17 Penis inklusive
Harvey nimmt nun den zentralen Platz auf dem Tisch ein, zwischen dem blaugeäderten Roquefort, dem edel gealterten Cheddar, dem zerlaufenden Brie und dem fruchtigen Greyerzer. Ein dünnes Scheibchen von irgendeiner dieser Käsesorten, gepaart mit einer rosigen halbierten Feige, die man einfach nur mit einer wunderschönen Vulva vergleichen kann, dazu ein Stückchen kandierter Ingwer, das ist der Stoff, aus dem pure sinnliche Ekstase entsteht. Tam hat das Esszimmer verlassen (»Ich kann den Anblick von diesem Ding nicht ertragen«) und klappert in der Küche mit Wasserkocher und Bechern herum, um sich einen Kamillentee zu kochen, und danach, so sagt sie, »muss ich wirklich los«. Harvey ist eigentlich nicht viel anstößiger als eine Zucchini oder eine Banane – wendet sie sich denn beim Gemüsehändler auch mit Grausen ab? Welch schrecklicher Ort diese Welt für jemanden sein muss, der angesichts phallischer Objekte vor Angst zittert. Vielleicht sollte sie ihre Prozac-Dosis erhöhen.
»Und, habt ihr nie das Bedürfnis, zu masturbieren?«, fragt CJ, aufgeheizt von den vielen Gläschen auf unsere wunderbaren Vaginas. Leute, die es nicht tun, reden darüber. Unablässig, so scheint es. Ihre Frage ist überflüssig, weil zu allgemein; sie liegt jetzt auf dem Tisch und wartet darauf, von jemandem aufgegriffen zu werden.
»Wie meinst du das?«, fragt Fiona, die vorsichtig eine Feige halbiert.
»Ihr habt Ehemänner, mit denen ihr Sex haben könnt, wann immer euch danach ist. Befriedigt ihr euch trotzdem noch selbst?« CJ hat sich von jedem Käse ein Stückchen abgeschnitten, interessiert sich jetzt aber mehr für die Unterhaltung als für die köstlichen Geschmäcker auf ihrem Teller.
»Du meinst, wie wenn man in einem Hotel ist und das Gefühl hat, man muss den Pool und die Sauna nutzen?«, fragt Dooly. CJ nickt und nimmt sich ein Stück kandierten Ingwer.
Ich kichere. »Frank erinnert mich oft genug daran: ›Willkommen in unserer Beziehung, der Penis ist inklusive – benutzen Sie ihn, sooft Sie wollen.‹« Ich lecke ein zähes Tröpfchen Brie von meinem Finger. »Aber meistens bin ich zu müde für Sex. Ich will nur ins Bett gehen und bis zum nächsten Morgen von niemandem mehr gestört werden.«
Die anderen nicken zustimmend.
»Wenn ich ins Bad gehe, um mich abzuschminken, betrachtet Jake das als Vorspiel«, sagt Ereka.
»Ich brauche nichts weiter zu tun, als mich nach den Socken der Kinder zu bücken«, sagt Helen mit dem Mund voll Greyerzer – oh, dieser fruchtige, nussige Geschmack. »Sie sind wie Hunde, die nur darauf warten, einen anzuspringen. Da hilft nur eines: Augenkontakt vermeiden.«
»Ihr seid alle so verwöhnt«, heult CJ. »Hast du dazu vielleicht ein paar Cracker?«, fragt sie dann Helen.
»Wir haben Feigen und Ingwer, meine Liebe. Cracker sind was für Kinder«, erwidert Helen.
CJ streckt ihr die Zunge heraus. »Arrogantes Miststück«, sagt sie.
Dooly hat sich einen Cheddar-Keil abgeschnitten und nagt nun daran. »Ich fände es schon manchmal schön, wenn Max ab und zu mal Sex wollen würde«, sagt Dooly. »Aber seine Medikamente haben seine Libido ruiniert.«
»Also, befriedigt ihr euch selbst?«, fragt CJ.
