Kapitel 4

Hey.«

Kaleigh sah auf; sie saß in der Spielhalle vor einem Stockcarautomaten, neben Rob auf die Sitzbank gequetscht, der es nicht zu bemerken schien, als sie sich erhob. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit Hilfe des Steuerrads durch den Parcours auf dem Videomonitor zu navigieren. Zum vierten Mal hintereinander spielte er nun schon dieses blöde Spiel, so dass sie dankbar für jede Unterbrechung war. »Hey«, rief sie Katy zu.

Die beiden Mädchen mussten die Köpfe zusammenstecken, um sich im Dröhnen des Stockcars und des übrigen Lärms der Spielhalle verständigen zu können. Flipperautomaten klingelten, Airhockeypucks krachten gegen die Bande der Spieltische, und eine mechanische Stimme aus dem Kung-Fu-Spiel nebenan brüllte etwas auf Mandarin.

»Hast du etwas Interessantes über den toten Menschenmann gehört, den sie heute Morgen in der Gasse gefunden haben?«, fragte Katy aufgekratzt.

»Woher denn? Ich wusste nicht mal, dass es einen Toten gibt, bis du mich aus dem Bett geklingelt hast.« Kaleigh zupfte an der Haut, die sich auf ihrer Schulter schälte. Sie hatte sich ein paar Tage zuvor einen Sonnenbrand geholt.

»Hast du nicht mit deinem Onkel gesprochen? Das ist Fins Revier. Er muss etwas wissen.« Katy ließ ihre Kaugummiblase platzen.

Kaleigh runzelte die Stirn, während sie ein gutes Stück toter Haut abrupfte und auf den Betonboden fallen ließ. »Falls er wirklich einen Mord untersucht – meinst du nicht, dass er vielleicht ein bisschen zu beschäftigt ist, um jetzt mit mir zu plaudern?«

In diesem Augenblick ging Richie Palmer mit einem klimpernden Bauchladen voller Kleingeld an ihnen vorbei. »Hey, Richie«, rief Katy kokett.

Er drehte sich um und kam zurück. »Hey, Katy. Hey, Kaleigh. Wie ist der Sommer?«

Richie hatte im Jahr zuvor seinen Highschoolabschluss gemacht; er arbeitete seit ein paar Jahren im Sommer in der Spielhalle. In diesem Jahr war er zum Manager aufgestiegen. Er war auf fast schon dämliche Art hübsch und nett, aber Kaleigh hatte während der Schulzeit nie mit ihm herumgehangen. Seine Freundin galt als Schlampe, und man sagte, dass sie es mit jedem trieb, der ein Sixpack und einen Pick-up hatte. Richie hätte es besser haben können.

»Braucht ihr Kleingeld oder so?« Er klimperte mit den Münzen in seinem Bauchladen.

»Nö, danke.«

»Richie! Kommst du jetzt oder nicht?«, plärrte ein Jugendlicher aus der nächsten Automatenzeile. »Ninja Warrior hat schon wieder alle meine Vierteldollars geschluckt.«

»Sorry, ich muss gehen.« Ein schüchternes Grinsen huschte über Richies Gesicht. »Wir sehen uns.«

»Ja, wir sehen uns.« Katy winkte flüchtig. Als sie sich wieder Kaleigh zuwandte, leuchteten ihre Augen auf. »Hey, hey, hey. Heiße Schnitte auf drei Uhr.«

Kaleigh blickte auf.

