1.
Setzt euch mal hin, wir wollen anfangen
Das Handy ist kein Herzschrittmacher!
»Niemand nimmt mir mein Handy ab! Niemand!«
»Aber wenn Frau Schwalle sagt, du sollst ihr das Handy geben, dann musst du das auch machen!«, sage ich – betont ruhig. Frau Schwalle steht neben mir vor dem Lehrerzimmer. Sie hat Samira nach ihrer Stunde mitgeschleift, um sich bei mir zu beschweren. Frau Schwalle unterrichtet in meiner Klasse Physik und bekommt einfach kein Bein auf den Boden. Das Klingeln von Samiras Handy – mitten in der Stunde – war nur der Tropfen, der das Fass diverser Physikkatastrophen endgültig zum Überlaufen brachte.
»Ich geb mein Handy aber nicht ab. Mir egal. Ich brauche mein Handy immer bei mir. Ich kann ohne mein Handy nicht leben!«
Frau Schwalle: »Ich hatte Samira zum Direktor geschickt, weil sie sich weigerte, das Handy abzugeben.«
»Samira, warst du beim Schulleiter?«, frage ich. (Was soll sie da?, frage ich mich.)
»Nein. War ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Was sollte ich denn da?«
»Tja, also …?« Ich weiß es auch nicht so genau.
Frau Schwalle triumphierend: »Über das Handyverbot sprechen und über deinen Verstoß gegen die Schulordnung!«
Samira: »Ich gebe mein Handy niemandem. Nicht mal dem Schulleiter! Ist mir doch egal, was in der Hausordnung steht.«
Ich gucke Frau Schwalle an, dann Samira: »Also pass auf. Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du gibst jetzt Frau Schwalle das Handy und wenn du dich in der nächsten Stunde gut verhältst, bekommst du es vielleicht zurück.« Ich grinse kurz Frau Schwalle an, die mit versteinertem Gesicht neben mir steht. »Oder der Schulleiter muss dich in der nächsten Stunde aus dem Unterricht holen und dir dein Handy abnehmen. Das hat dann natürlich weitere Konsequenzen: Suspendierung, Anruf zu Hause, Tadel.«
Samira guckt auf den Boden. Grimmig. Wer Samira besser kennt, würde ihr nie ein Handy oder überhaupt irgendetwas abnehmen. An ihr kann man kein Exempel statuieren. Sie ist stur und eigensinnig und man darf sie nicht zur Feindin haben. Ja, man will es gar nicht und muss es auch nicht. Samira ist eigentlich ein sehr vernünftiges Mädchen. Cool und stark, sehr ehrgeizig, aber eben auch stur.
»Ich gebe mein Handy nicht ab«, sagt Samira und geht ohne uns noch einmal anzusehen.
»Tja, Frau Schwalle, was nun?«
Ich bezweifle, dass der Schulleiter Samira in der folgenden Stunde aus dem Unterricht holen wird. Wenn das in seiner Arbeitsplatzbeschreibung stünde, dann müsste er wahrscheinlich den ganzen Tag durchs Schulgebäude rennen. Da habe ich wohl etwas zu hoch gepokert, aber etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Warum ist Frau Schwalle auch so unsensibel und lässt sich auf diesen doofen Streit ein. Jeder Konflikt mit Handys ist echt nervenaufreibend.
Als wir uns gerade umdrehen wollen, um ins Lehrerzimmer zu gehen, steht plötzlich Samira vor uns. Sie sieht uns nicht an, steckt mir wortlos das Handy in die Jackentasche und rennt weg. Ich überreiche es glücklich strahlend Frau Schwalle: »Wenn Samira sich jetzt in der nächsten Stunde benimmt, kannste ihr das Handy ja wiedergeben. Würde ich jedenfalls machen, aber das musst du entscheiden.«
Zufrieden gehe ich eine rauchen. Manchmal kommt es eben doch anders, als man denkt.
Der schönste Beruf der Welt
Ich bin Lehrerin und ich bedauere jeden, der nicht Lehrerin sein kann. Früher, als ich noch studierte, bin ich abends tanzen gegangen oder auf Partys, immer in der Hoffnung, dass etwas Großes, etwas Aufregendes passieren wird. Und obwohl eigentlich selten etwas Außergewöhnliches geschah, stand ich jeden Freitagabend wieder im Badezimmer und bereitete mich auf das Wochenende vor.
Das brauche ich jetzt nicht mehr. Die Wochenenden verbringe ich horizontal auf meiner Couch und bin froh, wenn die Filme im Fernsehen möglichst ereignislos und vorhersehbar sind. Diskos und Wochenendtrips gibt es für mich nicht mehr. Partys sage ich regelmäßig ab, denn mein Bedarf an Action ist am Freitagnachmittag bereits gedeckt. Ich bin Lehrerin, und ich kann nur jedem, der sich nach einem Action-Alltag sehnt, raten, in der Schule zu arbeiten. Dort tobt das Leben. Dort passiert an einem Vormittag mehr als an allen meinen jugendlichen Wochenenden zusammen. Hätten wir Musik im Klassenraum, käme jede Unterrichtsstunde einer Tanzveranstaltung in einer Großraumdisko nahe – zwischen zwei und vier Uhr am Samstagmorgen. Die Vormittage sind ein Extrakt des Lebens, in dem sich alles wiederfindet: Freund- und Feindschaft, Liebesdramen, Eifersucht, Hass, Ein-, An- und Aussichtslosigkeit, Gemeinschaft, Einschluss, Ausschluss, Mobbing, alle Arten geistiger Verwirrung, Sympa-, Empa- und Antipathie. Hier entstehen Modetrends, seelische und körperliche Leiden werden durchlebt, hier kann sich jeder jeden Tag neu erfinden – und mittendrin ich und mein Versuch von Unterricht. Mehr Action kann ein einzelner Mensch gar nicht verarbeiten.
Ihr erlebnishungrigen Extremsportler, vergesst den Nordpol und den Mount Everest, hört auf, euch mit Rasierklingen zu ritzen, wenn ihr Action braucht und euch mal so richtig spüren wollt, dann kommt und arbeitet in der Schule. Am Ende werdet ihr sagen: Na, langweilig war’s nie und leben konnte man davon auch.
Mein Lieblingstag in jeder Arbeitswoche ist der Montag. Sonntagabend kann ich gar nicht abwarten, ins Bett zu kommen, und gehe darum immer schon sehr früh auf die Couch – zur Lindenstraße –, denn Montag darf ich wieder hin. Zur Schule!
Ich liebe die Montage, weil da die Schüler immer so gut drauf sind. Leider habe ich montags nur vier Stunden. Ich beneide meine Freundin Fräulein Krise, die montags gleich sieben Stunden mit den ausgeruhten und wissbegierigen Kindern verbringen darf. Meine Montage sehen so aus:
Ich schlendere um zwanzig nach sieben durch den Verwaltungstrakt und schmettere jedem, den ich sehe, ein fröhliches »Guten Morgen« entgegen – vor der offenen Schulleitertür immer besonders laut, damit man bemerkt, dass ich schon so früh zur Arbeit erscheine. Um viertel vor acht gehe ich in meinen Klassenraum und bereite den Unterricht vor. Die Tafel muss blitzen, Bücher aus dem Schrank – die Schüler sollen nicht so schwer schleppen –, Klassenbuch auf den Tisch, meine Unterrichtsvorbereitung dazu, ich überfliege noch schnell die Verlaufsplanung, die Sach- und die Bedingungsfeldanalyse, überprüfe die Lernziele und lüfte.
7.50 Uhr. Jetzt können sie kommen, die kleinen Racker. Ich bin bereit. Kommt her und lernt! Auf dem Gang: Totenstille. Dann Schritte, ah, jetzt geht’s los … Nein, ein Schüler der Parallelklasse.
7.55 Uhr: Fenster wieder zu – wegen des Straßenlärms.
8.00 Uhr: Mit dem Klingeln kommt Ronnie durch die Tür und lässt sich erschöpft vor mir auf einen Stuhl fallen. »Guten Morgen, Ronnie. Na, hattest du ein schönes Wochenende?« »Ergr.« »War nicht gut? Na ja, hol erstmal dein Buch.«
8.07 Uhr: Drei gackernde Teenagermädchen fallen gemeinsam durch die Tür. Kein »Sorry, I’m late«. Oder wenigstens ein dahingemurmeltes »Tschulljung«. Bis 8.20 Uhr öffnet sich die Tür in rhythmischen Abständen, und nach und nach tauchen fast alle Teilnehmer meiner Stunde auf – der letzte um 8.40 Uhr.
Ich habe mit der Zeit gelernt, meinen Unterricht in sich wiederholenden Zeitschleifen abzuhalten. Wie beim Tanzen: zwei Schritte vor und einen zurück. Klappt schon ganz gut. Während ich den neu Dazukommenden Seitenzahlen im Englischbuch nenne, beschreibe, was wir gerade machen und was wir nun schon seit mehreren Stunden machen, verwickle ich die zwei Leistungsträger des Kurses – besonders viel haben die nicht zu tragen – in ein zähes Frage-Antwort-Spiel. Ins Klingeln hinein rufe ich die Hausaufgabe für die nächste Stunde. Keiner schreibt sie auf, aber das ist egal, denn es wird sie eh niemand machen. Auch das habe ich schon gelernt. Wenn du keine Hausaufgaben aufgibst, kann auch keiner die Hausaufgabe nicht machen. Ich liebe diese Montage. Auch weil sie immer genau gleich beginnen.
Nein, das stimmt nicht ganz, die Reihenfolge, in der die Schüler zu spät kommen, kann sich jede Woche ändern. Nur Ronnie kommt immer als Erster und hat auch jeden Montag schlechte Laune.
Besser als die Montage sind eigentlich nur Vertretungsstunden. Man weiß nie, was da so kommt. Und meistens kommt zunächst gar keiner. Dann trudeln so nach und nach doch einige Schüler ein. Die Mädchen setzten sich erstmal mittig hinten ans Fenster und polieren ihr Make-up auf. Eine gibt ‘ne Runde Handcreme aus, dann wird gepudert und geeyelinert. Interessiert betrachte ich, mit welcher Routine sie sich die Gesichter bemalen. Ein Beleg dafür, dass regelmäßiges Üben den Lernerfolg steigert. Würden die sich nur mit halb so viel Energie um die Schule kümmern, wären wir schon längst ein Elitegymnasium.
Dann kommen die Jungs. Die wollen sich alle in die letzte Reihe setzen. Da das nicht geht, sitzen sie am Ende darwinistisch gestaffelt. Die Alphatiere ganz hinten und die Deppen ziemlich nah bei mir.
»So, Leute, schön dass ihr da seid. Ich habe mir was überlegt für diese Stunde. Ihr habt doch nächste Woche alle eure mündliche Prüfung in Englisch, und ich dachte mir, dass wir heute noch mal schnell dafür üben könnten.«
Die Begeisterung hält sich in Grenzen.
