Land voraus

Am nächsten Morgen war Monika rechtzeitig auf dem Oberdeck, um die westindische Insel Hispaniola, prachtvoll grün, aus dem tiefblauen Meer auftauchen zu sehen.

Es waren außer ihr noch andere Frühaufsteher erschienen, und es wurden Feldstecher und Fotoapparate gezückt. Filmkameras begannen zu surren. Monika hätte selber gern mehr gesehen, aber heute morgen war nicht ihr Freund, der Kapitän, auf der Brücke, sondern der Zweite Kapitän, und den wagte sie nicht um das Fernglas zu bitten. So beschränkte sie sich denn darauf, die Augen zusammenzukneifen. Die Wassermann näherte sich ziemlich rasch der Insel, die sich zu vergrößern schien.

Monika wußte inzwischen — von Ingrid, die den Vortrag gehört hatte — , daß sie sich dem Teil der Insel näherten, der zur Republik Haiti gehörte, und zwar fuhren sie auf die Hafenstadt Cap Haitien zu. Von einer Stadt oder einem Hafen konnte sie allerdings von ihrem Ausguck aus immer noch nichts erkennen. Sie sah nur das Grün einer tropischen Vegetation, eine Bucht, in der einige Motorboote lagen, und eine Art hölzerner, schilfbedeckter Terrasse, die wie ein Pfahlbau am Ufer stand. Die Wassermann führte auch gar kein kompliziertes Anlegeverfahren durch, sondern ankerte nur, ein gutes Stück vom Land entfernt.

Sie sagte zu Simon, der neben ihr auftauchte: „Cap Haitien habe ich mir aber ganz anders vorgestellt! Ich dachte, es wäre die zweitgrößte Stadt Haitis.“

„Gut gelernt!“ lobte Simon. „Ist sie auch. Sie hat über sechs-undvierzigtausend Einwohner. Aber wir fahren nie in den eigentlichen Hafen...“

„Und warum nicht?“

„Weil es sich für den kurzen Aufenthalt nicht lohnen würde.“

„Das ist schade. Ich hätte die Stadt gern besichtigt.“

„Sprichst du Französisch?“

„Nein.“

„Dann wärst du schon verloren. Auf Haiti wird nur Französisch gesprochen, das heißt, die Amtssprache ist Französisch. Die Umgangssprache ist Kreolisch.“

„Was ist denn Kreolisch?“

Simon kratzte sich am Kopf. „Du stellst aber schwierige Fragen!“

„Na, wo Sie die Strecke dauernd fahren, müßten Sie’s doch wissen.“

„Tu ich ja auch, es ist nur schwer zu erklären. Also: unter kreolischen Sprachen versteht man europäische Sprachen — Englisch, Französisch, Spanisch die von einer überseeischen Mischbevölkerung übernommen worden sind. Auf den Kleinen Antillen zum Beispiel wird karibisch-kreolisch gesprochen. Das ist ein Kreolisch auf englischer Grundlage. In der Republik Domingo, auf der anderen Seite von Hispaniola, spanischkreolisch. Das Kreolisch auf Haiti dagegen hat sich aus dem Französischen herausgebildet.“

„Dann ist Kreolisch immer anders?“

„Du sagst es. Es richtet sich danach, welches europäische Land den größten Einfluß hatte. In Haiti war es Frankreich. Die Hauptstadt heißt Port-au-Prince, klingt auch ganz französisch. Das Schulsystem ist nach dem französischen Schulsystem aufgebaut. Es gibt eine allgemeine Schulpflicht vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr.“

„Das ist aber knapp“, meinte Monika.

„Eine Menge Haitianer können auch nicht lesen und nicht schreiben... ich glaube, sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung.“

„Dann sind sie auch noch Schulschwänzer!“

„Kann schon sein. Weißt du, die Haitianer sind sehr arme Leute, und wenn man Tag um Tag um das Notwendigste kämpfen muß, hat man weder Zeit noch Lust noch Kraft, zu lernen.“

„Arm?! Aber man sieht doch schon von hier aus, wie üppig da alles wächst!“

„Tut es auch... Bananen, Ananas, Zuckerrohr, Sisal, Kaffee...“

„Na, also!“

„Es gibt auch noch Bodenschätze, die noch gar nicht ausgeschöpft sind...“

„Aber dann müßte man doch was draus machen können!“ erklärte Monika eifrig.

