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Sonntag, 26. Mai

Storch sprang aus dem Stabswagen, schaute auf die Uhr, nickte dem salutierenden Offizier kurz zu und ging die heckengesäumte Straße in einem Viertel von Lemont entlang.

0.45 Uhr.

Keine vier Stunden mehr bis zum Morgengrauen.

Die Scheinwerfer eines Panzerwagens am Ende der Straße wiesen ihm den Weg. Links von ihm hinter der Hecke spiegelte sich der Mond auf der Oberfläche des überfluteten Gebietes, eines ausgedehnten Sees, der sich durch nichts vom Meer unterschied. Als der General beim Wagen ankam, drehte er sich zu dem Offizier um, der ihm gefolgt war.

»Hier ist es, Keller – der Ausgangspunkt der letzten Offensive. Sieht nicht sehr beeindruckend aus, stimmts?«

Die Scheinwerfer des Panzerwagens wiesen nach Norden über das geflutete Feld unterhalb der Straße. So weit das Auge reichte, dehnte sich die Wasserfläche – bis nach Dünkirchen.

Doch über die Fläche zog sich eine Doppelreihe von etwa 1,80 Meter hohen Pfählen.

»Keller, wie weit gehen die Markierungspfosten?«

»Zehn Kilometer, Herr General. Wir hielten es nicht für ratsam, sie noch weiter voraus einzuschlagen.«

»Völlig richtig, Keller, ausgezeichnet.«

Storch schwieg und schlug gedankenverloren mit den Handschuhen gegen sein Bein. Er war in bester Laune und liebte es dann geradezu, seinen Untergebenen zu beweisen, daß ihr General auch Humor besaß.

»Also, Keller, wenn ich Sie richtig verstanden habe, liegt zwischen diesen Pfählen die Straße nach Dünkirchen. Wir brauchen also keine übernatürlichen Kräfte wie Jesus Christus, um über das Wasser zu wandeln, wie?«

Keller, ein sehr religiöser Mann, wie Storch wußte, blinzelte verlegen und scharrte unbehaglich mit den Füßen. Worauf wollte der General jetzt wieder hinaus?

Keller machte ein ausdrucksloses Gesicht, antwortete nichtssagend: »Jawohl, Herr General«, und wartete gespannt.

Er wußte nie genau, wie er sich verhalten sollte, wenn Storch so mit ihm sprach, denn das konnte ebenso der Vorbote für ein gewaltiges Donnerwetter sein.

Der General trat vor den Panzerwagen und schaute einen Augenblick lang durch die Lücke in der Hecke. Dann marschierte er plötzlich los, an den ersten beiden Pfählen vorbei mitten durch das Wasser, das aber an keiner Stelle höher als zehn Zentimeter stand. Erst als man ihn kaum mehr sehen konnte, kehrte er um und ließ dabei wie ein kleines Kind, das zum erstenmal das Meer sieht, die Füße durch das Wasser schleifen.

Beim Panzerwagen blieb er stehen und spähte durch sein Nachtglas in die entgegengesetzte Richtung nach Süden, wo sich eine lange Kette schwerer Panzerfahrzeuge bis zum Ende der Straßenböschung erstreckte. Daneben lag der kleine Flugplatz, der den Deutschen als Haupttanklager diente. In dem Hangar waren ihre Munitionsvorräte gestapelt. Meyer hatte zwar bemäkelt, daß alles zu dicht beieinander lag, doch mehr Platz bot das überflutete Land nicht.

In diesem Augenblick sprach der unglückliche Keller genau das falsche Problem an.

»Man hat mir berichtet, daß das Munitionsdepot zu nahe beim Tanklager eingerichtet wurde, Herr General.«

»Wollen Sie es verlegen, Keller?« fragte Storch.

»Nein, Herr General. Ich dachte nur… das heißt… Oberst Meyer…«

»Meyer war vor kurzem hier?«

»Nur für ein paar Minuten – um die Wassertiefe zu prüfen…«

»Ihr Glück, Keller, daß nur meine Stiefel naß geworden sind.

Wäre das Wasser mir bis zu den Schenkeln gegangen, hätte ich Sie versetzen und degradieren lassen. Also bis vier Uhr dann, Keller.«

Barnes rieb sich die Augen und schaute auf seine Uhr.

0.45 Uhr. Der Tank rumpelte mit aufgeblendeten Scheinwerfern über die Nebenstraße. Die Ketten rotierten mit höchster Geschwindigkeit. Jacques, der neben ihm im Turm stand, erklärte ihm, sie würden in den nächsten Minuten die Außenbezirke von Lemont erreichen. Der junge Franzose kannte die Gegend wie seine Westentasche und fand es ungemein aufregend, in einem Kampfpanzer über die Straße zu fahren, die ihm seit seiner Kindheit vertraut war. Er hatte vorgeschlagen, den Ort zu umgehen. Barnes bat ihn, einen Platz zu suchen, wo sie Bert für eine kurze Zeit sicher parken konnten.