»Nicht hinschauen!« Katy ergriff ihren Ellbogen und dirigierte sie über den Zwischengang zu einem einarmigen Banditen, auf dem Zauberer mit spitzen Harry-Potter-Hüten zu sehen waren. Sie legte die Hände auf den Automaten, als wollte sie spielen, und versuchte, zu dem Jungen zurückzublicken, ohne den Kopf zu bewegen. »Sieht er her?«

Kaleigh stand direkt hinter Katy. »Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht hinschauen darf?«, zischte sie, ohne die Lippen zu bewegen. »Warum siehst du dich überhaupt nach anderen Kerlen um? Noch dazu Menschen? Sag mir jetzt nicht, dass du schon wieder mit Pete Schluss gemacht hast.«

»Wir haben uns nur eine Auszeit genommen. Was ist denn jetzt?« Sie riss eine Tube Lipgloss aus ihrer Tasche. »Schaut er mich an?«

»Nein, tut er nicht.« Kaleigh ging um den Automaten herum und steckte drei Quarter in den Münzschlitz.

»Bist du sicher?« Katy klatschte sich den funkelnden rosafarbenen Lipgloss auf den Mund, während purpurfarbene Lichter auf dem Flipper aufblitzten. »Ich dachte, er beobachtet mich. Er wirkte definitiv interessiert.« Sie runzelte die Stirn und sah zu Kaleigh. »Warum schmeißt du Geld in dieses Ding? Ich wollte gar nicht spielen; ich wollte nur so tun, als ob.«

»Du solltest besser anfangen, richtig zu spielen, weil er nämlich gerade herkommt.« Kaleigh beugte sich lässig über den Flipper.

Katy wurde steif und ließ den Lipgloss zurück in ihre Tasche gleiten. »Er kommt? Hierher?«

»Jep.«

Katy betätigte den mechanischen Arm und ließ ihn wieder los. Ein Ball wurde ausgespuckt und rollte auf sie zu.

»Du müsstest jetzt auf ein paar Knöpfe drücken«, stichelte Kaleigh und drosch auf einen ein, so dass der Ball wieder nach oben befördert wurde.

Katy bearbeitete die Regler zu beiden Seiten des einarmigen Banditen.

Kaleigh beobachtete, wie der Bursche auf sie zukam. Er war wirklich zu süß … Ein Gothicianer. Ungefähr in ihrem Alter – groß, schlaksig. Blasse Haut und zotteliges schwarzes Haar, das in Zacken um sein Gesicht geschnitten war. Jemand hatte viel Geld für diesen Schnitt bezahlt, der so aussehen sollte, als hätte er sich seit Wochen nicht mehr um seine Frisur gekümmert. Ein Pony hing schwer über ein Auge herunter. Er trug schwarze Bermudas, ein enges schwarzes T-Shirt und schwarze Schuhe.

Kaleigh wackelte mit den Zehen in ihren Flipflops. Der Kerl machte einen heißen Eindruck. Nicht heiß im Sinne von scharf, eher im Sinne von verschwitzt. Die Lufttemperatur betrug sicher über dreißig Grad.

»Was geht, Ladys?« Er stellte sich direkt hinter die Mädchen, links von Katy. Interessiert sah er dem Spiel zu.

»Nichts geht.« Katy schlug weiter auf die Flipperknöpfe ein. »In dieser langweiligen Stadt geht nie was.« Sie blickte ihn an und lächelte, dann sah sie wieder auf das Spiel. Alles ganz beiläufig. »Und was geht bei dir?«

Er zuckte die Achseln und steckte die Hände in die Taschen. »Die Leute treiben mich jetzt schon in den Wahnsinn, und dabei sind wir erst ein paar Tage hier. Ich bin auf der Suche nach etwas, das ich tun kann. Nach heißen Mädchen, mit denen ich es tun kann.«

Kaleigh stöhnte innerlich auf.

Katy strahlte, dann schlug sie die Augen nieder. »Oh nein!« Mit der Faust schlug sie auf die gläserne Abdeckung des Automaten. »Schon wieder einen Ball verloren. Ich bin so mies beim Flippern. Willst du die letzten beiden Runden spielen?« Sie zeigte auf die Bälle, die noch auf ihren Einsatz warteten.

Er zuckte die Achseln, noch immer die Hände in den Taschen.

