verkauf Miete oder nicht?«

Und Hugo ging dann mit wiedergewonnener Kraft ins Feuer und antwortete mitunter so gut, daß Thilde ihre helle Freude hatte.

 

Die alte Möhring war immer dabei, schon weil sie nicht wußte, wo sie hinsollte. So kam Ende Januar heran, und als eines Abends um die zehnte Stunde Hugo das Zimmer verlassen und Thilde die Gläser und Tassen beiseite geräumt hatte, sagte die Alte, während sie sich auf eine Fußbank und mit dem Rücken an den Ofen setzte: »Sage mal, Thilde, lernt er denn gut?«

Thilde: »O ganz gut, Mutter, eigentlich besser, als ich dachte.«

Die Alte: »Ja, ja, es kommt mir auch so vor, und er is auch ein bißchen viviger, als er eigentlich is. Aber du kommst immer mit soviel dazwischen.«

»Wie denn?«

»Mit soviel von Theater und Bella. Mir is, was so zwischenkommt, immer das liebste, und wenn gar nichts zwischenkäme, so ging' ich zu Bett. Aber es is doch woll nich richtig, daß immer soviel zwischenkommt.«

Thilde lachte. »Nein, Mutter, es ist ganz richtig so. Sieh mal, es ist so. Wenn ich heute noch nach Spandau gehen soll, na, dann zieh ich mir meinen Gummimantel über und nehme den Regenschirm und staple los; und in Charlottenburg lehne ich mich mal an und sehe nach 's Schloß rüber und was die Uhr ist, und um zwölf bin ich in Spandau, und um vier bin ich wieder hier und bringe dir deinen Kaffee.«

»Ja, Thilde, das glaub ich schon. Aber was meinst du nu eigentlich?«

»Und nu nimm mal [an], daß du gehen sollst, auch nach Spandau. Na, bis vors Brandenburger Tor kommst du mit einem Zug, und dann setzt du dich auf die erste Bank, gleich da, wo die kleinen Springbrunnen sind. Und wenn du dich ausgeruht hast, dann geht es weiter, [dann] kommst du bis an den Kleinen Stern und dann bis an den Großen Stern und dann bis an die Chausseehäuser. Und überall ist 'ne Bank und kannst dich ausruhn, und so kommst du nach Spandau. Sagen wir gegen Abend. Aber du kommst doch an. Und ohne Ruhebank wärst du liegengeblieben und gar nicht angekommen.«

»Ja so, nu versteh ich. Ohne die Banke kommt er nich an. Na, wenn er bloß ankommt.«

Thilde: »Er wird schon.«

 

Und richtig, es kam. Hugo bestand. Er hatte zwar nur das Notdürftige gewußt, es trotzdem aber erzwungen. Dasitzend wie Hus auf dem Konzil zu Kostnitz, ernst, schwärmerisch und bescheiden, halb tapfer und halb angstvoll, war es diese Haltung gewesen, die schließlich alles zum Guten geführt hatte. Seine Persönlichkeit hatte gesiegt. Einer der Herren Examinatoren nahm ihn beiseite und sagte: »Lieber Großmann, es war alles gut, ich gratuliere Ihnen.«

In einem merkwürdigen Seelenzustande, gehoben und doch auch gedrückt (gedrückt, weil er an die Zukunft dachte), kam er nach Haus und sah sich dieser Stimmung erst entrissen, als er hier Mutter und Tochter begegnete. Thilde, deren Auge leuchtete, blieb verhältnismäßig ruhig, der Gefahr aber, von der Alten geküßt zu werden, entging er nur mit genauer Not im letzten Augenblicke durch Rückzug in sein Zimmer. Mutter Möhring war das nicht recht, und weil sie wie die meisten alten Berlinerinnen das Bedürfnis der Aussprache hatte, mußte nun Thilde alles mit anhören, was der Alten auf der Seele brannte. »Gott sei Dank, Thilde, nu kann man doch wieder ruhig schlafen und weiß auch, was aus einem wird. Denn gut is er doch eigentlich und wird eine alte Frau nich umkommen lassen.«

 

Hugo schrieb Briefe nach Haus und auch ein paar Zeilen an Rybinski, um ihn wissen zu lassen, daß alles gut abgelaufen.

Als er gegen sieben wieder hinüberging, fand er ein kleines Souper vor, das Thilde samt einer Flasche Rüdesheimer, mit einer aufgeklebten Rheingaulandschaft als Beweis ihrer Echtheit, aus einem benachbarten großen Restaurant herbeigeschafft hatte. Das Aufmerksame, das darin lag, und beinah mehr noch der gute Geschmack, mit dem alles arrangiert worden war, blieben nicht ohne Wirkung auf Hugo, der sich plötzlich von dem Gefühl ergriffen sah, doch vielleicht in seinem dunklen Drange das Rechte getroffen zu haben; gewiß, es waren einfache Menschen, etwas unter Stand, doch gut und ordentlich und zuverlässig, und alles andre war ja nur Schein, Plattiertheit, und er reichte über den Tisch hin Thilden die Hand, wie wenn er sagen wollte: »Wir verstehen uns.« Dann ließ er sich's schmecken, und als er den sich wiederholenden Widerstand der alten Möhring, die jedesmal die Hand über das Glas hielt, endlich siegreich aus dem Felde geschlagen und auch ihr von dem goldgelben Wein eingeschenkt hatte, verstieg er sich bis zu einem launigen Toast, darin er die gute Möhring mit dem guten Examinator geschickt verglich und verband und beide leben ließ. Nach Tisch brachte Thilde den Kaffee, der zu Ehren des Tages von einer Extrastärke war. »Höre, Thilde, der geht aber ins Blut; ich kriege dann immer solch Jucken.«

»Ach, laß nur, Mutter, wenn er nur schmeckt.«

»Ja, schmecken tut er, und stark is er, oder wie Möhring immer sagte: ›Mutter, da is keine Bohne vorbeigesprungen.‹ Jott, wenn ich so an Vatern denke; was würde der woll gesagt haben.« Und nun mußte sich Hugo in einen Großvaterstuhl setzen und genau berichten, wie's eigentlich gewesen wäre, ja, Thilde fragte sogar, ob er auch nicht zu sicher geantwortet hätte, sie habe mal gehört, das könnten die Herren nicht leiden. Hugo beruhigte sie hierüber, und als alles erzählt und im Vorbeigehn auch erwähnt war, daß er gleich an seine Mutter und Schwester nach Owinsk hin geschrieben habe, kam er überhaupt auf Owinsk und seine Jugend und sein elterliches Haus zu sprechen und welch forsches Leben sie da geführt hätten. Burgemeister und Apotheker und Rechtsanwälte, die lebten immer am forschesten, weil sie das meiste Geld hätten, und eigentlich sei solch kleinstädtisches Leben viel vergnüglicher als ein Leben in der großen Stadt, denn immer sei was los, und wenn sie nicht Skat spielten, so spielten sie Theater, und wenn nicht Ball wäre, so wäre Schlittenbahn, und dann bimmelte das Schellengeläut den ganzen Nachmittag, und die Schneedecken flögen, und die hübschen Frauen, denn in den kleinen Städten gäbe es immer hübsche Frauen, hätten die Hand im Muff und, wenn es sehr kalt wäre, auch die Hand von ihrem Partner dazu.

»Jott«, sagte die alte Möhring, »was heißt Partner? wo sind denn die richtigen Männer, die dazu gehören?«

»Die sind in einem andern Schlitten.«

Hugo plauderte noch so weiter, und es gelang ihm, auch Thilden ein kleines Lächeln abzugewinnen. Die Moralia von Owinsk waren ihr um so weniger ängstlich, als sie sich überzeugt hielt, daß ihres Bräutigams Hand nie in solchem Muff gesteckt hatte. Hugo malte nur gern so was aus, weil er es hübsch fand, aber es lag nicht in ihm, solche Bilder in Taten umzusetzen. All das wußte Thilde recht gut, die denn auch, statt sich mit Eifersucht zu quälen, aus Hugos Schilderungen des Owinsker Lebens nur das heraushörte, was sie für ihre eignen Pläne brauchen konnte. Was immer in ihr festgestanden hatte, daß Hugo in eine kleine Stadt und nicht in eine große gehöre, das stand ihr jetzt fester denn je.

Hugo selbst zog sich früh zurück, es konnte kaum neun sein, denn wenn auch siegreich, es war doch ein heißer Tag gewesen. Aber er mochte noch nicht schlafen und ging auf und ab in seinem Zimmer. Alles in allem war ihm nicht sehr siegerhaft zumut. Er war nun Referendar, alles ganz gut, aber nun blieb noch der Assessor, und wenn er daran dachte, daß diese zweite Weghälfte notorisch viel, viel steiniger sei, so überkam ihn dasselbe Angstgefühl wieder, das er schon auf dem Heimwege von der Examinationsstätte bis zur Georgenstraße gehabt hatte. Mit Thilde war nicht zu spaßen; und er rechnete mit halber Gewißheit darauf, daß Thilde vielleicht morgen schon das am Neujahrstage mit ihm geführte Gespräch wiederholen und ihm zum zweiten Mal die Epistel lesen würde, vielleicht unter Wiederbewilligung einer Ferienwoche. Dann nahm das Repetieren bei Tag und das Frag-und-Antwort-Spiel bei Abend wieder seinen Anfang, und er erschrak davor und zweifelte, daß er's überwinden werde. Vielleicht wär es besser gewesen, er wäre durchgefallen, dann war die ganze Quälerei vorbei. Verlobt war er freilich, aber doch erst ein Vierteljahr, das wollte nicht viel sagen, und am Ende – mußt es denn grade die Juristerei sein, die so gar nicht zu ihm paßte, weil alles so steif und hölzern war. Rybinski lebte doch auch. Und wenn er auf der Posener Bahn fuhr (dessen entsann er sich jetzt mit Vorliebe) und an den kleinen Stationen vorüberkam, wo das Bahnhofsgebäude halb in wildem Wein lag und der Bahnhofsinspektor in seiner roten Mütze den Zug abschritt, während eine junge Frau mit einem Blondkopf neben sich halb neugierig und halb gelangweilt aus dem Fenster der kleinen Beletage sah, Gott, da war ihm schon manch liebes Mal der Gedanke gekommen: ja, warum nicht Bahnhofsinspektor? Und dieser Gedanke kam ihm wieder. Und wenn nicht Bahnhofsinspektor, warum nicht Schuppeninspizient oder Telegraphist; das bißchen Tippen muß sich doch am Ende lernen lassen, und mitunter kommt auch mal ein interessantes Telegramm, und man gewinnt Einsicht in allerlei.

Diesen Betrachtungen hingegeben, wurd er ruhiger und schlief ein. Aber am andern Morgen war die alte Sorge wieder da, und er war verlegen, als ihm Thilde seinen Kaffee, den er noch immer allein nahm, in sein Zimmer brachte.

»Guten Morgen, Hugo. Sieh, wie prächtig die Sonne scheint, das ist dir zu Ehren. Und es ist auch warm draußen, du solltest spazierengehn und dich nach all den Strapazen erholen. Denn wenn einer auch noch so tapfer ist« (und sie lächelte dabei), »vor einem Examen hat doch jeder Furcht. Gehen macht wieder frisch, und bring uns ein paar Neuigkeiten mit. Ich glaube, deine ›Tochter der Luft‹ ist nicht mehr da, sonst ließe sich darüber reden, und wir könnten heut abend vielleicht hingehn. Heute vormittag muß ich in die Stadt. Soll ich dir etwas mitbringen? Oder hast du auf was Appetit? Mein lieber alter Mensch, du bist doch recht blaß geworden.« Und dabei gab sie ihm einen Kuß mit ihren schmalen Lippen und ging dann und nickte ihm von der Tür her noch mal freundlich zu.