Im Kampfabteil hockte Colburn hinter der Kanone auf dem Platz, den früher Davis eingenommen hatte. Eine geladene Maschinenpistole lag quer über seinen Oberschenkeln. Der Kanadier hatte sich rasch an den engen Raum, das leichte Schwanken und das monotone Rattern der Ketten gewöhnt. Er vermißte die frische Luft in zweitausend Metern Höhe, doch hier hatte er wenigstens festen Boden unter den Füßen.

Obwohl sie sich der Kampfzone näherten, war das Wummern der Geschütze verstummt, als wollten sie ihre Schlagkraft und ihre Munition für die letzte Schlacht im Morgengrauen aufsparen. Und das war nicht mehr fern, wie Colburn mit einem Blick zum Himmel feststellte. Er langweilte sich, weil es für ihn nichts zu tun gab, beneidete Reynolds regelrecht um seinen Job.

Der Fahrer saß vorne im Tank und fuhr mit offener Luke. Er schaute stur geradeaus. Vorsichtig bediente er die Steuerhebel, denn seine Arme brannten wie Feuer, und selbst die geringste Bewegung bereitete ihm Höllenqualen. Barnes, der seinen Fahrer kannte, versuchte ihn mit der Bemerkung, sie würden ihr Ziel bald erreichen, aufzumuntern. Reynolds wollte das alles hinter sich bringen und dann vierzehn Tage nur noch schlafen. Sie näherten sich wieder den alliierten Linien, und drüben auf der anderen Seite des Kanals lag Dover. Immer häufiger dachte Reynolds an England und sein Zuhause. Mit etwas Glück wären sie bald wieder drüben. Vielleicht bekam er Urlaub, konnte nach Peckham fahren und einen Bitter im

›Grauen Pferd‹ trinken. Bei diesem Gedanken bekam er Durst, vergaß ihn aber rasch, als Barnes’ Stimme aus dem Kopfhörer drang und ihm einen neuen Befehl gab.

»Biegen Sie links ab«, hatte Jacques gesagt, »zu dem weißen Gebäude da.«

Barnes gab diese Anweisung weiter.

»Und das Bauernhaus, von dem du gesprochen hast, Jacques, diese abgelegenen Scheunen…«

Sie ratterten über einen engen Pfad. Im Kegel der Scheinwerfer tauchte ein seltsam vertrauter Schatten auf.

Barnes erstarrte, als der Panzer eine Biegung nahm und die Scheinwerfer voll auf die klobige Silhouette fielen. Jacques deutete auf die Gebäude hinter einem offenen Gatter. Barnes ließ Reynolds anhalten.

Das schwere Gefährt im Licht der Scheinwerfer stand in starker Schräglage auf einem Feld. Eine Kette war in einen tiefer gelegenen Graben abgerutscht. Es war ein Zwillingsbruder von Bert – ein Matilda-Tank.

Barnes sprang zu Boden und ging hinüber. Colburn folgte ihm. Der Sergeant ließ kurz den Strahl seiner Stablampe über den Koloß wandern. Er war nur mehr ein Wrack. Der Turm war schwer getroffen worden, die echte Kette hatte sich von den Rädern gelöst, das Heck war mit schwarzen Brandspuren übersät.

»Sieht aus wie einer von euch«, sagte Colburn leise.

»Es ist ein Panzer von uns. Hier hat’s einen netten Tanz gegeben. Sehen Sie mal.«

Im Feld hinter dem Panzer lagen reglose Gestalten in Uniform wild durcheinander – auf dem Bauch, auf dem Rücken, zusammengekrümmt oder lang ausgestreckt. Ein paar deutsche Uniformen waren dabei, doch mehr britische. Barnes untersuchte einige Gewehre. Die Magazine waren leergeschossen.

Außer dem einen Tank waren keine weiteren Fahrzeugwracks zu sehen, und Berts Zwillingsbruder schien auf schreckliche Weise den Mangel an Panzern beim britischen Expeditionskorps zu verdeutlichen.

»Hier sind die deutschen Panzer vorbeigekommen«, sagte Barnes zu Colburn.

Der Kanadier schwieg.

Sie gingen noch ein Stück weiter bis zum Gatter und stießen auf weitere Leichen und leergeschossene Gewehre, britische 303er. Sie betraten vorsichtig den Hof zwischen den Gebäuden. Nacheinander durchsuchten sie sie. Das Gehöft war verlassen. Hinter einem der Gebäude fanden sie mehrere englische Anderthalbtonner. Offensichtlich hatte das Gehöft den Alliierten als Transportdepot gedient. In den Häusern standen noch mehr Laster. Die Einheit war erst kürzlich überhastet abgezogen worden, wie ein paar benutzte Trinkbecher, eine Schüssel mit abgestandenem Wasser, einige Gasmasken und ein Lewis-Gewehr ohne Magazin bewiesen.

