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Ich kann nicht mehr sagen, ob mir zum Lachen oder zum Weinen war, als ich im Herbst 1970 erfuhr, dass Lucy Dalton tatsächlich Philip Rawnsley-Price heiraten würde. Aber an meinen Schock erinnere ich mich noch gut. Philips plumpe Anmache, mit der er Lucy und jedes weibliche Wesen belästigte, das ihm mal kurz zuhörte, war nicht sein einziger Makel. Er war schon mit Makeln zur Welt gekommen, mit einem Gesicht flach wie eine Karnevalsmaske, die auf die Straße gefallen und von einem Zehntonner überrollt worden ist. Seine fahle Haut spielte ins Olivfarbene, was ihm aber keineswegs ein exotisches Flair verlieh. Vielmehr erinnerte er an einen kränkelnden südländischen Liftboy und seine runden, wässrigen, von Fältchen umringten Augen an fette Spiegeleier. Nach einer auffallend kurzen Verlobungszeit wurde ich zur Hochzeit geladen, wo mich die gedämpfte Stimmung verwunderte. Als Lady Dalton uns mit Küsschen empfing und zum Gratulieren an das Brautpaar weiterschob, war sie nicht so fröhlich wie sonst. Und obwohl der Form in jeder Hinsicht Genüge getan war – Trauung in der alten Dorfkirche, Festzelt auf dem Rasen, Platten mit faden Knabbereien, dafür ausgezeichneter Champagner – , schien es dem Fest irgendwie an Brio zu fehlen. Sogar die Reden enthielten wenig mehr als Floskeln, denkwürdig lediglich die Ansprache von Lucys betagtem Onkel, der vergaß, wo er war, und uns als »liebe Mitglieder« titulierte. Mitglieder wovon hat er uns jedoch nie verraten.
Alles klärte sich auf, als Lucy schon im Frühjahr ein Mädchen zur Welt brachte. Danach war ich öfter bei dem Paar zu Gast, bei fröhlichen Abendessen in der Küche mit unseresgleichen – die Mädchen aus besseren Kreisen hatten damals den Spitznamen Girls in Pearls, Mädchen mit Perlenkettchen, und wir Jünglinge waren kinnlose Wunderknaben, eine etwas unzarte Anspielung auf adelige Degeneration. Von Philip hatte ich nie viel gehalten, auch später nicht, als wir den Tanzereien entwachsen waren. In ihm vereinte sich Inkompetenz mit einer atemberaubenden Arroganz, und schließlich führte uns das Leben gnädig auf getrennte Wege. Lucy und Philip hatten die Sechzigerjahre (die bekanntlich großteils in den Siebzigern stattfanden) begeistert begrüßt und mussten wie viele andere mit herber Enttäuschung fertig werden, als sich abzeichnete, dass das erleuchtete Zeitalter des Aquarius nun doch nicht anbrach. Sie verließen London, und Philip stürzte sich in eine Reihe verschiedener Jobs oder, wie er es ausdrücken würde, Projekte; die jüngste Geschäftsidee war ein »Bauernladen«, den er und Lucy in Kent eröffnet hatten. Davor war er an Catering, Gastronomie, Sportbekleidung und so was wie Grundstückserschließung gescheitert, was für die weitere Zukunft wenig hoffen ließ. Ich war neugierig, ob die Telefonnummer noch stimmte, als ich Lucy nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder anrief. Aber sie hob ab, und nach anfänglichem Herumgeplänkel erklärte ich, dass ich nächste Woche in ihrer Gegend zu tun hätte und gern bei ihr vorbeischauen würde, da wir uns sicher eine Menge zu erzählen hätten. Auf meinen Vorschlag folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte sie: »Klar. Wie schön. An welchen Tag hattest du denn gedacht?«
»Das überlasse ich dir. Ich kann meine Termine danach einrichten, wann du Zeit hast.« Das war unfair von mir, aber ich hatte den starken Verdacht, dass es ausgerechnet an dem Tag, den ich vorgeschlagen hätte, nun leider gar nicht ginge. So blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Anstand klein beizugeben.
»Du darfst aber kein großartiges Essen erwarten. Meine Kochkünste haben sich seit unserer letzten Begegnung nicht verbessert.«
»Ich möchte nur gern sehen, wo du wohnst.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt.« Sehr geschmeichelt klang das nicht, trotzdem fuhr ich am Donnerstag der folgenden Woche los und schlug mich auf den Landsträßchen Kents nach Peckham Bush durch.
Ich folgte Lucys Wegbeschreibung, ließ den Ort hinter mir und bog, als sich in der hohen Hecke eine Lücke auftat, in die holprige Zufahrt zu einem ehemaligen Bauernhof ein. Große Schilder wiesen zu einem hell erleuchteten Ladengebäude mit einem Überangebot an Parkplätzen, aber das alte Bauernhaus mit dem roten Ziegeldach lag noch ein Stück dahinter, und so hielt ich erst dort. Ich war noch nicht ausgestiegen, als Lucy schon auftauchte. Sie begrüßte mich etwas zurückhaltend. Wir hatten uns, wie gesagt, viele Jahre nicht gesehen, und nur aus einem solchen Abstand lässt sich die ganze Grausamkeit der Zeit ermessen. Und, in Lucys Fall, der Enttäuschung.
So hart war das Leben nicht immer mit Lucy umgesprungen. In einem aus heutiger Sicht bescheidenen Umfang war sie damals ein Liebling der Medien gewesen, ein frühes It-Girl, eine Vorläuferin der Promikultur, die uns bald überschwemmen sollte. Mehr als die meisten anderen Mädchen hatte sie sich den Parolen der Swinging Sixties verschrieben, auch wenn sie nicht so weit ging, dass sie die Müttergeneration wirklich schockierte. Sie trug die kürzesten Miniröcke und den schwärzesten Kajalstift; mit ihren lockeren Sprüchen brachte sie die Journalisten zum Lachen. So schwärmte sie für die »süßen Posträuber« oder erklärte Che Guevara zum Märtyrer mit dem größten Sexappeal. Einmal wurde sie nach dem glücklichsten Augenblick ihres Lebens gefragt. Sie nannte den Moment, als dem Rocksänger P. J. Proby die Hose im Schritt aufplatzte, was dem Evening Standard eine Schlagzeile wert war. Lucys Rebellion war weichgespült, ihre Aufmüpfigkeit salonfähig, ein Bejubeln aller Werte, die an dem Ast sägten, auf dem sie saß – aber alles mit einem frechen Grinsen. Das kam gut an und machte sie bekannt; im Lauf der Saison posierte sie für Fotos im Gesellschaftsteil des Tatler, der sich heute liest wie Botschaften aus dem Vergessenen Land: »Die Debütantinnen des Jahres«, »Aktuelle Mode«, »Die jungen Trendsetterinnen« und so weiter. Lord Lichfield fragte an, ob er sie fotografieren dürfe – er durfte. Auch erinnere ich mich deutlich an einen inzwischen vergessenen Talkmaster (ein damals brandneues Konzept), der sie zu seiner Show einlud. Natürlich lehnte Lucy auf Drängen ihrer Mutter ab, aber allein die Einladung verlieh ihr einen gewissen Nimbus.