Kaleigh war schon jetzt gelangweilt von den sonderbaren Annäherungstechniken menschlicher Teenies und ließ die Gedanken schweifen. Ihrer Meinung nach hatte es keinen Sinn, sich dem System zu widersetzen. Katy und Pete war es bestimmt zu heiraten, so wie ihr und Rob. Den Gesetzen des Clans entrann man nicht, wozu sollte man dann also anderen Kerlen schöne Augen machen – vor allem menschlichen? Wann würde Katy das endlich lernen? Aber Katy war eben Katy …

Kaleigh sah in Robs Richtung; er war noch immer in das dämliche Stockcarspiel vertieft. Sie verstand es einfach nicht. Er arbeitete hier fünf oder sechs Tage pro Woche. Wie konnte es sein, dass er an seinem einzigen freien Tag auch noch hier sein wollte? Sie wünschte sich an ihrem freien Tag so weit weg von ihrer Eisdiele wie nur irgend möglich.

»Ich bin Katy, und das ist meine ABF Kaleigh.« Katy stand Kaleigh gegenüber und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Flipper ab, wobei sie dem Gothic-Burschen tiefe Einblicke in ihr Dekolleté gestattete. »Und wie heißt du?«

Der Automat leuchtete klingelnd und klopfend auf, während der Junge Punkte einfuhr. Er warf einen Blick auf Katys Brüste, dann konzentrierte er sich wieder auf das Spiel. »Beppe.«

»Beppe?« Katy sah mit erhobenen Augenbrauen zu Kaleigh hinüber, so als wäre sie beeindruckt. »Was für ein Name ist Beppe?«

»Ich weiß nicht. Was für ein Name ist Katy?« Er schoss den Ball in einen Korb, und der Punktezähler drehte fast durch. »Und was heißt ABF

»Wohnst du hinter dem Mond?« Katy verdrehte die Augen. »ABF. Du weißt schon: allerbeste Freundin.«

»Ach ja. Richtig. Richtig.« Er drosch kräftig auf die Spielknöpfe ein; während er sich von einer Seite auf die andere beugte und den Ball an allen Schlitzen vorbei immer weiter beförderte. Das Display schlug Kapriolen.

»Also: Woher kommst du?« Kaleigh betrachtete den Burschen näher. »Du hast so einen … Akzent.«

»Italien«, sagte er. Allem Anschein nach war er nicht sonderlich erpicht darauf, sich mitzuteilen.

»Italien?« Katy sandte Kaleigh einen vielsagenden Blick. »Ein Italiener. Ich wollte immer schon in Italien leben.«

»Oder Spanien, Frankreich und Griechenland«, murmelte Kaleigh fast unhörbar. An Katy vorbei sah sie, wie ein Mädchen aus der Schule die Spielhalle betrat. Mickey hatte einen Burschen dabei, der älter als sie alle war. Und er war groß. Die meisten Männer aus dem Clan waren schon nicht klein, aber dieser hier musste über eins neunzig sein. Kaleigh kannte ihn nicht. Mickey hob grüßend das Kinn.

Mickey war okay. Ein bisschen seltsam vielleicht. In der Schule erzählte man, sie würde sich ritzen, aber Kaleigh wusste nicht, ob das stimmte. Was sie wusste, war, dass Mickey umwerfende Fotos machte. So hatten sie und Kaleigh sich kennengelernt. Im Fotokurs an der Schule. Schließlich hatten sie einige Projekte zusammen bearbeitet.

Mit dem großen Kerl im Schlepptau kam Mickey heran. Er war wie sie ganz in Schwarz gekleidet. Sie trug ein langärmeliges Oberteil – wie immer –, er kam kurzärmelig. Sie hatte hellroten Lippenstift aufgetragen, er nicht.