»Merkwürdiges Mädchen«, sagte Hugo, »so gut und so tüchtig; aber Küssen is nicht ihre Force. Nu, man kann nicht alles verlangen, und jedenfalls bin ich froh, daß sie nich gleich wieder davon angefangen hat. Es wird wohl nur eine Galgenfrist sein. Aber wieviel Tage hat denn das Leben? Und ein Tag ist schon immer was.«

 

Hugos Befürchtungen schienen sich nicht erfüllen zu sollen. Das Examen war Ende März gewesen, und schon war Mitte April, ohne daß Thilde von Assessor-Examen und Vorbereitung dazu gesprochen hätte. Sie ließ es gehn, war voll kleiner Aufmerksamkeiten, unter denen Stückevorlesen aus klein gedruckten Reclamschen Zwei-Groschen-Ausgaben obenan stand, und hatte sich nur darin geändert, daß sie minder häuslich schien als früher und jeden Vormittag ein paar Stunden in der Stadt war. Hugo selbst kümmerte sich nicht darum und auch kaum die Alte, bis diese eines Tages fragte »Thilde, du bist jetzt immer gerade weg, wenn die Runtschen kommt und reine macht. Ich will nichts sagen, aber sie rennt immer gegen, weil sie nich sehen kann, und schlägt alles entzwei, heute wieder die grüne Lampenglocke.«

»Ja, das is schlimm, Mutter.«

»Wo gehst du denn eigentlich immer hin, Thilde?«

»Lesehalle für Frauen.«

»Und da?«

»Da les ich Zeitungen.«

»Aber Hugo kriegt ja doch jeden Tag eine.«

»Freilich. Aber eine is nicht genug; ich brauche viele.«

»Na, wenn du meinst; für mich wär es nichts.«

Und dabei blieb es. Die Alte kam nicht wieder darauf zurück, bis eine Woche später diese halb geheimnisvolle Zeitungsleserei, auch ohne weitre Frage, ihre Erklärung fand.

Es war ein Sonntag, an welchem Tage die Lesehalle nur von elf bis eins auf war, und um eineinhalb war Thilde wieder zu Haus.

»Guten Tag, Mutter. Es riecht ein bißchen nach verbrannt. Du hast wohl nich recht nachgesehn. Na, Hugo merkt es nicht. Und wenn auch, er ißt ja die verbrannten Stellen am liebsten und sagt dann bloß immer: ›Da is nu alles Animalische raus.‹«

»Ja, ja, so was sagt er, und ich hab ihn schon immer danach fragen wollen. Aber dann dacht ich auch wieder, ›lieber nich‹.«

»Und das war auch am besten so. Nicht fragen ist immer besser. Aber bist du denn gar nich in die Küche gekommen?«

»Ja, Thilde, jetzt eben. Und da hab ich es auch gleich gemerkt und hab ein paar Kohlen rausgenommen und hab auch aufgegossen. Und geärgert hab ich mich auch, denn es kost' ja soviel, aber ich konnte nicht eher rausgehn, weil die Schmädicke hier war.«

»Na, die hätt auch wegbleiben können. Die Schmädicke bedeutet nie was Gutes und kommt immer bloß aus Neugier oder aus Boshaftigkeit und um einem armen Menschen einen Floh ins Ohr zu setzen.«

»Ach, Thilde, da tust du ihr aber unrecht, wenigstens heute. Sie kam bloß, um uns zu gratulieren von wegen Hugos Examen, und wann denn nu Hochzeit sei...«

»Und da hast du gesagt, noch lange nich. Nich wahr? Kann ich mir denken. Denn du bist ewig in einer Todesangst und glaubst immer noch, es wird nichts werden und alles ist umsonst gewesen und alles ausgegeben. Das is immer deine Hauptangst. Und wenn du diese Angst kriegst, dann machst du dich klein und jämmerlich und auch vor solcher Person wie diese Schmädicke, diese spitznasige Posamentierswitwe.«

»Nein, Thilde, das hab ich nich gesagt, ich habe nicht gesagt ›noch lange nich‹, ich habe bloß gesagt, ich wüßte es nich, aber du tätst mitunter so, als ob es woll bald losgehen würde.«

»Und da? Was sagte sie da?«

»Nu, da sagte sie: ›Ja, liebe Frau Möhring, manche haben Courage. Referendar is nich viel und eigentlich bloß ein Anfang, aber aller Anfang is schwer, und so kann man sagen, es is immer was, und Minister wird er ja woll nich werden wollen. Oder vielleicht doch. Und Jott, wenn ich mir denn Thilden denke...‹«

»Das sagte sie?«

»Ja, Thilde, so was war es.«

»Unverschämte Person. Und dumm dazu. Diese verflossene Gimpen-Madam. Aber sie wird sich wundern, wenn wir ihr die Hochzeitsanzeige schicken.«

»Ach Thilde, rede doch nich so was. Wenn man so was redt, dann beredt man's, und es wird nie was. Und es hat doch schon soviel gekostet, und ich weiß mitunter gar nich, wo's immer noch herkommt.«

»Ja, Mutter, ich kann hexen.«

»Jott, Kind, nu redst du auch noch so. Wenn man den Deibel ruft, is er da. Und zum Spaß darfst du doch so was nich sagen in einer so ernsthaftigen Sache. Vater sagte auch immer: ›Ja, die Leute glauben, es is ein Vergnügen; aber es is kein Vergnügen, und der Hochzeitstag ist der ernsthafteste Tag, und manche, die sich nich recht trauen, sehen auch schon so aus.‹ Und nu sprichst du von Hexen und tust, als ob alles schon da wäre und als ob es zu Johanni losginge.«

»Geht es auch, Mutter.«

»Jott, Thilde, das fährt mir ja in alle Glieder. Denn du stehst ja so da, wie wenn du's alles schon in der Tasche hättest...«

»Hab ich auch.«

Und dabei holte Thilde einen halben, zweimal zusammengefalteten Konzeptbogen aus der Kleidertasche, schlug ihn auseinander und sagte: »Nu lies mal, Mutter.«

»Ach, wie kann ich denn lesen, und alles mit Bleistift geschrieben, und ohne Brille.«

»Nun, dann höre zu, dann will ich lesen.«

Und Thilde las: »Qualifizierte Personen... verstehst du, Mutter?«

»O ganz gut, lies nur weiter.«

»Qualifizierte Personen, das heißt Personen, die mindestens das erste Staatsexamen bestanden haben und darüber vollgültige Zeugnisse vorlegen können, werden, bei Geneigtheit, hierdurch aufgefordert, sich um die Burgemeisterstelle unsrer Stadt zu bewerben. Gehalt 3000 Mark bei freier Wohnung und einigen andern Emolumenten. Aspiranten werden ersucht, ihre Zeugnisse einzusenden, wenn sie nicht vorziehen, sich den Unterzeichneten gleich persönlich vorzustellen.

Magistrat und Stadtverordnete zu

Woldenstein in Westpreußen.«

 

Die Alte war an die Chaiselongue gegangen und ließ sich darauf nieder, was sie sonst immer vermied, namentlich seit das Wertstück durch Hugos fünfwöchentliche Krankheit etwas gelitten hatte. »Jott, Thilde, is es denn möglich? Du bist doch ein und aus. Von Hexen red ich nich, denn fliegt es wieder weg. Aber hat er denn die Stelle schon? Es gibt ja doch woll so viele. Und wenn er auch ein sehr schöner Mann is und den Augenaufschlag hat, daß man gleich denkt, ›nu liest er die Sonntags-Epistel‹ – ja, ich denke mir, es gibt so viele so. Und manche sind flinker wie er und schnappen's ihm weg...«

»Das laß nur gut sein, Mutter. In Flinkigkeit soll ihm diesmal keiner über sein. Er muß noch heute weg mit 'm Nachtzug. Woldenstein liegt eine Stunde von der Bahn, und ein Omnibus wird doch wohl dasein. Um fünf ist er auf der Station und um sechs in Woldenstein in Westpreußen. Ein Gasthof ›Zum braunen Roß‹ oder irgend so was wird doch wohl dasein, ich denke mir, dem Rathaus grade gegenüber, und da kann er bis zehn noch schlafen. Denn ausschlafen muß er erst, sonst is er nich zu brauchen. Und dann frühstückt er und macht sich fein, und um Schlag zwölf tritt er an und macht seine Verbeugung. Und ich will nicht Thilde heißen, wenn sie nich gleich alle sagen: ›Natürlich, der muß es werden.‹ Und der Neid von der alten Schmädicke hilft auch noch, und den Tag nach Johanni hat sie die Karte.«

 

Zwölftes Kapitel

 

Frau Schmädicke kriegte wirklich die Anzeige, denn alles kam genauso, wie Thilde vorausgesagt hatte, und am Johannistage konnte die Hochzeit in einem ganz kleinen Saale des Englischen Hauses gefeiert werden. Pastor Hartleben, der getraut hatte, ließ sich bewegen, auch dem kleinen Festmahle beizuwohnen, und hielt eine gefühlvoll humoristische Rede, die besser war als die Traurede in der Kirche. Er saß der Braut gegenüber, zwischen Hugos Mutter und Schwester, die von Owinsk herübergekommen waren, mit noch zwei Cousinen, von denen jede mal auf Hugo gerechnet hatte. Da sie beide aber halb polnisch und sehr hübsch waren, so verschlug es nicht viel, und als die Feierlichkeit überwunden war, tranken sie Hugo zu, gaben ihm einen Muhmenkuß, der so laut klang, wie wenn man ein Baumblatt auf der hohlen Hand zerkloppt, und sagten unter liebenswürdiger Drohung gegen die Braut, »alte Liebe rostet nicht«, was alles von Thilde mit großer Seelenruhe hingenommen wurde. Hugos Vergangenheit beunruhigte sie wenig, viel konnte es nicht gewesen sein, und noch weniger beunruhigte sie die Zukunft. Außerdem waren es fünfzehn Meilen von Owinsk bis Woldenstein. Beim Kaffee setzten sich beide neben Pastor Hartleben, der sich von dem katholischen Leben in Owinsk erzählen ließ, schmunzelnd zuhörte, als die katholische Geistlichkeit und zum Schluß auch der evangelische Geistliche durch die Hechelmühle der beiden hübschen Mädchen hindurchmußten, und, als er aufbrach, sich in seinem alten Dogma von der Überlegenheit der Weltkinder neu gestärkt fühlte. Es war niemand da, gegen den er sein Herz ausschütten konnte, als er aber die Treppe hinabstieg und den Portier, den er von vielen Hochzeiten her kannte, freundlich lächelnd gegrüßt hatte, sann er seinem alten Lieblingssatze von der Überlegenheit der Weltkinder nach. »Es ist ein eigen Ding mit der Frömmigkeit: es sind doch nur wenige, die sie vertragen können, und in diesem Nichts-sein- und Nichts-bedeuten-Wollen leichtsinnigen Gottvertrauns steckt eigentlich Besseres als in der Sicherheit und dem Anspruch derer, die sicher sind, für ihren Gott was getan zu haben. Diese Mädchen... wie graziös und eigentlich wie bescheiden, und der entzückende Kerl, der Rybinski...«

Ja, Rybinski war auch dagewesen mit einer neuen Braut, von der er behauptete, »diesmal sei es ernsthaft«.

»Wirklich?« hatte Hugo gefragt.

»Ja! Sie ist Tragödin.«

Die Schmädicke saß neben der alten Möhring und sprach viel von dem Hochzeitsgeschenk, das sie zum Polterabend (der aber ausfiel) geschickt hatte. Es war eine rosafarbne Ampel an drei Ketten. Die Schmädicke war sehr geizig. »Ich hab es mir lange überlegt, was wohl das beste wäre. Da mußt ich dran denken, wie duster es war, als Schmädicke kam. Ich kann wohl sagen, es war ein furchtbarer Augenblick und hatt so was, wie wenn ein Verbrecher schleicht. Und Schmädicke war doch so unbescholten, wie einer nur sein kann. Und seitdem, wenn eine Hochzeit is, schenke ich so was. Zuviel Licht is auch nich gut, aber so gedämpft, da geht es.« Die alte Möhring nickte mit dem Kopf, schwieg aber, denn sie hatte sich über die Ampel geärgert.