„Ja, weißt du, die Leute hier sind ziemlich hilflos. Die ursprünglichen Eingeborenen waren Indianer. Sie sind ausgerottet worden oder an Infektionskrankheiten gestorben. Heute besteht die Bevölkerung zu neunzig Prozent aus Nachkommen von Negersklaven. Die waren von den Franzosen aus Afrika geholt worden, um auf den Plantagen zu arbeiten. Anfang des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit der Französischen Revolution, konnten sie sich befreien. Die Franzosen verließen das Land, falls sie nicht umgebracht worden waren. Aber danach kam es zu fortgesetzten Bürgerkriegen, zu Kriegen mit der Dominikanischen Republik, Spaltungen und Wiedervereinigungen. Später griffen die USA als Schutzmacht ein, und erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Haiti wieder unabhängig. Es versuchte eine Republik zu werden und nennt sich heute auch immer noch so. Aber nach verschiedenen Umstürzen und Unruhen und Streiks hat es jetzt einen Diktator. Er heißt Jean-Claude Duvalier und ist Mulatte. Die ganze Oberschicht in Haiti besteht aus Mulatten, also Mischlingen. Jean-Claude Duvalier hat die Macht übrigens von seinem Vater geerbt.“

„Dann ist er ja so etwas wie ein König!“

„Vielleicht versucht er es auch dem Namen nach zu werden. Anzunehmen ist jedenfalls, daß er versuchen wird, nun seinerseits wieder die Macht seinem Sohn zuzuschanzen.“

„Das klingt ja spannender als eine Abenteuergeschichte!“

„Die Geschichte Haitis ist ja auch wirklich abenteuerlich genug. Du solltest dich mal damit befassen. Ich kann sie dir natürlich nur in Bruchstücken erzählen.“

Große Motorboote kamen vom Land herangetuckert.

„Die Ausschiffung beginnt“, sagte Simon.

„Mein Magen knurrt!“ erklärte Monika. „Ich will mal sehen, was die anderen machen.“

„Kommt doch nach dem Frühstück noch zu mir. Ich werde euch ein paar Gourdes geben.“

„Ich weiß, so nennt man die haitische Währung.“

„Ein Gourde gilt etwa fünfunddreißig Pfennig. Einen Dollar in Gourdes solltet ihr schon jeder dabei haben.“

„Für was?“

„Etwas Kleingeld braucht man immer, wenn man an Land geht. Laß dir das von einem alten Seemann sagen.“

Monika lachte und beeilte sich, nach unten zu kommen. Ingrid war gerade dabei, sich anzuziehen, als sie in die Kabine kam. Monika berichtete alles, was sie erfahren hatte. Aber sie machte damit keinen Eindruck auf die Freundin. Ingrid wußte schon alles oder tat so, als wenn sie alles wüßte. Das ärgerte Monika ein bißchen. Außerdem dauerte es ihr zu lange, bis Ingrid fertig war. Also ging sie schon einmal allein in den Speisesaal. Sie aß eine halbe Ananas und anschließend Eier mit Speck.

Sie wischte sich gerade den Mund ab, als Ingrid sich zu ihr an den Tisch setzte. Sie war sehr schick in ihrem weißen Faltenrock mit zartrosa Blüschen. Monika zweifelte, ob dies die richtige Aufmachung für eine Ausschiffung und einen Besuch auf Haiti war. Aber sie unterdrückte ihre Kritik.

„Gut siehst du aus!“ sagte sie statt dessen.