»Nein«, sagt Dooly. »Das ist langweilig.«
»Fang eine Affäre an«, schlägt Liz vor. Sie hat sich drei Feigen genommen, aber den Käse weggelassen. Ich könnte heulen über die Entbehrungen, die sie sich absichtlich zumutet.
»Nein, das könnte ich nicht«, sagt Dooly, die knabbert und knabbert.
»Warum nicht? Wenn er dich nicht befriedigt, warum suchst du dir nicht jemanden, der es kann?«, fragt Liz. Bei Liz weiß man nie, ob sie des Teufels Advokat spielt oder einfach krankhaft taktlos ist.
»Ich hasse Untreue«, sagt Dooly. »In der Hinsicht bin ich ein bisschen altmodisch … und man kann auch ohne Sex überleben. Ich komme zurecht.«
»Niemand sollte ohne Sex überleben müssen«, sage ich. »Kannst du ihn denn gar nicht in Versuchung führen?«
»Womit denn?«, erwidert Dooly. »Mit Hängebrüsten und einem Schwabbelbauch? Ja, das bringt ihn sicher auf Touren.«
»Mit deiner wunderbaren Vagina«, sage ich.
»Ich glaube, ich würde lieber CNN gucken«, sagt Dooly. Tam kommt mit einem dampfenden Becher in der Hand aus der Küche.
»Warum versuchst du es nicht mal mit so einem Sex-Chatroom im Internet?«, schlägt Helen vor und reicht mir eine dicke Feige, die sie mit einem winzigen Stück von jedem Käse gefüllt hat. »Meine Schwester sagt, das sei sehr lustig – sie ist da ständig unterwegs.«
»Sei bloß vorsichtig, da draußen gibt es eine Menge Perverse«, sagt CJ.
Ein paar von uns werfen ihr einen genervten »Ach, wirklich?«-Blick zu.
»Also schön, ja, ich habe das auch schon ab und zu gemacht … was ist schon dabei? Ich bin Single, einsam und sexhungrig, also erspart mir euer Urteil«, sagt CJ.
»Nein, das käme mir auch so vor, als würde ich ihn betrügen«, sagt Dooly. »Mir fehlt nichts, wirklich. Sex ist mir nicht mehr so wichtig. Schlaf, das brauche ich heutzutage.«
»Mit jemandem übers Internet über Sex zu chatten, würde dir so vorkommen, als betrügst du Max?«, fragt Liz. Sie hat ein Stück Feige abgebissen, doch ihre Geschmacksknospen scheinen nicht begeistert zu sein.
»Ja, wirklich«, sagt Dooly, streckt sich nach der Weinflasche und schenkt sich auch gleich noch Karamell-Likör nach.
Liz schüttelt den Kopf. »Das sind doch nur Worte, keine Berührung, kein Austausch von Körperflüssigkeiten. Ich verstehe das nicht.«
»Liz, wie würdest du dich denn fühlen, wenn Carl stundenlang in irgendeinem Chatroom mit jemandem über Sex quatschen würde?«, fragt Tam und nippt an ihrem warmen, uringelben Tee.
»Ganz ehrlich? Ich hätte kein Problem damit.«
»Ich hätte schon das Gefühl, dass Kevin mich betrügen würde«, sagt Tam.
»Mir wäre es lieber, wenn David so was in einem Chatroom macht, als wenn er hinginge und richtigen Sex mit einer anderen Frau hätte«, sagt Helen. »Ich meine, ich könnte vermutlich damit leben, wenn er das unbedingt braucht, aber nicht, wenn er mit einer anderen schlafen würde. Wenn er eine Affäre hätte, würde ich ihn verlassen und die Kinder mitnehmen.«
»Und wo ist da die Strafe?«, fragt CJ. »Solltest du ihn nicht mitsamt den Kindern sitzen lassen, um die er sich dann kümmern darf?«
»Ja, genau«, sagt Helen und kichert. »Könnt ihr euch das vorstellen? Nach einer Woche hätte er einen Nervenzusammenbruch.«
»Ich habe eine Freundin, deren Ehemann im Internet mit Männern gechattet hat. Er stand total auf Schwulenpornos«, sagt Fiona.