 

Noch denselben Abend reiste das junge Paar ab, und zwar gleich nach Woldenstein. Weil sie aber vorhatten, die erste Nacht in Küstrin und die zweite Nacht in Bromberg zuzubringen, so nannten sie diese Fahrt doch ihre Hochzeitsreise, ja, Hugo tat sich etwas darauf zugute.

»Ich finde es nicht in der Ordnung, daß es immer Dresden und die Brühlsche Terrasse sein muß oder gar der Zwinger. In Küstrin wollen wir uns am andern Morgen das Gefängnis des Kronprinzen Friedrich ansehn und die Stelle, wo Katte hingerichtet wurde. Das scheint mir passender als der Zwinger.« Thilde war mit allem einverstanden gewesen. Küstrin war Etappe nach Woldenstein, und daß Woldenstein baldmöglichst erreicht wurde, nur darauf kam es an.

Am 26. mittags waren sie da. Sie bezogen die Wohnung, die schon der vorige Burgemeister innegehabt und die Hugos Mutter und Schwester von Owinsk aus eingerichtet hatten, teils mit einigen alten Sachen aus dem Owinsker Haus, teils mit neu gekauften Möbeln und Stoffen, die sämtlich in Woldenstein gekauft waren. »Es wird wohl teurer sein und nicht viel taugen«, hatte Thilde gesagt, »aber es bringt sich wieder ein. Wir müssen uns lieb Kind machen. Woldenstein ist jetzt die Karte, drauf wir setzen müssen.«

Am 1. Juli wurde Hugo eingeführt und eroberte sich gleich die Herzen durch eine Ansprache, die er hielt. »Er sei ein halber Landsmann und habe, von Jugend an, an der Überzeugung festgehalten, daß die Kraft des preußischen Staates in den östlichen Provinzen liege. Von daher habe die Monarchie den Namen, aus Königsberg stamme das preußische Königtum, und wenn Woldenstein auch vielleicht nicht bestimmt sei, derart in die Geschicke des Landes einzugreifen, so sei auch das Kleinste groß genug, durch Pflichterfüllung und durch Festhalten an den alten preußischen Tugenden vorbildlich zu wirken und dem Lande eine Ehre und Seiner Majestät dem Könige eine Freude zu sein.« An dieser Stelle wurde Beifall laut, denn Woldenstein wählte konservativ. Aber Hugo, der gut sah, hatte doch auch das spöttische Lächeln gesehn, mit dem eine kleine Gruppe diese patriotische Wendung begleitete, weshalb er hinzufügte: »Seiner Majestät eine Freude sein, dem Könige, der ein Hort der Verfassung ist, zu der wir alle stehn mit Leib und Leben.«

 

Der Schluß der Rede hatte so gewirkt, daß die Firma Silberstein und Isenthal ein Ständchen anregte, das auch am selben Abende noch gebracht wurde. Die Konservativen schlossen sich aus, aber nicht aus Demonstration gegen Hugo, sondern nur aus Demonstration gegen die fortschrittliche Firma.

Die nächsten Tage waren etwas unruhig, Hugo hatte Besuche in [der] Stadt und auch in der Umgegend zu machen, namentlich beim Landrat, der persona gratissima war und mit dem er gleich entschlossen war sich gut zu stellen. Es war nicht ganz leicht, da das Ständchen doch höhren Orts Anstoß gegeben hatte. Thilde sagte: »Das tut nichts. Rom ist nicht an einem Tage gebaut: gut Ding will Weile.« Sie richtete zunächst ihre Aufmerksamkeit auf die Einrichtungen des Hauses und vervollständigte die Einrichtung durch allerhand kleine Einkäufe. Den dritten Tag nach ihrer Ankunft trafen auch noch einige Sachen aus Berlin ein, darunter die Ampel. Hugo war nicht abgeneigt, ihr den Ehrenplatz zu geben, der der Schmädicke vorgeschwebt hatte, Thilde sagte aber: »Da sieht sie ja keiner«, und hing sie in den Hausflur, wo sie freilich bei den hellen Sommertagen zunächst noch zu keiner Wirkung kommen konnte.

Das Beste der Wohnung war der hübsche, ziemlich große Garten, der, nach Passierung eines schmalen Hofes mit einem Truthahn und Perlhühnern (alles vom vorigen Burgemeister übernommen), unmittelbar hinter dem Hause lag. Durch die Mitte zogen sich Buchsbaumrabatten, halben Wegs war eine Sonnenuhr, und in den Beeten, die links und rechts liefen, blühten Balsaminen und Rittersporn, überall überwachsen von riesigen Sonnenblumen, für die der Vorbesitzer eine Vorliebe gehabt haben mußte.

Hier war Thilde besonders tätig, trug einen großen weißen Schnurrenhut eigner Erfindung und legte, wenn Hugo vom Rathaus kam, ihren Arm in den seinen und ließ sich, während sie mit ihm auf und ab schritt, von den Sitzungen erzählen.

»Ich bin mitunter in Verlegenheit«, sagte er. »Sie haben ein Vertrauen zu meiner Rechtskunde, und ich soll immer am Schnürchen wissen, was da zu tun sei und was rechtens sei. Natürlich sag ich immer: es läge sehr schwer, es sei ein komplizierter Fall, der je nachdem höchstwahrscheinlich so oder so entschieden werden müsse, dabei schlägt mir aber das Herz, denn alles, was ich da sage, kann auch Unsinn sein.«

»Du fängst es nicht richtig an, Hugo. Was heißt Rechtsfragen? Rechtsfragen, das ist für Winkelkonsulenten. Und wenn es was Ordentliches ist, dann mußt du sagen, da wollen wir Justizrat Noack fragen; ich halte den für einen scharfen Kopf...«

»Ja, Thilde...«

»Für einen scharfen Kopf. Und wenn du das sagst, so legt dir das keiner zum Schlimmen aus, und den Justizrat hast du nu schon sicher auf deiner Seite. Der sagt dann: ›Ihr Herren, da habt ihr endlich mal einen richtigen Burgemeister, einen klugen, verständigen Mann. In der Regel wollen sie alles selber wissen. Das ist Pfuscherei, das ist, wie wenn die Apotheker die Kranken kurieren wollen. Dazu gehört noch mehr. Ein Burgemeister ist ein Verwaltungsbeamter, ein kleiner Regente, kein Rechtsprecher, und das kann ich euch sagen, der versteht zu regieren, er ist ein Administrationstalent, er hält auf Ordnung, und er hat Ideen.‹«

»Ja, Thilde...«

»Und hat Ideen, sag ich.«

»Ja, das sagst du oder läßt es deinen Justizrat sagen. Aber wer hat Ideen? Ideen, das ist nicht so leicht.«

»Ganz leicht.«

»Ach, Thilde, das ist ja Torheit. Ideen...«

»Ideen hat jeder, der sie haben will. Du bist bloß zu ängstlich, du hast kein Zutraun zu dir, du denkst immer, die andern sind wunder wie klug und verstehen alles besser. Wenn man Burgemeister ist, dann muß man so was aufgeben...«

»Ja, das sagst du wohl. Aber ich muß doch mit was kommen...«

» Natürlich.«

»Ich muß doch mit was kommen und Vorschläge machen. Und was soll ich vorschlagen?«

»Alles.«

»Ach, Thilde, das ist doch Torheit. Du sagst ›alles‹, und ich weiß gar nichts.«

»Weil du die Augen nicht aufmachst und die Ohren erst recht nicht. Du bist immer wie im Traum, Hugo.«

Er lächelte.

»Sieh, da is hier der Weg zwischen der Stadt und dem großen Torfmoor. Alkitten hat mir gesagt, im Herbst, wenn es regnet, ist gar nich durchzukommen, und wer seinen Torf bis dahin nicht eingefahren hat, der mag sehn, wo er bleibt...«

»Hab ich auch gehört.«

»Ja. Aber du denkst dir nichts dabei. Du mußt morgen den Stadtverordneten vorschlagen, daß ein Steindamm gebaut wird (es ist ja nur eine halbe Meile) oder eine Klinkerchaussee oder doch mindestens ein Knüppeldamm, daß die Wagen im Modder nicht steckenbleiben. Und dann laß ein Chausseehaus baun, es ist ja alles noch auf städtischem Grund und Boden, und der Landrat hat nicht mit dreinzureden. Und für den einen Groschen haben die Leute dann einen feinen Weg und können noch stolz sein, daß sie so was aus eigner Kraft und eignen Mitteln gebaut haben.«

»Seh ich ein; ist ein guter Vorschlag.«

»Und dann mußt du wegen der Garnison anpurren. Alkitten sagt mir, daß schon lange davon die Rede war, daß aber dein Vorgänger nicht wollte, vielleicht weil er sich wegen seiner Frau fürchtete. Die soll nämlich etwas forsch gewesen sein...«

»Ja, das is richtig.«

»Nun, da siehst du's. Und die Knauserei mit dem Stallgebäude, das ist ja der pure Unsinn. Alkitten hat mir erzählt, die Stadtverordneten hätten nicht gewollt. Ja, warum nicht? weil der Anstoß fehlte. Nun, bei mir liegt es anders. Und wenn der schönste Rittmeister herkommt, du kennst doch deine Thilde.«

Hugo versicherte, daß er sich ganz überzeugt halte.

»Von ganzem Regiment kann natürlich keine Rede sein. Dazu ist Woldenstein zu sehr Nest, und Silberstein und Isenthal können es nicht rausreißen und Rebecca Silberstein auch nicht. Übrigens ist es eine hübsche Person. Aber doch nicht zum Heiraten. Und für sonst ist sie zu streng. Also nicht das ganze Regiment, für einen adligen Obersten ist auch eigentlich gar keine Wohnung hier, höchstens in unsrer ersten Etage...«

»Thilde...«

»Aber zwei Eskadrons, das geht. Und nun berechne dir mal, wie das wirkt. Von Brot will ich nich reden, das backen sie selber. Aber dreihundert Pferde und dreihundert Menschen. Und ein Kasino müssen sie doch auch haben. Und dann die jungen Frauen und Ball und Theater, Silberstein ist gegen das Militär, aber das gibt sich. Die ganze Bäckerei und Schlächterei kommt auf einen andern Fuß, und Woldenstein hört auf, ein Nest zu sein, und wird eine Stadt, und vielleicht ziehen sie hier mal eine Division zusammen und machen ein Kavalleriemanöver, und wenn der General bei uns wohnt, so hast du den Kronenorden weg, du weißt nicht wie...«

Hugo bückte sich, um einen Rittersporn zu pflücken und Thilden in den Gürtel zu stecken.