»Ich würde mir gern mal diesen Truck da drinnen anschauen«, sagte Colburn und richtete seinen Lampenstrahl auf einen Transporter mit dem Zeichen der Royal Engineers auf dem Heck.

»Ich bin in einer Minute zurück«, sagte Barnes, »ich werde nur eben Bert in Sicherheit bringen.«

Der Sergeant verschwand und untersuchte kurz das Gelände in der Nähe der Gebäude. Die Felder waren leer und lagen seltsam still im blassen Mondschein vor ihm. Es war schwül, der Boden gab nach und nach die gespeicherte Wärme des vergangenen Tages frei. Insekten summten umher. Jenseits der Felder entdeckte Barnes die Schatten einiger Dächer. Hinter ihnen tanzte ein einsamer Scheinwerferstrahl müde über den nächtlichen Himmel und suchte nach feindlichen Fliegern.

Der Sergeant kehrte zu dem Kanadier zurück und fand ihn auf der Ladefläche des Lastwagens. Seine Lampe beleuchtete einige Lagen übereinandergestapelter hölzerner Kisten.

»Ich möchte einen Erkundungsgang nach Lemont machen«, erklärte Barnes. »Jacques wird mich in den Ort begleiten. Sie und Reynolds bleiben währenddessen hier. Eine bessere Deckung für Bert könnten wir uns kaum wünschen. Die Deutschen werden wohl kaum ein zweites Mal in einem Ort herumschnüffeln, den sie schon überrannt haben. Und das Zeugs hier können sie sowieso nicht gebrauchen. Ist ja ohnehin nur eine Handvoll.«

»Hier liegt mehr als nur eine Handvoll, Barnes. Sie wissen natürlich, was das ist – Sprengkapseln. Mit der Ladung hier könnte man halb Ottawa in die Luft jagen. Eine reiche Auswahl – einschließlich Schießbaumwolle, Sprengapparaten und Gott weiß was noch. Der Laster gehörte zu einem Sprengkommando.«

»Was, um Himmels willen, wollen Sie denn damit… Verzeihung, ich vergaß ganz, daß es Ihr Beruf ist, Dinge in die Luft zu jagen.«

Barnes hockte sich auf eine alte Holzkiste an der Wand und dachte nach. Seine Schulterwunde schmerzte seit dem Aufprall gegen Bert auf dem Transporter höllisch. Er war ausgelaugt und erschöpft, fragte sich allen Ernstes, ob er noch die Kraft hatte für einen einzigen Schritt. Nun, er mußte noch ein paar Schritte mehr tun, wenn er herausfinden wollte, wie die Dinge in Lemont standen.

Jacques hatte ihm munter erklärt, es sei am besten, seinen Vater aufzusuchen. Der alte Herr wohnte mitten im Ort auf einer kleinen Anhöhe. Von seinem Haus aus konnte man den Privatflugplatz des Ortes überblicken. Es war ein weiter Weg bis dorthin, doch Jacques schien das kaum zu stören. Barnes machte der Weg durch die vom Feind besetzten Straßen dagegen um so mehr Sorgen. Er erhob sich schwerfällig und ging hinaus, um Reynolds seine Anweisungen zu geben, blieb aber im Tor erstaunt stehen, als Colburn einen Pfiff ausstieß.

Der Kanadier war in seinem Element.

»Barnes, hier ist Draht und sogar etwas Phosphor. Dieser gottverdammte Truck ist eine einzige rollende Bombe.«

»Was sollen wir schon mit Bomben?« fragte Barnes irritiert.

»Verstehe überhaupt nicht, wieso diese deutschen Esel solches Zeug unbewacht herumliegen lassen.«

»Jacques behauptet, sie hätten nicht genug Leute, um ihren eigenen Nachschub ausreichend zu sichern.«

»Hiermit könnte ich was Hübsches anstellen, Barnes. Einen solchen Schatz habe ich nicht mehr in den Fingern gehabt, seit ich bei der RAF bin. Wenn meine Maschine hier abgestürzt wäre, hätte ich mir hier meine Brötchen verdienen können. Sehen Sie mal…«

Barnes konnte nur wenig Verständnis für Colburns Enthusiasmus aufbringen, und die ungebrochene Energie des Kanadiers machte ihm seine eigene Erschöpfung um so deutlicher. Schnell sagte er:

»Ich gehe jetzt mit Jacques los. Reynolds ist direkt nebenan bei Bert. Da haben Sie jemand zur Unterhaltung.«

»Mir gefällt’s hier ganz gut. Sie gehen also zum Haus von Jacques’ Vater?«

»Ich bezweifle, daß wir so weit kommen werden.«

»Der alte Knabe dürfte genau wissen, wie’s im Ort aussieht. Und geben Sie auf sich acht. So kurz vor dem Ziel können wir uns keine Schwerverletzten mehr leisten.«

»Stimmt, also lassen Sie, um Himmels willen, keine dieser Sprengkapseln fallen.«

Barnes schaute auf die Uhr, auf Penns Uhr.