Diese überschäumende Spaßphase hatte in dem traurigen, müden Gesicht keine Spur hinterlassen. Lucy trug ihr Haar immer noch schulterlang, aber es hing nun grau, dünn und strähnig herunter. Ihre einst schräge Garderobe war nur noch alt. Alte Jeans, altes Hemd, alte, abgestoßene Schuhe, nichts weiter als Mittel, ihre Blöße zu bedecken. Selbst ihr Make-up war nicht mehr als ein müdes Zugeständnis an ihre Weiblichkeit. Sie nickte zum Haus hinüber. »Komm rein.«
Nach diesem ersten Eindruck stellte ich fast erleichtert fest, dass die Zeit Lucy nicht etwa zu kleinbürgerlicher Häuslichkeit bekehrt hatte. In der Diele sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen und die Besitztümer der Familie auf neue, unlogische Plätze geschleudert. Eine gewisse Art von Unordnung lässt sich nicht allein durch Schlamperei erklären; es gibt Häuser, deren Durcheinander eine gewisse Wut, einen Protest gegen die bestehende Ordnung ausdrückt, und ich mache Lucy gern das Kompliment, ihres dazuzuzählen. Die Einrichtung stammte aus der schlimmsten Phase der Siebzigerjahre, kühne, bedrückende Tapetenmuster in Braun und Orange, gerahmte Filmplakate, viel Rattan und indische Textilien. Dazu passte die Fichtenholzküche mit Terracottaboden und gefliesten Arbeitsflächen, deren Fugen schwarz waren vor Dreck. An den Wänden standen meterweise Regale mit unzähligen, bunt zusammengewürfelten Kaffeebechern, Fotos von den Kindern, dekorativen »Objekten«, vor Jahren als Tombolagewinne ins Haus gewandert, Zeitschriftenseiten, herausgerissen aus einem längst vergessenen Grund. Und überall war es schmutzig. Lucy blickte sich um und sah alles mit neuen Augen, wie man es tut, wenn ein Fremder kommt. »Ach herrje, hier sieht’s ja aus, richtig peinlich. Ich gieß uns schnell einen Drink ein, und wir verschwinden.« Sie suchte in dem großen Kühlschrank herum, fand eine halb leere Flasche Pinot Grigio, holte unter der Spüle zwei verdächtig trübe Gläser hervor, und ging mir voran in ein Zimmer, das einmal die blitzsaubere »gute Stube« der Bauersfrau gewesen sein musste, bevor die Welt anfing kopfzustehen.
Hier machte sich die Tristesse des Zerfalls noch stärker bemerkbar als in den anderen Räumen. Auf den durchgesessenen Sesseln und Sofas, alles Einzelstücke, lagen schlappe Häkeldecken, das Bücherregal war aus Brettern und Ziegelsteinen zusammengebaut. Über dem Kamin hing etwas schief ein recht ansehnliches Porträt einer jungen Frau um 1890, ein unerwartetes Statussymbol aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Im angestoßenen Rahmen klemmten zwei Einladungen und eine Rechnung. Lucy folgte meinem Blick. »Das hat mir meine Mutter geschenkt. Sie dachte, das Wohnzimmer würde damit etwas normaler aussehen.« Sie beugte sich vor und rückte das Bild gerade.
»Wer ist die junge Dame?«
»Meine Urgroßmutter, glaube ich. Sicher bin ich nicht.« Einen Moment lang dachte ich an diese Lady Dalton aus früheren Zeiten, die vom Reiten nach Hause kam, sich zum Mittagessen umkleidete, von den Rosensträuchern die welken Blüten abknipste. Was würde sie von ihrer Rolle in dieser Müllkippe halten?
»Wo ist Philip?«
»Der muss leider den Laden hüten. Er kann schlecht weg. Ich mach dir was zu essen, dann gehen wir zusammen rüber.« Sie trank einen Schluck Wein.
»Wie läuft der Laden denn so?«, fragte ich mit einem breiten Lächeln, angestrengt um Munterkeit bemüht. Schwer zu sagen, ob ich Lucy oder mich selbst damit aufheitern wollte.
»Ach, ganz gut.« Sie lächelte ausweichend. »Glaub ich wenigstens. « Offenbar ging wieder eine von Philips Unternehmungen den Bach runter. »Mit einem Laden ist man ja so angebunden. Bevor wir anfingen, dachte ich, dass dauernd Freunde zum Quatschen vorbeikommen würden, dass wir Tee trinken und Kuchen backen würden und so, aber das kannst du vergessen. Man steht nur rum, eine Stunde nach der anderen, und redet mit wildfremden Leuten, die nicht wissen, was sie wollen. Und wenn man alle Kosten abzieht, du weißt schon, die Ware, die Aushilfen und so weiter, dann bleibt kaum was übrig.«
»Was wollt ihr machen, wenn ihr den Laden aufgebt?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Philip hat so eine Idee, wir könnten Gemälde vermieten.«
»Welche Gemälde? An wen?«
»Das frag ich mich auch«, bestätigte sie wenig loyal meine Skepsis. »Ich kapier’s auch nicht. Er glaubt, da steckt eine Menge Geld drin, aber das sehe ich nicht so. Bist du mit Nudeln einverstanden?«
Ich kehrte mit ihr in die schmuddelige Küche zurück und sah zu, wie sie kleine Schüsseln mit Resten aus dem Kühlschrank holte, Dunkles, halb Verzehrtes. Dann schob sie Teller herum und klapperte mit Töpfen. »Wie geht’s deiner Mutter?«, erkundigte ich mich.