»Damit käme ich nicht klar«, sagt Tam. »Ich meine, ich würde mich sehr zurückgewiesen fühlen.«
»Aber er hat es ja nicht ausgelebt«, sagt Fiona.
»Kann er das beweisen? Ich hatte schon viele Mandantinnen, deren Männer alles Mögliche hinter dem Rücken ihrer Ehefrauen angestellt haben, ohne dass sie irgendwas gemerkt hätten. Und wahrscheinlich hat er sogar an andere Männer gedacht, während er es mit ihr getrieben hat«, sagt CJ.
»Womit ich überhaupt nicht klarkäme, wäre, wenn Frank sich als Transvestit entpuppen würde. Ich glaube, alles andere könnte ich irgendwie geregelt kriegen und verzeihen, aber wenn er sich daran aufgeilen würde, Frauenkleider anzuziehen, ich glaube, da wäre für mich Schluss.«
»Kannst du dir Frank in High Heels und Netzstrumpfhose vorstellen?«, fragt Helen und lacht. Wir beide fangen an zu kichern. Dooly gackert.
»Du würdest ihm eine Affäre also unter keinen Umständen verzeihen?«, fragt Liz Helen und unterbricht damit unser Gelächter.
»Auf keinen Fall«, sagt Helen.
Ich betrachte CJ aus den Augenwinkeln. Sie hat tapfer standgehalten und das Prinzip »Wer betrügt, muss gehen« durchgesetzt. Ich frage mich, was sie empfunden hat, sobald die Wogen der Untreue sich geglättet hatten und die glühende moralische Empörung den trüben Zwischentönen des Alltags gewichen war. Ist eine Art verschämte Reue in ihr emporgestiegen? Hat sie sich hin und wieder gefragt, ob sie und die Kinder nicht besser dran wären, wenn sie ihren Stolz heruntergeschluckt und um eine Versöhnung gekämpft hätte?
»Was ist mit eurer gemeinsamen Geschichte, euren gemeinsamen Werten, eurer Freundschaft?«, fragt Liz. Inzwischen hat sie die Feigen ganz verschmäht.
»Wenn das Vertrauen einmal zerstört ist, wäre es sehr schwer, wieder zusammenzufinden«, meint Fiona.
»Was ist mit einer emotionalen Bindung an jemand anderen?«, schlägt Liz nun vor. Sie lehnt sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück.
»Noch schlimmer«, sagt Helen. »Sex ist eine Sache, aber wenn David eine richtige emotionale Beziehung zu einer anderen Frau hätte … dann gnade ihm Gott. Und ihr auch.« Sie hebt das Käsemesser und hält es sich an die Kehle.
»Moment mal«, melde ich mich zu Wort. »Ich habe immer noch Gefühle für manche von den Männern, die ich früher mal geliebt habe. Ich habe nicht aufgehört, sie zu lieben, als ich Frank kennengelernt habe. Ich habe nur versprochen, dass ich nicht mehr mit ihnen schlafen werde … Kannst du mir noch so eine Feige machen?«, bitte ich Helen. Sie tut es sofort.
»Und woher soll Frank dann wissen, dass du nicht an andere Männer denkst, während du mit ihm schläfst?«, fragt Liz.
»Das kann er nicht wissen«, sage ich.
»Hast du denn Fantasien über andere Männer?«, fragt CJ. »Und Frauen, in deinem Fall.«
Ich antworte nicht direkt. »Das betrachte ich nicht als Untreue«, sage ich. »Jeder hat ein Recht auf eigene sexuelle Fantasien.«
»Und wenn Frank beim Sex mit dir an andere Frauen denken würde?«, fragt Liz.
Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. »Solange er nicht ›Oh, Lucy‹ schreit, wenn er kommt, würde ich es ja nicht merken …«
»Oder ›Oh, Patrick‹!«, wirft Helen ein.
»Ja, das wäre wohl ein ziemlicher Schock«, gebe ich zu. »Aber Hauptsache, er trägt keine Netzstrumpfhosen.«
»Also meinst du, was du nicht weißt, kann dich nicht verletzen?«, fragt Liz.