»Okay. Also, ich mache euch jetzt drei Vorschläge: Ihr könntet für die Englischprüfung üben, Hausaufgaben machen oder was ausmalen.«
»Jaaa, ausmalen!«
Ach, süß, wie diese späteren Stützen der Gesellschaft da sitzen und Kreise ausmalen – so ordentlich und so konzentriert. Vielleicht sollten sie aber trotzdem für die Englischprüfung lernen. Wenn die alle durchfallen, deshalb keinen Realschulabschluss bekommen, später keinen Ausbildungsplatz und keine Arbeit finden, dann bin ich schuld. Wer zahlt dann meine
Rente?
»Hat eigentlich schon jemand einen Ausbildungsplatz?«
Schweigen.
»Na, was wollt ihr denn werden?«
»Medizinische Fachangestellte.« – »Einzelhandelskauffrau.« – »Autolackiererin.«
»Und die Jungs? Was ist mit euch? Habt ihr schon was?«
»Kann man eigentlich ’ne Ausbildung zum Zuhälter machen?«
»Ich werd Dealer, da verdient man gut.«
»Ich mach Frauenarzt oder Schönheitsoperation.«
»Du meinst, Arzt für plastische Chirurgie.«
»Ja, geil, kann ich Titten operieren.«
Partytalk
»Und was machst du so?«
»Ich bin Lehrerin.«
»Echt? Wo denn?«
»An einer Gesamtschule.«
»Häää, Gesamtschule? Was ist das denn? Ist das wie Gymnasium?«
»Nö. Ist wie Gesamtschule. Da geht die gesamte Jugend hin. Mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlungen. Da kann man auch das Abitur machen.«
»Ach so. Und was machst du da den ganzen Tag so?«
»Na, hauptsächlich bin ich Klassenlehrerin. Meine Klasse ist in der Neunten.«
»Da sind die ja schon recht erwachsen. Das ist dann bestimmt nicht besonders anstrengend.«
»Sollte man meinen, aber meine Klasse ist betreuungsintensiv.«
»Was sind denn da so für Schüler in deiner Klasse?«
»Ach, da gibt es alles Mögliche. Samira zum Beispiel: Die trägt zwar ein Kopftuch, benimmt sich aber meistens wie die Axt im Walde. Oder Christine, die stresst mit ihrer depressiven Art. Und wenn ich an Abdul oder Mehmet denke … ach, hör auf. Lass mal über was anderes reden.«
»Nee, du, ich finde das total spannend. Da unterrichtest du also den ganzen Tag diese Klasse, oder wie?«
»Zum Glück nicht. Ich gebe auch noch Fachunterricht in vielen anderen Klassen. Da mache ich Englisch und Kunst. In Englisch sind die Klassen in Kurse aufgeteilt.«
»Häää, wie Kurse?«
»Ja, Mann, so Kurse halt. Die Schlauen kommen in den einen und die nicht so Schlauen kommen in einen anderen Kurs. Nennt man äußere Differenzierung. Wenn du Glück hast, unterrichtest du den besseren Kurs. Da machen die noch mit. In den Hauptschulkursen ist das echt mühsam.«
»Okay, verstehe. Aber dafür kannst du mittags nach Hause, und Otto-Normal-Mensch muss da noch arbeiten.«
»Mittags, ha, ich komme immer erst nachmittags raus. Wir sind eine Ganztagsschule.«
»Ganztagsschule? Was soll das denn sein.«
»Oh Lord, wo bist du denn zur Schule gegangen. Ganztagsschule: Da gehen die Schüler den ganzen Tag zur Schule und die Lehrer eben auch. Ist für uns alle auch GANZ anstrengend.«
»Krass, den ganzen Tag und immer Unterricht. Wie halten die Schüler das denn aus?«
»Hallo!? Die haben doch nicht den ganzen Tag Unterricht. Die haben auch Pausen und Freizeit.«
»Und da müsst ihr euch auch noch um die kümmern?«
»Um Himmels willen, nein. Dafür gibt es die Erzieher. Die haben da so einen Freizeitbereich. Da können die Schüler Billard
und Tischtennis spielen und über ihre Probleme quatschen.«
»Klingt ja toll.«
»Findest du?«
»Hm.«
»Ist eigentlich eine ganz normale Schule. Schüler, Lehrer, Unterricht … mal ne Pause hier, mal ein Schulfest da. Eigentlich wie überall. Ich glaube, an den Schulen hat sich gar nicht so viel verändert, wie man denkt. Ich jedenfalls mache noch genau den gleichen Frontalunterricht, den ich schon als Schülerin erlebt habe.«
»Frontal – was?«
»Ach, lass mal. Wollen wir mal was trinken? Guck, ich glaube, die haben das Buffet jetzt eröffnet. Ich hab voll Hunger.«
Money and Bitches
Unterricht in meiner Klasse. Englisch.
»Money, money, money, must be funny – in a rich man’s world. Aha-ahaaa, all the things I could do …«
Ich schalte den CD-Player ab. »Hat irgendjemand irgendwas verstanden?«
»Geht um Geld und Bitches«, sagt Emre.
»Geld ja, Bitches habe ich jetzt nicht gehört. Aber wir lesen den Text gleich noch mal.«
Es folgt ein schlimm-stotterndes Vorlesen und ein mühsames Übersetzen.
»Okay, wie will die Frau aus dem Lied denn an Geld kommen? Sie nennt zwei Möglichkeiten.«
»Jackpot, in Las Vegas.« – »Und einen reichen Typen hei raten.«
»Genau. Und sind das gute Pläne? Abdul? Emre?«
Emre: »Also, ich finde nicht. Ich würde schwarzarbeiten.«
Esra meldet sich: »Emre will elf Kinder und dann vom Kindergeld leben.«
»Ja, aber da muss er erst mal eine Frau finden. Emre, findest du das denn gerecht, wenn du schwarzarbeitest und dann noch vom Kindergeld lebst? Überleg mal: Was wäre denn, wenn alle so denken würden wie du? Wie würde dann die Welt aus sehen?«
Emre grinst: »Ich glaube, dann würden auf der Straße so Rehe rumlaufen.«
»Na, ich denke eher, dass es dann überhaupt nichts mehr gibt, weil niemand mehr Steuern zahlt. Und dann würdest du auch kein Kindergeld bekommen. Woher denn? Wer sollte das denn dann bezahlen?«
Abdul: »Frau Freitag, warum macht Deutschland das eigentlich, mit dem Kindergeld und dem Hartz 4?«
Ich erkläre den Sozialstaat. Wie immer sage ich dazu, dass nicht jedes Land auf der Welt sich so etwas leistet. Irgendwann unterbricht mich Abdul: »Eigentlich müsste man Deutschland die Füße küssen.«
»Da hast du recht. Aber es würde schon reichen, wenn ihr später einen legalen Job hättet, Steuern zahlen und die Schulbücher nicht kaputt machen würdet. EMRE, NICHT DIE SEITEN SO KNICKEN, DAS BUCH KOSTET 20 EURO!«
Wir reden wieder mal über Steuern. »Was wird denn alles von den Steuern bezahlt?«, frage ich. Ahnungslose Gesichter. Nach langem Nachdenken sagt Ronnie: »Schulen.«
»Ja, genau, Schulen, der Strom hier, die Schulbücher und auch die Gehälter der Lehrer.«
Abdul: »Greifen Sie denn auch dem Staat in die Tasche?«
Noch mal schnell den Unterschied zwischen legaler und illegaler Arbeit erklärt, dann frage ich die Schüler wieder: »Aber
was wird denn noch bezahlt?«
Sabine: »Essen?«
Esra: »Strom?«
Ich bringe sie auf die richtige Spur: »Polizei, Straßen …«
Emre: »Supermärkte?«
Esra: »Die Banken?«
Ich werde den Bund der Steuerzahler mal um eine genaue Auflistung bitten. Mit den Banken haben sie ja nicht mal unrecht, aber in dieser Stunde schaffe ich es einfach nicht mehr, die Bad Banks zu erklären. Wir schweifen ab zur Tabaksteuer. »Emre, wenn du Zigaretten kaufst, dann geht mindestens die Hälfte deines Geldes an die Steuer.«
Emre: »Ich kaufe mir gar keine Zigaretten. Ich rauche gar nicht richtig.«
Ich sage: »Na, ich zahle jede Menge Tabaksteuer.«
Abdul: »Danke, Frau Freitag.«
Sarah: »Wenn Sie rauchen, warum sind dann Ihre Zähne so weiß?«
Ich: »Putzen.«
Abdul: »Sie bleicht Zähne.«
Ronnie: »Sind Ihre Finger schon gelb vom Tabak?«
Ich halte ihm beide Hände unter die Nase: »Na, ihr kennt euch ja gut aus.«
Sarah: »Warum sind Ihre Lippen nicht blau? Vom Rauchen werden doch die Lippen blau.«
Ich: »Ja?«
Dann klingelt es.
Opferlehrer
Gerne werde ich bei Gesprächen über meinen Beruf von Nicht-Lehrern gefragt: »Macht dir das Spaß?« Spaß? Warum wollen die immer wissen, ob mir das Spaß macht? Frage ich den Finanzbeamten als Erstes, ob ihm sein Beruf Spaß macht? Wird der Polizist nach dem Spaßfaktor gefragt? Danach kommt in der Regel das Unweigerliche: »Na, ich könnte das nicht.« Musst du ja auch gar nicht. Aber warum verlaufen diese Gespräche immer so? Ich sage doch auch nicht: »Oh, du arbeitest beim Fernsehen, macht dir das Spaß? Na, ich könnte das nicht.«
Glück hat man allerdings, wenn man auf Referendare trifft. Mit denen kann man sich stundenlang über die Schule unterhalten. Die hängen mir an den Lippen, weil sie glauben, dass ich ihnen genau die heißen Tipps geben kann, die sie aus ihrem Elend befreien. Am liebsten würden sie jedes Wort mitschreiben.
Diese armen Referendare, sie haben mein ganzes Mitgefühl. Ich leide geradezu stellvertretend, wenn ich sie sehe. Und Erinnerungen werden wach an all diese herrlich bescheuerten Unterrichtsbesuche. Besuche, ha, wenn ich das schon höre, is ja wohl reine Ansichtssache, ob das ein Besuch ist. Klar, der Seminarleiter kommt zu Besuch und eventuell werden ihm noch Kaffee und Kekse gereicht, aber man selbst hat ja wohl eher das Gefühl, zu seiner persönlichen Selbstbewusstseins-Kastration zu gehen. Gut vorbereitet, etwas übermüdet, aber hoffnungsvoll geht man rein. Und völlig zerstört wird man wieder ausgespuckt: »Dies war nicht richtig, jenes war falsch, hier was vergessen, wieder falsche Medien gewählt, keine klaren Arbeitsanweisungen, schon wieder nicht, keine Alternativen, hier hätten Sie so machen, da lieber nicht so machen sollen, in der zweiten Phase standen Sie zu weit links, in der Reflexion haben Sie falsch geatmet und vor allem: SIE HABEN DAS LERNZIEL NICHT ERREICHT!«
Die Todsünde! Die Schüler werden sterben! Lernziel nicht erreicht: Richtet diesen Nichtskönner-Referendar hin! Stellt ihn ins Lehrerzimmer an den Lehrerzimmerpranger – hängt ihn ans Schwarze Brett, mit einem Schild um den Hals: LERNZIEL NICHT ERREICHT! Aber halt, es geht noch schlimmer: Lernziel erreicht, aber Lernziel zu leicht. Die UNTERFORDERUNG der Schüler ist der direkte Weg in die Hölle. Vierteilt den, der sich das erlaubt. Und zwar hier und jetzt!.