»Und sieh, Hugo, so mußt du's anfangen. All dies kleine Zeug, was ihr da immer durchsprecht, damit zwingst du's nicht: das kann jeder. Aber immer auf dem Auskiek, immer sehen, was so dem Ganzen zugute kommt, damit zwingst du's, und das is, was ich die ›Ideen‹ genannt habe. Die Welt kann nicht jeder auf einen höhren Fleck bringen, aber Woldenstein so weit zu bringen, daß es alle Woche mal in der Zeitung steht und daß die Menschen erfahren, ›es gibt einen Ort, der heißt Woldenstein‹ – ja, Hugo, das ist möglich, und das ist in deine Hand gegeben...«

»Oder in deine«, lächelte Hugo. »Aber du hast recht, wir wollen's versuchen.«

 

Dreizehntes Kapitel

 

In dieser Weise gingen die Unterhaltungen, die Thilde mit Hugo führte, wenn dieser vom Rathaus in seine Wohnung zurückkehrte. Gegen den Herbst hin ward auch die Ampel jeden Abend herabgelassen und ein Unschlitt-Licht hineingesetzt, was so wunderbar leuchtete, daß niemand vorüberging, der nicht einen Blick hinein getan hätte. »Die Berliner haben doch einen Schick für so was.« Rebecca Silberstein drang in den Vater, auch dergleichen anzuschaffen. Er war aber dagegen. »Rebecca, wenn er kommt (ich sage nicht wer), dann sollst du haben die Ampel, und nicht Rosa sollst du haben, du sollst sie haben in Rubin und sollst haben, wenn du schläfst, einen himmlischen Glanz.«

Rebecca war unzufrieden über dies Hinausschieben, aber sie war beinah die einzig Unzufriedne in der Stadt, alle andren freuten sich über ihr neues Stadtoberhaupt, und Silberstein, der viel las und immer sehr gebildet sprach, sagte: »Er hat die Iniative. Das Initative hat jeder, aber die Iniative, das ist es, was den höhren Menschen von dem niedren unterscheidet.«

Isenthal, der immer widersprach, widersprach auch in diesem Fall. Aber Silberstein ereiferte sich heftig und sagte: »Sage nichts, Isenthal, oder du tust ein Unrecht und bringst es auf deinen Kopf. Ist er nicht wie Nathan? Ist er nicht der Mann, der die drei Ringe hat? Ist er nicht gerecht und sieht doch aus wie ein Apostel? Und seine Frau Gemahlin, eine sehr gebildete Frau, hat gesprochen von der Dreieinigkeit, und der Papst in Rom und Luther und Moses, die müßten aufgehn in einem. Und dies sei Preußen. Und sie sei gesegnet wegen der Einheit. Das hat sie gesagt, und ich sage dir: Moses bleibt, Moses hat die Priorität.«

Alles ging gut. Nur der Landrat verhielt sich kühl, und es war ganz ersichtlich, daß er weder von der »Iniative«, die sein eignes Licht in den Schatten stellte, sonderlich erbaut war noch von Hugos Nathanschaft und seiner Gleichberechtigung der drei Konfessionen. Es kamen Begegnungen vor, in denen Hugo »geschnitten« wurde, besonders auch von der Frau Landrätin, die Tänzerin erst in Agram und dann in Wien gewesen war und sich die Festigung des christlich Germanischen zur Lebensaufgabe gestellt hatte.

Hugo war mehr als einmal in bittre Verlegenheit geraten und hatte sich auf seinen Spaziergängen im Garten, die bis in den Spätherbst hinein fortgesetzt wurden, mehr als einmal gegen Thilde darüber ausgesprochen.

»Du verstehst es nicht«, sagte Thilde und nahm eine Beurré grise vom Baum. »Sieh, Hugo, die Beurré grise ist noch hart, und du mußt sie vier Wochen auf Stroh legen, eh sie schmeckt. Aber noch eh die vier Wochen um sind, hab ich dir den Landrat weich gemacht. Er ist ein sehr guter Herr und eigentlich liebenswürdig von Natur, und das müßte nicht mit rechten Dingen zugehn, wenn der nicht zu bekehren wäre. Wer eine Tänzerin heiratet, hat immer ein weiches Herz.«

Hugo seufzte, denn er litt unter der Gegnerschaft und sah kein Ende davon. Aber er hatte Thilden unterschätzt, und die vier Wochen waren noch nicht um und die Birne noch nicht präsentiert, als Hugo, Ende November, von einer Kreistagssitzung heimkam und von der Liebenswürdigkeit des Landrats nicht genug erzählen konnte.

Thilde sagte kein Wort, und Hugo sah erst einigermaßen klar in der Sache, als er am selben Abend Silberstein in der Ressource traf.

»Haben Sie schon gelesen, Herr Großmann?« sagte er zwinkernd, und als Hugo verneinte, gab er ihm die vorletzte Nummer der Königsberger Hartungschen Zeitung, die in Woldenstein am meisten gelesen wurde, und sagte: »Sehr gut geschrieben; ich möchte sagen fein. Aber es ist die Wahrheit. Er ist ein feiner Herr, der Herr Landrat.« Und dabei ließ er Hugo mit dem Zeitungsblatte allein.

Hugo schüttelte den Kopf und setzte sich in einen Stuhl neben dem Schenktisch, auf dem sechs, acht Weingläser mit Apfelsinencrème, Baumtorte und kleine Korianderkuchen standen. Er selbst hatte sich schon vorher einen Curaçao geben lassen, und während er daran nippte, las er die blau angestrichne Stelle:

»Woldenstein, 14. September. In unsrem Kreise rührt man sich bereits für die Wahlen, ohne daß eine besonders pressante Benötigung dafür vorläge. Denn die Wahl unsres Landrats v. Schmuckern darf wohl als gesichert angesehn werden, da, soviel wir bisher erfahren konnten, seine politischen Gegner auf Aufstellung eines Gegenkandidaten verzichtet haben. Sowohl die polnisch-katholische wie die fortschrittliche Partei vereinigen sich in Würdigung der hervorragenden Charakter- und Verwaltungseigenschaften des Landrats v. S. [und halten es für ihre Pflicht], selbst auf Kosten ihrer sonstigen politischen Überzeugungen, ihrem Vertrauen gegen ihn Ausdruck zu geben. Es läßt sich hier von einem Siege der Persönlichkeit sprechen, der um so glänzender ausfällt, als das landrätliche Hauswesen eine Anziehung auf das Polentum äußert. Die feine Sitte, die dem Polentum soviel bedeutet, hat in diesem Hauswesen ihre Stätte. Diese Vorzüge sieht sich auch der Fortschritt, trotz gesellschaftlichen Draußenstehns, in der angenehmen Lage vollauf würdigen zu können, weil der vorherrschende Ton nicht nur ein Ton der Vornehmheit, sondern beinah mehr noch schönste Humanität ist. Frau v. Schm. hat einen Krippenverein [ge]gründet, zu dem auch die dritte Konfession beigesteuert hat, und die Tätigkeit dieses Vereins wird am Weihnachtsabend Freude in die Hütten der Armut tragen. Über alle großen Fragen hinaus bedarf unser Kreis vor allen Dingen einer Sekundärbahn, um endlich bequeme Verbindung mit der Weichsel zu haben, eine Sache, darin alle Parteien einig sind. Und diese Bahn uns zu sichern, ist Landrat v. Schm. geeigneter als jeder andre, da seine Beziehungen zum Hofe bekannt sind. Adel, wenn er die Zeit begreift und auf Exklusivität verzichtet, ist immer die beste Lokalvertretung.«

Hugo legte das Blatt aus der Hand und nahm einen Korianderkuchen. »Also daher. Er hält mich für den Verfasser. Natürlich, [da] in Woldenstein nur drei Menschen in Betracht kommen können: Silberstein, der katholische Lehrer und ich, und da's Silberstein und der Lehrer aus innern Gründen nicht gut sein können, so bin ich es...« Er erhob sich und sah in den Saal hinein, um noch an Silberstein eine Frage zu richten. Aber der war fort, und so brach er auch auf, um auf seine Wohnung zuzugehn. Unterwegs fiel ihm ein: Sollte vielleicht...? Aber nein, das war nicht möglich, dazu war es alles zu gewandt, zu routiniert. Und noch damit beschäftigt, trat er in sein Zimmer, wo Thilde gerade den roten Papierschleier über die Lampenglocke warf. Auf demselben Sofatisch lag auch ein Zeitungsblatt.

»Guten Abend, Thilde. Nun, was gibt es?«

»Das mußt du wissen; du warst ja aus.«

»Ja, ich war in der Ressource, nur eine Viertelstunde. Der Landrat wie ein Ohrwurm. Und dann kam Silberstein und gab mir die Hartungsche Zeitung. Ein Artikel drin aus Woldenstein.«

»Ah, das is gut; ich dachte schon, er wär unter den Tisch gefallen.«

»Aber Thilde, dann ist es am Ende doch so, dann hast du den Artikel eingeschickt?«

Thilde lachte. »Ja, das mit dem Landrat, das mußte anders werden, das ging nich so weiter.«

»Also wirklich – du hast ihn geschrieben?«

»Nein, geschrieben nicht eigentlich.«

»Aber wer denn?«

»Ein Unbekannter, dem ich nun zu Danke verpflichtet bin. Als wir damals das Gespräch hatten, da sah ich jeden Tag, wenn die Vossische kam, in die Wahlangelegenheiten hinein, und es sind nu wohl schon acht Tage, da fand ich das alles in einer kl[einen] Korrespondenz aus Myslowitz. Und danach hab ich es zurechtgemacht. Wenn man erst das Gestell hat, ist es ganz leicht, eine Puppe zu machen.«

Er lächelte gutmütig vor sich hin, war aber etwas verlegen. »Thilde, du solltest doch lieber so was nich tun.«

»Ich dachte, du würdest mir danken, daß ich das beglichen und deine Stellung angenehmer gemacht habe.«

»Ja, du kannst aber mal damit scheitern, es kann auch mal schiefgehn.«

»Gewiß. Alles kann mal schiefgehn, und die sich dadurch einschüchtern lassen, die sitzen still und tun gar nichts. Schiefgehn; ich würde warten, bis es soweit ist. Bis dahin aber würde ich mich freun, wenn einer für mich sorgt. Silberstein, der so schrecklich gebildet ist, spricht immer von deiner Iniative.«

»Ja. Und es ist mir mitunter sehr fatal, wenigstens wenn du dabei bist. Aber ich bitte dich, habe nicht zuviel.«

 

Vierzehntes Kapitel

 

Seit dem Artikel in der Hartungschen hatte sich Hugos Stellung in Woldenstein und Umgegend noch erheblich verbessert. Auch der katholische Lehrer war gewonnen, nachdem auf Thildens Anregung eine Gehaltszulage beantragt und bewilligt war. Thilde freute sich ihrer Errungenschaften und gab ihrer Freude auch dadurch Ausdruck, daß sie sich modisch kleidete, wobei Silberstein, der oft nach Posen und Breslau fuhr, mit Rat und Tat helfen mußte. Die Ressource leitete Beziehungen ein, und ein Erscheinen im landrätlichen Hause war in hohem Maße wahrscheinlich. Es setzte sich mehr und mehr die Meinung fest, daß sie sehr klug sei und immer wisse, was in der Welt los sei. Selbst Isenthal gab zu, »sie höre das Gras wachsen«, und sagte huldigend: »Sie hat was von unsre Leut.«

Im ganzen ließ sie sich all das aber nicht anfechten und blieb nüchtern und überlegend, und nur darin zeigte sich ein kleiner Unterschied, daß sie sich zu einer gewissen Koketterie bequemte und auf Hugo einen gewissen Frauenreiz ausüben wollte. Sie ging darin so weit, daß sie die Ampel vom Flur her in das Schlafzimmer nahm und zu Hugo bemerkte: »Draußen im Flur hat sie nun ihre Schuldigkeit getan. Schade, daß das Rosa wie gar nichts aussieht; es müßte Rubinglas sein. Man kriegt dann so rote Backen. Die gute Schmädicke! Was wohl Mutter sagen würde...«

»Ja«, sagte Hugo, »die würde sich freun über dich. Und ich habe mir's auch überlegt, ob wir sie nicht zum Fest einladen sollen.«

»Nein, Hugo, dazu haben wir's denn doch noch nicht. Und sie müßte doch Zweiter fahren oder wenigstens von Bromberg aus. Und dann, es geht auch überhaupt nicht. Wir müssen für sie sorgen, natürlich müssen wir das, denn sie is doch [eine] gute alte Frau und immer allein und bloß die Runtschen um sich her, was kein Vergnügen ist...«

»Nein«, bestätigte Hugo, dem bei dem bloßen Namen der alte Schrecken wiederkam.

»Die Runtschen und die Schmädicke, die nicht viel besser ist. Aber einladen hierher geht nicht. Wir packen ihr eine Kiste, Schinken, Eier, Butter, und legen ihr vier oder sechs Pakete Thorner Kakaschinchen bei und einen schwarzen Muff, den sie sich schon lange gewünscht hat, und Gummistiefel mit Pelz, und wenn sie das auspackt, dann freut sie sich viel mehr, als wenn wir sie hier mit in die Ressource nehmen. Und überhaupt, es geht nicht. Der Landrat kann dasein oder die gnäd'ge Frau. Und nu denke dir einen Bostontisch und Mutter mit der Landrätin zusammen. Ich glaube, Mutter kann gar nicht Boston; sie hat, seit Vaterns Tod, immer nur Patience gelegt. Nein, dazu ist mir Mutter zu schade, daß sie sie hier auslachen. Und dann, Hugo, auch unsretwegen. Wir sind doch nu, was man in Büchern und Zeitungen so die ›obren Zehntausend‹ nennt, obschon Woldenstein bloß dreitausendfünfhundert hat, und was der Adel auf dem Lande ist, das sind die Honoratioren in der Stadt. Und das sind wir. Also es geht nicht. Ich denke, wir warten, bis ein Jahr um ist, und dann nimmst du Urlaub, und dann besuchen wir Muttern und können dann auch sehn, was aus Rybinski geworden ist.«

Hugo war mit allem einverstanden. Er hatte das mit der Alten auch nur so gesagt, weil er Thilden eine Freude machen wollte. Zugleich dachte er an ein Weihnachtsgeschenk; er fand Rubinglas auch hübscher.