2.25 Uhr.

Noch neunzig Minuten bis zur Dämmerung. Sie befanden sich auf dem Heimweg von ihrem Erkundungsgang – wenn man denn ein Gehöft, das man nie zuvor gesehen hat und in dessen Scheune hochexplosiver Sprengstoff lagert, als ›Heim‹ bezeichnen kann. Der Sergeant blickte die stille Straße zurück und sah Jacques weit hinter sich. Der Junge war ein echtes Problem, denn Lemont war ausgestorben. Die Bewohner waren entweder geflohen oder von den Deutschen vertrieben worden, als das Kampfgeschehen den Ort überrollte.

Der Junge hob die Hand und deutete nach vorn. Ein unnötiges Warnzeichen für Barnes, denn der Sergeant hielt schon nach dem Posten Ausschau, den sie auf dem Hinweg hier entdeckt hatten. Er schob vor einem kleinen, einstöckigen Haus Wache. Hinter den geschlossenen Fensterläden hatte Licht geschimmert. In den Randbezirken von Lemont standen nur einstöckige Häuser, doch in diesem Haus gab es das einzige Anzeichen von Leben in der von Bäumen gesäumten Straße.

Wer hockte da hinter den geschlossenen Läden? Und wo war der verdammte Posten jetzt? Das Motorrad mit Seitenwagen stand immer noch vor dem Haus.

Barnes machte lautlos ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Zwischen den Ritzen der Läden schimmerte immer noch Licht, doch der Posten war verschwunden. Besorgt schaute sich Barnes nach dem Jungen um. Jacques hob ratlos die Hände. Auch er hatte das Verschwinden des Postens bemerkt. Sie mußten also wie auf dem Hinweg hinter dem Haus entlangschleichen.

Der Sergeant gab Jacques ein Zeichen, zurückzubleiben, und huschte in eine Gasse zwischen zwei Häusern. Seine Nerven vibrierten unter der Anspannung, seinen Geist beherrschten nur noch zwei Gedanken: auf dem letzten Stück nichts zu riskieren und sich trotzdem zu beeilen. Denn die Zeit wurde allmählich knapp – ausgerechnet jetzt, wo er endlich das heißersehnte Zielobjekt für seinen Schlag gegen die Deutschen gefunden hatte.

Der Weg führte zwischen schulterhohen Steinmauern entlang und verlief dann parallel zu der Rückseite der Häuser. Barnes schlich mit gesenktem Kopf vorwärts. Den Revolver hielt er schußbereit in der Hand. Er passierte ein geschlossenes Tor in der Mauer. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, denn er erinnerte sich, daß links von ihm ein tiefer Graben verlief.

Vielleicht hatte er etwas gehört und den Kopf gedreht, doch er konnte sich später an nichts mehr erinnern. Ein Gewehrkolben krachte ihm mit solcher Wucht auf den Kopf, daß er augenblicklich das Bewußtsein verlor…

Als er erwachte, empfand er eine entsetzliche Übelkeit, doch kämpfte er sie erfolgreich nieder. Seine Schulterwunde schmerzte höllisch. Jemand schien ständig mit einem Vorschlaghammer seinen Kopf zu bearbeiten und löste mit jedem Schlag ein schmerzhaftes Echo aus.

›Reiß dich zusammen, Mann!‹

Mit ungeheurer Anstrengung versuchte er, die Augenlider zu heben, die schwer wie Blei waren. Ein greller Lichtstrahl blendete ihn, und er schloß die Augen rasch wieder. Eine gutturale Stimme sagte auf englisch:

»Wie schön, Sergeant Barnes, Sie wieder unter den Lebenden zu begrüßen.«

Barnes öffnete die Augen einen Spalt und versuchte sich umzusehen. Aus dem Dunkel hinter der Lampe tauchte ein uniformierter Arm auf und verdrehte den Lampenschirm, so daß der Lichtkegel auf die Tischplatte fiel. Der Arm gehörte einem schmalgesichtigen Mann von etwa dreißig Jahren, der eine deutsche Offiziersuniform trug. Barnes ließ schwerfällig den Blick durch den verdunkelten Raum schweifen, doch Jacques war nicht zu sehen. Der Junge war vermutlich ins Dorf entkommen.