Lucy nickte nachdenklich, als ginge ihr diese Frage schon länger durch den Kopf. »Gut. Bestens.« Sie sah mich an. »Du weißt, dass sie Hurstwood verkauft haben?«
»Nein, das wusste ich nicht. Das tut mir aber leid.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht nötig.« Sie wollte kein Mitleid. »Was Besseres hätte gar nicht passieren können.« Nachdem sie diese Erklärung barsch herausgeblafft hatte, um zu betonen, dass es da nichts zu bedauern gab, entspannte sie sich wieder und holte weiter aus. »Das war ungefähr vor vier Jahren, und damals gab es natürlich ein großes Geschrei, aber keine Alternative. Nicht, nachdem Daddy alles ausgerechnet hatte. Das Gute ist, dass meine Eltern zum ersten Mal in ihrem Leben völlige Freiheit genießen. Johnny hatte nie großes Interesse daran, den Besitz zu übernehmen, und so …« Sie zögerte, suchte nach Worten, die sie nicht schon verwendet hatte, die ihre Aussagen wirkungsvoll bekräftigen würden. Ihr fiel nichts ein. »… und so ist alles bestens.«
Es fasziniert mich, wenn die Verlierer einer Revolution die Umwälzungen, die ihre Lebensgrundlage zerstören, zu bejahen versuchen. Das ist wohl eine Spielart des Stockholm-Syndroms, bei dem die Opfer einer Geiselnahme beginnen, die Täter zu verteidigen. So etwas war in den letzten Jahrzehnten oft zu beobachten, vor allem bei Aristokraten, die zeigen wollen, dass sie nicht von gestern sind. »Wir dürfen uns nicht an die Vergangenheit klammern«, sagen sie munter, »wir müssen mit der Zeit gehen.« Aber der einzige Weg, den sie nach der Diffamierung und Zerstörung aller ihrer Werte noch gehen können, führt in die Versenkung. »Wo wohnen sie denn jetzt?«, fragte ich.
»Ganz in der Nähe von Cheyne Walk. Sie haben eine Wohnung in einem dieser Hochhäuser.«
»Und Johnny und Diana? Was ist aus denen geworden?« Ich hatte im Lauf der Saison auch Lucys Bruder und Schwester so weit kennengelernt, dass wir Begrüßungsküsschen tauschten, wenn wir uns begegneten.
»Johnny hat ein Restaurant in Fulham. Hatte er zumindest. Als wir das letzte Mal telefoniert haben, klang es, als hätte er mit einer Durststrecke zu kämpfen. Aber er wird die Kurve schon kratzen. Ihm fällt immer was ein.«
»Ist er verheiratet?«
»Geschieden. Er hat zwei Söhne, aber die leben bei seiner Ex in der Nähe von Colchester, was für uns ein bisschen mühsam ist. Mummy hat sich anfangs wahnsinnig viel Mühe gegeben. Aber du weißt ja, wie es ist, die Kinder mussten stundenlang im Zug sitzen, und wenn sie endlich bei ihr ankamen, wollten sie gleich wieder nach Hause. Im Moment hat Mummy ein bisschen resigniert, aber sie meint, wenn die Jungs größer sind, wird es einfacher.« Lucy stellte mir mit einer kleinen Verbeugung einen Teller hin. Über unappetitliche gelbgraue Nudeln war eine Sauce gekleckert, die nach Kaninchengedärm aussah. Die halbleere Flasche Pinot Grigio kam ebenfalls wieder zum Zug.
»Wie war seine Frau denn so?« Ohne rechte Begeisterung griff ich zur Gabel.
»Gerda? Ziemlich geistlos, ehrlich gesagt, aber nicht bösartig oder so. Du bist ihr wohl kaum jemals begegnet. Eine Schwedin, die beiden haben sich beim Glastonbury-Festival kennengelernt. Eigentlich war sie mir ganz sympathisch, und die Trennung lief sehr zivilisiert ab. Sie hatten einfach nichts gemeinsam. Jetzt ist sie mit einem Neurochirurgen verheiratet, anscheinend ein Volltreffer.«
»Und was ist mit Diana?« Ich hatte Lucys ältere Schwester immer schöner gefunden als Lucy. Sie sah aus wie die junge Deborah Kerr, und anders als ihre hibbelige Schwester strahlte sie eine souveräne Gelassenheit aus, die für ein Mädchen ihres Alters recht ungewöhnlich war. Wir fanden sie alle äußerst attraktiv, und zum unverhohlenen Entzücken ihrer Mutter bahnte sich damals Vielversprechendes mit dem Erben eines großen Titels an; später hörte ich allerdings, dass nichts daraus geworden war. Ich merkte, dass meine Frage Lucys Fassade angekratzt hatte, und begriff, dass auch hier nicht alles zum Besten stand. Offenbar war die Zeit mit den Daltons recht unsanft umgesprungen. »Ich fürchte, Diana geht es im Moment nicht allzu gut. Auch sie ist geschieden, aber ihre Scheidung war eine ziemliche Schlammschlacht.«
»Ich weiß, dass sie Peter Berwick letzten Endes doch nicht geheiratet hat.«
»Nein, leider nicht, auch wenn ich nie geglaubt hätte, dass ich einmal ›leider‹ sagen würde. Ich fand ihn damals immer so hochnäsig und öde, aber rückblickend kommt er mir vor, als wäre er ein Geschenk des Himmels gewesen. Dianas Ex ist Amerikaner. Du kennst ihn wohl nicht, auch ich könnte gern darauf verzichten. Sie haben sich in Los Angeles kennengelernt, und er verspricht bis heute, dass er dorthin zurückkehrt, aber bisher waren das nur leere Sprüche. Bedauerlicherweise. «
»Hat sie Kinder?«
»Zwei. Aber die sind natürlich schon erwachsen. Ein Sohn ist in Australien, und die Tochter arbeitet in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Das ist lästig, weil die ganze Verantwortung nun bei mir und Mummy liegt, seit Diana in psychiatrischer Behandlung ist.«
Noch ein Satz, und mir wären die Tränen gekommen. Arme Lady Dalton, armer Sir Marmaduke. Was hatten sie getan, dass sie von den Furien so vernichtend abgestraft wurden? Bei unserem letzten Zusammentreffen waren sie noch beispielhafte Vertreter jener Klasse gewesen, die einmal die Geschicke des Empire geleitet hatte. Sie hatten ihre Güter verwaltet, ihre Rolle in der Grafschaft gespielt, das Dorf eingeschüchtert und waren ihren Pflichten nachgekommen. Und hatten, wie ich sehr gut wusste, für ihre Kinder von einer Zukunft geträumt, in der sich dieses Leben mehr oder weniger fortsetzen würde. Was dann wirklich eintraf, sprach diesen Träumen hohn. Mir fiel wieder ein, wie Lady Dalton mich auf dem Queen Charlotte’s Ball vorsichtig über meine Zukunftsaussichten ausgehorcht hatte. Was hatte sie für ihre beiden hübschen, witzigen und hochwohlgeborenen Töchter für glänzende Partien geplant! Hätte das Universum großen Schaden genommen, wenn nur einer ihre Wünsche wahr geworden wäre? Stattdessen war das ganze Haus Dalton, dessen Errichtung Jahrhunderte in Anspruch genommen hatte, innerhalb von vierzig Jahren zusammengestürzt. Das Vermögen war dahin, das wenige übrig gebliebene Geld würden bald ein lebensuntüchtiger Sohn und ein geschäftsuntüchtiger Schwiegersohn aufgezehrt haben. Wenn die Kosten für die Behandlung der Tochter nicht schon vorher alles verschlangen. Und was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Die Eltern hatten nicht begriffen, wie sie auf die aktuellen Veränderungen reagieren sollten, und alle drei Kinder waren dem Sirenengesang der Sechzigerjahre erlegen, hatten auf trügerische Versprechungen gehört und auf die Schöne Neue Welt gesetzt.