Ihr lieben armen Referendare, das eine kann ich euch versichern: Später ist das einzige Ziel einer Stunde, sie rumzubringen. Und am Anfang reicht schon: Keiner gestorben – Ziel erreicht.
Wenn man dann irgendwann anfängt, ein richtiger Lehrer zu werden, fängt man ganz unten an. Man denkt, nun habe ich die harte Zeit des Referendariats hinter mich gebracht, jetzt wird alles besser. Aber nichts da!
Die erste Position, die man als neuer Lehrer an jeder Schule einnimmt, ist die des Opferlehrers.
Opferlehrer sind Opfer, in jeder Klasse und in jedem Unterricht. Das wird erst mal auch nicht besser, sondern eher schlimmer. Man denkt, man unterrichtet, aber eigentlich wird man geopfert. Das Schlimme ist, dass man sich niemandem anvertrauen kann, denn man will ja an der neuen Schule nicht gleich als Loser dastehen. Man will ja vermitteln, dass man alles im Griff hat, schließlich hat man bei der Einstellung noch großspurig gesagt, dass »Chemie fachfremd« und »Ethik, 8. Klasse« gar kein Problem seien. Und dann steht man da und leidet. Immerhin kommt einem da der überproportional ausgeprägte Hang zum Masochismus zugute, den jeder Lehrer in sich trägt.
Im Lehrerzimmer tuschelt man hinter deinem Rücken, als du erzählst, dass du gleich in der 8b Unterricht hast. In der Klasse stellst du dich vor, keiner hört zu, oder, auch gut möglich, alle wiederholen, was du sagst – die ganze Stunde lang, jedes einzelne Wort. Du drehst dich an die Tafel – ungünstig, weil du hinten noch keine Augen hast –, wirst beworfen. Drehst dich zur Klasse, keiner war’s. Zurück zur Tafel, wieder wirst du beworfen. Dieses Spiel spielst du fünfundvierzig Minuten, gehst dann mit hochrotem Kopf ins Lehrerzimmer und sagst: »Ja, war okay.«
Das geht jede Stunde so, nur die Wurfgeschosse ändern sich. Abends weinst du. Meine Freundin Frau Dienstag wurde mit Plastikflaschen beworfen. Ich nur mit Papierkugeln, Bleistiften und diesen Teilen zur Wasserspeicherung in den Blumentöpfen. In der Schule erzählst du niemandem davon. Zu Hause will es nach einigen Wochen auch niemand mehr hören. Du verlierst Gewicht.
Es sollte klar sein, dass du den Schülern in deinen Stunden überhaupt nichts beibringst. Opferlehrer tun zwar in jeder Stunde so, als unterrichteten sie, aber in diesen Stunden unterrichten nur die Schüler. So lange, bis du es gelernt hast: Du bist der Opferlehrer! Nach dem Bewerfen kommt die Phase des miesen Fertigmachens. Hast du einen ungünstigen Nachnamen, wirst du damit verarscht. Erfahren die Schüler deinen Vornamen, vergessen sie deinen Nachnamen. Hast du körperliche Eigenarten, unverwechselbare Kennzeichen oder siehst irgendwie anders als normal aus – zu dünn, zu dick, zu klein, zu groß, dann ziehen dich die Schüler damit auf. Bist du normal, dann denken sie sich Gemeinheiten aus: »Sie haben Ratten in der Unterhose«, »Ihre Haare sehen aus wie bei einem Eisbären unten rum« oder »Sind Ihre Klamotten vom Müll?«.
Wochen vergehen. Und plötzlich stellst du fest, dass die Schüler doch etwas gelernt haben. Nämlich, dass sie bei dir machen können, was sie wollen. Im ersten Berufsjahr von Frau Dienstag hat Michael mit dem Kartenständer die Decke durchbohrt, die Heizungsrohre aus der Wand gerissen und den Wasserhahn abgetreten. Bei mir hat ein Schüler mit der Faust die Fensterscheibe kaputtgeschlagen. Bei Frau Dienstag haben Siebtklässler im Unterricht geraucht.
Und was kann man dagegen tun? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du gewöhnst dich langsam daran, bis es nicht mehr weh tut, oder du wehrst dich, und zwar mit jeder einzelnen Faser deiner Person.
Wir sind halt eben Ausländer!
Aber schon nach ein paar Jahren intensiven Leidens wird alles besser. Souverän schlendert man in den Unterricht und lässt sich nur noch selten aus der Ruhe bringen. Man kann sich endlich auf die Schüler konzentrieren. Und vor allem im Kunstunterricht lassen sich die relevanten Themen des Alltags bearbeiten.
»Und was bekommt Ronnie auf sein Bild?«
»Bestimmt doch wenigstens eine Vier, oder?«, nuschelt Ronnie schon leicht genervt.
»Nee, ist sogar eine Drei«, antworte ich großzügig lächelnd.
Raifat stößt Abdul an und flüstert: »Klar, weil er Deutscher ist.«
»Ihr wollt doch nicht im Ernst sagen, dass ich rassistisch bin, oder? Ich gebe doch dem Ronnie nicht eine Drei, nur weil er Deutscher ist!«
Immer wieder dieses Ausländerding! Wer von meinen Schülern ist denn eigentlich Ausländer? Die wohnen alle hier in Deutschland und sind doch auch alle hier geboren.
Am ersten Tag mit meiner Klasse habe ich ein Kennenlernspiel gemacht. Alle sitzen im Stuhlkreis, ich sage etwas, und derjenige, auf den das zutrifft, soll aufstehen: »Alle, die gerne spät ins Bett gehen, sollen aufstehen! – Alle, die Ferien mögen, sollen aufstehen! – Alle, die Simpsons gucken, sollen aufstehen!« Dann übergebe ich die Fragerrolle an einen Schüler: »Alle, die Facebook sind, sollen aufstehen.« Und so weiter. Irgendwann: »Alle, die Ausländer sind, sollen aufstehen.« Fast alle springen auf. Ich übernehme wieder und sage: »Alle, die hier geboren sind, sollen aufstehen.« Die gleichen Schüler springen auf, und als ich frage, wessen Eltern hier geboren sind, setzt sich auch niemand wieder hin.
Also was denn nun? Hier zur Welt gekommen und trotzdem Ausländer sein wollen? Zwei Drittel der selbsternannten Ausländer besitzen einen deutschen Pass und kennen ihr »Heimatland« nur aus dem Fernsehen oder von Kitschpostkarten.
»Warst du denn schon mal im Irak oder in Syrien oder in Palästina?« Nö! War natürlich kaum einer. Aber im Kunst unterricht finde ich doch wieder auf jedem Bild die kurdische Flagge oder den weißen Halbmond mit Stern, auf jedem dritten Namensschild prangt die libanesische Tanne und Koransuren lassen sich auch in jedes Thema einarbeiten.
Natürlich gönne ich meinen Schülern die Sehnsucht nach der perfekten Heimat, aber sich in meinem Unterricht als Ausländer zu bezeichnen und vor allem jeden Grammatikfehler damit zu entschuldigen, das kann ich nicht tolerieren.
Sagte doch neulich der Referendar Herr Rau, der seit einem Jahr mit meiner Klasse kämpft: »Na ja, die Südländer, die hinten sitzen, haben sehr gestört.«
»Südländer? Die wohnen alle in der Neustadt, und das ist eher im Norden.«
Jeden Donnerstag führe ich im Kunstunterricht mit Aygül aus der 10. Klasse das gleiche Gespräch. Aygül ist lieb und nett, sitzt immer in der ersten Reihe, sie hat nur ein Problem: Man scheint ihr nirgends Zeichenmaterial verkaufen zu wollen. Und das schon seit drei Jahren.
»Frau Freitag, Bleistift?«
»Bleistift?«
»Frau Freitag, kann ich Bleistift?«
»Klar, wenn du den Satz korrekt sagst, mit Artikeln und allem drum und dran.«
»Aber wir sind Ausländer, wir sprechen halt so.«
»Also, erstens hast du ja wohl einen deutschen Pass und bist deshalb Deutsche, vielleicht noch türkische Deutsche oder deutsche Türkin, und zweitens ist das doch wohl keine Entschuldigung, so bekloppt zu sprechen. Wenn du in der Öffentlichkeit so redest, denken die Leute: Die ist ein bisschen dumm. Und wenn du dann in einer Arztpraxis arbeitest, denken die Patienten: Na, wenn die Arzthelferin dumm ist, dann ist bestimmt auch der Arzt schlecht, und gehen wieder. Und alles nur, weil du keine Artikel benutzt.«
»Ach, so habe ich das noch nie gesehen. Könnten Sie mir jetzt bitte trotzdem einen Bleistift ausleihen, ich habe meinen nämlich leider vergessen.«
»Klar. Hier. Bitte.«
Integration fetzt
An meiner Schule haben wir mit der Integration überhaupt kein Problem. Fröhlich integrieren wir seit Jahren und sind damit sehr erfolgreich. Beim letzten Ramadan übergab sich Susi in der Mathestunde, weil ihr vom Fasten schlecht geworden war, und Rainer kam im März vor dem Unterricht auf mich zu: »Ich heiße ab jetzt Mohamed.« Stoisch reagierte er nicht mehr auf seinen Kartoffelnamen, spielte unentwegt mit seinem Gebetskettchen und las ständig in einer deutschen Übersetzung des Korans.
Deutsche heißen in unserer Schule übrigens grundsätzlich Kartoffeln. Die Schüler nennen uns zwar nicht dauernd so, aber wenn jemand sagt: »Das war die Kartoffel in Ihrer Klasse«, dann weiß jeder, dass der Schüler keinen Migrationshintergrund vorweisen kann.
Mein Kollege Herr Werner sagte neulich: »Ich bin der ein zige Deutsche in meiner Klasse.« Also, ich weiß gar nicht, was alle haben. Integrieren ist doch easy. Der Trick ist einfach, eine moslemische Mehrheitsgesellschaft zu schaffen.
7. Klasse, Vertretungsunterricht. Ich lasse die Schüler was zeichnen. Ein Gruppentisch ist ziemlich laut. Ich höre mehrfach die arabischen Wörter »Chara« (Scheiße) und »Scharmuta« (Hure). Irgendwann reicht es mir. Ich stürze an den Tisch und schreie »Challas!« (lass das!). Die Jungen gucken mich verwirrt an. Ich sage: »Istrele!« (arbeitet).