»Sagen Sie, ob Sie bereit sind zu reden«, sagte der Deutsche.

Barnes fluchte innerlich. Er saß in einem hölzernen Sessel mit hoher Rückenlehne. Seine Gelenke waren mit Draht an die Lehnen gefesselt. Als er verstohlen versuchte, sich aufzurichten, fühlte er einen breiten Gurt um seine Hüfte. Nur seine Beine waren frei. Man hatte ihn fein säuberlich verschnürt.

Ein weiterer Offizier trat von hinten in den Lichtkreis der Lampe. Er ließ eine Handvoll Kiefernnadeln auf die Tischplatte fallen und begann sie fein säuberlich nach Größe zu sortieren, wobei er Barnes scheinbar keinerlei Beachtung schenkte.

Barnes knirschte mit den Zähnen. War dieses Vorspiel zur Folterung nur eine Finte, um ihn weichzukochen?

»Ich bin Major Berg«, sagte der Offizier hinter dem Tisch.

»Und Sie sind natürlich Sergeant Barnes.«

Er hob das britische Soldbuch und wedelte damit durch die Luft. »Sie werden sich sicher über mein gutes Englisch wundern. Vor dem Krieg war ich Militärattache in London.«

Seine Stimme wurde eisig. Schnell fragte er:

»Barnes, wo steht Ihre Einheit? Wo wollen uns die Briten von hinten angreifen?«

Barnes nannte Namen und Dienstgrad sowie seine Kennzahl und schwieg dann. Der am Tisch stehende Offizier schlug ihm mit der Handkante auf den Mund. Barnes schmeckte Blut und spuckte einen abgebrochenen Zahn aus. Aus halb geschlossenen Augen sah er, wie Berg den Kopf schüttelte, als wolle er seinen Kameraden zur Besonnenheit mahnen.

»Ich habe vergessen, Ihnen meinen Kameraden, Hauptmann Dahlheim, vorzustellen«, fuhr Berg fort. »Für gewöhnlich reden wir mit unseren Gästen in sehr höflicher Form, wenden nur Druck an, wenn die Zeit zu knapp wird. Leider wird Hauptmann Dahlheim leicht böse, wenn man meine Fragen nicht schnell und präzise beantwortet.«

Barnes wiederholte seine Angaben und wies daraufhin, daß er gemäß der Genfer Konvention zu keinen weiteren Aussagen verpflichtet sei. Dalheim spielte derweil mit den Kiefernnadeln herum. Für einen Augenblick verdeckte sein Körper Barnes vor den Blicken von Berg. Barnes zerrte an seinen Handfesseln aus Draht, konnte seine Hände aber nicht befreien.

»Sie sind ein Spion«, hörte er Bergs Stimme. »Dahlheim, zeigen Sie ihm die Kleider, die er trug, als wir ihn überraschten.«

Dahlheim hob ein Kleiderbündel von einem Stuhl und zeigte es ihm. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte Barnes, es seien Jacques’ Kleider, doch es waren bloß eine Arbeitsjacke und -hose aus blauem Körper, wie sie französische Landarbeiter trugen. Jacques hatte einen Straßenanzug getragen. Der Junge mußte den Deutschen entwischt sein.

»Ich habe noch nie solche Sachen getragen, das wissen Sie genau.«

»Hauptmann Dahlheim kann bezeugen, daß wir Ihnen diese Kleider ausgezogen haben, während Sie bewußtlos waren. Sie trugen sie, um sich zu tarnen. Und wir könnten sagen, daß Sie keinerlei Identifikation bei sich trugen, kein Soldbuch, nichts.«

Er ließ das Soldbuch in eine Schublade fallen und schloß sie.

»Also sind Sie ein Spion. Wir können mit Ihnen machen, was wir wollen.«

Bluffte Berg nur? Barnes konnte das bleiche Gesicht seines Gegenübers nun besser sehen. Der Deutsche war älter, als er vermutet hatte. Innerlich bebte der Sergeant vor Zorn. Er war dicht vorm Ziel gewesen, hatte die schwierigste Patrouille hinter sich gebracht, die er je im Leben gegangen war. Einen Augenblick nur ließ seine Achtsamkeit nach, und schon hatten die Deutschen ihn erwischt, fünf Minuten von Berts Versteck entfernt. Ein Gedanke quälte ihn ganz besonders, jetzt, da eine Flucht ausgeschlossen schien. Er war mit seinen Leuten nach Lemont gefahren, weil laut Kampfplan aus dem deutschen Stabswagen dem britischen Expeditionsheer von diesem Punkt aus die größte Gefahr drohte. Ausgerechnet hier, wo er endlich einen Lebensnerv der Deutschen, insbesondere der 14. Panzerdivision, der Sturmspitze des Angriffs auf Dünkirchen, treffen konnte, geriet er in Gefangenschaft. Was sagte dieser Berg gerade?