Jemand war an der Tür. »Mum. Hast du’s gekriegt?« Ich blickte hoch. Eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren stand in der Tür. Sie war groß und eigentlich recht hübsch, hätte sie nicht eine Aura von Zorn um sich verbreitet, eine ungeduldige Gereiztheit, als ließen wir sie grundlos warten. Nicht zum ersten Mal stieß mir ein frappierendes Phänomen auf, ein weiteres Nebenprodukt der gesellschaftlichen Umwälzung der letzten vier Jahrzehnte: Eltern gehören heute oft einer ganz anderen Gesellschaftsschicht an als ihre Kinder. Die junge Frau war natürlich Lucys Tochter, aber sie sprach ein hässliches, hartes Cockney, und ein Fremder hätte von ihren Rastazöpfen und ihrer wenig soignierten Kleidung eher auf lange, harte Kämpfe in einer heruntergekommenen Wohnsiedlung geschlossen als auf Wochenenden beim Großvater, dem Baronet. Sie war etwa gleich alt wie Lucy damals, aber die beiden schienen aus unterschiedlichen Galaxien zu stammen. Warum nehmen Eltern das hin? Oder fällt es ihnen gar nicht auf? Ist es nicht ein Elementartrieb aller Lebewesen, den Nachkommen die eigenen Sitten und Lebensweisen anzutrainieren? Das Phänomen beschränkt sich im Übrigen nicht auf bestimmte Gesellschaftsschichten. Überall ziehen die Eltern Kuckuckskinder groß, Aliens aus einem anderen Universum.
Die junge Frau würdigte mich keines Blickes. Alles, was sie interessierte, war die Antwort auf ihre Frage. »Hast du’s oder hast du’s nicht, Mum?«, fragte sie schneidend.
Lucy nickte. »Ich hab’s. Aber sie hatten es nur noch in Blau.«
»Nein! Ich wollte doch das pinke. Ich hab dir doch gesagt, dass ich das pinke will!« Was ich hier notiere, ist sprachlich einigermaßen korrekt, die Sprecherin aber klang wie Eliza Doolittle, bevor Professor Higgins sie in die Mangel nahm.
Lucy blieb die Ruhe selbst und antwortete in einem unverändert geduldigen Ton: »Pink war ausverkauft, da dachte ich, Blau wäre besser als gar nichts.«
»Da hast du falsch gedacht!« Das Mädchen stöhnte, rauschte davon und trampelte die Treppe hinauf.
Lucy sah mich an. »Hast du Kinder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nie geheiratet.«
Sie lachte. »Das eine schließt das andere heutzutage nicht mehr aus.«
»Ich habe trotzdem keine.«
»Die machen einen wahnsinnig. Aber hergeben würde man sie natürlich auch nie.«
Ich hatte das Gefühl, auf Auftritte wie gerade eben könnte ich extrem gut verzichten. »Wie viele hast du denn?«
»Drei. Margaret ist die Älteste, siebenunddreißig, verheiratet mit einem Landwirt. Richard ist dreißig und versucht ins Musikgeschäft reinzukommen. Und dann Kitty, die du gerade gesehen hast. Unsere Nachzüglerin.«
Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass der ältesten Tochter mein besonderes Interesse galt. »Und Margaret ist glücklich verheiratet?«
Lucy nickte. »Ich glaube, schon. Ihr Mann ist ehrlich gesagt nicht besonders aufregend. Nun ja, nobody is perfect, aber er ist sehr … zuverlässig. Das ist Margaret anscheinend sehr wichtig.« Man muss Gott auch für kleine Dinge dankbar sein, dachte ich. »Sie haben vier Kinder, und Margaret managt trotzdem noch ihre eigene Firma. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie das schafft, aber sie hat sechzigmal so viel Energie wie wir anderen.« Damians Geist schwebte über den Tisch hinweg.
»Die Abstände sind sehr groß. Zwischen deinen Kindern.«
»Ja. Eigentlich ein Wahnsinn. Kaum denkt man, die Tage der Fläschchenwärmer und Reisebettchen sind vorüber, fangen sie wieder von vorne an. Wenn wir übers Wochenende wegfuhren und das Auto vollpackten, sahen wir aus wie Flüchtlinge beim Versuch, Prag vor dem Einmarsch der Russen zu verlassen. Und das zwanzig Jahre lang.« Sie lachte bei der Erinnerung. »Natürlich wollte ich nie so früh anfangen, aber als Margaret …« Sie brach ab und dämpfte ihr Lachen zu einem leisen, nervösen Kichern.