»Ja, ich denke schon …«, sage ich.
»Ich muss jetzt wirklich los«, sagt Tam, die ihren Tee ausgetrunken hat. Niemand beißt an. Sie rührt sich nicht.
»Und, worüber fantasierst du, wenn du masturbierst?«, frage ich CJ. Tams Blick folgt meiner Frage und richtet sich auf CJ. Sie geht nirgendwohin.
»Alles und jeden …«, sagt sie. »James Spader. Guy Sebastian. Eddie McGuire …«
»Du bist krank«, sagt Liz.
»Ich weiß nicht, woher du die Energie nimmst, überhaupt noch an Sex zu denken«, sagt Dooly zu CJ. »Ich denke kaum noch daran.«
»Ich denke ständig an Sex«, sagt CJ. »Wenn ich einen Zeugen ins Kreuzverhör nehme, wenn ich für einen Kaffee anstehe, wenn ich einkaufe … und Harvey ist nicht schlecht fürs Gröbste«, sagt sie. »Aber er kann mir nicht den Rücken streicheln. Und mir fehlt jemand zum Reden.«
»Ja, Rückenstreicheln und Reden wäre mir auch lieber als Sex, jederzeit«, sagt Helen.
»Zumindest brauchst du dich nicht wegen Verhütung zu streiten«, sage ich zu CJ.
»Warum benutzt ihr nicht einfach Kondome?«, fragt Fiona mich.
»Ich hasse den Gestank von Gummi. Sex sollte auch nach Sex riechen. Gerüche gehören zum Schönsten beim Sex«, sage ich. »Im ganzen Leben, um genau zu sein. Riecht nur mal diesen Käse, diesen Ingwer.« Damit atme ich praktisch die Feigenhälfte ein, die Helen mir eben gereicht hat.
»Ich nehme immer noch die Pille«, sagt Fiona.
»Ich auch«, sagt Ereka.
»Ich hasse es, jeden Tag daran denken zu müssen«, sagt Tam.
»Lasst euch doch eine Spirale einsetzen«, sagt Liz. »Dann ist die Sache gegessen, und niemand muss in letzter Minute an irgendetwas denken.«
»Auch dann bleibt die Verhütung immer noch uns überlassen«, sage ich.
»Wenn es darum geht, dass du schwanger werden könntest, wem würdest du die Angelegenheit dann lieber anvertrauen, einem unzuverlässigen Mann, oder dir selbst?«, fragt sie nüchtern. »Schaut euch doch an, wo das Helen hingebracht hat …« Sie nickt in Helens Richtung.
»Ich dachte, ich wäre zu alt, um schwanger zu werden, und ganz ehrlich, wir schlafen inzwischen so selten miteinander«, sagt Helen.
»Wie oft denn?«, fragt CJ.
»Vielleicht einmal im Monat«, sagt Helen. »In einem guten Monat.«
»Was für eine Verschwendung, wo doch der Penis inklusive ist«, sagt CJ. »Und was ist mit dir, Liz?«
Liz holt tief Luft. »Immer, wenn Carl will«, sagt sie.
»Und wie oft ist das?«, bohrt CJ nach.
»Fast jede Nacht«, sagt sie.
Wir alle hören auf, Käse zu essen. Wir drehen uns zu Liz um. Helen bricht das Schweigen als Erste.
»Bist du von Sinnen?«, fragt Helen.
»Hast du denn Lust darauf?«, fragt Dooly mit großen Augen.
»Nach einem langen Arbeitstag? Du machst wohl Witze. Ich will abends nur ein langes, heißes Bad, ein bisschen Zeitung lesen und eine Tasse Pfefferminztee …«
»Warum schläfst du dann mit ihm?«, frage ich.
Liz zögert, bevor sie antwortet: »Manche Leute müssen Pillen schlucken, um ihren Cholesterinspiegel im Griff zu behalten, und ich muss mit Carl schlafen, um ihn im Griff zu behalten. So ist es einfacher für mich.«
Wir alle blicken skeptisch drein. Ich bin ein bisschen schockiert, um ehrlich zu sein.