„Wo steckt Norbert?“

„Vielleicht hat er schon mit seinen Eltern gefrühstückt.“

„Glaube ich nicht.“

„Dann werde ich ihn mal suchen gehen.“

„Du bist immer so unruhig.“

„Ja, sollen wir denn ohne ihn losfahren?“

„Warum nicht? Wenn er verschläft?“

„Ich glaube, du bist heute mit dem linken Fuß aufgestanden.“ Monika lief los und klopfte an die Steinsche Kabine. „Aufstehen, du alter Faulpelz! Aut, aut!“ brüllte sie, woraufhin sich einige Passagiere, die den Gang entlang kamen, nicht gerade freundlich nach ihr umblickten. Dann lief sie zum Zahlmeisterbüro, auf der Wassermann auch Purser’s Office genannt, und ließ sich von Simon das Kleingeld geben.

Vor dem Office traf sie auf Norbert, der, noch ganz verstrubbelt, aus seiner Kabine kam.

„Na endlich!“ rief Monika statt: „Guten Morgen!“

„Hast du mich geweckt?“

„Wer sonst?“

„Gute Frage.“ Norbert rieb sich die Augen.

„Waschen wäre besser“, sagte Monika.

„Zu spät! Ich bin so, wie ich war, in die Hosen gefahren.“ Norbert gähnte. „Mensch, Monika, ich bin dir wirklich dankbar.“

„Nun übertreib mal nicht!“

„Wie ich meine Eltern kenne, hätten sie mir bis ans Lebensende vorgeworfen, wenn ich verschlafen hätte. Soll ich dir mal was sagen? Ich bin sicher, die haben sich heute früh so leise angezogen wie die Heinzelmännchen, bloß damit ich nicht wach wurde.“

„Ich nehme eher an, daß du ganz schön müde warst.“

„Das auch! Aber die suchen doch nur nach einem Vorwand, mich nicht mehr in die Disko zu lassen.“

„Mein lieber Norbert, ,die‘ stehen im Stall und machen muh.“

„Ach, nimm’s nicht so genau. Schließlich sind wir hier unter uns.“

Vor der weit geöffneten Luke drängten sich schon die Passagiere zur zweiten Ausschiffung.

„Meinst du, ich habe noch Zeit zu frühstücken?“ fragte Norbert.

Monika sah auf ihre Armbanduhr. „Massenhaft. Es ist ja erst acht.“

„Warum drängen die sich denn dann schon so?“

„Wahrscheinlich haben sie Angst, sonst nicht mitzukommen.“

Norbert machte große Augen. „Ist das denn möglich? Ich meine... daß plötzlich ein Platz zu wenig ist?“

„Null Ahnung. Aber ich will dir mal was sagen. Geh du rein und frühstücke. Ich bleibe hier, und sobald das erste Boot anlegt, schreie ich. Also kann gar nichts passieren.“

„Gute Idee. Notfalls nehme ich mir meinen Toast dann in die Hand.“ Norbert verschwand im Speisesaal.

Monika drängte sich nicht in den Pulk der Wartenden, sondern sie hielt sich außerhalb und beobachtete. Die Passagiere waren wirklich so aufgeregt, als würde es gleich losgehen. Dabei war noch eine Viertelstunde Zeit.

An der Seite neben der Luke war eine große Tafel mit Haken, an der Nummernschilder aus Plastik hingen. Darüber stand: „Bitte, nehmen Sie Ihre Landgangsmarke mit an Land und vergessen Sie nicht, sie wieder aufzuhängen, wenn Sie zurückkommen. Nur so können wir kontrollieren, daß jeder von Ihnen zurück an Bord ist.“

„Aha!“ sagte Monika.

„Was ahast du da so vor dich hin?“ fragte jemand.

Monika blickte sich um; es war Brian, der sie gefragt hatte. „Warum sprichst du mich so von der Seite an?!“ gab sie zurück, suchte auf der Liste neben der Tafel ihren Namen, vor dem eine Nummer stand, und nahm sich das entsprechende Schildchen von der Tafel.