»Wir haben nicht sehr viel Zeit, Sergeant Barnes.«

»Die hat keiner von uns.«

»Aus verschiedenen Gründen ist es deshalb wichtig, daß Sie meine Fragen unverzüglich beantworten. Also, wo steht Ihre Einheit? Was haben die Briten vor?«

Der Major wartete ein paar Sekunden.

»Dahlheim, Sergeant Barnes zieht es vor zu schweigen.«

Dahlheim richtete sich auf und drehte sich um. Vor ihm auf der Tischplatte lagen in schöner Ordnung die Kiefernnadeln.

Ihre Spitzen deuteten auf Barnes. Das Gesicht unter der Offizierskappe war rund und voll; mit schläfrigem Blick musterte der Deutsche den Gefangenen. Jetzt erst sah Barnes den schwarz-silbernen Kragenspiegel mit zwei seltsamen Runenzeichen. Hauptmann Dahlheim gehörte zur SS.

Die Augen des Sergeants hatten sich allmählich an das Halbdunkel im Raum gewöhnt. Hinter dem Lichtkegel der Lampe, im Rücken von Berg, bemerkte Barnes ein Fenster.

Die Vorhänge waren bis auf einen Spalt an einer Seite geschlossen. Durch diesen Spalt fiel ein silberner Streifen Mondlicht in den Raum. Dahlheim senkte die Hand, und Barnes glaubte schon, er würde die Pistole aus dem Lederholster an der Hüfte ziehen. Der Hauptmann faßte in die Tasche, zog ein Stück Schnur hervor und wickelte die Enden mehrmals um seine Hände. Er ließ sich viel Zeit und beobachtete Barnes dabei scharf. Dann trat er ohne ein Wort hinter den Sessel des Gefangenen. Barnes ahnte, was kam, und sein Körper spannte sich.

Reynolds sah den Posten vor dem kleinen Haus und das abgestellte Motorrad in der Nähe. Geräuschlos machte er ein paar Schritte die Straße hinunter und verschwand in einem von Steinmauern gesäumten Gäßchen, das ihn vor den Blicken des Postens zwei Häuser weiter deckte. Eine Minute lang überlegte er sein weiteres Vorgehen. Zum erstenmal in seinem Leben tat er zwei Dinge, die ihn beide gleichermaßen bedrückten. Er mißachtete einen Befehl, und er trat in Aktion, ohne einen Vorgesetzten davon informiert zu haben. Ihm kamen Zweifel an der Richtigkeit seines Verhaltens, und er fragte sich, ob es nicht besser sei umzukehren.

Barnes hatte ihm ausdrücklich befohlen, beim Tank zu bleiben. Nur eine schier übermächtige Ahnung, daß der Sergeant in Gefahr war, trieb den Fahrer zu seiner Handlungsweise. Colburns Angebot, an seiner Stelle nach Barnes zu suchen, hatte er entschieden abgelehnt. ›Ein Pilot gehört in die Luft‹, sagte sich Reynolds, ›am Boden taugen die Burschen nicht viel.‹ Jetzt fürchtete er, Barnes’ und Jacques’

Rückkehr verpaßt zu haben. Wahrscheinlich fragte der Sergeant Colburn schon nach seinem Verbleib.

Es war vielleicht doch besser, umzukehren, aber nicht über die Straße. Zu gefährlich. Es gab sicher einen anderen Weg hinter den Häusern entlang. Ja, er mußte zurück. Barnes konnte durchaus auf sich selbst achtgeben.

Der Fahrer erreichte das Ende der Mauer und hob vorsichtig den Kopf. Aus einem Fenster des zweiten Hauses drang Licht.

Wahrscheinlich hatte sich dort eine Art Gefechtsstand etabliert, ein Ort also, dem man lieber fernbleiben sollte.

Reynolds schlich einen Fußweg an der hinteren Gartenmauer entlang und blickte zurück. Das Licht zog ihn magisch an.

Besser, er sah einmal nach. Vielleicht interessierte es Barnes, was es mit diesem Haus auf sich hatte. Ein Penny gegen ein Pfund, wie sein Vater zu sagen pflegte. Reynolds huschte geduckt an der Gartenmauer entlang und zählte die Tore. Das nächste mußte es sein. Es war nicht verriegelt und schwang lautlos auf, als er dagegenstieß. Der schwache Lichtschimmer wurde von Obstbäumen im Garten fast verdeckt. Reynolds lauschte und spähte gleichzeitig über die Begrenzungsmauer einen anderen Fußweg hinunter, der zurück zur Straße führte.