»Und – wie ist der Sommer so?«, fragte Mickey. »Hast du schon das Projekt für Kinnerman angefangen?«

Kaleigh rümpfte die Nase und ließ das Spiel Spiel sein, um sich mit Mickey zu unterhalten. Katy war noch immer eifrig dabei, mit Beppe dem Italiener zu flirten. »Ich werde wahrscheinlich erst, sagen wir, am letzten Ferientag anfangen.«

»Ich auch.« Mickey schnitt eine Grimasse. »Ach, übrigens: Das ist mein Freund Tomboy. Er geht auf die Penn State.«

Tomboy sah aus der Nähe noch größer aus; er hatte haarige Beine wie Baumstämme und Hände wie Schinken. Vielleicht, weil er mindestens dreißig Zentimeter größer als Mickey war.

»Freut mich.« Sie nickte und kam sich unbeholfen dabei vor. Obwohl es wichtig für die Teenager des Clans war, den äußeren Schein zu wahren, indem sie eine Schule für Menschen besuchten, blieb es doch schwierig, Freundschaften mit ihnen zu pflegen. Mickey lebte in der kleinen Nachbarstadt im Norden – und in einer völlig anderen Welt als Kaleigh. In einer Welt mit so vielen Freiheiten … und Grenzen, die Kaleigh niemals kennenlernen würde.

Kaleigh söhnte sich täglich mehr mit ihrer Welt und ihrer Wirklichkeit aus, während ihre Kräfte wuchsen. Sie war erst drei Jahre zuvor wiedergeboren worden, daher hatte sie noch nicht wieder zu ihrer alten Macht zurückgefunden; doch die Weisheit schien mittlerweile wie in Wellen zu ihr zu kommen. Manchmal machte sie die Situation schon traurig: Gott hatte sie verflucht und in einen Vampir verwandelt. Kaleigh würde niemals einen Freund von der Penn State haben. Sie würde nie erfahren, wie aufregend es war, einen Mann zu treffen, den sie nicht kannte, und sich in ihn zu verlieben. Aber Mickey würde nie erfahren, was es hieß, ewig zu leben. Alles hatte seinen Preis; Kaleigh lernte das auch gerade.

»Aha … ihr hängt also gerade rum?«, fragte Kaleigh. Sie sah zum Stockcarautomaten hinüber. Langsam bekam sie Hunger. Rob hatte versprochen: nur noch ein Spiel. Dann würden sie Pommes holen gehen. Sie konnte ihn nicht entdecken und fragte sich, wo er abgeblieben war.

»Ich bin da, um mir den toten Mann anzusehen. Tomboy wohnt den Sommer über mit ein paar Jungs an der First Street. Er hat angerufen und gesagt, dass da ein Toter in der Nähe der Strandpromenade liegt, aber die Polizei hatte praktisch schon den ganzen Strand abgesperrt, als ich hinkam. Jetzt hängen wir hier nur so rum. Tomboy hat frei. Er arbeitet bei Candy Man.«

»Magst du Salzwassertoffee?«, fragte Kaleigh. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um zu Tomboy hochzusehen.

»Er hasst es mittlerweile, weil er es den ganzen Tag zubereiten muss«, antwortete Mickey an seiner Stelle.

Kaleigh lachte. »Ich weiß, was du meinst. Ich arbeite im Dairy Queen. Ich habe früher Eiscreme geliebt – heute nicht mehr. Ich schwöre euch, mir hängt sogar Milch mittlerweile zum Hals heraus.«

Mickey entdeckte Beppe. »Wer ist das?«, wollte sie, offensichtlich interessiert, von Kaleigh wissen.

Entweder hatte Tomboy sie nicht verstanden, oder es war ihm egal, dass seine Freundin nach anderen Kerlen schielte.

Kaleigh zuckte die Achseln. »Ein Bursche, den Katy aufzureißen versucht. Er macht hier Urlaub, schätze ich.«

Katy musste Kaleigh gehört haben, denn sie wurde rot und zeigte Kaleigh unauffällig den Mittelfinger. Beppe spielte noch immer. Er hatte Bonusbälle gewonnen.