»Als Margaret was?«
Lucy warf mir einen verschämten Seitenblick zu. »Heute regt sich ja niemand mehr darüber auf. Als wir geheiratet haben, war Margaret schon unterwegs.«
»Ich schockiere dich nur ungern, aber die meisten von uns hatten damals schon spitzgekriegt, dass nach fünf Monaten Schwangerschaft nur selten gesunde Babys zur Welt kommen.«
Sie nickte. »Selbstverständlich. Aber man redete nicht darüber. Und irgendwann war’s vergessen.« Sie dachte eine Weile nach, dann fasste sie mich scharf ins Auge. »Siehst du noch jemand von früher? Ich meine – woher dieses plötzliche Interesse?«
Ich zuckte so ungezwungen wie möglich mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe die Landkarte studiert und gesehen, dass ich praktisch an deiner Haustür vorbeifahre.«
»Mit wem hast du denn noch Kontakt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Inzwischen bewege ich mich in anderen Kreisen. Ich bin Schriftsteller. Ich werde zu Verlagspartys eingeladen, zum jährlichen Quizabend des PEN-Clubs, zur Verleihung des Preises für die geschmackloseste Sexszene des Jahres, den die Literary Review vergibt. Meine Tage des Small Talks mit Komtessen aus Cumberland sind vorüber.«
»Sind sie das nicht für uns alle?«
»Hin und wieder gehe ich noch auf die Jagd. Wenn ich eingeladen werde. Das heißt, wenn auf einer Party ein rotgesichtiger Major auf mich zuwankt und fragt: ›Waren wir nicht zusammen auf der Schule?‹ oder ›Waren Sie nicht auf dem Ball meiner Schwester?‹, erwischt mich das jedes Mal wieder kalt. Beim Gedanken, ich könnte zur selben Generation gehören wie diese öden alten Saufbolde, verschlägt es mir vor Schreck die Sprache.« Lucy sagte nichts dazu, spürte mein Ausweichen. »Gelegentlich begegnet mir ein bekanntes Gesicht. Vor Kurzem habe ich Serena bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung gesehen.«
Das schien eine unausgesprochene Frage zu bestätigen. »Ja, ich habe mir schon gedacht, dass du vielleicht mit Serena in Verbindung geblieben bist.«
»Bin ich gar nicht. So kann man das nicht nennen.« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch. Um die Dinge voranzutreiben, verriet ich ihr: »Aber vor Kurzem habe ich Damian Baxter besucht. Erinnerst du dich an ihn?«
Die letzte Frage war überflüssig. Lucy erblasste. »Natürlich erinnere ich mich an ihn. Ich war doch an jenem Abend dabei.«
Ich nickte. »Ach ja, stimmt.«
»Aber auch ohne dieses Erlebnis würde niemand den Herzensbrecher des Jahres vergessen.« Diesmal hatte ihr Lachen einen leicht bitteren Beigeschmack. »Inzwischen ist er wohl furchtbar reich.«
»Furchtbar reich und furchtbar krank.«
»Das tut mir leid«, sagte sie ernüchtert. »Aber er wird sich doch wieder erholen, oder?«
»Ich glaube, nicht.«
»Oh.« Meine Antwort drängte ihre Bitterkeit in das Schlupfloch zurück, aus dem sie hervorgekrochen war. »Früher musste ich darüber lachen, wie krampfhaft unsere Mütter uns von ihm weggezerrt haben. Wenn sie nur gewusst hätten, dass er einer der ganz wenigen unserer Tänzer war, der die Show hätte am Laufen halten können! Hat er denn geheiratet?«
»Ja, aber niemanden aus unseren Kreisen. Die Ehe hat nicht lange gehalten.«
Sie verdaute die Information. »Ich war wahnsinnig in ihn verknallt.«
Langsam ging mir meine eigene Ahnungslosigkeit auf die Nerven. »Das hast du aber gut verheimlicht.«
»Nur, weil du ihn da schon gehasst hast. Ich hätte mich nie getraut, es dir zu erzählen. Bist du jetzt enttäuscht?«
»Ein bisschen schon. Du hast immer so getan, als könntest du ihn genauso wenig ausstehen wie ich. Auch vorher schon. Als ich noch mit ihm befreundet war.«
Sie beachtete meine Einwendungen nicht weiter. »Nun ja …« Ihr Ton schlug von Gleichmut in Wehmut um. »Das ist alles schon so lange her.« Als schämte sie sich für ihr momentanes Abwiegeln, nahm sie einen neuen Anlauf: »Ich hätte ihn geheiratet, wenn er mir einen Antrag gemacht hätte.«
»Was hätte deine Mutter dazu gesagt?«
»Das wäre mir egal gewesen. Einmal dachte ich sogar, ich müsste ihn zwingen.« Ich sah sie an und wartete auf eine Erklärung. Sie lächelte geziert. »Als ich mit Margaret schwanger wurde, konnte ich nicht mit letzter Sicherheit sagen, wer der Vater war.« Ich unterdrückte einen Aufschrei. Schon der erste Schuss ein Treffer? Es kostete mich Mühe, ruhig zu bleiben und sie ausreden zu lassen. »Ich war mit Damian nie so richtig zusammen, aber es gab einen Moment, an diesem Nachmittag in Estoril …« Sie kicherte verlegen. »Ihr wart alle auf der Terrasse, und ich habe mich davongeschlichen …« Ich muss wohl missbilligend dreingeschaut haben, da sie belustigt zu prusten begann. »Das war in den Sechzigern! Freie Liebe und so. Ich war eine von den ganz Wilden. Komisch, weil Margaret bei Weitem das bravste meiner Kinder ist. Das einzige Brave sogar.«
Diese Situation kam mir bekannt vor. »Unsere Eltern haben sich früher immer über die Problemkinder in den Familien unterhalten«, sagte ich. »Jetzt sind Problemkinder die Norm, und wenn man Glück hat, hat man ein Ausnahmekind, das keine Probleme macht.«