 

Die Woche zwischen Weihnacht und Neujahr verging in Saus und Braus. Der Landrat, der während der letzten vier Wochen im Reichstag gewesen war, kam zurück, und eine Festlichkeit drängte die andre. Am Weihnachtsabend war erst Aufbau für die armen Kinder aller Konfessionen, wobei Thilde, die Landrätin und Rebecca Silberstein die Leitung übernahmen, am Silvesterabend war Theateraufführung in der Ressource, wo erst »Monsieur Herkules« und dann »Das Schwert des Damokles« gespielt wurde. Hugo hätte gern mitgespielt, mußte aber verzichten, weil es sich nicht passe. Silberstein gab den Buchbindermeister Kleister und erfuhr, daß sein Spiel an Döring erinnert habe. Hugo dachte den ganzen Abend über an Rybinski und beneidete das Stehen in der freien Kunst. Der Ball, der folgte, ließ aber trübe Gedanken nicht aufkommen, er eröffnete mit der Landrätin die Polonaise, der Landrat folgte mit Thilde, die die Reichstagsberichte jeden Morgen las und einen markanten Satz aus einer kurzen Rede zitierte, die der Landrat über die Simultanschulfrage gehalten hatte. »Sie interessieren sich für Politik, meine gnädigste Frau.« – »Ja, Herr Landrat. Je mehr ich die kleiner Verhältnisse fühlte, die mich umgaben, je mehr empfand ich eine Sehnsucht der Auffrischung, die nur, ich will nicht sagen das Ideal, aber doch das Höhere geben kann. Ich darf sagen, daß die Reden des Fürsten erst das aus mir gemacht haben, was ich bin. Es ist so oft von Blut und Eisen gesprochen worden. Aber von seinen Reden möchte ich für mich persönlich sagen dürfen: Eisenquelle, Stahlbad. Ich fühlte mich immer wie erfrischt.« Beim Souper, das den Tanz auf eine Stunde unterbrach, saßen sich Landrat und Burgemeister gegenüber. Als um zwei Uhr der Tanz wieder begann, rückten sie nebeneinander, und der Landrat sagte: »Burgemeister, Freund, Sie haben eine famose Frau. Kolossal beschlagen. Weiß ja Bescheid wie 'n Reporter oder eigentlich besser: die Reporter sind Maschinen und folgen bloß mit Ohr und Hand. Aber Ihre Frau, Donnerwetter, da merkt man was, Muck, Rasse, Schick. Sagen Sie, was is es für eine Geborne? vielleicht Kolonie oder Familie, die den Adel hat fallenlassen.« Hugo nannte den Namen, und der schon stark angefisselte Landrat fuhr fort: »Hören Sie, Burgemeister, es steckt da was drin... Oder ob vielleicht die Mutter...«

Hugo sagte, »soviel er wisse...«

»Nun, ganz egal«, schloß der Landrat, »ganz egal, wo's herkommt, wenn's nur da ist... Und muß ein Bombengedächtnis haben.«

Hugo, gegen den Schluß hin, tanzte noch eine Radowa mit der Landrätin und geleitete dann beide bis an den draußen wartenden Schlitten. Er war im Frack mit weit ausgeschnittner Weste, und draußen blies ein Südoster von den Karpaten her.

Als er mit Thilde eine Stunde später in seiner Wohnung ankam, war er im Fieber und hüstelte.

»Thilde, mir is nicht recht; ich möchte ein Glas Zuckerwasser.«

»Immer dasselbe. Zuckerwasser. Wer trinkt Zuckerwasser, wenn er von einem Ball nach Hause kommt. Ich werde dir eine Tasse Kaffee machen.« Und sie holte die Spirituslampe, setzte das Kesselchen auf und machte ihm eine Tasse Kaffee von drei Lot.

Er fieberte furchtbar.

 

Wäre das Wetter über Nacht anders geworden, so hätte das Fieber vielleicht nicht viel bedeutet. Aber der Wind ging noch mehr nach Osten rum, und an Schonung war nicht zu denken, weil allerhand Visiten zu machen und allerhand Pik- und Stuhlschlitten für den Nachmittag zu besorgen waren. Sich davon auszuschließen war um so unmöglicher, als Hugo beim Abschied um die Ehre gebeten hatte, die Landrätin auf dem Eise fahren zu dürfen. Eine kleine Eitelkeit kam hinzu, er war ein sehr guter Schlittschuhläufer und wollte sich in den Pausen als solcher zeigen. Thilde schlug ihm zum Frühstück ein Glas Portwein vor, aber sein Zustand war doch schon so, daß er auf Haferschleim drang. Er genoß auch bei Tisch nichts andres und nahm ein Schächtelchen isländische Moospastillen mit sich, als er um drei zu dem Rendezvous auf dem Eise aufbrach. Er sah sehr verändert aus, was auch Thilden nicht entging, und weil sie trotz alles Abhärtungsprinzips, nach dem sie selber lebte, nicht ohne eine gewisse Teilnahme für ihn war, so würde sie ihn vielleicht vom Eise zurückgeschickt und bei der Landrätin, die noch nicht da war, bei ihrem Eintreffen entschuldigt haben, wenn [nicht] ein alter polnischer Graf, dessen Bekanntschaft sie schon am Abend vorher gemacht, sich ihrer bemächtigt und ihr auf seinem kleinen Muschelschlitten, mit zwei Scheckenponies davor, einen Platz angeboten hätte. Sie mußte das annehmen, denn er war der reichste und angesehnste Mann der ganzen Gegend, Original und schon über siebzig.

Thildes franke, ganz uneingeschüchterte Manier hatte ihm schon auf dem Silvesterball gefallen, und er war enchantiert, als sie seine Aufforderung, den Platz im Schlitten einzunehmen, ohne weitres annahm. Er fuhr selbst und legte seine mächtige Wolfsschur um den kleinen Schlittensitz herum und forderte Thilden auf, die Schur von rechts her zu halten, so daß sie wie in einer Pelzlaube saß. Und nun flog der Schlitten über das Eis hin, und die Glöckchen läuteten, und die weißen Decken blähten sich im Winde, während der Alte von [der] Pritsche her seine Konversation machte: »Freut mich, meine gnädigste Frau... Sacrebleu, man sieht doch... große Stadt... andre Menschen... Ah, Berlin... nicht preußisch ich, nicht sehr... Aber Berlin... O Berlin, eine merkwürrdigen Stadt, eine tollen Stadt.«

Thilde versicherte lachend, daß sie davon eigentlich wenig gemerkt habe, das Berlin, das sie kenne, sei sehr wenig toll, fast zu wenig, es passiere ja eigentlich gar nichts...

»Ja, meine Gnädigste, das macht die Stelle, wo man steht, von der aus man sieht, ich habe gestanden immer sehr in Front, immer sehr avancé.«

»Glaub ich, Herr Graf. Ihre gesellschaftliche Stellung ...«

»O nicht das Gesellschaftliche, das vor dem großen Tor. O viele Lichter da, viele Schatten. Da hatten wir Maskenball. Kroll. Kennen Sie Kroll?«

»Gewiß, Herr Graf. Jede Berlinerin wird doch Kroll kennen.«

»Und da hatten wir Maskenball. Ich Fledermaus. Und da hatten wir Orpheum...«

»Auch davon habe ich gehört...«

»Aber ich habe gesehn. Eine merkwürrdige Stadt, eine tollen Stadt, aber eine Stadt ohne Grimasse...«

»Ja, das ist wahr.«

»Eine Stadt von sehr freier Bewegung...«

»Ich glaube doch nicht überall.«

»Nein, nicht überall. Das ist wieder, wo man steht, meine gnädigste Frau. Wo ich gestanden, sehr freie Bewegung. Und keine falsche Verschämung...«

»Aber doch vielleicht eine richtige?«

»Verschämung immer falsch, immer Grimasse. Und ich liebe die freie Bewegung.«

Ein Herzählen sämtlicher Berliner Lokale mit freier Bewegung stand in Sicht, und wer will sagen, wo Graf Goschin schließlich gelandet wäre, wenn nicht eine plötzlich quer durch das Flußeis gezogene Rinne das Weiterfahren gehindert und zur Umkehr gezwungen hätte. Wenige Minuten, und der Schwanenteich war wieder erreicht, wo sich die Woldensteiner Honoratioren in engerem Kreise bewegten, die jüngern in Nähe eines Leinwandzeltes mit einem aufgemauerten Herde, drauf eine Punsch- und Waffelbude, draus der angesäuerte Fettqualm ins Freie zog. In Front dieser Bude hielten die Schlitten, und auf einer Bank, der die eine Wand der Bude als Rückenlehne diente, saßen Hugo und die Landrätin, die eben den Pikschlitten verlassen hatte, sich hier zu erholen. [Hier hielt jetzt] der kleine Muschelschlitten des Grafen, und der Graf schlug die Schur zurück, um Thilden aus ihrem Gefängnis zu entlassen.

»Ja, meine gnädigste Frau. Es hat nicht sollen sein...«

»Was, lieber Graf?«

»Escapade. Wollte wie Gott der Unterwelt oder Pluto...«

»Warum nicht höher hinauf, warum nicht Jupiter?«

»Ach, ich verstehe. Wegen der Attrappe. Gnädigste Frau haben eine spitze Zunge.«

Er winkte von den Leuten, die umherstanden, einen heran und gab ihm die Zügel und hieß ihn den Schlitten seitwärts führen, an eine Stelle, wo rotes Weidengesträuch vom Ufer her auf das Eis hinabhing. Dann nahm er Hugo unterm Arm und ging, um ein Glas Punsch zu trinken, auf die Bude zu, wo wenige Schritt neben dem Herd ein zerschlißnes Sofa stand.

»Sehr erfreut, Burgemeister. Eine charmante Frau, kluge Frau, gar nicht ängstlich. Haben alles gesehn und denken immer, alles geht vorüber, und den Kopf wird es ja wohl nicht kosten.«

Hugo, halb geschmeichelt, bestätigte. Das sei so die Schule der großen Stadt.

»Ja, merkwürdige Stadt, tolle Stadt.«

Diese Worte hatten etwas Beunruhigendes selbst für Hugo, der seiner Thilde sicher zu sein glaubte. Er kam aber nicht dazu, dem lange nachzuhängen, denn ein heftiger Hustenanfall zwang ihn, sich an der Sofalehne festzuhalten. Als der Anfall vorüber war, kam der Graf mit einem Glase Punsch, »das löse«.

Hugo kam in die Verlegenheit, ablehnen zu müssen, es würde seinen Zustand verschlimmern.

»Kann nicht verschlimmern. Punsch nie.«

Als er Hugo mit seinen listigen, etwas blutunterlaufnen Augen aber ansah, kam ihm doch ein Zweifel, ob Punsch hier Allheilmittel sei, und er ging sogar hinaus und rief die noch im Gespräch mit der Landrätin auf der Bank sitzende Thilde.

»Gnädigste Frau, der Herr Gemahl. Packen wir ihn in die Schur, und der Knecht kann ihn nach Hause fahren.«

»Es ist besser, wir gehn, Herr Graf«, sagte Thilde, und Hugo führend, der traumhaft hin und her schwankte, gingen sie auf die Stadt zu.