Mickey wandte langsam den Blick von Beppes rückwärtiger Ansicht. »Wir feiern heute Abend bei Tomboy eine Party.« Sie hakte sich bei ihrem Freund ein. »Bei ihm und seinen Mitbewohnern. Erst später, so gegen Mitternacht. Wenn ihr kommen wollt« – nun war es an Mickey, die Achseln zu zucken – »du und Katy und Rob und euer Freund« – sie nickte in Beppes Richtung – »wäre das cool.«

»Ich weiß noch nicht, was wir heute Abend machen«, erwiderte Kaleigh. Für Teens aus dem Clan gab es eine Ausgangssperre. Es war dämlich. Als ob die Erwachsenen dachten, die Jugendlichen würden nachts durchdrehen, Sexorgien feiern und den Leuten das Blut aussaugen. Tatsächlich kam das schon hin und wieder vor … Aber die Ausgangssperre war wirklich blöd. Sie hielt sie nicht von der Straße fern; sie sorgte nur dafür, dass sie nachts Fenster anstelle von Türen benutzten. »Vielleicht kommen wir ja.« Es fragte sich vielmehr, ob die Party das Risiko wert war, noch einmal erwischt zu werden. Sie war ohnehin schon in Schwierigkeiten, weil sie in der vergangenen Woche ein paarmal zu lange aus gewesen war.

»Wir kommen liebend gern«, sagte Katy, die offenbar das Gespräch mit angehört hatte. »Beppe auch, oder?« Sie sah ihn an. »Bist du dabei?«

Beppe wandte kein Auge vom Spiel ab. »Klar bin ich dabei. Ich muss nur warten, bis meine Leute ins Bett gehen.«

Katy war die Einzige, die lachte. »Und wo ist das?«, fragte sie, indem sie sich wieder Mickey zuwandte.

Mickey gab ihr die Adresse in der First Street. Es war der Block, in dem alle menschlichen Collegestudenten mit einem Ferienjob an der Strandpromenade abstiegen. »Wir werden da sein«, sagte Katy.

»Bis dann also.« Mickey und ihr Freund entfernten sich.

»Wir gehen nicht zu Tomboy auf diese Party. Unsere Eltern bringen uns um«, meinte Kaleigh und ließ Katy und ihren neuen Freund stehen.

»Wir gehen, komm schon! Das wird bestimmt ein Riesenspaß.« Katy lief ihr nach und ergriff ihren Arm. »Beppe sagt, dass er kommt«, fügte sie vielsagend hinzu.

Kaleigh entzog ihr den Arm. Katy war manchmal so unreif. »Ich hole mir jetzt bei Sal eine Tüte Pommes. Wenn du meinen schwachsinnigen Freund Stockcar spielen siehst, sag ihm, wo ich bin.«

»Wir gehen!«, rief Katy ihr durch das Scheppern des einarmigen Banditen nach.

Kaleigh war schon fast aus der Spielhalle, als sie Rob entdeckte. Er wartete auf seinen Einsatz beim Airhockey. Sie dachte daran, einfach die Spielhalle zu verlassen, aber dann ging sie doch zu ihm. »Ich hole mir Pommes.«

»Ich warte, dass ich drankomme.«

Kaleigh warf einen Blick auf den Airhockeytisch. Ihr Onkel Regan spielte gerade gegen einen der Hill-Zwillinge. Sie war sich nicht sicher, welcher von beiden es war. Tausendfünfhundert Jahre – und Kaleigh hatte immer noch Probleme damit, sie auseinanderzuhalten. Regan war der ungekrönte Airhockeykönig von Clare Point, vielleicht sogar der ganzen Welt. Niemand hatte ihn je geschlagen, und trotzdem versuchten es alle Teenager. »Aber da sind doch noch vier Leute vor uns.« Sie deutete auf die Burschen vor ihnen.