Keiner reagiert. »Was ist, verstehst du das nicht?«, frage ich den einen und gucke sehr böse. »Ich kann kein Arabisch, ich bin Kurde.«
»Aber du«, wende ich mich an den Nächsten. »Du verstehst das doch.«
»Nee, ich bin aus Polen.«
Der Dritte war Türke, und dann saß da noch ein Junge mit
einer thailändischen Mutter, der jedoch nur Deutsch sprach. Aber auf Arabisch fluchen, das geht. Wenn wir die Schüler nicht da abholen, wo sie sind, dann machen das eben die Mitschüler. Und irgendwie ist es doch auch schön, wenn sie was lernen. Wie könnte ich als Fremdsprachenlehrerin nicht begeistert sein, wenn sich meine Schüler freiwillig mit anderen Kulturen auseinandersetzen?
Mein Türkisch wird von Tag zu Tag besser und mit dem Arabisch – na ja, ich arbeite dran. Is auch schwer, vallah! Diese ch-Laute sind eher was für Schweizer. Elterngespräche auf Türkisch klappen aber schon ganz gut. Übersetzt gehen die ungefähr so:
»Öretmen Erhan.« (Ich Lehrerin Erhan.)
»Erhan hayir cok güzel Englisch.« (Erhan nein sehr schön Englisch.)
»Erhan immer Handy.« (Handy ist universal verständlich.)
»Erhan Kunst cok güzel.« (Erhan Kunst sehr schön.)
»Erhan Englisch hayir, hayir.« (Erhan Englisch nein, nein. »Schlecht« kenne ich noch nicht.)
Ich mache ein trauriges Gesicht. Mutter Erhan auch.
»Aber Erhan guter Junge.« (Ersguterjunge heißt Bushidos Plattenlabel.)
»Memnum oldum Erhan.« (Sagt man eigentlich zur Begrüßung und heißt so viel wie »ebenfalls angenehm«.)
Mutter wieder happy. Frau Freitag auch happy. Erhan auch happy. Fertig.
Man kann sogar mit noch weniger Wörtern ein zufriedenstellendes Elterngespräch am Telefon führen. Als Derya, ein Mädchen aus meiner letzten Klasse, wieder einmal schwänzte, rief ich wütend bei ihr zu Hause an und hatte gleich ihren Vater an der Strippe: »Efendim.«
»Guten Tag, hier spricht Frau Freitag, ich bin die Klassenlehrerin von Derya. Ich wollte fragen, warum sie nicht in der Schule ist.«
»Derya?«
»Ja, Derya, Ihre Tochter.«
»Derya Schule!«
»Nein, Derya nix Schule. Hier ist die Schule. Ich bin Schule.«
»Derya Schule!«
»Derya nix Schule!«
Der Vater stockt kurz: »Derya nix Schule?«
»Nein.«
Vater: »Danke.«
Zufrieden denke ich: Na, das lief doch wunderbar. Der Vater hat doch genau verstanden, was ich ihm mitteilen wollte. Und tatsächlich kam Derya am nächsten Morgen wütend auf mich zu: »Toll, Frau Freitag, vielen Dank! Nur weil Sie gestern angerufen haben, lässt mein Vater mich jetzt nicht mehr mit auf die Klassenfahrt.«
Deryas Vater dazu zu überreden, sie doch mitfahren zu lassen, war dann allerdings noch eine ziemlich schwierige Angelegenheit.
Ein Schüler hat mir neulich »Inshallah tmout« beigebracht. Das heißt: »Hoffentlich stirbst du.« Mal sehen, wie ich das in das nächste Elterngespräch einbauen kann.
Elterngespräche sind überhaupt das Highlight des Lehrberufs. Da viele meiner Schüler Eltern haben, die nicht arbeiten, kann man sich die Erziehungsberechtigten nach Lust und Laune in die Schule einbestellen. Aus Zeitmangel beschränkt sich der Durchschnittslehrer allerdings darauf, die Eltern kommen zu lassen, wenn es Probleme gibt.
Bei jedem Elterngespräch höre ich Ähnliches, wenn es mit dem Kind nicht so richtig läuft: »In Grundschule war alles okay, nie Probleme, aber dann Oberschule. Wir wollten ja nicht hier Schule, aber bei uns gab’s nur Gymnasiumschule. Und dann hier, hat er falsche Freunde gehabt.«
In den Bildungsprogrammen fragt dann der Jugendcoach, die Supernanny oder der Superlehrer: »Und wie kam es, dass du zwei Jahre nicht mehr zur Schule gegangen bist und jetzt dreißig Strafanzeigen hast?«
»Hab ich mit falsche Freunde rumgehangen.«
Ich frage mich: Wer sind diese falschen Freunde und was sagen diese falschen Freunde, wenn sie mit ihren Eltern zum Elterngespräch in die Schule gehen? »Ich war einer dieser falschen Freunde«? Sicher nicht.
Jeder Vater und jede Mutter gehen immer ganz selbstverständlich davon aus, dass ihr Kind ein harmloses Lamm ist und nur durch den schlechten Einfluss … Da meckern die Türken über die Araber, und die Kroaten, Albaner und Russen sagen, die Moslems seien kein guter Umgang.
Mit solchen Gedanken sitze ich im Bus und quäle mich. Bei uns gibt es viele falsche Freunde. Was würde denn ein richtiger Freund sagen?
»Mach das lieber nicht! Klau nicht, das darf man nicht!« – »Komm, wir gehen lieber zum Unterricht und nicht zu Lidl.« – »Lass uns mal lieber für die Mathearbeit üben, statt noch mehr Handys abzuziehen.«
Wo findet man denn solche Leute? Bei uns nicht. Trotzdem komisch, dass alle Eltern denken, gerade ihr Kind sei der reinste Engel.
Das Lehrerzimmer
In jeder Schule ist dies der schönste Ort: das Lehrerzimmer. Dorthin drängt es den gebeutelten Lehrer nach jeder Unterrichtsstunde. Dort fühlt er sich geborgen, dort wird er verstanden, da findet er Ruhe und Kaffee.
Als Schüler darf man nicht ins Lehrerzimmer. Man darf höchstens an der Tür stehen und irgendwelche wichtigen Dokumente reinreichen. Mit ernstem Gesicht geben die Schüler uns ihre Hausaufgaben, Hefter oder Atteste, als wären es Todesanzeigen: »Frau Freitag, können Sie das bitte bei Frau Kriechbaum ins Fach legen?« Dabei lehnen sie sich weit in den Raum hinein, um möglichst viel von der Lehrerzimmerszenerie mitzukriegen. In diesem, für sie verbotenen Raum, wo es von Lehrkräften nur so wimmelt, von Lehrern und Lehrerinnen, die dort rumsitzen, vorm Schwarzen Brett oder am Kopierer stehen, selbstgeschmierte Pausenbrote essen, Kaffee trinken, nicht rauchen und die ganze Zeit reden und viel lachen. Auf die Schüler wirkt der Lehrer im Lehrerzimmer anders, neu, unbekannt, ja, geradezu unheimlich menschlich und dadurch umso skurriler. Was geht da ab? Was machen die Lehrer da? Sie sind dort irgendwie zu entspannt … Aber wovon der Schüler nichts ahnt, das sind die unausgesprochenen Verhaltensregeln im Lehrerzimmer.
Die kann man schon morgens vor der ersten Stunde beobachten. Wer ist zuerst da? In jedem Kollegium gibt es die Sehrfrüh-Erscheiner, die Dann-Eintrudler und die Auf-den-letzen-Drücker-Kommer. Da ich zur ersten Fraktion gehöre, kann ich die Ankunft der anderen Gruppen immer genau verfolgen. Wir Sehr-früh-Erscheiner haben unsere Seht-wie-organisiert-ich-bin-Routine. Die geht so: Gang zum Fach, alles rausnehmen, sofort sortieren, und »Muss ja, muss ja« stöhnen, dann der Blick auf den Vertretungsplan, ein Interesse geheucheltes: »Ach, Frau Frenssen fehlt ja immer noch. Muss ja doch was Ernsteres sein.« Dabei noch die lustigen Sprüche der Kollegen kommentieren, wie etwa: »Na, heute hitzefrei?« oder »Steh ich nicht auf dem Plan? Dann kann ich ja gehen.« Diese Sprüche kommen vor allem von den Dann-Eintrudlern, denn die geben sich betont lässig. Die Sehr-früh-Erscheiner sind währenddessen damit beschäftigt, sich zu organisieren, denn sie gehören automatisch zu den Ich-hab-alles-im-Grifflern. Ihre Aufgabe ist es allerdings auch, auf die dummen Sprüche etwas wie »Er nun wieder« oder »Herr Johann – du hier und nicht in Hollywood?« zu erwidern.
Die Dann-Eintrudler gehen auch nicht direkt zu ihren Fächern, sondern holen sich erst mal einen Kaffee und berichten lautstark aus ihrem spannenden Privatleben, denn sie wollen sichergehen, dass man sie als Ich-könnte-auch-was-ganz-anderes-Macher wahrnimmt. Und kurz vorm Klingeln oder auch kurz danach erscheinen die Auf-den-letzten-Drücker-Kommer. Abgehetzt hechelnd stürzen sie nur ins Lehrzimmer, um gleich hinten wieder raus zum Unterricht zu rennen. Immer tragen sie Hefter, Bücher oder sonst was im Arm, während sie alle Fragen mit: »Tut mir leid, ich hab grad gar keine Zeit« abwehren. Sie haben nie Zeit, sie vermitteln einem den ganzen Tag das Gefühl, dass sie irgendwie mehr Stunden unterrichten würden als man selbst. Von ihnen hört man viel über »die da oben«, sie klagen und jammern am meisten. Leiden ist ihr Ding.
Um 8.10 Uhr sind alle weg außer ein paar Sehr-früh-Erscheinern, die erst zur zweiten Stunde haben und deren Bewegungen sich nun so sehr verlangsamen, dass man fast meinen könnte, sie seien erstarrt. Sie schleichen von ihrem Fach zum Kopierer, zurück zum Schwarzen Brett, lesen sich dort alles ganz genau durch: »Das kann ich hier doch ab machen, oder? Die Gesamtkonferenz war ja schon vor zwei Wochen.«
In den Pausen füllt sich die Lehrerlounge wieder mit Leben. Und jetzt greifen die ungeschriebenen Gesetze der eigentlich nicht, aber irgendwie doch festgelegten Sitzordnung an den zu wenigen Tischen. Für neue Kollegen ein Spießrutenlauf, ein Fettnäpfchen-Slalom allererster Güte. Für alle anderen ein Zuhause, ein Ort des Lebens mit all seinen Facetten.
Ich liebe das Lehrerzimmer so sehr, dass ich auch nach Unterrichtsschluss gerne noch stundenlang dort abhänge. Es ist Café, Club und Wohnzimmer zugleich. Ich denke ernsthaft darüber nach, mir in meiner Wohnung ein eigenes Lehrerzimmer einzurichten.