Lucy lachte. »In unserer Familie ist das Margaret. Eigentlich seltsam, weil sie uns schreckliche Sorgen gemacht hat, als sie klein war.«
»Was für Sorgen?«
»Sie hatte Herzprobleme. Für ein Kind ziemlich grausam, nicht? Sie litt an einer Krankheit namens Hereditäre Hypercholesterinämie.«
»Du lieber Himmel!«
»Ich weiß. Ich habe einen Monat gebraucht, bis ich das überhaupt sagen konnte.«
»Jetzt kommt es dir recht flüssig über die Lippen.«
»Du weiß ja, wie es ist. Am Anfang kannst du es nicht einmal aussprechen, und am Ende bist du so beschlagen, dass du eine eigene Klinik aufmachen könntest.« Sie verlor sich kurz in jener schrecklichen, nie ganz vergessenen Episode ihres Lebens. »Komisch. Jetzt kann ich beinahe darüber lachen, aber damals war es unglaublich schlimm. Bei dieser Krankheit produziert der Körper Unmengen Cholesterin, und irgendwann bekommt man einen Herzinfarkt und stirbt. Heute ist in jedem zweiten Satz von Cholesterin die Rede, aber damals war es noch ein Fremdwort, ein beängstigendes. Und früher verlief die Krankheit stets tödlich, mehr oder weniger zu hundert Prozent. Der erste Arzt, der sie bei Margaret diagnostiziert hatte, glaubte das immer noch. Das war in einem Krankenhaus in Stoke. Da kannst du dir vorstellen, was wir durchgemacht haben.«
»Was hat euch denn nach Stoke verschlagen?«
»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Ach ja, Philip hatte wohl diese Idee, eine alte Porzellanfabrik wiederzubeleben. Die hat sich aber nicht lange gehalten.« Wieder ein Einblick in Philips berufliche Fehlschläge. »Jedenfalls hat uns meine Mutter postwendend ins Auto verfrachtet und zu einem Spezialisten in die Harley Street gefahren. Der hatte eine bessere Prognose für uns.«
»Dann konnte man die Krankheit also schon behandeln, als Margaret ein Baby war?«
Lucy nickte; sie durchlebte noch einmal ihre Erleichterung. »Vollständig heilen, Gott sei Dank. Aber erst seit Kurzem. Etwa vier Jahre vorher war der Durchbruch gekommen. Wir haben ewig gebraucht, um uns von dem Schock zu erholen. Monatelang hatten wir immer noch Panik. Ich erinnere mich, wie ich einmal in der Nacht aufgestanden bin und gesehen habe, wie sich Philip über Margarets Bettchen beugte und weinte. Wir reden nie darüber, aber wenn ich mich jetzt über ihn ärgere, denke ich im Stillen an diesen Moment und verzeihe ihm.« Sie zögerte, in innerem Zwiespalt mit ihrer Wahrheitsliebe. »Oder versuche es wenigstens«, schob sie nach. Ich nickte; das leuchtete mir ein. Der Philip, der im dunklen Kinderzimmer um sein unschuldiges Baby weinte, klang nicht nur viel sympathischer, sondern auch tausendmal interessanter als der Angeber auf den Bällen. Lucy war mit ihrem Bericht noch nicht zu Ende. »Nur eines konnten wir nicht begreifen: Dauernd erzählte man uns, die Krankheit würde ausschließlich durch Vererbung übertragen. Aber keiner von uns hatte in unseren Familien je davon gehört. Wir befragten unsere Eltern und so weiter, fanden aber keinen Anhaltspunkt.« Sie machte eine Pause. Vermutlich holte sie diese schmerzhaften Erinnerungen nicht oft aus der Versenkung. »Irgendwie glaube ich, dass Margarets Bedürfnis nach einem ganz normalen Leben wahrscheinlich von jener frühen Bedrohung kommt, an der sie fast gestorben wäre. Meinst du nicht auch?«
Alle ihre Ausführungen trafen natürlich genau den Kern der Sache, die mich nach Kent geführt hatte, aber bevor ich etwas dazu sagen konnte, merkte ich, dass jemand in der Tür stand. »Hallo, Fremder. « Der aufgeschwemmte, angeschlagene Grauschopf erinnerte kaum noch an den jungen Mann, den ich als Philip Rawnsley-Price gekannt hatte. In unserer Jugend hatte Philip eine gewisse Ähnlichkeit mit einem viel attraktiveren, frech-fröhlichen Schauspieler gehabt, Barry Evans, der damals durch den Film Unterm Holderbusch bekannt wurde. Darin verkörperte er die vielen von uns, die gern in gewesen wären, aber nicht genau wussten, wie man das wird, eine Rolle, die ihm viel Popularität einbrachte.
Wenn ich Philip so ansah, konnte ich mich schwer des Gefühls erwehren, dass auch ihm das Leben übel mitgespielt hatte. Er trug eine alte, fleckige Cordhose, abgewetzte Slipper und ein kariertes Hemd mit ausgefranstem, offenem Kragen. Alte Kleider waren anscheinend ein Markenzeichen der Familie. Wie ich hatte er ein Bäuchlein und schütteres Haar, im Gegensatz zu mir aber auch das rote, fleckige Gesicht eines Trinkers. Mehr als alles andere verriet ihn der müde Blick aus den Spiegeleieraugen mit den Hängelidern, ein Blick, der so typisch war für die Gescheiterten aus den oberen Schichten. Mit einer Grimasse, die er für ein schalkhaftes Grinsen hielt, streckte er mir die Hand entgegen. »Schön, dich zu sehen, altes Haus. Was führt dich in unsere gottverlassene Ecke?« Er bemächtigte sich meiner Finger und quetschte sie mit jenem Schraubstock-Händedruck, mit dem solche Männer ihre nicht nachlassende Dynamik demonstrieren wollen. Lucy, die gerade in so lyrischen Tönen von ihm gesprochen hatte, schien sich jetzt über die Störung zu ärgern.