»Ich weiß, wie man Menschen führt«, sagt sie, »und ihn mit mir schlafen zu lassen ist eine Abkürzung, genauso, wie ich langwierige Verhandlungsprozesse im Büro am liebsten kurzfasse. Das ist einfach wesentlich effizienter. Und normalerweise ist es sehr schnell vorbei.« Sie blickt in die Runde. »Das solltet ihr alle mal versuchen …«
»Du meinst, du kommst dabei nicht?«, fragt Helen.
»Manchmal, das hängt von meiner Stimmung ab. Aber ich verrate euch allen einen kleinen Trick – Gleitcreme, und ehe ihr euch verseht, ist es vorbei, und ihr könnt weiter euer Buch lesen oder in Ruhe einschlafen.«
Vermutlich machen wir alle ein Gesicht, als hätten wir gerade einen Autounfall beobachtet. »Was?«, fragt Liz.
»Ich weiß nicht …«, sagt Fiona gedehnt. »Das hört sich einfach nicht so an, als sollte …«
»Mein Ehemann ist sexuell befriedigt, wir streiten sehr selten, und das ist das Rezept für eine glückliche Ehe«, sagt Liz. »Was ist mit dir, Ereka?«, fragt Liz auf der Suche nach einer Verbündeten. »Hast du nicht auch fast jeden Tag Sex mit Jake?«
Ereka lächelt. Sie und Jake waren schon als Kinder ineinander verknallt. Er hat sich einer beständigen Liebe für sie hingegeben, als sie fast noch ein kleines Mädchen war, mit einer heranreifenden Sexualität, die er allein hegte, pflegte und zum Leben erweckte. Jake streichelt Ereka immer noch in aller Öffentlichkeit übers Haar oder hält ihre Hand. Für all jene, die nicht an Seelengefährten glauben, sind Jake und Ereka der unbestreitbare Beweis. Natürlich hat er ihren Wunsch nach einer Hausgeburt unterstützt. Und er verteidigt Ereka weiterhin seiner Familie gegenüber, die ihr die Schuld an allem geben, vor allem seine Mutter. Weil Ereka das Baby in Gefahr gebracht hat. Weil sie das Schicksal herausgefordert hat (als bräuchte es eine besondere Einladung, um zuzuschlagen). Weder Ereka noch Jake verharren in Selbstmitleid, trotz einer zutiefst menschlichen Sehnsucht nach dem Leben, das dem Rest von uns, mit »normalen Kindern«, geschenkt wurde. Der bequeme Weg.
Einmal habe ich Frank in einem intimen Augenblick gestanden, dass ich mich schuldig fühle, weil eine Frau wie Ereka in unserer Mitte praktisch die Statistik verkörpert, die uns anderen sicheres Geleit verspricht. Er hat gelächelt und gesagt: »Irgendjemand muss eben den kürzesten Strohhalm ziehen.« Ereka hat mir auch einmal gestanden, dass sie eine bizarre Erleichterung empfindet, Olivia bekommen zu haben. »Wenn deine schlimmste Angst Wirklichkeit wird«, hat sie gesagt, »ist es vorbei. Das ständige, ängstliche Warten darauf, dass etwas Schlimmes passiert, hört endlich auf, und du kannst mit deinem Leben weitermachen.«
»Wir schlafen oft miteinander«, sagt Ereka jetzt. »Nicht so oft wie am Anfang, aber ziemlich häufig. Manchmal liegen wir auch nur da und halten uns im Arm. Wir küssen uns viel.«
»Küssen?«, fragt Dooly. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich Max zuletzt geküsst habe. Ich meine, nicht nur ein Begrüßungsküsschen auf die Wange, sondern einen richtigen, tiefen Zungenkuss.«
»Wir küssen uns überhaupt nicht mehr«, sagt Helen.
»Ich will auch eigentlich gar nicht«, sagt Fiona.
»Ich brauche es nicht«, fällt Liz ein.