Neulich waren wieder Schulfremde im Lehrerzimmer. Also Leute, die keine Lehrer sind, aber trotzdem irgendwie in der Schule arbeiten wollen. Gerne sind das nicht so ganz erfolgreiche Künstler, besonders engagierte Eltern oder Menschen, die mal früher Lehrer werden wollten, aber dann doch keine Lehrer geworden sind. Jedenfalls tummeln diese Leute sich gerne an unseren Schulen und bringen mitunter den gewohnten Trott durcheinander. Diese Schulfremden erkennt man sofort. Sie sind irgendwie ganz anders als wir Lehrer. Der größte Unterschied: Sie sind immer voll gut drauf. Sie haben immer viel zu erzählen, meistens haben sie wahnsinnige Projektideen, die sie mit unseren Schülern durchführen wollen: »Und, meinst du, wäre das möglich, wegen Gender und so, diese Doku über lesbischen Sex zu zeigen?«
Ich: »Klar, vielleicht nicht in der Siebten, aber mit der Achten sicher.«
Die Schulfremden sind sehr interessiert, immer neugierig und voll offen: »Ach, und du würdest dich also als Gangsta bezeichnen.« – »Ach, und du rappst, spannend, kann ich das mal hören? Und dieses Gangbang – erzähl mal.«
Sie lieben es, einfach mal mit in den Unterricht zu kommen: »Ach, kann ich einfach mal mitkommen? Geht das?« und dort kann man sie dann nach Lust und Laune mit ein paar Sprüchen und ein wenig Unterricht voll begeistern oder extrem schockieren.
Eines haben sie allerdings nicht. Sie haben kein Timing. Sie bewegen sich sehr langsam, das mit den Pausen kapieren sie nie, und versuch mal einem Schulfremden die Anfangszeiten der Schulstunden beizubringen. Einen ganzen Schultag so einen an der Backe zu haben schlaucht total: »Ach, hat es schon ge klingelt? Geht es jetzt gleich weiter? Ich wollte noch mal aufs Klo …«
Sie schleichen dir den ganzen Tag hinterher und wollen alles immer sofort erklärt bekommen: »Und wie läuft das hier mit dem blabla und der blabla?« Aber vor allem sind sie heiß auf Schülerkontakt: »Ihr könnt ›du‹ sagen, so alt bin ich ja noch nicht.« (By the way, wer über neunzehn ist, steht für die Schüler schon mit einem Bein im Grab.)
Und die Schüler, die lieben diese Schulfremden, denn endlich hört ihnen mal jemand zu. Plötzlich sind sie voll wichtig. Sie werden beobachtet, befragt, und was sie sagen wird, sogar notiert. Manche Schüler spielen sich auf, als wären sie Superstars, wenn Schulfremde da sind. »Wir können das Interview ja auch in der nächsten Stunde weiterführen, da hab ich bloß Mathe, is nicht so wichtig.«
Aber wehe, die Schulfremden wollen mit den Schülern arbeiten. Wenn die von ihnen auch nur das kleinste bisschen Einsatz verlangen, dann heißt es schnell: »Kommt heute die Frau wieder? Is scheiße mit der Frau. Die Frau soll nicht mehr kommen.« Und plötzlich ist der stinknormale Unterricht bei Frau Freitag doch nicht so schlimm.
Ich war Arzt
Schlimm wird es bei Frau Freitag jedoch, wenn man nicht macht, was sie sagt, oder wenn man gar nicht erst kommt. Wären wir ein Betrieb, ich hätte nur noch einen Angestellten. Alle anderen schwänzen, dass es nicht mehr feierlich ist. Meine Klasse besteht aus chronisch kranken Nichtsaushaltern, die außerdem ständig ganz wichtige Termine auf jedem nur erdenklichen Amt haben. Natürlich immer donnerstags, denn da haben sie zehn Stunden.
Freitag, zweite Stunde: »Mehmet, wo warst du gestern?«
»Ich hab Entschuldigung. Ich war Ausländerbehörde.«
»Behörde« und »Amt« – ihre Lieblingswörter, ach ja, und natürlich »Arzt«. Aber irgendwann reicht’s auch mal.
»Mehmet, gib mir mal die Telefonnummer von der Ausländerbehörde.«
»Hä?«
»Ich will da anrufen und mich beschweren, die dürfen dich nicht zehn Stunden festhalten. Das ist ein Skandal!« Mehmet gibt zu, dass er nur am Vormittag dort war. Mittlerweile weiß ich, auf welchen Ämtern man »voll lange warten musste, ich schwöre«, und wo man einen Termin braucht: »Wir haben drei Stunden gewartet und dann mussten wir wieder gehen, weil wir keinen Termin hatten.« Und natürlich der Arztbesuch. Den lieben sie. Warum sagte nie jemand in der mündlichen Prüfung für den Realschulabschluss: »My favourite hobby is football and Arztbesuch«?
Die lieben Kleinen bevölkern die Wartezimmer. Meine Klasse – ein Rentnerverein.
Ich glaube, ich war in meiner eigenen Schulzeit vielleicht dreimal beim Arzt – von Zahnarztterminen und Kieferorthopädenbesuchen mal abgesehen. Auch Arzttermine liegen bei den Schülern meiner Klasse grundsätzlich donnerstags und dauern
dann den gesamten Vor- und Nachmittag.
»Warum gehst du nicht Montagnachmittag nach der Schule?«
»Da muss man so lange warten.«
Und da meine Klasse nachmittags ja so viel zu tun hat – wahrscheinlich warten da noch viele weitere Behördengänge auf sie –, können sie sich ihre Arzttermine nur auf die Vormittage legen.
Natürlich bin ich für eine ärztliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung von Schulkindern. Mir geht es dabei auch gar nicht um die Kosten für die Allgemeinheit – ein beliebtes Thema im Lehrerzimmer. Lehrer haben ja eigentlich zwei Jobs – im Klassenraum sind sie Lehrer, aber im Lehrerzimmer sind sie vor allem Steuerzahler und Kostenüberwacher. Schön, dass sich meine verbeamteten Kollegen so um die gesetzliche Krankenkasse sorgen, denn ich bezweifle, dass meine Schüler privat versichert sind.
War ein Schüler nicht beim Arzt oder bei einer Behörde, heißt das noch lange nicht, dass er nicht trotzdem fehlen kann. Und die selbstverfassten Entschuldigungen sind doch sowieso schöner als diese nichtssagenden Atteste. Da gibt es die starken Kopfschmerzen, gefolgt von Bauch- und Magenschmerzen, aber auch Schwindel, Übelkeit und natürlich das hohe Fieber. Herrlich auch die Bein- und Handschmerzen oder der starke Sonnenbrand. Meine absoluten Favoriten sind allerdings die schon im Voraus angekündigten Ferienverlängerungen.
»Frau Freitag, wir fahren aber schon am Montag Türkei.«
»In die Türkei. Aber Emre, da sind doch noch gar keine Sommerferien.«
»Is doch egal.«
Und es geht auch mitten im Schuljahr. Reinhold, der mit seinen Eltern als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen ist, erzählte mir mitten im ersten Halbjahr: »Ich fahre morgen drei
Wochen mit meinem Vater nach Russland.«
»Aber Reinhold, wir haben doch gar keine Ferien.«
»Na und?«
Wenn die Schüler dann wieder in der Schule auftauchen, kommen sie mit den schärfsten Entschuldigungen: »Mein Vater hat unsere Pässe geklaut und versteckt, und wir mussten zur Botschaft, und wir haben keinen Rückflug aus Russland nach Deutschland bekommen.« Und immer wieder gehen verschiedenste Fluggesellschaften pleite.
Schön auch: »Ich habe nicht unentschuldigt gefehlt. Ich habe verschlafen. Was kann ich dafür?« Dann gibt es natürlich noch den Scheißbus, die Scheiß-U-Bahn, meine Tasche hier liegengelassen und meinen Pulli dort vergessen. Oder der Schlüssel und die Geschwister, die immerzu irgendwohin gebracht oder abgeholt werden müssen. Und das berühmte: »Ich musste was klären.« »Was klären« heißt nie etwas Gutes. Meistens werden Differenzen mit den Fäusten »geklärt«, und darüber möchte man als Lehrer eigentlich nichts Genaueres wissen.
Meine armen Schüler, die haben so viel zu tun. Ich wäre dafür, ihnen die Anzahl der Wochenstunden zu kürzen. Oder sie sollen einfach mal sagen, wie es wirklich ist: »Frau Freitag, ich schwör, ich hatte echt kein Bock auf Schule.«
Fehlzeitenspitzenreiter in meiner Klasse ist Emre. Er ist eigentlich öfter nicht da als da. In den letzten Jahren hat er nie irgendeine Entschuldigung abgegeben und dementsprechend sah auch sein Zeugnis aus. Da er ziemlich schlau ist, schafft er trotzdem immer mit Ach und Krach die Versetzung. Dieses Jahr habe ich ihn endlich so weit, dass ich für die Hälfte seiner Absentien eine schriftliche Entschuldigung erhalte. Er schreibt sie, und Mama setzt ein krakeliges Geschmiere drunter. Emre gehört zu den Coolen meiner Klasse. Er schreibt immer mit schwarzem Fineliner und bewegt sich in Zeitlupe. Er denkt, er sei Tony Montana aus Scarface.
Am Mittwoch und Donnerstag war er nicht in der Schule. Freitag kommt er in der ersten Stunde wortlos auf mich zu und überreicht mir einen zehnmal gefalteten Zettel. Ah, denke ich, die Entschuldigung für gestern und vorgestern. Aber weil ich mit dem Unterricht beginnen möchte, stecke ich den Zettel erst mal ungelesen in die Hosentasche.
In der Pause entfalte ich ihn und erwarte einen ausführlichen Bericht, warum es Emre nicht möglich war, das Bildungsangebot in den letzten zwei Tagen wahrzunehmen. Emre nimmt es mit seinen Erklärungen immer sehr genau, und die Entschuldigungen können sich schon mal über ein DIN-A4-Blatt erstrecken.
Ich lese und lese, aber statt der üblichen »Bauchschmerzen, Schwindel, hohes Fieber« entziffere ich in Emres typischer Fineliner-Schrift einen Entwurf für einen Raptext. »Nicht mit mir« – eine Abrechnung mit Möchtegern-Rappern, die namentlich genannt werden, mir aber unbekannt sind.
Ich lese den Text dreimal. Nichts reimt sich. »Scheine« und »bleibe« ist doch kein sauberer Endreim. Kein klassisches Reimschema ab ab oder aabb. Alles abcdefgh und dann jgkadftu. Wie will er das denn vortragen? Geht Rap auch ohne Reime? Sind die Reime in der Mitte der Zeilen versteckt und erschließen sich nur bei bestimmter Betonung? Ich lese den Text noch mal laut. Wippe mit dem Kopf, leider habe ich keine Beats. Dann klingelt es, und ich stecke den Zettel erst mal wieder ein.