Wenn der Posten hier auftauchte, während er im Garten war, saß er ganz schön in der Falle. Eben nur ein Penny, dann…

Reynolds schlich zum Fenster und entdeckte den Spalt im Vorhang. Zehn zu eins, daß die Leute drinnen gerade zum Fenster schauten, wenn er hineinsah, aber er mußte jetzt wissen, was da los war. Er stützte sich mit einer Hand gegen die Wand, warf einen Blick ins Innere und trat schnell zurück.

Genau in diesem Moment war Dahlheim hinter Barnes Sessel getreten.

Zum erstenmal erlebte Reynolds seinen Sergeant völlig hilflos und stand für ein paar Sekunden schreckerstarrt. Doch dann erfaßte ihn rasender Zorn. Er huschte aus dem Garten über den Fußweg zur Straße und zog im Laufen sein Messer mit der extrem scharfen Klinge und der feinen Spitze aus der Scheide. Fischverkäufer schliffen die Messer immer so. An der Ecke blieb er stehen und lauschte auf die Fußschritte des Postens, dem es anscheinend langweilig geworden war. Er wanderte auf und ab, zehn Schritte vor, zehn Schritte zurück.

Reynolds erinnerte sich an eine Nacht, in der er selbst in einem abseits gelegenen Camp in der Nähe von Hull Wache schieben mußte. Im Dunkeln hatte er eine Abneigung entwickelt, vor der Kehrtwendung einen Augenblick stehenzubleiben, wie seine Kameraden es immer machten. Statt dessen hatte er sich im Gehen umgedreht. Und genau auf diesen Moment wartete er jetzt.

Der Posten kam wieder auf ihn zu. Acht, neun, zehn…

Reynolds sprang blitzschnell hinter der schützenden Deckung der Mauer hervor und sah den Rücken des Postens kaum zwei Meter vor sich. Er riß die Hand mit der Waffe hoch, machte drei lautlose Schritte und jagte dem Posten das Messer bis zum Heft in den Rücken. Die Klinge drang durch den Uniformstoff, glitt an einem Knochen ab und bohrte sich tief ins Fleisch. Mit einem gurgelndem Aufschrei stürzte der Deutsche zu Boden.

Reynolds beugte sich rasch über sein Opfer und riß ihm das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett von der Schulter. Er fürchtete, der Posten könnte mit seinem Schrei die halbe Straße alarmiert haben.

Seine Handlungen liefen jetzt automatisch ab, wie bei einem Manöver. Der Fahrer packte das Gewehr mit einer Hand am Lauf dicht vorm Bajonett, mit der anderen am Kolben und stürmte auf die Eingangstür los – die plötzlich von innen aufgerissen wurde. Eine uniformierte Gestalt stand im Türrahmen.

Dahlheim hielt die Luger schußbereit in der Hand, doch bevor er den Finger krumm machen konnte, war Reynolds heran und rammte ihm das Bajonett in den Bauch. Der Deutsche stöhnte laut auf und stürzte unter Reynolds vehementem Anprall rückwärts in den Raum. In einem Reflex stellte ihm der Fahrer einen Fuß auf die Brust und riß mit einem heftigen Ruck das Bajonett aus dem Körper. Rasch überblickte er die Situation im Zimmer.

Dahlheim hatte gerade die Schnur um Barnes’ Hals geschlungen, als sie den Aufschrei des Postens hörten. Auf Bergs Befehl zog er sofort die Luger und riß die Tür auf. Berg war aufgestanden und mit schußbereiter Pistole neben den Tisch getreten. Barnes hörte Dahlheims schrecklichen Schrei.

In diesem Moment ging Berg am Sessel seines Gefangenen vorbei. Barnes’ linker Fuß schoß vor und brachte den Deutschen zu Fall. Der Sergeant warf sein ganzes Gewicht nach links und ließ sich mitsamt dem Sessel auf den Major fallen. Beim Aufprall zerbrach die Lehne; seine linke Hand war jetzt frei. Barnes ballte sie zur Faust und hieb sie mit aller Wucht dem unter ihm liegenden Berg ins Gesicht. Einen Sekundenbruchteil später rutschte der Sessel vom Körper des Majors. Barnes lag hilflos auf der Seite, seinen Körper dem Deutschen zugewandt. Der Major schüttelte benommen den Kopf, spie Blut und ein paar Zahnsplitter aus, hob den Revolver und zielte direkt in Barnes’ Gesicht. Unfähig, sich zu rühren, trotz der plötzlichen Todesangst, die ihn mit eiskalten Klauen packte, registrierte der Sergeant noch die Bewegung über sich. Mit schrecklicher Wucht sauste Reynolds Gewehrkolben auf den Kopf des Deutschen nieder. Die erhobene Schußhand krachte zu Boden, der Revolver entglitt den kraftlos gewordenen Fingern.