Als sie fort waren, setzte sich der Graf neben die Landrätin und sagte: »Woldenstein kann sich nach einem neuen Burgemeister umsehn.«

Die Landrätin lachte. »Bei Ihnen draußen gedeiht das Zweite Gesicht.«

»Nein. Aber ich sehe gut.«

 

Fünfzehntes Kapitel

 

Der Arzt war über Land; erst gegen Morgen kam [er] und hatte gegen Thildes Behandlung des Kranken: Brotrinde mit Essigwasseraufguß, ein Mittel, das noch von der alten Möhring herrührte, nichts Erhebliches einzuwenden. »Es hat nichts geschadet«, sagte er, »und das ist immer schon viel.« Er verordnete dann eine Althee-Abkochung, und als Thilde fragte, »ob es was zu bedeuten habe«, lächelte er und sagte: »Einigermaßen; es ist eine Lungenentzündung. Vor allem Ruhe.«

Thilde war eine gute Krankenpflegerin und gab ihm die Medizin mit einer Genauigkeit, als ob das Leben an der Minute hinge. Sie glaubte nicht daran, aber sie wollte nichts versäumt haben. Die Vormittagsstunden vergingen unter Umwandlung des Schlafzimmers in ein Krankenzimmer; die nach dem Hof hinausgehnden Fenster wurden verhangen, während die Tür nach der Vorderstube offenblieb, nur durch eine halbe Portière geschützt. Thilde sah oft hinein, ohne daß der Kranke irgendwas verlangt hätte, dann ging sie wieder an das Vorderfenster, das, von der vorigen Frau Burgemeister her, noch einen altmodischen Tritt und einen Fensterspiegel hatte. Dieser war eigentlich überflüssig, denn es gab so wenig zu sehn, daß es auch nichts zu spiegeln gab. Mitten auf dem Marktplatze stand das Rathaus mit einer schräglaufenden hölzernen Stiege, die bis zum ersten Stock aufstieg und sich hier in einem schmalen Laubengang fortsetzte, aber alles von Holz. Dicht neben dem Rathaus standen ein paar alte Scharren, verschlossen und verschneit. An der andern Marktplatzseite war die Löwenapotheke, deren Provisor gähnte, denn seit der Mixtur für den Herrn Burgemeister war seine Tätigkeit noch nicht in Anspruch genommen worden. Daneben ein Bäckerladen mit einem schräggestellten Blechkuchen im Schaufenster und einigen bewundernd davorstehenden Kindern; die Sonne fiel so grell darauf, daß Thilde die großen Zuckerstellen erkennen konnte. Zwischen dem allem glitt ihr Auge hin und her und nahm erst eine andre Richtung, als sie, diesmal allerdings mit Hülfe des Spiegels, den Briefträger die Herzog-Kasimir-Straße heraufkommen sah. Er trat auch gleich danach ins Haus, und Thilde ging ihm entgegen, um ein paar Briefe in Empfang zu nehmen. Einer war aus Breslau, also wahrscheinlich eine Rechnung oder ein Verzeichnis, der andre eine Vermählungsanzeige Rybinski[s] (aber mit einer andern Dame) und der dritte von der alten Frau Möhring. »Frau Burgemeister Großmann, geb. Möhring. Woldenstein in Westpreußen.« Die Buchstaben waren so steif gekritzelt wie auf einem Waschzettel. »Gott«, sagte Thilde, »wenn Mutter bloß nicht immer geborne Möhring schreiben wollte. Möhring ist doch zu wenig.« Dann ging sie bis an die Portière und horchte hinein, und als sich nichts in der Schlafstube regte, ging sie wieder bis ans Fenster und setzte sich in den kleinen schwarzen Stuhl mit drei Goldstäbchen, der hier stand. Und nun las sie.

»Meine liebe Thilde. Die Kiste kam gerade Heiligabend an, aber schon früh, und da gerade die Runtschen da war, sagte ich, nu, Runtschen, nu wollen wir sie aber auch gleich aufmachen. Und da hättest Du sehn sollen, wie geschickt sie war und wie sie jeden einzelnen Nagel rausholte, ohne Kneifzange, bloß alles mit 's Küchenmesser. Und als wir alles raus hatten, gab ich ihr eins von die Pakete, weil ich dran denken mußte, daß ihr die Petermann zu vorigen Weihnachten auch ein großes Stück Steinpflaster gegeben hatte. Sie war aber noch nich ganz zufrieden, bis ich ihr sagte: ›Na, Runtschen, wenn es soweit is, den Schinkenknochen, den kriegen Sie auch.‹ Da bedankte sie sich; ich weiß das schon von Ulrike, sie sind immer so sehr nach Fleisch. Natürlich, wer soll es denn bezahlen. Und muß ich Dir doch sagen, daß ich mich sehr über alles gefreut habe, weil man doch die Liebe sieht, und dann auch, weil ich sehe, daß Du's kannst und Ihr's haben müßt. Und sieh, Thilde, das is doch die Hauptsache. Denn mit der Sparkasse, das is ja nu vorbei, weil es alles soviel gekostet hat, und wenn ich mir denke, daß es auch knapp ginge, was sollte da werden. In 'n Spittel mag ich nich. Und nu sage mir, Thilde, wie steht es eigentlich mit Dir? Ach, es macht ja bloß Angst und Sorge, und wie sie nachher einschlagen, weiß man auch nich. Besser ist besser. Und Du hast mir noch immer nicht geschrieben von wegen der Witwenkasse. Die Schmädicke meinte zwar neulich: ›sie müßten einkaufen, ob sie wollen oder nich‹, aber es wäre mir doch lieb, zu hören, daß Du ganz sicher bist. Ich bin immer so sehr fürs Sichre. Denn der Mensch denkt, und Gott lenkt, und heute rot und morgen tot. Und er war mitunter so rot, was mir nich gefallen hat, und auch die Runtschen sagte: ›Glauben Sie mir, Frau Möhring, es sitzt ihm hier.‹ Und nu grüße Deinen lieben Mann und sag ihm, ich ließ' ihm ein glückliches neues Jahr wünschen. Er verdient es, und es wird sich schon belohnen.

Es is ja viel draufgegangen, aber es schadet nicht, und ich hab es alles gerne gegeben, und die Schmädicke sagte neulich: ›Aufs Kapital kommt es nich an, wenn man bloß gute Zinsen hat.‹

Deine Dich liebende Mutter

Adele Möhring, geb. Printz«

 

»Gott, nun auch noch ›Printz‹«, sagte Thilde. »Was sich Mutter nur eigentlich denkt. Und was sie da schreibt! Als ob sie sich geopfert und mir mit ihrem Sparkassenbuch, was doch mein war, mein Glück bereitet hätte. Nun, sie war immer so, und nach ihrer Art meint sie's gut, erst mit sich und dann mit mir. Und dann war das Gute, daß sie mir immer freie Hand gelassen hat. Eine weimrige alte Frau, aber ich habe doch mit ihr leben können. Und vielleicht muß ich wieder mit ihr leben. ›Heute rot und morgen tot.‹ Daß sie auch grade so was schreiben mußte... Hugo gefällt mir nicht, und der Doktor mit seinem ›Einigermaßen‹ hat mir auch nicht gefallen. Ich möchte ihn nicht gern verlieren. Er ist so gut und hat mir eine Stellung gegeben. Denn wenn ich es auch gemacht habe, wenn er nicht da war, so ging' es nicht. Ich möcht ihn nicht gern verlieren. Aber sonderbar, alles hat doch so seine zwei Seiten, und wenn ich so den Platz und die drei Scharren sehe, jetzt kuckt sich der Provisor im Spiegel [an] und findt sich hübsch, da weiß ich doch nich, ob es nicht hübscher war, wenn ich nach der Stadtbahn rübersah und wenn Bolle durch die Straßen klingelte... Nun, Mutter hat ja auch geschrieben: ›Der Mensch denkt, und Gott lenkt‹, sie hat immer solche neuen Sätze. Aber richtig is es, und ich muß es abwarten, wie Gott lenkt.«

 

Hugo genas, und Ende Februar saß er im Garten in Front von einem Weinspalier, auf das eine warme Februarsonne fiel. Thilde saß neben ihm und las ihm die Zeitung vor, denn es waren die Tage, wo Bismarck ins Schwanken kam. Hugo sog jedes Wort ein und zeigte großes Interesse, ergriff aber nicht Partei, »sie werden wohl beide recht haben«. Thilde lächelte: »Ja, Hugo, das bist ganz du. Beide recht. Ich bin für einen.«

Über den Zaun fort grüßten die Nachbarn, die sich schon in ihren Gärten zu schaffen machten, und stellten auch Fragen nach seinem Befinden, denn so kurze Zeit er in der Stadt war, so war er doch sehr beliebt, und jeder freute sich seiner Wiedergenesung. Die Landrätin kam persönlich und klagte sich an: »eigentlich sei sie schuld, er habe sich's bei Ostwind auf dem Eise geholt«, und der alte Graf schickte eine große Melone aus seinen Treibhäusern mit einem Billet voll phantastischer Verbindlichkeiten und Ratschläge. Nach Berlin hin war all die Wochen über kein Wort über die Krankheit vermeldet worden, weil Thilde dem Gejammer der Alten entgehen wollte, und auch jetzt, wo die Genesung da war, schrieb sie nichts von der zurückliegenden schweren Sorge. Vielleicht unterließ sie's auch, weil sie der Genesung mißtraute, wozu, wie sich bald zeigen sollte, nur zuviel Veranlassung da war.

Eines Tages, als Hugo wieder in der Sonnenstelle saß, schlug das Wetter plötzlich ab, ein Schüttelfrost stellte sich ein, und ehe noch der Arzt es feststellen konnte, war es klar, daß ein Rückfall da war. Er nahm in rapidem Verlauf die Form einer rapide fortschreitenden Schwindsucht an, und am zweiten Ostertag abends starb er, nachdem er Thilden ans Bett gerufen und ihr für ihre Tüchtigkeit, ihre Liebe und Pflege gedankt hatte. Diese Worte waren ehrlich gemeint, denn die Bedenken einer frühen Zeit waren ganz geschwunden, und er sah in Thilde nichts als die rührige, kräftige Natur, die sein Leben bestimmt und das bißchen, was er war, durch ihre Kraft und Umsicht aus ihm gemacht hatte.

Den dritten Osterfeiertag bei niedergehnder Sonne wurd er auf dem Woldensteiner Kirchhof begraben; alles war da, der alte Graf, der alles auf den Arzt schob und dann wieder versicherte, er hab es schon am Neujahrstage gewußt, der Landrat, der, weil Osterferien waren, gerade in seinem Kreise sein konnte, viel Adel aus der Nähe und die ganze Bürgerschaft einschließlich der dritten Konfession. Auch der Provisor, der sich zufällig einen neuen Frühjahrsüberzieher hatte machen lassen, wollte nicht fehlen. Alle Bläser bliesen, der alte Graf unterhielt sich ziemlich laut, und was Woldenstein an Blumen hatte, wurde auf das Grab gelegt. Der Geistliche geleitete Thilden in ihre Wohnung, und während der alte Graf im »Herzog Kasimir« eine Flasche herben Ungar ausstach, saß Thilde auf dem Trittbrett und sah auf den immer dunkler werdenden Marktplatz, über den ein Westwind einige braune Winterblätter trieb. Dann wurden ein paar an Ketten hängende Laternen angesteckt, und im Schatten des Rathauses, da, wo die Stiege hinaufführte, stand ein Liebespaar. Sie ließen sich durch den immer heftiger werdenden Wind nicht stören, aber die Laternen bewegten [sich] und quietschten an den Ketten hin und her. Als Thilde wohl eine halbe Stunde lang auf das alles hinausgestarrt hatte, zündete sie die Lampe an und setzte sich an ihren Schreibtisch, um ein paar Zeilen an die Mutter zu schreiben.