Abends habe ich Besuch, ein Haufen Lehrerfreunde kommt zum Essen. Als wir vollgefressen am Tisch rumhängen, fällt mir der Text wieder ein, und ich zeige ihn meinen Freunden. Zum Glück sind auch Musik- und Deutschlehrer dabei. Nachdem wir den Inhalt ausführlich analysiert haben, wird wild über moderne Reimformen diskutiert: »Emre fehlt noch der HOOK!« stellt der Musiklehrer fest. Der Deutschlehrerfreund nimmt sich einen Stift und verbessert die Rechtschreibfehler: »Ich nehme grün, das wirkt nicht so demotivierend. Mach ich immer so.« Der Musiklehrer schlägt auf dem Esstisch einen Beat und versucht immer wieder, den Text zu rappen: »Da stimmt was nicht mit der Silbenanzahl. Vielleicht sollte man die letzten beiden Wörter in der ersten Zeile weglassen.« Nach einer Stunde haben wir das Lied fertig. Stolz lassen wir es vom Musikkollegen vortragen. Wir sind mit unserem Ergebnis sehr zufrieden. Emre wird sich freuen.
Fräulein Krise fragt: »Ob er schon gemerkt hat, dass ihm sein Text fehlt?«
»Bestimmt«, antwortet der Deutschlehrer. »Der sitzt jetzt zu Hause und rappt seinen Entschuldigungszettel.«
Ab zur Analyse
Ohne Fräulein Krise und Frau Dienstag wäre ich schon längst in einer Burn-out-Klinik. Seit Beginn des Referendariats laufe ich hochtourig, im oberen Bereich meiner persönlichen Leistungsgrenze. Sobald irgendetwas passiert, was nicht geplant oder bedacht wurde, gerät mein gesamtes System ins Schleudern. Der Motor hakt, es entstehen komische Geräusche, und in diesen Momenten wende ich mich immer an Frau Dienstag und Fräulein Krise – zur Analyse.
Fräulein Krise schwört auf paradoxe Intervention und Frau Dienstag liebäugelt mit: »Hart bleiben, da sag ich einfach nein, die Zügel erst mal anziehen.« Ich glaube, Frau Dienstag träumt wie ich davon, den Unterricht als ein zwei Quadratmeter großer Mann mit tiefer Stimme abzuhalten, der die Schüler durch bloßes Ein- und Ausatmen in Schach hält. Leider gehören wir beide eher zur leptosomen Fraktion, die sich mit anderen Tricks durchsetzen muss.
Frau Dienstag unterrichtet Mathematik und Chemie an einer ziemlich kleinen Schule. Sie schwört auf Struktur und kleine Klassen und kann sogar ihr Auto selbst reparieren. Wir haben uns im Referendariat kennengelernt. Ohne sie hätte diese aufregende Zeit sehr viel weniger Spaß gemacht. Wahrscheinlich waren wir bundesweit die einzigen Referendare, die sich nicht über ihre ersten Sommerferien freuten: »Es könnten doch wenigstens die Seminare stattfinden, wenn wir schon in den Ferien nicht in die Schule dürfen.«
Nie hört man von Frau Dienstag: »Geht nicht, kann ich nicht, versteh ich nicht.« Wenn sie sich nicht gerade in der Produktion von Unterrichtsmaterial, Gebäck, Tiefkühlkost oder kleinen Möbeln befindet, trainiert sie für den Halbmarathon. Den ganzen Marathon würde sie auch schaffen, aber der dauert ihr zu lange. Sie ist immer in Action – vor jedem Schuhkauf wird eine intensive Marktanalyse vorgenommen –, Stillstand wäre ihr Tod. Sie ist eine echte Bereicherung in meinem Leben.
Frau Dienstag entwickelt momentan eine Persönlichkeitsstruktur, mit der sie eine prima Schulleiterin werden könnte. Sie empfindet Gefallen daran, die Kollegen auflaufen zu lassen: »Ich hab die dann nur so angeguckt und ganz ernst gesagt: Bitte nicht in dem Ton.« Sie bewundert die konsequenten Kollegen: »Die entschuldigt das Fehlen nur mit Attest, und zwar VOM ERSTEN TAG an.« Sie geht souverän mit neuen Anforderungen um: »Klar kann ich Physik unterrichten, das lese ich mir im Bus an.«
Ihren Unterricht macht sie vorbildlich. Gut vorbereitet und souverän meistert sie ihren Alltag und hat nur selten Probleme.
Ich vermute bei ihr so etwas wie ein Privatleben, kann mich aber auch täuschen. Und sie weiß auch genau, was sie mit einem Schulleitergehalt anfangen würde. »Guck, guck, das ist genau der Wagen, den Frau Fischer fährt. Ein Jaguar, ist der nicht geil?«
Bei Frau Dienstag kann ich immer jammern und mich bedauern lassen: »Du Arme, achtundzwanzig Siebtklässler, ganz alleine und dann auch noch Linolschnitt.«
Frau Dienstag kennt alle meine Schüler und mein gesamtes Lehrerkollegium aus meinen Erzählungen, das erleichtert die Analyse sehr: »Also, Frau Schwalle war die mit dem Teddypulli, die mit dem Mann, der nach England abgehauen ist, und die nicht weiß, wo sie im Sommer ihre vier Katzen unterbringen soll.« – »Vergiss doch Herrn Johann, der hat doch sowieso nichts drauf.«
Fräulein Krise ist die Pädagogik-Königin. Sie unterrichtet alles. Sie kann, weiß und macht auch alles. Es gibt keine Methode, die sie noch nicht ausprobiert hat, und kein Thema, dass sie nicht geschickt in ihren Unterricht einbauen kann. Gibt es monsunartige Regenfälle in Rumänien, bastelt sie sich daraus eine Kunstunterrichtseinheit. Die Präsidentschaftswahl in Südkorea integriert sie geschickt in den Matheunterricht, und läuft im Fernsehen ein besonders spannender Tatort, dann kann man davon ausgehen, dass sie in der nächsten Woche darüber ein Diktat schreiben lässt. Fräulein Krise weiß immer, wie alles geht. Neben ihr sieht jeder Professor blass aus. Sie ist die Grande Dame der Didaktik. Im Gegensatz zu Frau Dienstag und mir schüttelt Fräulein Krise ihre Unterrichtsvorbereitung aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung oft einfach aus dem Ärmel. In meinem Ärmel ist gar nichts drin zum Rausschütteln.
Kennengelernt haben Fräulein Krise und ich uns auf dem Raucherhof. Für kurze Zeit unterrichteten wir an der gleichen Bildungsanstalt. Ich war völlig fertig, weil ich nicht wusste, was ich mit den Schülern in der nur noch zwanzig Minuten entfernten Doppelstunde Kunst machen sollte. »Mach doch was mit Keith Haring«, sagte sie mit sonorer Stimme und zog lässig an ihrer Extra-Slim-Zigarette. Keith Haring. Ja, so was mögen die Schüler bestimmt, dachte ich. Eigentlich wollte ich denen die Zentralperspektive beibringen, aber dieses Fräulein Krise hatte recht. Keith Haring war der Schlüssel zum Erfolg. Von dem Moment an war mir klar: Die hat’s echt drauf. Heimlich habe ich nach jeder Pause aufgeschrieben, was sie beim Rauchen gesagt hat. Oft konnte ich es direkt in meinen Unterricht einbauen. Das tue ich heute noch. Viele meiner Vorträge im Unterricht fangen mit den Worten an: »Also, eine Freundin von mir meint ja, dass …«
Obwohl wir alle drei an verschiedenen Schulen arbeiten, denke ich vormittags oft an Frau Dienstag oder Fräulein Krise. Hätte ich nicht lieber das und das sagen sollen? Was kann ich eigentlich machen, wenn der Schüler immer so und so ist? Wie kann ich denen denn das und das beibringen? Ach, ich rufe einfach Frau Dienstag an oder frag Fräulein Krise. »Frau Dienstag, du glaubst nicht, was heute bei uns passiert ist.« – »Fräulein Krise, sag doch mal, was ich machen soll, die sind immer so …«
Und das Verrückte ist: Die beiden wissen immer eine Lösung. Unglaublich! Ohne sie würde ich nicht nur im Lehrerzimmer vor mich hinmurmeln, extrem zu- oder abnehmen, mich in den Schlaf weinen oder gar nicht mehr schlafen – ich bin mir sicher, ich säße schon im Allgäu in eine Decke gewickelt auf der Terrasse einer teuren Burn-out-Klinik.
»Deine Klasse wieder …«
Meine Klasse wurde gelobt! Meine Klasse wurde gelobt! Meine Klasse wurde gelobt! Am liebsten würde ich sofort Frau Dienstag und Fräulein Krise anrufen.
Ich sitze in meiner Freistunde im Lehrerzimmer, mit einer Kann-ich-mir-auch-den-Deutschunterricht-mal-ansehen-Schulfremden und Kollegin Hinrich. Beide kommen gerade aus einer Doppelstunde in meiner Klasse. Ich will lieber gar nicht erst fragen, wie es war, und rede deshalb übers Wetter. Aber dann die Schulfremde: »Das ist aber eine nette Gruppe, Ihre Klasse.«
Ich verstehe nicht: Hä, meint die mich? Meint die meine Klasse?
»Ja, die sind aber nett miteinander und die haben auch so schön gearbeitet.«
»Na ja, die können auch anders, und der Abdul, der ist ja immer …, und der Mehmet und die Samira, die macht ja nie«, mischt sich Frau Hinrich ein.
»Jetzt hör doch mal auf, die wurden gerade gelobt, nun lass doch mal!« Ich will dieses Lob, das erste in diesem Jahr, noch eine Weile genießen, bevor die Sportlehrerin gleich reinkommen und mir aufzählen wird, wer wieder nicht am Sport teilgenommen hat. Deshalb wiederhole ich: »Ja, die sind echt nett.« Ich will noch mehr hören, ich will noch mehr Lob! Aber da kommt nichts mehr. Das Thema wird gewechselt.
Ich lehne mich zurück und lasse den Satz durch mein Gehirn wabern: »Das ist aber eine nette Gruppe.« Schön klingt das. Selten, aber sehr schön. Ich finde auch, dass die eine nette Gruppe sind. Ich mag meine Klasse sehr gerne. Alle. Irgendwie sind die alle toll. Sie gehen mir zwar ziemlich auf die Nerven, aber sie sind trotzdem toll. Schade, dass nur ich das so sehe. Bei den Kollegen scheinen sie ihre Tollheit geschickt zu verbergen, denn ich höre sonst nur:«Oh Gott, du gehst in die Freitag-Klasse, na, viel Spaß.« – »Ach, die arme Neue, bei denen Ethik. Na, das kann ja was werden.« – »Deine wieder.«
»Deine« – wie ich das hasse. Ich habe die doch nicht geboren. Und trotzdem heißt es immer: »deine«. Die Kollegen kommen mit ihren Fehlzetteln auf mich zugerannt und zur Begrüßung bekomme ich regelmäßig ein vorwurfsvolles: »Wieder sechs Leute zu spät.« Nie heißt es, zehn Leute waren pünktlich. Ich muss mich immer um die Nicht-so-Angepassten kümmern, die guten Alles-richtig-Macher, über die werde ich nicht informiert: »Nicht gemeckert ist genug gelobt.« Und im Vorbeigehen fällt der Kommentar: »Wie der Herr so das Gescherr«, was ja nichts anderes meint, als dass ich schuld daran bin, dass Abdul, Peter und Sabine wieder zu spät gekommen sind. Haben die vielleicht bei mir geschlafen? Wenn sie das gemacht hätten, dann hätte ich sie pünktlich geweckt!