Wir seufzten. Wie sind wir nur alle an diesem Punkt angekommen, noch keine Vierzig und auf Schmuse-Entzug, in fanatischem Glauben an die Macht und die Herrlichkeit des Kusses vereint? Erst neulich bin ich an einem jungen Pärchen vorbeigefahren, das völlig in einen tiefen Kuss versunken war, und ich habe gehupt, aus dem Fenster gewinkt und ihnen zugejubelt. Sie blickten auf, bemerkten verwundert den vorbeifahrenden Wagen und hielten meine Reaktion für eine Zurschaustellung konservativer Abneigung gegen ihre öffentliche Zurschaustellung von Leidenschaft. Aber ich wollte sie feiern. Ich habe mich so gefreut. Ich war wahnsinnig vor Neid. Bei dem Konzert in Nebworth hat Robbie Williams eine junge Frau aus dem Publikum zu sich hochgezogen und angefangen, sie zu küssen. Ich weiß das, weil ich die DVD gekauft habe, und Frank hat mich schon mehrmals dabei ertappt, wie ich diese Stelle immer wieder zurückgespult habe. »Ein trauriger Tag«, habe ich ihn öfter brummen gehört, wenn er mit einem frischen Bier vom Kühlschrank zurückkommt, »wenn die eigene Ehefrau eine Affäre mit einem Videoclip hat.« Ich will kein Voyeur sein. Aber ich war auch einmal so leidenschaftlich. So küssenswert. So begehrenswert. Und ich vermisse das.
Ich erzähle den Mädels von Robbie Williams Kuss.
»Du bist ein verdammter Teenager, Jo«, sagt Liz.
»Ich vermisse diesen Teil des Teenager-Seins«, sage ich.
»Warum versuchst du nicht mal, Frank so zu küssen?«, schlägt CJ vor.
»Er würde glauben, dass ich ihn betrüge«, sage ich. Aber insgeheim schwöre ich mir, dass ich ihn eines Abends überraschen werde, wenn ich nicht müde bin, wenn die Kinder schon schlafen und die Bügelwäsche gefaltet und das Geschirr abgespült ist: Dann werde ich ihn küssen. Ich werde ihn küssen, wie Robbie Williams dieses Mädchen geküsst hat.
»Leider ist normalerweise keine Zeit für ein ausgiebiges Vorspiel«, sage ich betrübt. »Ich vermisse diesen langen, gemächlichen, ausgedehnten Sex, den wir früher hatten, als wir noch jung waren … bevor die Kinder kamen.«
Die Mädels nicken verständnisvoll. Das erotische Buffet von gestern ist Vergangenheit, heute gibt es nur noch schnelle Häppchen. Und wie wir das alles vermissen, dieses Hinauszögern, sich Zurückhalten, als man das Bett nur verließ, wenn man dringend pinkeln musste oder um über den Kühlschrank herzufallen, damit man frisch gestärkt wieder von vorn anfangen konnte. Heute ist Sex ein verstohlener, verschwörerischer Akt, der im Dunkeln hinter verschlossenen Türen stattfindet. Mit Zeitfenster. Wenn die Kinder im Bett sind, bevor CSI kommt. Zwischen halb sieben Uhr morgens und dem Tapsen kleiner Füße auf dem Flur. Mit Bleistift im Kalender notiert, neben Schwimmkursen, Schulprojekten und Impfterminen. Aber ein Termin für Sex ist etwas für Männer, die zu Prostituierten gehen, und offen gestanden konnte ich damit nie etwas anfangen. Wenn das Vorspiel aus dem Satz »Wir haben zwanzig Minuten« besteht, verliert meine Libido irgendwie das Interesse und zieht stattdessen geheimnisvolle Andeutungen und freudige Erwartung des Unbekannten vor. Wenn man Kinder hat, ist Sex nur noch eine weitere Aufgabe, die als erledigt abgehakt werden will.