 

»Liebe Mutter. Heute gegen Abend haben wir Hugo begraben. Es war sehr schön und feierlich, alle Welt erschienen, auch der Adel aus der Umgegend. Prediger Lämmel hielt die Rede. Sie wird gedruckt und wird uns dann (denn bis dahin denke ich wieder in Berlin zu sein) von hier aus zugestellt werden. Wie ich Dir gleich bemerken will, kostenfrei, auch der Druck. Denn Du wirst wohl sehr in Angst sein. Ich muß Dich aber ernstlich bitten, mich mit dieser Angst nicht quälen zu wollen. Ich habe von hier aus für Dich gesorgt, und ich werde weiter für Dich sorgen. Du denkst immer an jämmerlich zugrunde gehn, aber solange Deine Thilde lebt, so lange wirst Du zu leben haben. Dessen sei versichert. Ich empfange noch das Gehalt bis Jahresschluß und die Witwenpension vom 1. April an. Dies wird Dir einen Stein von der Brust nehmen, und wenn Du erst weißt (und deshalb habe ich dies alles vorausgeschickt), daß Du nicht ins Spital kommen und nicht wie die alte Runtschen rein machen und einholen wirst, wirst Du vielleicht auch zuhören, wenn ich Dir sage, daß Hugo gut gestorben ist, ganz wie ein feiner Mensch, der er immer war. Denn er war aus einem sehr guten Hause, was immer die Hauptsache bleibt. Er hat mir auch noch gedankt, als ob ich wunder was wäre.

Das macht, er hatte so was Edles. Und Dich hat er grüßen lassen. Daß er bloß schwächlich war, dafür konnte er nich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wär er stärker gewesen. Alle Leute hier haben ihn sehr geachtet, weil alle sahen, daß er sehr gut war, und selbst Silberstein, von dem ich Dir schon geschrieben, hat an seinem Grabe gesprochen. So daß selbst Pastor Lämmel zufrieden war und ihm die Hand gab. Silberstein. Firma Silberstein und Isenthal, wird auch alles besorgen, es sind sehr reelle Leute, fortschrittlich, aber sehr reell. Und was aus dem Mobiliar herauskommt, das werden wir kriegen auf Heller und Pfennig. Ich habe noch ein paar Tage hier zu tun und Briefe zu schreiben, auch an den alten Grafen, der mir eine Stellung als Hausdame in seinem Hause angeboten hat (natürlich mit Gehalt), aber all das wird in drei oder vier Tagen beendet sein, und spätestens sonnabend früh gedenke ich in Berlin einzutreffen. Ich schreibe aber noch eine Karte vorher, damit Du ganz sicher bist und die Runtschen zu rechter Zeit bestellen kannst. Ich bringe Dir auch ein Andenken von ihm mit, ein kleines Kreuz, vorn mit einer Perle. Die Perle hat einigen Wert. Ich freue mich, Dich wiederzusehn, so schmerzlich auch die Veranlassung ist, denn die Pension reicht nicht an das Gehalt. Ich muß Dir das sagen. Mir ist es gleichgiltig. Ich bringe mich schon durch und Dich mit.

Deine treue Tochter Thilde«

 

Sechzehntes Kapitel

 

Sonnabend früh mit dem Acht-Uhr-Zuge kam Thilde auf dem Friedrichsstraßenbahnhof an. Den kleinen Handkoffer, den sie mit sich führte, gab sie einem Gepäckträger zugleich mit ihrem Gepäckschein und wies ihn an, ihr alles in ihre Wohnung zu schaffen, drüben zu Schultzes, drei Treppen. »Ja, Fräulein.« Er verbesserte sich aber rasch, denn er kannte sie von alter Nachbarschaft her ganz gut, und versprach, in einer halben Stunde dazusein. Als sie ging sah er ihr einen Augenblick nach. »Was doch nich das liebe Geld alles tut; hat sich schmählich rausgemausert. Or'ntlich ein bißchen forsch und einen Krimstecher.« Während ihr diese Betrachtungen folgten, schritt sie über den Damm hin und sah auf das Haus und nach der dritten Etage hinauf. Es hatte sich nichts verändert, und doch kam ihr alles ganz anders vor. Ein eigentümliches Gefühl beschlich sie, bis sie sich sagte: »Sei froh, daß es ist, wie es ist; es könnte viel schlimmer sein. Wie war es vor zwei Jahren? Da mußt ich noch alles selber tun.« Sie ging auf der rechten Seite der Straße und sah nach der dritten Etage hinauf, ob sie die Alte vielleicht am Fenster sähe. Aber sie sah nichts, auch nicht in den andern Etagen, überall waren noch die Rouleaux herunter. Es war ihr lieb, ganz unbeobachtet zu sein, aber sie war es nicht, und während sie über den Damm ging, sagte die Rätin, die vom Frühstückstisch aufgestanden war und sich ein Kuckloch zurechtgemacht hatte: »Was sitzt du wieder über der Zeitung. So was sieht man nicht alle Tage; sie hat bloß schwarze Handschuh an und sieht aus, als reiste sie nach Dresden und Sächsische Schweiz. Regenmantel und Opernglas; fehlt bloß noch der Alpenstock.« – »Ach, du hast immer was zu reden, Luise. Wenn sie mit einer langen Trauerfahne ankäme, dann wär es auch nicht recht.«

Thilde stieg langsam die Treppen hinauf, je höher sie kam, desto langsamer, weil sie vor der Begegnung mit der Alten erschrak. Auf dem letzten Treppenabsatz stand die Runtschen und nahm ihr, weil sie nichts andres mit sich führte, wenigstens den Regenschirm ab. »Tag, Runtschen, wie geht es?« »Gott, Frau Burgemeistern, wie soll es einem gehn«, und ehe das Gespräch sich fortsetzen konnte, war man oben, und Thilde lief auf die Mutter zu, die, halb sonntäglich zurechtgemacht, in der offnen Tür stand und gleich zu weinen anfing.

»Mutter, weine nur nich gleich. Jeder kommt ran.«

»Ja, bloß der eine zu früh und der andre zu spät. Wenn ich doch rangekommen wäre.«

Und dabei traten sie vom Flur her in das Entree und vom Entree in die Wohnstube, wo vor dem Sofa schon der Kaffee stand und Semmeln und Butter.

»Und nu komm, Thilde, nu wollen wir eine warme Tasse trinken, und erzähle mir alles, wie es war.«

»Ja, Mutter, gleich; ich möchte mir aber erst die Hände waschen, und das Haar is auch in Unordnung, ich hatte den Wind ins Gesicht und wollte nicht zumachen.« Und dabei erhob sich Thilde wieder, legte den Hut und den Krimstecher beiseit und hing den Mantel an einen Ständer im Entree. Dann kam sie wieder und sagte: »So, Mutter, nu schenk uns ein. Kalt war es. Und der Mantel hat auch nicht viel geholfen.«

»Ich dachte, du würdest ein Umschlagetuch drübernehmen. Und überhaupt. Hast du denn gar keine Trauer gehabt? Ich weiß ja, daß es hier sitzt, aber wegen der Leute. Und sie haben sich doch sehr anständig gegen dich benommen.«

»Ja, Mutter, natürlich habe ich Trauer gehabt. Silberstein hat mir alles besorgt und hatte selbst alles auf Lager. Ich war ganz schwarz und Schleier und Schnebbe, alles, wie sich's gehört, aber als ich mich für die Reise zurechtmachte, hab ich alles eingepackt, und du kannst es sehn, wenn es kommt.«

»Und unterwegs wolltest du nicht.«

»Nein, Mutter. Unterwegs nich, und ich wollte auch nich hier so ankommen. Das sieht so gefährlich aus.«

»Aber willst du's denn so liegenlassen. Es kriegt ja Flecke. Silberstein hat es doch auch nich umsonst.«

»Auftragen will ich es nicht. Die meisten glauben nich dran, und ich habe welche gesehn, die zudringlich wurden bloß wegen der Trauer. Manche machen es auch zu toll. Aber wenn ich es auch nicht auftragen will, so werde ich es doch tragen, wo sich's hingehört, wenn ich ernste Besuche mache. Denn wenn ich auch die Pension habe, so muß doch was geschehn.«

»Ach, Thilde, daß du nu davon sprichst. Ich hab es ja nicht gewollt und habe mir diese ganze Nacht gesagt: ›Sprich nich davon, Thilde mag es nich, Thilde war immer großartig, und nu is siehs erst recht.‹ Aber da du nu selber davon anfängst, sage, Kind, was soll nu werden. Denn es war ja doch eine furchtbare Krankheit.«

»Ja, Mutter, das war es. Immer die Beklemmung und die Atemnot.«

»Ach ja, Thilde, die Beklemmung. Aber ich mein nich die Beklemmung, ich mein, daß es so lange gedauert hat.«

»Ja, grad ein Vierteljahr...«

»Und wenn in einer kleinen Stadt der Doktor auch um die Ecke wohnt, die Länge hat die Last, und zuletzt macht es doch was. Und dann die Medizin. Und grade weil es mal besser war, da müssen sie dann immer gestärkt werden. Aber es hilft meistens nich, und alles is bloß hin.«

Thilde nahm ein Stück Zucker und brach es zweimal durch und sah nun auf die vier Krümel, die da vor ihr lagen. In den vier Krümeln hatte sie nun wieder ihr Leben, und die Mutter, die noch kein Wort von dem armen guten Mann gesprochen hatte, rechnete schon wieder, was es gekostet habe. So nüchtern sie selber war, das war ihr doch zuviel. Sie nahm der Alten Hand und sagte: »Mutter, bringe der Runtschen den Kaffee raus, sie wird wohl noch nichts Warmes genossen haben. Die Runtschen is wirklich arm. Ich will in die andre Stube gehn und mich einen Augenblick hinlegen; vielleicht schlafe ich ein, mir is doch so übernächtig.«

Sie dachte nicht an Einschlafen, sie wollte nur allein sein und einen Augenblick andre Gedanken haben. Sie schritt auf und ab. Da war das Stehpult, drauf die juristischen Bücher immer so verstaubt umherlagen, und da war der Sofatisch, auf dem hochaufgeschichtet die kleinen Bücher lagen und ein paar Bleistifte daneben, um immer gleich Notizen an den Rand schreiben zu können. Und da war das Fensterbrett, an das gelehnt sie so sonderbar sentimental ihre Verlobung gefeiert hatten er noch halb krank und verlegen und sentimental, sie nüchtern und berechnend. »Ich habe mich ihm immer überlegen geglaubt. Es war nicht so. Wenn das ewige Nachrechnen klug ist, dann ist Mutter die klügste Frau. Von den andren, zu denen Hugo gehörte, hat man doch mehr, und ich will versuchen, daß ich ein bißchen davon wegkriege. Aber es wird mir wohl nicht viel helfen; von Natur bin ich gradeso wie Mutter, sie berechnet immer, was es kostet, und ich rechne mir den Vorteil aus. Die vier Krümel Zucker will ich mir in eine Schachtel legen und hier in das offne Sekretärfach stellen. Da hab ich es immer vor Augen und will dran lernen, daß das ganz Kleine nu wieder anfängt, und wenn Mutter weimert, will ich nicht ungeduldig werden. Ich dachte, wunder was ich aus ihm gemacht hätte, und nu finde ich, daß er mehr Einfluß auf mich gehabt hat als ich auf ihn. Rechnen werd ich wohl immer, das steckt mal drin, aber nicht zu scharf, und will hülfreich sein und für die Runtschen sorgen. Schon deshalb, weil die Runtschen seine einzige Renonce war. Und wenn er das sieht, wird er mir's danken. Aber er wird es wohl nicht sehn.«

Und dann ging sie wieder auf und ab und trat ans Fenster, und da, wo damals der Mond gestanden hatte, hing ein grau Gewölk.

Aber als ihr Auge noch drauf ruhte, rötete sich's, und die Sonne gab einen goldnen Saum. »Vielleicht ist das meine Zukunft.«

Und sie holte sich den Regenmantel aus dem Entree, deckte sich zu, verfolgte das Schattenspiel an Wand und Decke und schlief ein.