Mir wird seit zwei Jahren suggeriert, dass meine gesamte Klasse nicht in die Pubertät gekommen wäre, wenn sie einen fähigeren Klassenleiter gehabt hätten. Nun ist es aber zu spät. Alle sind hormonell überdosiert – daran bin natürlich ich schuld, klar – und drehen frei. Sie benehmen sich total daneben, sie kommen zu spät, sie machen keine Hausaufgaben. Und wenn doch, dann schreiben sie die nur von dem Deppen ab, der sie gemacht hat. Sie vergessen jeden Zettel, den man ihnen zur Unterschrift nach Hause mitgibt. Sie haben selten ihr Arbeitsmaterial dabei. Sie passen im Unterricht nicht auf. Sie arbeiten nicht mit. Ihnen fehlt der Ehrgeiz und die Konzentration. Dafür werden sie frech, anmaßend und unverschämt, wenn man sie ermahnt.
Und trotzdem finde ich sie toll. Sie sind witzig und fröhlich. Sie kommen zu spät, weil sie sich so gut verstehen und so viel auf dem Schulhof zu tun haben. Sie müssen auch oft noch aufs Klo oder in die Cafeteria. Sie arbeiten nicht mit, weil sie sich momentan für andere Dinge interessieren. Sie bringen die Zettel mit den Unterschriften nicht mit, weil sie es einfach vergessen, sobald sie zu Hause sind. Sie sind ganz normale Teenager in der schlimmsten Zeit der Pubertät. Sie haben Babyspeck und Pickel und ziehen sich komische Klamotten an. Sie haben alle mehrere Handys und wissen genau, wie man die bedient. Sie schminken sich seltsam, oft sind ihre Gesichter orange. Die Jungen verkleistern ihre Haare mit Gel und die Mädchen finden das süß. Sie bequatschen dauernd ihre Probleme. Sie sind ständig verliebt und dann wieder doch nicht: »Schon laaange nicht mehr mit dem, Frau Freitag.« Sie machen gute Witze und lachen, wenn ich über Kabel stolpere. Sie bringen mir die übelsten Ausdrücke auf Arabisch oder Türkisch bei und versichern mir, das hieße »Guten Tag« oder »Auf Wiedersehen«. Sie sind ständig wie auf Koks, völlig überdreht und zu laut. Ich finde sie wirklich super.
Wochenende, endlich Zeit zum Krankwerden
Aber nach fünf Tagen geht es irgendwie auch ohne sie. Es ist Sonntag. Wochenende. Und die Arbeit so weit weg, dass ich glatt vergessen könnte, welchen Beruf ich eigentlich ausübe. Neider schreien jetzt empört auf: Was? Hat die schon wieder Wochenende? Und ich sage: Ja! Und zu Recht, denn das habe ich mir verdient. Aber keine Angst, niemand genießt das Wochen ende so schlecht wie Lehrer. Jedenfalls gehört Entspannung nicht gerade zu meinen Lieblingstätigkeiten. Ich bin mir sicher, dass es keine andere Berufsgruppe gibt, die so schlecht abschalten kann wie wir. Oder wacht ein Bäcker nachts auf und denkt: Na, die Mohnbrötchen habe ich aber gestern irgendwie nicht richtig hingekriegt. Denkt die Verkäuferin am Sonntag: Morgen kommt die neue Ware, dann werde ich mich mal jetzt schon hinsetzen und aufschreiben, welche Artikel kommen, und sie alphabetisch sortieren? Kein Busfahrer muss sonnabends eine Sachanalyse über seine Route oder eine Bedingungsfeldanalyse über seine Fahrgäste verfassen. Ich dagegen sitze am Wochenende am Schreibtisch und denke mir Stunden aus, konzipiere und zensiere Arbeiten, gebe Statistiken und der Bürokratie ihre Daseinsberechtigung und liege sogar nachts oft wach und denke: Hat Abdul das wirklich gesagt? Hab ich da richtig reagiert? Hätte ich nicht da nicht das sagen sollen und vorher nicht lieber erst mal … und so weiter. An Wochentagen passiert mir das nicht. Eigentlich geht es mir an allen anderen Tagen besser als am Wochenende. Vielleicht sollte man das Wochenende abschaffen. Wer braucht das schon? Die Geschäfte sind nicht auf, sonntags ist man doch sowieso verkatert und depressiv und der öffentliche Nahverkehr fährt auch nur alle zwanzig Minuten.
Wenn man Glück hat, wird man am Wochenende krank. Dann muss man sich nicht langweilen, sondern kann sich schön um seinen grippalen Infekt kümmern. Meistens werden Lehrer sowieso am Wochenende krank, weil da der Stress nachlässt und man sich plötzlich erinnert, dass man noch einen Körper und nicht nur einen Kopf hat.
Aber krank in die Schule gehen ist scheiße. Manchmal geht es nicht anders. Manchmal fängt das Krankwerden ja auch erst in der Schule an. Neulich war ich krank. Also sage ich den Schülern schon vor Beginn des Unterrichts: »So Leute, bevor ihr mich fragt: Ja, ich habe heute schlechte Laune – sehr schlechte Laune. Hat nichts mit euch zu tun – noch nicht –, aber ich habe heute überhaupt keinen Nerv auf euren Firlefanz. Ich habe Kopfschmerzen, Halsschmerzen und wahrscheinlich auch Fieber.«
»Warum bleiben Sie dann nicht zu Hause?«
Ja, warum bleibe ich eigentlich nicht zu Hause? In dieser 10. Klasse bin ich ja wahrscheinlich die Einzige, die sich schon mal irgendwo beworben hat. Da meine Fehlzeiten auf keinem meiner Zeugnisse erscheinen, falls ich mich noch mal irgendwo bewerben würde, könnte ich, wenn ich krank bin, auch ruhig mal zu Hause bleiben. Der Protestant in mir erlaubt es nicht. Ich gehe pflichtdurchdrungen hin.
»Ich bin nicht zu Hause geblieben, weil ihr heute die Arbeit schreiben müsst.« Für die Schüler nicht nachvollziehbar. »Jedenfalls, Ruhe jetzt und Taschen vom Tisch!«
Robert: »Warum kann ich denn meine Tasche nicht … ist doch egal, ob …, und es macht doch gar keinen …«
»Rooobert, ich sagte bereits, dass ich heute schlechte Laune habe. Sehr schlechte Laune. Also halt jetzt die Backen.«
»Aber ich sag ja nur …«
»Halt die Backen oder geh raus!«
Ich auf 180, Robert immer noch die Ruhe selbst: »Aber dann bekomme ich null Punkte und …«
»Und das ist mir dann scheißegal. Und wenn du hier überhaupt keinen Schulabschluss machst, ist mir das auch scheißegal. Es ist mir überhaupt völlig egal, was aus dir wird!«
Plötzlich ist es total ruhig im Raum. Auch Robert schweigt. Nimmt die Tasche vom Tisch. Als er nur den Mund öffnet, schreie ich los: »Reicht dir das noch nicht? Willst du noch mehr von meiner schlechten Laune abkriegen? Kannst du haben. Ich hab noch ganz viel davon!«
Dann schwitzen die Schüler alle über ihrer Arbeit und ich mit meinem Fieber am Pult, bis ich mich irgendwann nach Hause schleppe und mit Grippostad zudröhne. Und das alles nur, weil ich pflichtbewusst, aber krank in der Schule war. Man sieht also, das bringt überhaupt nichts. Vor allem, weil man sich dann, wenn man wieder gesund ist, tagelang für sein schlechtes, unpädagogisches Verhalten bei den Schülern entschuldigen muss.
Gesünder wäre es auch, wenn die zu unterrichtenden Stunden in meinem Stundenplan irgendwie gleichmäßig verteilt wären. Leider ist das nicht der Fall, und deshalb habe ich dienstags und donnerstags immer sieben Stunden hintereinander. Wenn ich dann aus der Schule komme, brauche ich was Rohes.
Völlig unterfleischt stürze ich mit letzter Kraft zur Wursttheke: »200 Gramm Hackepeter, bitte. Brauchen Sie nicht einzupacken, ich ess das gleich hier.«
Manchmal reicht Hackepeter nicht, und ich kaufe Rinder-oder Gemischtgehacktes. Aber am liebsten würde ich mich direkt über die Theke hängen und in ein blutiges Steak beißen oder, noch besser: mir ein Stück Fleisch aus einem Tier reißen. Aber das geht ja nicht, nicht mal bei Kaiser’s. Mein Freund macht sich über mich lustig, ich wundere mich: Was passiert da mit mir in der Schule, dass ich nach der Arbeit so ausgehungert bin? Geht es nur mir so? Ist das typisch für den Lehrerberuf? Sind das die Vorboten des Burn-outs?
Gibt es Untersuchungen zum Eiweißverbrauch während des Lehrens? Warum wird so was nicht erforscht? Die messen und testen doch ständig. Dauernd werden die Schüler überprüft, und man stellt immer wieder fest, dass sie noch genauso ahnungslos sind wie im Vorjahr. Durch das ganze Testen werden die auch nur bedingt schlauer. Also wäre mein Vorschlag, statt der Schülerleistungen ruhig mal den Energieverbrauch der Lehrkräfte zu untersuchen. Und die Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen sollten dann bitte in die Stundenplangestaltung integriert werden.
Ich geh einfach mal nicht hin
Wenn es mit der Energie gar nicht mehr geht, dann könnte ich mich am Schülerverhalten orientieren. Ich könnte ja auch mal nicht hingehen. Also, nur mal angenommen, ich schwänze.
Es ist 8.02 Uhr, und ich sitze am Computer. Aber nicht in der Schule, sondern zu Hause. Ich hätte in den ersten Stunden eine 10. Klasse. Aber die 10. Klassen sind heute nicht da, machen einen Ausflug. Und ich stand gestern noch nicht auf dem Vertretungsplan. Und jetzt bin ich einfach nicht hingegangen. Au Backe. Wer sich selbst im Schuldienst befindet, weiß, was das heißt: Anwesenheitspflicht, Abmeldungspflicht, Immer-bereitsein-Pflicht. Eigentlich wollte ich anrufen und fragen, ob ich heute auf dem Vertretungsplan stehe. Aber dann dachte ich: Nö! Jetzt zieh ich das durch, das ganz große Ding. Ich gehe einfach nicht hin! Mein persönlicher Ausnahmezustand! Anarchie! Meine kleine Rache! Doch nun könnte jeden Moment das Telefon klingeln, und sie könnten mich finden.