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen.“

„Das schon. Aber ob man darauf eine Antwort bekommt, das steht auf einem anderen Blatt.“

„Sag mal, warum bist du immer so kratzbürstig zu mir?“

„Und warum kannst du mich nicht in Frieden lassen?“

„Mir scheint, wir ziehen uns gegenseitig an.“

„Ich dich vielleicht... du mich bestimmt nicht.“

„Ganz schön eingebildet, wie?“

Monika sah Brian nachdenklich an und stellte fest, daß er ein ausgesprochen gut aussehender Junge war. „In deinem Internat“, fragte sie, „sind da auch Mädchen?“

Ja.“

„Und alle laufen dir nach? Ich meine, die so von zehn bis zwölf.“

Es tat Monika ungemein wohl, ihn erröten zu sehen, denn das war etwas, das gewöhnlich nur ihr passierte.

„Du spinnst wohl!“ sagte er grob.

„Ich glaube nicht!“ Monika strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. „Sonst würdest du nicht so überrascht sein, daß mal jemand... nämlich ich... sich nichts aus dir macht.“

„Du irrst dich. Das ist mir völlig piepe.“

„Wie interessant.“

„An dir liegt mir nämlich gar nichts. Ich möchte mich mit Ingrid und Norbert anfreunden. Aber daraus wird nichts, solange du so zu mir bist.“

„Hochinteressant.“

„Nun tu nicht so. Du weißt genau, daß es wahr ist. Nur dir zuliebe hat Norbert mir gestern nacht ein Bein gestellt.“

„Hat er ja gar nicht.“

„Hat er doch.“

„Hat er nicht.“

„Du solltest froh sein, daß ich mich überhaupt noch um dich kümmere.“

So stritten sie hin und her, und die Zeit verging im Nu. Das erste der großen, offenen Motorboote kam herangetuckert und legte sich längsseits der Wassermann. Ein junger Offizier gab Befehle, und zwei Matrosen zurrten die Stricke fest.

„Wie viele Boote kommen im ganzen?“ fragte Monika den Offizier.

„Drei.“

„Sehr gut.“ Sie wandte sich an Brian. „Wirf doch, bitte, mal einen Blick in den Speisesaal und sieh nach, was Norbert macht.“

Brian lief los und kam wenig später mit der Botschaft zurück: „Er mampft noch. Ingrid schaut ihm dabei zu... oder sie unterhält ihn.“

„Dann lassen wir ihnen noch Zeit“, entschied Monika.

Die Passagiere kletterten, einer nach dem anderen, von starken Matrosenarmen gestützt, in das Boot, das sich rasch füllte. Wieder gab der junge Offizier seine Anweisungen. Die Matrosen lösten die Stricke und stießen das Boot von der Wassermann ab. Langsam wendete es und nahm Kurs auf das Ufer.

Es dauerte nicht lange, bis das zweite Boot erschien und ebenfalls besetzt wurde.

Als es losmachte, sagte Brian: „Jetzt wird’s aber höchste Zeit für die beiden!“

„Ganz deiner Meinung.“

Monika wollte zum Speisesaal laufen, aber da kamen Ingrid und Norbert auch schon. Sie sahen das davonfahrende Boot und bekamen einen Schreck.

„Warum hast du uns nicht gerufen?“ sagte Norbert zu Monika. „Du hattest es versprochen!“

„Reg dich ab. Es kommt noch eins.“

„Wenn nicht“, sagte Ingrid vorwurfsvoll, „sind wir ganz schön aufgeschmissen.“

Jetzt wartete nur noch eine kleine Gruppe von Passagieren auf dem unteren Deck. Ingrid und Norbert drängten sich vor bis ganz dicht an die Luke.

„Da! Es kommt!“ rief Ingrid erleichtert.

„Na, wer sagt’s denn“, war Monikas Kommentar.

Die letzte Einschiffung ging, reibungslos wie alle anderen, vonstatten. Monika und ihre Freunde fanden auf einer der beiden langen Bänke Platz, die an der Reling des Bootes entlang führten. Obwohl die Entfernung zwischen der Wassermann und dem Ufer nicht weit war, höchstens eine Seemeile, dauerte es mindestens fünfzehn Minuten, bis sie ankamen. Das Motorboot machte wenig Fahrt.