 

Siebzehntes Kapitel

 

Zu Thildens besondren Eigenschaften gehörte von Jugend auf die Gabe des Sichanpassens, des Sichhineinfindens in die jedesmal gegebene Lage. Wäre Hugo am Leben und im Amt geblieben und nach Ablauf (was nicht anzunehmen, aber doch auch nicht unmöglich) seiner Woldensteiner Amtszeit wegen bewiesener Tüchtigkeit zum Oberburgemeister einer Provinzialhauptstadt gewählt worden, so würde seine Frau, bei Besuchen des Oberpräsidenten, ja selbst bei Kaiserparaden, die Honneurs des Hauses mit ausreichender Geschicklichkeit und jedenfalls mit vollkommener Unbefangenheit gemacht haben; jetzt, wo sie sich nach einem kurzen Erfolg auf die Stufe zurückversetzt sah, von der sie ausgegangen war, fand sie sich auch darin zurecht und nahm ihr altes Leben ohne jede längre Betrachtung und jedenfalls ohne Klage darüber wieder auf. Die Sache lag so und so, folglich mußte so und so gehandelt werden. Nur nicht nutzlose Betrachtungen. Es handelte sich für sie keinen Augenblick darum, ihre Situation in irgendein Gegenteil zu verkehren, sondern nur darum, aus der Situation, wie sie nun mal war, das Beste zu machen, und dies tat sie voll Überlegung und auf ihre Weise, rücksichtsvoll und doch auch wieder entschieden. Soweit es möglich, war sie unerschöpflich in kleinen Guttaten und Aufmerksamkeiten und der Alten insoweit zu Willen, daß sie wie vordem das bloß alkovenhafte Schlafzimmer mit ihr teilte; den ganzen Tag aber [die] sich beständig über Spittel und ähnliche Dinge verbreitende Unterhaltung mit anzuhören oder Fragen zu beantworten, die sich fast immer auf ihr intimes Woldensteiner Leben bezogen, dazu war sie nicht mehr gewillt und hatte dementsprechend kategorisch erklärt, daß sie den Tag über allein sein müsse. »Das mit dem Vermieten müsse ein Ende haben.« Und so hatte sie sich »drüben« eingerichtet, und als die Alte sah, daß Thilde viel schrieb und sich unter Büchern und Karten vergrub und, wenn sie zu Tisch kam (die Runtschen mußte das Essen holen), oft rote Backen vom Lernen hatte, konnte sie sich [denken], was Thilde vorhatte.

Sie konnte sich's denken und war auch nicht eigentlich dagegen. Aber wenn die Alte auch nicht eigentlich dagegen war und sich recht gut entsann, daß der Seminardirektor schon damals, eh Möhring starb, immer von ihren schönen Gaben gesprochen hatte, so ging sie doch davon aus, daß »Lehrerin« nicht recht was sei, ja daß jedes andre Unterkommen, auch wenn von etwas fraglicher Beschaffenheit, immer noch vorzuziehen sei. Bei Tage wagte sie mit solchen Betrachtungen nicht recht hervorzutreten, aber wenn sie zu Bett gegangen waren und schon eine Weile ganz ruhig gelegen hatten, erhob sich die Alte von ihrem Kissen und sagte, während von der Straße her durch die nach vorn hin offenstehende Tür ein schwacher Lichtschimmer sie traf: »Thilde, schläfst du schon?«

»Nein, Mutter. Aber beinah. Willst du noch was?«

»Nein, Thilde, wollen will ich nichts. Mir is bloß so furchtbar angst wegen deiner Lernerei. Du siehst so spack aus und hast solchen Glanz. Er hat ja doch die Schwindsucht gehabt. Und am Ende...«

»Nu?«

»Am Ende wär es doch möglich. Und wenn es so is, is doch frische Luft immer das beste...«

»Gewiß, frische Luft is immer gut. Aber wo soll ich sie hernehmen? Hier is sie nich gut, und wenn es nich wegen deines Rheumatismus wäre...«

»Nein, Thilde, so das Fenster offen, das geht nicht. Aber du könntest doch die frische Luft haben.«

»Ich? woher denn?«

»Ja, Thilde, du hast mir doch gleich in deinem ersten Brief geschrieben, ich meine in deinem ersten, als er tot war, da hast du mir geschrieben von wegen ›Hausdame‹ mit Gehalt. Und wenig kann es doch nich gewesen sein, weil er ja so reich is, wie du mir geschrieben hast. Und alt is er auch. Ja, da hättest du die schöne frische Luft gehabt und die gute Verpflegung, ich will nichts sagen, aber was wir heute hatten, hatte doch keine Kraft nich, und alt is er, und wenn du ihn ordentlich gepflegt hättest, und das hättest du gewiß, denn du hast ja Mitleid mit jedem und mit mir auch, denn du bist gut, Thilde, ja, Thilde, dann hätten wir vielleicht was. Einer, der so reich is, kann doch nich so mir nichts, dir nichts sterben, ohne was zu hinterlassen. Und vielleicht daß er noch ganz zuletzt... War er denn katholsch?«

»Natürlich war er katholsch.«

»Na, denn ging es nicht.«

»Ach, deshalb wär es schon gegangen. Katholsch is nich schlimm. Aber was denkst du denn eigentlich? Ich will von Woldenstein nicht reden. Aber hier? Was würden hier die Leute gesagt haben. ›Die hat es eilig.‹ Und die Petermann, der alte Giftzahn, die hätte gesagt: ›Es wird wohl eine schöne Geschichte gewesen sein.‹«

»Ach, Thilde, dessentwegen muß man sein Glück nich fortstoßen.

Die Leute sagen immer so was. Aber wenn man was hat, dann is es gleich. Und bloß wenn man nichts hat...«

»Ja, Mutter. Nu wollen wir aber schlafen.«

 

Der Wunsch der Alten ging ganz entschieden dahin, daß sich Thilde wieder verheiraten sollte. Hugo war ein sehr hübscher Mann gewesen und aus einem sehr guten Hause. Und wenn sie damals, wo sie bloß ein armes Mädchen war, den Hugo gekriegt hatte, so konnte sie jetzt jeden heiraten, denn sie hatte ja nun einen Titel, und wenn sie mitunter ausging und war eine junge Witwe, und die Trauer stand ihr gut, und wenn sie zum Schulrat ging mit dem geteilten langen Schleier, sahen ihr die Leute nach. Und die Alte war nur unglücklich, daß sie gesagt hatte, »die Haubenschnebbe, das is zuviel. So furchtbar trauern darf ich nicht, das is anstößig.«

Ja, wieder heiraten sollte Thilde. Als die Alte aber merkte, daß Thilde dies ganz entschieden ablehnte und wirklich nur Lehrerin werden wollte, kam sie auf einen andren Plan, der geraume Zeit nach jener Unterhaltung über den alten Grafen und das mutmaßlich verscherzte Glück, auch wieder nächtlicherweile, geführt wurde. Diesmal nicht in dem sauerstoffarmen Alkoven, sondern noch in der Vorderstube, die Alte steif aufrecht auf dem Sofa, Thilde zurückgelehnt auf der Chaiselongue.

»Na, Thilde, du warst ja heute wieder da. Wann glaubst du denn, daß es soweit is?«

»Du meinst mit dem Examen und mit der Stelle. Und meinst, wann ich das erste Gehalt kriege?«

»Ja, Kind, das mein ich. Du willst immer davon nich hören. Aber es is doch was Sichres.«

»Ach, sicher is das andre auch.«

»Meinst du? Na, ich will es dir wünschen. Aber wenn es auch noch so sicher ist, das mit der Schule, das is doch nu die Hauptsache. Das hast du selber immer gesagt. Und da hab ich dich nu schon lange fragen wollen, ob du nich das mit der Witwe fallenlassen und deinen Mädchennamen wieder aufnehmen willst. Es werden ja so viele mit andre Namen getauft, und bei dir is es nich mal so, da kommt das Alte bloß wieder obenauf.«

Thilde schüttelte den Kopf, ersichtlich in einiger Verstimmung. Aber die Alte, die sich, solange sie den Wiederverheiratungsplan hatte, von »Witwe« viel versprochen hatte, wollte bei veränderter Sachlage mit ihrem neuen Plane nicht nachlassen und fuhr fort: »Ich denke mir, Thilde, du mußt es nu lieber so nehmen, als ob es... ja, wie heißt es doch, wenn was ganz kurze Zeit dauert und dann wieder vorbei ist...«

»Ich weiß schon, was du meinst...«

»Also so nehmen, Thilde, wie wenn es gar nicht gewesen wäre. Daß dir als Witwe was zugute getan wird, kann ich mir nich denken, und Fräulein is doch das Gewöhnliche...«

Thilde richtete sich auf, nahm ein noch von Woldenstein mitgebrachtes Luftkissen in den Rücken und sagte: »Ja, Mutter, was denkst du dir eigentlich dabei. Das is doch wie eine Defraudation, wie eine Unterschlagung, wie Lug und Trug.«

»Gott, Kind, rede doch nicht so was.«

»Ja, Mutter, das ist Ableugnung des Tatsächlichen und straffällig.«

»Gott, Gott.«

»Ich habe dir wohl öfters gesagt, wenn du so beständig anpurrtest und alles wissen wolltest, was auch nicht richtig war und immer nur davon kam, daß du gegen den armen Hugo was hattest – nun, da hab ich dir wohl mal gesagt, daß es nicht so was Besondres gewesen sei, was ich vielleicht nicht hätte sagen [sollen], denn alles, was man so sagt, wird doch bloß mißverstanden. Und nun bist du geradeso wie die andern Menschen. Aber es is alles falsch, was du da denkst, und ich muß dir sagen, ich glaube beinah, daß er lieber nicht hätte heiraten sollen. Er sah so stark aus mit seinem Vollbart, aber er war nur schwach auf der Brust, und ich bin ganz sicher, es hat ihm geschadet. Und nun soll es gar nichts gewesen sein. I, das wäre ja doch schändlich und undankbar, wenn ich ihm so was in seinem Grabe nachsagen wollte. Fräulein Möhring! Was denkst du dir nur? Ich bin kein Fräulein und habe meinen Stolz als Frau und Witwe, wenn ich auch kein Pfand seiner Liebe unterm Herzen trage.«

»Gott, Thilde, sage doch nich so was.«

»Ja, so sagt man, Mutter; das ist gerade das richtige Wort. Und es ist bloß ein Zufall, daß es so ist, wie es ist...«

»Meinst du?«

»Freilich meine ich. Und mitunter denke ich, es wäre doch hübsch und auch besonders für dich, wenn du ihn einbuschen könntest. Freilich, Rechnungsrats schlafen grade unter uns, und die würden wohl raufschicken und sagen, wir sollten nicht so viel hin und her wiegen, denn die denken, drei Treppen hoch ist so gut wie gar nichts.«

»So is es, Thilde. Arme Leute...«

»... müssen sich alles versagen.«

»... Un sollen nich mal buschen. Ach, die Menschheit is zu schlecht, und ich erleb es auch nich mehr.«

 

Das war kurz vor dem Examen, das Thilde glänzend bestand, viel glänzender als Hugo damals das seine. Noch an demselben Tage sagte man ihr, daß eine Stelle für sie frei sei: man freue sich, ihr dieselbe geben zu können. Am 1. Oktober trat sie ein, Berlin N, zwischen Moabit und Tegel. Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf. Nur ohne Krimstecher. Das seitens der Schuldeputation in sie gesetzte Vertraun hat sie gerechtfertigt.

Hinaus fährt sie jeden Morgen mit der Pferdebahn, den Weg zurück macht sie zu Fuß und kauft immer was ein für die Mutter, einen Kranzkuchen oder einen Geraniumtopf oder eine Tüte mit Prünellen. Oft auch am Oranienburger Tor eine Hasenleber, weil sie weiß, daß Hasenleber das Lieblingsgericht der Alten [ist]. Und die Alte sagt dann: »Gott, Thilde, wenn ich dich nicht hätte.«

»Laß doch, Mutter, wir haben es ja.«

»Ja, Thilde, es is schon wahr. Aber wenn es man bleibt.«

»Es wird schon.«

Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahre kriegt er nach Woldenstein hin einen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück. Rebecca hat sich verheiratet.