Ein bisschen mulmig ist mir schon, so einsam am Rande der Legalität. Aber wenn die gleich anrufen, dann sage ich: »Na und, mir doch egal! Hatte keine Lust! Ätschibätschi! Und wenn ihr nicht nett zu mir seid, dann komm ich morgen auch nicht – und ruf nicht mal vorher an!«
Und wenn ich doch hingehen würde? Dann nur völlig unvorbereitet, und wenn’s klingelt, setze ich mich einfach auf einen Stuhl, ganz hinten links, und warte, was passiert. Sollen doch die Schüler mal den Unterricht machen, und ich höre Musik auf meinem MP3-Player oder spiele mit dem Handy rum. Ab und zu falle ich vom Stuhl, weil ich das mit dem Essen und gleichzeitig Kippeln noch nicht so gut kann. Meine Pausenaufsicht ignoriere ich, rauche stattdessen eine im Klassenraum – warum immer extra nach draußen gehen? Wenn mich ein Schüler darauf anspricht, sage ich: »Halt’s Maul, du Spast.« Will der mir dann eine hauen, schlage ich richtig doll zurück. Wenn sie dann kommen, um mich aus dem Klassenraum zu entfernen, lasse ich mich raustragen, schreie dabei und spucke. Die Polizei lüge ich an, ich sag einfach einen falschen Namen und dass ich jegliche Aussage verweigere. Vielleicht beleidige ich die Polizisten noch ein wenig. Irgendwas mit ihren Müttern oder so. Ich könnte auch ein Messer dabei haben und damit durchs Lehrerzimmer oder über den Hof rennen und schreien: »Kommt doch, kommt doch her! Ich mach euch alle kalt!«
Vor meinem Prozess gebe ich Fernsehinterviews. Bei RTL sage ich: »Das war einfach mal nötig.« Der ARD sage ich: »Weiß auch nicht, was mich da geritten hat.« Und bei N-TV: »War ich nicht!« Gutachter werden feststellen, dass es alles abzusehen war: Manisch-depressiv seit Jahrzehnten, Tinnitus seit letztem Oktober und nervöse Zuckungen seit Schuljahresbeginn.
Die Schüler haben dank mir die Gelegenheit, im Fernsehen mal groß rauszukommen: »Ja Alta, isch schwöre, die war immer irgendwie komisch.« – »Der Unterricht war auch voll strange. Irgendwie langweilig, weissu – da hat man nie was verstanden.« – »Ja, eh, vallah, die konnte nix richtig erklären und manche Vokabeln wusste sie einfach nicht.«
Die Aufregung um meine Person wird sich nach einigen Monaten legen, und ich werde meine letzten Jahre in der Psychiatrie verbringen, sabbernd, aber glücklich, weil irgendwie auch entspannt.
Doch so schnell gebe ich nicht auf. In die Psychiatrie kann ich später immer noch. Vorher möchte ich doch noch Genera tionen von Schülern etwas beibringen. Die Jugendlichen inspirieren, begeistern – sie sollen jubeln!
Gut haben es da die Lehrer, die richtig was können. Unterrichten ist ja nun keine Fähigkeit, mit der man bei den Schülern besonders viel Eindruck hinterlässt. Selten höre ich: »Boah, Frau Freitag, kennst du die? Die unterrichtet echt geil!« – »Ja, Vallah, ich schwör, das macht die echt hammer!«
Ja, ich gebe es offen zu, ich würde die Schüler gerne mal so richtig beeindrucken. Sie sollen sprachlos, mit offenem Mund dasitzen: »Hast du das gesehen?« Ich will Applaus und Zugabe rufe: »Mach noch mal, Frau Freitag, noch mal, noch mal, noch maaal!!«
Fräulein Krise träumt seit Jahren davon, mit einem Flickflack in die Klasse zu kommen und direkt auf ihrem Stuhl zu landen. Ich antizipiere den Salto rückwärts – unvermutet aus dem Stand. Zaubern können wäre auch schon gut, unvermittelt die Kreide aus ungewaschenen Schülerohren ziehen. Oder Freestyle-Rappen: die ganze Stunde, den Lehrervortrag, die Aufgabenstellung – jeder Impuls wird gerappt. Aber ich kann nicht mal Gitarre spielen oder realistisch zeichnen (könnte ich zeichnen, wäre ich doch nicht Kunstlehrerin geworden). Der Klassiker, zum Schülerbeeindrucken, ist natürlich Karate. Mit der Harley vorfahren wäre auch okay. Jedes Mal, wenn mir auf dem Hof der Fußball vor die Füße rollt, wittere ich meine große Chance und werde dann doch nur ausgelacht beim Versuch, möglichst brasilianisch zurückzuschießen. Auf dem Schulfest neulich habe ich es mit Breakdance versucht … – auch da bin ich kläglich gescheitert und erntete nur Mitleid.
Ah, da fällt mir ein, eine Sache kann ich ganz gut: Durch jahrelanges Trainieren gewisser Muskeln – Gastronomiejobs – und eine besondere Hebeltechnik bin ich ganz gut im Armdrücken. Geht mir ein Schüler im Unterricht zu sehr auf den Geist, sage ich ihm, er solle nach der Stunde noch mal kurz bleiben. Er erwartet das berühmte pädagogische Gespräch und ist dann entsprechend überrascht von meinem: »Okay, jetzt zeig mal, was du drauf hast!« Meistens endet es unentschieden, aber ein paar schwächliche Großmaul-Schüler habe ich auch schon besiegt. Das spricht sich natürlich rum. (Kleiner Tipp: Man schafft kräfte mäßig immer nur einen Schüler, also das: »Ich auch, ich auch!« souverän an dir abprallen lassen.)
Fräulein Krise trifft mit der linken Hand vom Lehrerpult aus den Papierkorb. »Musste mal üben, macht Spaß.« Ich sehe es ein, man muss klein anfangen, aber heimlich träume ich immer noch vom Salto. Da haben es die Schüler einfacher. Ich wäre schon beeindruckt, wenn sie einen eigenen Bleistift dabeihätten oder für die Vokabeltests üben würden.
Ihr Sohn geht mir auf den Sack
Genauso illusorisch wie mein Salto ist die regelmäßige Mitarbeit meiner Schüler. Und dann kommt leider der Teil des Berufs, der mich echt nervt: Immer muss man so pädagogisch sein. Immer, immer, immer. Die Schüler benehmen sich, wie sie wollen – meistens total daneben –, und unsereins: immer schön pädagogisch. Das heißt, immer das Richtige sagen. »Nicht mit dem Stock spielen, das kann ins Auge gehen, bitte die Stühle anheben, schlag die Tür nicht so doll zu, die geht sonst kaputt, und die war ganz schön teuer, nimm bitte den Kaugummi raus, sonst verstehe ich dich nicht, und wenn du so laut und mit offenem Mund kaust, sieht das nicht schön aus, du sollst das von der Tafel abschreiben, weil sich das dann besser einprägt, wenn du es einmal selbst geschrieben hast, wenn ich dich jetzt aufs Klo gehen lasse, dann muss ich ja alle gehen lassen, sonst wäre das ja ungerecht, erinnerst du bitte deinen Vater daran, dass ich ihn sprechen möchte, ich darf euch aus versicherungstechnischen Gründen nicht vor dem Klingeln gehen lassen, wenn ihr hier eure Böreks esst, dann werden die Tische fettig, und du willst doch wohl auch nicht deinen Hefter in einen Fettfleck legen, lass ihn bitte los, du möchtest das doch auch nicht, ja, ja, Spaß, für ihn sieht das aber gar nicht nach Spaß aus, bitte, sag nicht so was, du kennst seine Mutter doch gar nicht …«
Manchmal komme ich mir vor wie eine kaputte Schallplatte – ständig muss ich Vorbild sein und diesen pädagogisch wertvollen Sermon von mir geben. Für jede erdenkliche Situation gibt es das richtige Lehrerblabla. Und meistens sind es Verbote mit erklärendem Zusatz, den niemand hören will. Es interessiert sowieso keinen Schüler, was ich da ständig sage. Andernfalls würden sie ja nicht immer wieder die gleiche Scheiße machen. Sie wissen, dass ich nicht möchte, dass sie sich Nackenklatscher geben, und sie machen es trotzdem.
Träumen wir nicht alle davon, einmal anders als normal zu reagieren? Einfach mal spontan raus mit dem, was wir wirklich gerade denken. Dem pädagogisch wertlosesten Impuls folgen, gemeinen Eingebungen nachgeben – wäre das nicht toll?
Die Lehrerpersönlichkeit wäre plötzlich eine ganz andere: »Schade, dass du nur zu spät kommst, schöner wäre, wenn du gleich ganz zu Hause bleiben würdest. Nein, ich glaube nicht, dass du dich in Englisch noch verbessern kannst, du bist doch viel zu bescheuert, um in der nächsten Arbeit noch eine Vier zu schreiben. Ist das Solarium oder Make-up – na, egal, sieht jedenfalls total scheiße und billig aus. Warum läufst du so bekloppt, denkst du, irgendein Mädchen steht auf dich, nur weil du hier in Zeitlupe über den Hof stolzierst, als hättest du dir eingepullert? Warum schlägst du ihn nur in den Nacken? Hau doch mal richtig auf seine Nase, das tut ihm doch viel mehr weh und vielleicht blutet er dann sogar. Kleiner Tipp, der hat nicht nur eine Mutter, der hat auch noch drei Schwestern, die sind bestimmt auch alle Schlampen.«
Mein Traum vom perfekten Hausbesuch sieht folgendermaßen aus: Ich latsche erst mal bei strömendem Regen durch den Park, schön über die Wiese und durch den Matsch, dann rein in die gute Stube, die Schuhe lasse ich natürlich an. Zur Begrüßung rotze ich ordentlich auf den Wohnzimmerteppich, setze mich dann auf die Couch, ziehe den anderen Sessel näher ran, um meine Füße abzulegen. Dann esse ich Kürbiskerne und versuche die Hülsen über den Tisch auf den Flachbildschirm zu spucken. »Herr und Frau Üvioglu, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass mir Ihr Sohn Üxi gehörig auf die Ketten geht. Ich kann ihn nicht leiden, und ich bin mir sicher, Sie auch nicht. Zum Glück haben Sie ja noch weitere Kinder, weil, aus dem wird bestimmt nichts. Und ich habe auch keinen Bock mehr, den jeden Tag zu sehen. Bitte lassen Sie ihn ab jetzt zu Hause.«
So lustig könnte der Lehreralltag sein. Wäre bestimmt auch sehr abwechslungsreich. »Spuck da ruhig noch mal hin. Was raus muss, muss raus. Ich freue mich über den Müll, den ihr hier im Klassenraum auf den Boden schmeißt. Habt ihr nicht noch mehr davon in den Taschen?«
Und ich bin sicher, die Schüler würden dann zum ersten Mal auf mich hören und machen, was ich sage: »Klar, geht doch ruhig alle aufs Klo.« Und wenn ich sie so weit habe, dann streue ich wieder die pädagogischen Mantras ein: »Vergesst die Hausaufgaben nicht, lernt für den Vokabeltest, vertragt euch …«