»Was machst du denn hier? Wir wollten gleich nach dem Mittagessen rüberkommen. Wer ist im Laden?«
»Gwen.«
»Ganz allein?« Ein schneidender Vorwurf, der auch für meine Ohren bestimmt war und mir Philip offenbar als inkompetenten Trottel vorführen sollte. Noch vor einer Minute hatte uns das erschütternde Bild des tränenumflorten Papas bewegt, aber jetzt fand Lucy wohl den Hinweis angebracht, dass die Fehlschläge in ihrem Leben nicht auf ihr Konto gingen. Oberflächlich betrachtet war dieses Verhalten unlogisch und widersprüchlich, doch das ist bei solchen Paaren nichts Ungewöhnliches. In einer Gesellschaftsschicht, in der eine Scheidung immer noch als Versagen empfunden wird, sind solche zwiespältigen Gefühle nicht selten. Noch heute gilt persönliches Unglück – jedenfalls das Reden darüber – in der Oberschicht als ungehörig, als Zumutung. Und so muss man in der Öffentlichkeit und selbst vor guten Freunden immer so tun, als liefe im Privatleben alles bestens. Philip nickte auf Lucys schroffe Frage. »Gwen schafft das schon. Seit über einer Stunde hat sich kein Kunde blicken lassen«, sagte er resigniert; der hoffnungslose Zustand seines Geschäfts hätte sich nicht schlichter beschreiben lassen. Hier hatte Philip nicht mehr die nötige Energie, um den Schein zu wahren. Er konnte gerade noch hinter der Ladentheke stehen, aber seine Schinderei zu beschönigen, wäre zu viel verlangt gewesen. Er holte sich einen Löffel und begann direkt aus dem Nudeltopf zu essen. »Lucy hat mir erzählt, du bist jetzt Schriftsteller? Was hast du denn geschrieben, was ich vielleicht gelesen habe?«
Das war natürlich ein Versuch, sich selbst aufzuwerten, indem er mich und meine Tätigkeit abwertete, aber Gehässigkeit steckte wohl nicht dahinter. Er vermutete zu Recht, dass ich über ihn urteilte, und zeigte mir, dass auch er sich das Recht herausnahm, über mich zu urteilen. So etwas kennt jeder aus meiner Generation, der sich entschieden hat, sein Brot mit der Kunst zu verdienen. In unserer Jugend hielten uns Eltern wie Freunde für vollkommen verrückt; aber solange wir uns mühsam durchschlugen, unterstützten uns unsere besonneneren Zeitgenossen gern mit Ermutigung, Mitgefühl und sogar der einen oder anderen Mahlzeit. Die Probleme begannen, sobald wir Künstler Erfolge hatten. Dass wir Geld verdienten oder schlimmer noch, mehr Geld verdienten als unsere vernünftigen Bekannten, grenzte für sie an Unverschämtheit. Sie hatten den langweiligen Weg einer sicheren Existenz gewählt. Wenn nun auch wir unsere Existenz gesichert und dabei sogar unseren Spaß gehabt hatten, war das schlichtweg unannehmbar und verdiente eine Strafe. Ich lächelte. »Nichts, glaube ich. Wenn du etwas von mir gelesen hättest, dann hättest du meinen Namen sicher wiedererkannt.«
Er sah Lucy an und zog die Augenbrauen hoch, vermutlich ein humoristischer Wink, ich sei wohl einer dieser überempfindlichen Künstlertypen, die man mit Samthandschuhen anfassen müsse. »Lucy hat ein paar von deinen Sachen gelesen. Sie hält, glaube ich, ziemlich viel davon.«
Ich wies ihn nicht daraufhin, dass sich mit dieser Bemerkung seine erste Frage erübrigte. »Das freut mich.« Nach diesen Worten breitete sich Schweigen aus, eine Weile saßen wir stumm da. In der Luft lag etwas Lähmendes. Das passiert oft, wenn sich alte Freunde nach vielen Jahren wiedersehen. Vorher denkt man, wunders wie ausgelassen und übersprudelnd alle sein werden, aber meist fehlt solchen Treffen der Glanz, man ist älter geworden und hat kaum noch etwas gemeinsam. Die Rawnsley-Prices hatten – mehr schlecht als recht – ihren Weg zurückgelegt, ich den meinen, und jetzt waren wir nur noch drei Leute in einer sehr schmutzigen Küche, einander fremd.
Bevor ich meine Mission als erledigt betrachten könnte, brauchte ich noch weitere Informationen, an die ich nicht herankäme, solange Philip bei uns war. Zeit also, die Gruppe zu sprengen. »Darf ich mir den Laden ansehen?«, fragte ich. Das nun folgende Zögern enthielt viel Unausgesprochenes. Philips Bedürfnis vermutlich, sich als genauso erfolgreich darzustellen, wie ich es war, was selbst bei der Bescheidenheit meiner Karriere schwierig würde, wenn ich das Geschäft tatsächlich zu sehen bekäme. Vielleicht auch Lucys plötzliche Erkenntnis, dass ich von diesem Besuch nicht den Eindruck mitnehmen würde, bei den Rawnsley-Prices wäre alles in Butter. Im Grunde wollen wir doch alle in den Augen unserer Zeitgenossen gut dastehen, was Lucy nun versagt blieb.
Aber schließlich nickte Philip. »Klar.«
Es wird niemanden überraschen, dass der Bauernladen eine einzige Katastrophe war. Passenderweise war er in einem ehemaligen Viehstall untergebracht, in dessen Ausbau man deutlich zu wenig Zeit und Geld gesteckt hatte. Theke und Regale aus dem unvermeidlichen Kiefernholz verbreiteten einen bemüht fröhlichen Optimismus. Bunte Tafeln priesen in riesiger roter Schreibschrift das großartige Angebot an: Frisches Gemüse!, schrie es einem da entgegen, Hausgemachte Marmeladen und Gelees! Aber in der gähnenden Leere des Ladens wirkten sie nur trostlos und armselig, wie jemand mit einem lustigen Karnevalshut, der allein vor sich hin isst. Der Bodenbelag war billig, die Decke unfertig, und wie mir schon geschwant hatte, bestand das Warenangebot aus Dingen, die kein vernünftiger Mensch je kaufen würde. Da gab es nicht nur Dosen von Wildschwein – oder Gänseleberpastete, sondern auch irgendwelchen Klimbim, der verhindern sollte, dass Wein im Kühlschrank den Geschmack verliert, und Wolleinlagen für Fischerstiefel. Typische Mitbringsel für Leute, die vom Schenken keine Ahnung haben. Die Fleischtheke machte sogar auf Karnivoren wie mich einen extrem unattraktiven Eindruck und schien eher von einer eingehenderen Besichtigung abschrecken zu wollen. Eine einsame Kundin bezahlte einen Blumenkohl, ansonsten war der Laden menschenleer. Wir sahen uns schweigend um. »Das Problem sind diese Einkaufszentren«, sagte Philip lahm. »Die schießen überall aus dem Boden. Mit den Preisen dort kann man unmöglich mithalten, wenn man nicht pleitegehen will.« Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass sie wohl sowieso pleitegingen. »Wir hören dauernd, die Leute wären heutzutage so umweltbewusst, es wäre ihnen wichtig, woher die Lebensmittel kommen, aber …« Er seufzte. Was vielleicht als ironisches Achselzucken beabsichtigt war, endete in einem traurigen Absacken der Schultern. Ich gestehe, dass er mir in diesem Moment ungemein leidtat.