»Es dauert nicht mehr lange.« Er ergriff ihre Hand. »Komm schon, gib mir ein paar Minuten, und dann gehen wir zusammen. Er hat schon drei geschlagen, seitdem ich anstehe.«

»Wir sehen uns bei Sal.« Sie entzog ihm ihre Hand. Sie wusste nicht, warum sie so biestig war; sie war es schon den ganzen Tag über.

»Ka–«

Sie ging einfach. Während sie sich den Weg durch das Gewirr der läutenden, klingelnden und blinkenden Spielautomaten bahnte, ließ sie den Blick schweifen. Das Gelärm der Stimmen – von Menschen und Vampiren – nahm ihr den Atem. Sie musste hier raus. Normalerweise war die Spielhalle ihr zweites Zuhause, aber heute fühlte sich etwas nicht richtig an. Sie war nervös und hatte keine Ahnung, warum.

Der Tote.

Wie aus dem Nichts tauchten die zwei Worte in ihrem Kopf auf.

Sie war wegen des Toten so durcheinander. Dabei wusste sie fast nichts über ihn. Nicht, wer er war oder warum er tot war. Als Katy sie angerufen hatte, um ihr von ihm zu erzählen, hatte sie getan, als würde es sie gar nicht berühren. Abgesehen von einem angemessenen Mitleid, das sie mit jedem Toten hatte. Aber das stimmte nicht.

Sie verließ die Spielhalle und trat unter der Markise hervor auf die Strandpromenade. Sie drehte sich, bis die schwindende Sonne ihr aufs Gesicht schien; dann schloss sie die Augen.

Ein toter Mensch auf der Strandpromenade war schlecht für den Fremdenverkehr und deshalb auch für den Clan. Man musste keine Wahrsagerin sein, um das zu begreifen. Und alles, was schlecht für den Clan war, war auch schlecht für Kaleigh.

Vielleicht war sie aus diesem Grund heute so schwierig. Weil sie ziemlich rasch lernen musste, wie kompliziert es war, die Wahrsagerin des Clans zu sein.

 

Fins Handy klingelte. Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, nahm er das Gespräch an. »Hallo.«

»Ein toter Bursche braucht mich?«, sagte Fia in sein Ohr.

Er tippte den letzten Satz fertig – die einführenden Notizen zur Ermittlung – und schob den Stuhl zurück, um seinen schmerzenden Augen eine Pause zu gönnen. »Ich brauche dich, Fee. Du musst dein FBI-Spezialagentenkäppi aufsetzen und mir sagen, was zum Teufel ich hier tun soll.«

»Ich kann nicht glauben, dass wir einen Toten in Clare Point haben.«

»Er war noch ein Junge.«

Sie fluchte, indem sie den Namen des heiligen Antonius in den Mund nahm. Völlig unangemessen für eine gute Katholikin wie Fia – und für sie ganz typisch.

Fin legte den Hinterkopf an die Stuhllehne und schloss die Augen. Er ignorierte die Unruhe um ihn herum. Onkel Sean hatte alle Polizisten einbestellt, aber niemand schien still den ihm zugeteilten Aufgaben nachzugehen. An der New Yorker Börse herrschte nach einem inflationären Absturz des Dow Jones sicherlich weniger Aufruhr als momentan auf der Wache. »Er wurde ermordet, Fee.« Fin atmete schwer aus.

»Sicher?«

»Ein zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter langer Schnitt am Hals. Ausgeblutet. Und er wurde bewegt, in Positur gebracht. Ja, wir haben es hier definitiv mit einem Mord zu tun.«

Sie fluchte erneut, noch blumiger als zuvor. Nun war der heilige Antonius an Handlungen beteiligt, die wider die Natur waren – jedenfalls wider die Natur eines Heiligen der katholischen Kirche.

»Und du sagst, er wurde in Positur gebracht?«

»Ich kann dir Bilder mailen. Es ist eine Pose, ja.«

Er konnte fast die Rädchen in ihrem Kopf rattern hören.

»Wisst ihr, wer er ist?«, fragte sie.