»Ihr seid alle nur missgünstige Biester«, schmollt CJ. »Für euch alle ist der Penis inklusive, und ihr benutzt ihn gar nicht. Nicht mal für einen Quickie. Ein Quickie ist immer noch besser als nichts.«
»Wir nehmen uns schon für mehr Zeit als für einen Quickie«, sagt Ereka. »Aber das hat uns schon einmal ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Kylie kam auf einmal rein, als wir gerade Sex hatten. Sie war damals drei, und plötzlich stand sie in der Tür und hat uns zugeschaut – weiß Gott, wie lange sie da schon stand. Als wir sie bemerkt haben, hatte ich schon einen Orgasmus gehabt, aber Jake war noch dabei. Ich habe ihn nur an den Schultern gepackt und mit meiner Mami-Stimme gesagt: ›Schätzchen, was ist denn, hast du schlecht geträumt?‹ Natürlich hat Jake mitten im Stoß aufgehört, er lag nur noch auf mir, hat den Kopf zu ihr herumgedreht und gelächelt.«
»Und was habt ihr dann getan?«, fragt Helen, die an einem Stück mit Honig kandiertem Ingwer nuckelt.
»Ich bin unter Jake hervorgerutscht, zu ihr gegangen und habe sie wieder ins Bett gebracht. Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Ich frage mich, ob sie das eines Tages ihrem Therapeuten erzählen wird«, sagt Liz.
»Zweifellos«, entgegnet Ereka. »Hoffentlich hat es ihr keine Angst gemacht.«
»Ich würde sterben, wenn meine Kinder uns beim Sex erwischen würden«, sagt Dooly. »Ich weiß nicht, wie ich ihnen das erklären sollte. Ihr wisst doch, wie wir uns schon vor dem Gedanken ekeln, dass unsere Eltern Sex haben? Also, ich fände den Gedanken eklig, dass meine Jungs auch nur wissen, dass ich Sex habe.«
»Eines Tages wird der Groschen aber fallen«, sagt CJ. »Wenn ihnen klar wird, wie sie auf die Welt gekommen sind.«
»Luke hat mich danach gefragt, wo die Kinder herkommen, und ich habe ihm das Prinzip erklärt, aber ich glaube, dass er das innerlich noch nicht ganz auf die Reihe bekommen hat – ihr wisst schon, dass ich und sein Vater es miteinander getrieben haben. Ich will nicht, dass meine Jungs in einem sexuellen Kontext an mich denken. Ich bin ihre Mutter«, sagt Dooly.
»Jungen haben auch eine sexuelle Bindung an ihre Mütter«, doziert Tam.
»Ich kenne diesen ganzen Freudschen Kram, und mir wird ganz schlecht davon«, sagt Dooly.
»Cameron drückt gern meine Titten und spielt dabei mit seinem Pimmel«, sagt Helen.
»O Gott, das hätte ich lieber nicht gehört«, sagt Dooly.
»Das ist wirklich mehr, als ich wissen möchte«, stimmt Liz zu.
»Das ist ganz normal«, sagt Ereka. »Kinder haben auch eine Sexualität, und die ist völlig unschuldig.«
»Was tut ihr denn, wenn eure Söhne eine Erektion bekommen?«, fragt Helen Dooly und Liz. »Klopft ihr ihnen auf die Finger und befehlt ihnen, zehn Ave Marias aufzusagen?«
»Sei nicht albern. Ich achte einfach nicht darauf und hoffe, dass sie wieder weggeht«, sagt Dooly.
»Genauso gehe ich mit Davids Erektionen um«, sagt Helen lachend.
»Dein armer Mann«, sagt Fiona, aber sie kichert dabei.
»Kieran hat einen riesigen Penis«, sagt Tam. Hochbegabt und gut ausgestattet? Aus diesem Jungen wird ja mal was werden, eines Tages. Und dann, als hätte sie gerade gehört, was sie gesagt hat, fragt Tam: »O Gott, ist es in Ordnung, so etwas zu sagen?«
»Nein, du wirst in der Hölle schmoren, weil du die erste Mutter bist, die je den Penis ihres Sohnes betrachtet und dabei gedacht hat, du wirst eines Tages eine Frau sehr glücklich machen«, sagt Helen. »Alle Mütter gucken hin, du alberne Gans«, fügt sie hinzu. Tam wirkt übertrieben erleichtert. Sie nimmt sich ein Stück Greyerzer und isst, als genieße sie es tatsächlich.