Der Kurswechsel in den harten Zeiten der Geschichte bremst weder die Dynamik innovativer Geschäftsideen noch den Ehrgeiz, der einen Fabrikgründer oder eine gesellschaftlich tonangebende Gastgeberin antreibt, der einen neuen Stern am Bühnenhimmel aufgehen oder jemanden Triumphe auf dem politischen Parkett einheimsen lässt. Das alles ändert sich nicht. Unterschiedlich ist dagegen, wie viel Leerlauf hinter der brillanten Fassade noch geduldet wird. In einer entspannteren Zeit wie meinen Jugendjahren kamen auch Leute mit bescheidenen Fähigkeiten über die Runden, in allen Schichten der Gesellschaft. Auch für diese Menschen fanden sich Jobs und Wohnungen. Irgendein Onkel half; die Mutter eines Bekannten legte ein gutes Wort ein. Aber wenn sich die Dinge zuspitzen, wenn wie heute mehr zu holen ist, aber ein rauerer Wind weht, dann werden die Schwachen zur Seite geschubst, bis sie über die Klippe stürzen. Ungelernte Arbeitskräfte werden genau wie kurzsichtige Landbesitzer von einem System zermalmt, das sie nicht durchschauen, und landen im Abseits. Wie Philip Rawnsley-Price. Unbewusst hatte er wohl damit gerechnet, dass er mit seinem forschen Auftreten schon durchkommen würde, dass er es mit seinem Charme und seinen Beziehungen schon schaffen würde, egal, was er anpackte. Zu seinem Pech waren seine Beziehungen die falschen und sein Charme so gut wie nicht vorhanden, und jetzt war er Ende fünfzig, und niemand scherte sich den Teufel darum, ob er oben schwamm oder unterging. Er würde von der Hand in den Mund leben müssen – vielleicht würde ihm ein Cousin ein Cottage vererben, das er vermieten könnte, vielleicht würde man sich seiner erinnern, wenn die letzte Tante ins Gras biss, und vielleicht konnten ihm seine Kinder regelmäßig eine kleine Summe zukommen lassen. Mehr hatte er nicht zu erwarten, und es fragte sich, ob Lucy ihm weiter die Stange halten würde. Das hing wohl stark davon ab, welche Alternativen sich boten. Das alles war uns beiden bewusst, als wir uns draußen linkisch die Hand schüttelten. »Komm uns mal wieder besuchen«, sagte er, wohl wissend, dass ich das nie tun würde.
»Mach ich«, log ich verlegen.
»Und lass nicht wieder so viel Zeit vergehen.« Damit drehte er sich um und kehrte zu seiner leeren Verkaufstheke mit der leeren Kasse zurück.
Lucy folgte mir bis zum Auto. Ich blieb stehen. »Hast du die Hintergründe von Margarets Krankheit eigentlich aufklären können?« Sie sah mich verwirrt an. »Du hast doch gesagt, die Krankheit sei erblich, aber du seist ihr in deiner und Philips Familie nicht auf die Spur gekommen.«
Sie erinnerte sich. »Genau. Natürlich habe ich die wildesten Vermutungen angestellt. Ich dachte schon, ich sollte Damians Krankheitsgeschichte durchforsten …«
»Aber das hast du nicht getan.«
»Nein. Ich war drauf und dran, diesen Vorschlag zu machen und Philip alles zu gestehen, und mir sank ganz schön der Mut, wie du dir denken kannst. Da kam plötzlich heraus, dass Philips Tante, die älteste Schwester seiner Mutter, in ihrer Kindheit an genau dieser Krankheit gestorben ist. Weder seine Mutter noch ihre Geschwister haben das je erfahren. Du kannst dir ja vorstellen, wie das früher war.« Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Man hat den Kindern nur erzählt, der himmlische Vater habe ihre Schwester zu sich genommen, weil er sie so liebte. Basta.«
»Wie hast du’s dann rausgekriegt?«
»Schieres Glück. Meine Schwiegermutter unterhielt sich mit ihrer Mutter, die damals ungefähr eine Million Jahre alt gewesen sein muss, und erzählte ihr aus irgendwelchen Gründen von Margarets Krankheit. Wir haben unserer Großmutter nie erklärt, was los war, weil wir sie nicht beunruhigen wollten. Jedenfalls erfuhr sie plötzlich die Wahrheit, heulte los wie ein Wasserwerfer, und so kam alles heraus.«
»Die arme Frau.«
»Ja. Unsere arme Großmutter. Natürlich hat sie sich schreckliche Vorwürfe gemacht, das hat ihr dann auch bald den Rest gegeben. Wir haben ihr alle gut zugeredet, dass es nicht ihre Schuld sei und die Krankheit heute geheilt werden könne und so weiter, aber das hat ihr wohl nicht mehr viel genutzt.« Sie lächelte traurig. »Damit war das Rätsel gelöst. Das Tragische ist, dass die Tante mit den richtigen Medikamenten leicht hätte gerettet werden können. Leider kam sie in den Zwanzigerjahren zur Welt, und da gab es nur heiße Tees und kalte Umschläge und Mandeloperationen auf dem Küchentisch. Aber Margaret geht es seither blendend.«
»Hast du’s jemals bedauert?«
Lucy tappte völlig im Dunkeln. »Was soll ich denn bedauert haben? «
»Dass Margaret eindeutig Philips Tochter ist und nicht Damians? « Eine gemeine Frage, die sie an bessere Zeiten erinnerte, wo sie doch im ersten Kreis der Hölle feststeckte.
Aber Lucy lächelte nur, und einen winzigen Moment lang blitzte hinter ihren Fältchen das kesse Luder hervor, das sie einmal gewesen war. »Ich weiß nicht. Damals sicher nicht, denn die Aufklärung des Dramas war für uns eine wahnsinnige Erleichterung. Später vielleicht. Ein bisschen. Aber erzähl bitte niemandem davon.«
Als ich nach dem Abschiedsküsschen ins Auto stieg, klopfte sie noch einmal an die Scheibe. »Wenn du ihn siehst …«
Ich wartete. »Ja?«
»Sag ihm, dass ich an ihn denke. Wünsch ihm viel Glück für die Zukunft.«
»Das ist es ja. Er hat keine. Jedenfalls keine sehr lange.«
Das brachte sie zum Verstummen, und zu meinem Erstaunen sah sie einen Augenblick aus, als kämen ihr gleich die Tränen. Aber dann fing sie noch einmal an zu reden, und seit meiner Ankunft war ihre Stimme nicht so weich, so sanft gewesen. Vielleicht überhaupt noch nie. »Dann erst recht. Richte ihm von mir sehr herzliche Grüße aus. Und sag ihm, dass ich ihm alles Gute wünsche. Das Allerbeste.« Ich nickte, und sie trat zurück. Ihre schlichten Worte sprachen Bände – sie hatte Damian wohl von einer Seite erlebt, die ich ihm nicht zugetraut hätte.
Das Interview war vorüber. Ich gab Gas und machte mich auf den Rückweg nach London.