»Noch nicht. Er ist kaum erwachsen. Einundzwanzig, vielleicht zweiundzwanzig. Ich hatte gehofft, dass jemand auftaucht und einen Freund, Bruder oder irgendjemand anderen meldet, den er vermisst. Aber nichts, den ganzen Tag lang.«

»Und was will Onkel Sean jetzt tun? Die Identifizierung der Leiche ist ziemlich wichtig, wenn man den Mörder finden will.«

»Das ist ein Teil des Problems.« Er öffnete die Augen. Ein Polizist saß neben ihm und versuchte, Heftklammern in einen Tacker zu füllen. Fin stand auf und ging durch den Bullenstall hinaus auf den Flur. »Onkel Sean tut gar nichts.« Er beugte sich vor und spähte um die Ecke. Das Büro des Chiefs lag außerhalb des Bullenstalls jenseits einer Glasscheibe, die ihn von seinen Polizisten trennte. Fin sah ihn auf seinen Monitor starren; seine Hand bewegte sich mechanisch auf der Computermaus. Computer-Solitär. Laut Petes Aussage spielte er es stundenlang, wenn er im Dienst war.

Fin richtete sich wieder auf. »Er tut gar nichts. Er hat mich im Morgengrauen aus dem Bett geholt. Er weinte und machte ein Riesentheater. Du weißt, wie sehr er sich in etwas hineinsteigern kann. Er sagt, dass er nicht noch eine Ermittlung in einem Mordfall aushält. Er sagt, dass er dem nicht gewachsen ist.«

Fia schwieg am anderen Ende der Leitung. Fin wusste, dass sie nun die gleiche Enge in der Brust fühlte, die er schon den ganzen Tag gespürt hatte. Es war eine Pein, den Kummer einer ihnen nahestehenden Person zu fühlen. Es war eine Pein, den Kummer des ganzen Clans zu fühlen. Die Enthauptungen und der Verlust der Ihren zwei Jahre zuvor lasteten noch immer schwer auf ihnen.

»Was hat er denn bisher getan?«

»Er hat mich mit den Ermittlungen beauftragt.«

»Du weißt doch gar nicht, wie man einen Mordfall löst.«

Er lachte freudlos. »Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, Schwester.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ihm war schwindelig. Wahrscheinlich sollte er etwas essen. Die Tasse Kaffee, die er um zehn Uhr getrunken hatte, war nicht magenfüllend gewesen. »Aber wer sonst soll die Ermittlungen leiten? Pete? Tony? Oder wie wär’s mit Hilly junior?«

»Okay, also – wie willst du diesen armen Teufel identifizieren?«

»Ich habe ein paar Fotos ausdrucken lassen. Nur Porträts. Ein paar Polizisten versuchen, sie an der Strandpromenade diskret herumzuzeigen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nur unsere Leute befragen sollen. Touristen sollen da nicht mit hineingezogen werden, wenn es sich verhindern lässt. Vielleicht erkennt ihn jemand.«

»Und du bist sicher, dass er ein Tourist ist?«

Eine Disponentin mit zwei Bechern Kaffee in der Hand ging an Fin vorbei über den Flur. Er wartete, bis sie außer Hörweite war, dann sprach er weiter. »Wer könnte er sonst sein? Er trug keine UPS-Uniform. Er war auch kein Müllmann. Die einzigen Menschen, die nach Clare Point kommen, sind die wenigen von außerhalb, die hier arbeiten, und die Touristen.«

»Da ist was dran. Du hast Talent. Also –«

Fin sah Pete um die Ecke kommen, und er wurde rot. »Sekunde, Fee«, sagte er und ließ das Handy sinken.

»Da bist du ja«, keuchte Pete. Er wischte sich mit der Hand über seine breite, schweißnasse Stirn. »Ich wollte dich gerade auf dem Männerklo suchen.« Er baute sich vor Fin auf. »Wir haben ihn identifiziert.«