»Wir haben Gabriel beschneiden lassen, weil wir dachten, das sei hygienischer, und jetzt bereue ich das schrecklich. Er hat einen sehr kleinen Penis«, sagt Fiona. »Ich glaube, die haben bei der Beschneidung zu viel weggeschnitten. Und ich mache mir Sorgen deswegen – ihr wisst schon, ich will auf keinen Fall, dass er später mal Komplexe wegen seiner Peniosgröße hat.«
»Er ist doch noch klein«, beruhige ich sie. »Jetzt kann man doch noch gar nicht beurteilen, wie groß sein Penis sein wird, wenn er älter ist.«
»Wie klein?«, fragt Helen.
»Winzig, ungefähr so«, sagt sie und hält Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter weit auseinander.
»Ach, der wächst schon noch«, versichert ihr Ereka.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagt Dooly. »Das ist nicht dein Problem.«
»Auf die Länge kommt es sowieso nicht an«, sagt Liz. »Einzig die Dicke zählt – die räumliche Verdrängung.«
Stimmt, nicken wir alle.
»Außerdem kannst du ohnehin nichts daran ändern«, sage ich. »Das liegt nicht in deinen Händen.«
»Auch wenn etwas nicht in unseren Händen liegt, machen wir uns doch trotzdem deswegen Sorgen«, sagt Fiona unschuldig.
Als hätte jemand diese mitfühlende Geste choreographiert, sehen wir alle Ereka an. Sie lächelt schwach. Schweigen macht sich breit.
Und dann sagt Ereka: »Ich mache mir Sorgen, dass Olivia vielleicht nie erfahren wird, wie schön Sexualität ist. Sex war eine solche Quelle von Freude in meinem Leben, und wer weiß, ob es jemals jemanden geben wird, der sie lieben und ihre sexuellen Bedürfnisse erfüllen wird …«
Wir alle sind wie vor den Kopf geschlagen. Unsere Flippigkeit ist verpufft. Penisgröße – überflüssiger Luxus. Erekas Sorge um Olivia erstreckt sich unvorhersehbar weit in die Zukunft. Wird sie je zur Schule gehen können, Freundinnen haben, sich verlieben, jemandem Geheimnisse ins Ohr flüstern … Für uns andere sind diese Dinge so selbstverständlich.
Eines Abends, als ich Jamie ins Bett brachte, hatten wir eine kostbare Unterhaltung, die ich sicher aufbewahrt habe, wie einen Schatz aus ihrer Kindheit. Es ging um den ersten Kuss, der sie erwartet. Ich habe ihr den Kopf gestreichelt, und wir haben aufgeregt überlegt, wer denn der glückliche Junge sein könnte. Sie hat glücklich geseufzt und die Augen geschlossen, während sie sich Peter Pan und andere junge Helden vorstellte. Solche Augenblicke wird Ereka nie genießen.
Im selben Maße, wie das Schicksal der Mutterschaft uns entsexualisiert, tut das auch eine Behinderung. In einer Welt, in der die Verrenkungen magersüchtiger, gelifteter Blondinen als Schönheit verehrt werden, ist die unprätentiöse Sexualität behinderter Menschen nicht wahrnehmbar, versteckt unter dem Mäntelchen mitleidiger Reaktionen. Wir alle fühlen uns irgendwie klein nach Erekas Bemerkung. Helen legt Ereka eine Hand auf den Arm. Ich liebe sie dafür, dass sie jetzt nicht irgendeine dumme Plattitüde von sich gibt, wie: »Keine Sorge, irgendwo dort draußen gibt es auch jemanden für sie …« Helen lässt einfach nur eine Hand auf Erekas Arm ruhen. Niemand beeilt sich, Ereka von dieser schmerzlichen, unausweichlichen Wahrheit abzulenken. Wir alle senken den Blick auf diese Traurigkeit und tragen sie gemeinsam, zumindest eine Weile.