»Gute Arbeit, Reynolds.«

Mechanisch sagte Barnes diese nichtssagenden Worte und dachte im gleichen Moment an Dahlheim.

»Kümmern Sie sich um den anderen Bastard.«

»Der hat genug. Halten Sie still, ich binde Sie los.«

»Zertrümmern Sie einfach mit dem Kolben die Sessellehne. Nun machen Sie schon, Mann, wir haben verdammt wenig Zeit.«

Sie hörten Dahlheim stöhnen. Reynolds zerschlug mit einem gezielten Kolbenstoß die Lehnenstütze, und Barnes streifte die Fesseln über das Ende der Lehne. Die Hände preßte er durch die Drahtschlingen, während Reynolds den Ledergurt um seinen Bauch löste.

Dahlheim lag hinter Barnes und hämmerte vor Schmerz mit den Stiefelabsätzen gegen den Boden. Barnes rollte herum – und stieß einen Warnruf aus. Dahlheim hatte sich auf die Seite gewälzt und die linke Hand auf den Bauch gepreßt. Durch die Finger rann Blut, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Die rechte Hand hielt die Pistole. Gleichzeitig mit Barnes’ Warnruf schoß der Deutsche.

Dahlheim feuerte auf gut Glück, denn er konnte vor Schmerz nicht richtig zielen. Er schoß noch zweimal, aber die Kugeln schlugen in die Decke. Danach fiel ihm die Pistole aus der Hand. Barnes sah, wie Reynolds schwankte. Ein ungläubiges Staunen breitete sich im Gesicht des Fahrers aus, bevor sein Körper krachend auf den Boden schlug.

Unsicher erhob sich Barnes. Die Beine wollten ihn kaum tragen. Schwerfällig bückte er sich nach dem Gewehr und trat hinter Dahlheim, der sich auf dem Boden hin und her wälzte.

Barnes hob mit letzter Kraft die Waffe und hieb den Kolben auf den Kopf des Deutschen. Durch die Wucht des Schlages glitt ihm die Waffe aus den Händen. Sie polterte neben dem regungslosen Deutschen zu Boden. Mit den Füßen beförderte Barnes sie zur Wand, bückte sich nach der Luger, die immer noch fünf Patronen im Magazin hatte, und schob sie in seine leere Pistolentasche. Dabei fragte er sich, was die Deutschen wohl mit seiner Pistole gemacht hatten.

»Reynolds!«

Mit unsäglicher Mühe drehte Barnes den benommenen Fahrer auf den Rücken. Reynolds regte sich und begann kräftig zu fluchen. Sein linker Oberschenkel blutete heftig. Eine rasche Untersuchung zeigte dem Sergeant, daß die Kugel das Bein glatt durchschlagen hatte und auf der anderen Seite wieder ausgetreten war. Er legte dem Fahrer einen Notverband an und hob ihn in Bergs Sessel, was ihn fast seine ganze restliche Kraft kostete. Dabei fluchte er leise vor sich hin. Sie hatten aber auch wirklich Pech: Davis von stürzenden Felsmassen erschlagen, Penn erschossen von einem verdammten Plünderer und Leichenschänder, und jetzt Reynolds durch einen von unsicherer Hand abgefeuerten Zufallstreffer verletzt.

Barnes schaute auf die Uhr. Der Sturz mit dem Sessel hatte das Glas zersplittern lassen, die Zeiger waren auf 2.40 Uhr stehengeblieben.

Der Sergeant blieb einen Moment bei dem Tisch stehen und schaute in Reynolds’ verzerrtes Gesicht. Seine Gedanken kreisten um den verwundeten Fahrer und die Tatsache, daß innerhalb von achtzig Minuten die Panzer, die er und Jacques vom Haus seines Vaters oberhalb des Flugplatzes deutlich gesehen hatten, sich in Bewegung setzen und auf die überflutete Straße hinausrollen würden, die der Junge ihnen gezeigt hatte. Er riß sich zusammen und kämpfte gegen die aufsteigende Müdigkeit an.

Denk nach, Barnes, du hast noch einen Haufen Arbeit vor dir!

Er öffnete die Tischlade, fand sein Soldbuch und auch seinen geladenen Revolver und tauschte ihn gegen die Waffe des Deutschen aus.

Reynolds bekann plötzlich zu reden. Er bat den Sergeant, ihn hier zurückzulassen, da er wahrscheinlich weder gehen noch fahren konnte. Barnes nickte nur, ging zur Tür und spähte auf die stille Straße hinaus. Er brauchte mehrere Minuten, um die Leiche des Postens ins Haus zu zerren. Er wollte vermeiden, daß eine zufällig vorbeifahrende Streife Alarm schlug. Er ließ den schweren Körper neben Dahlheim zu Boden gleiten, holte tief Luft und hievte den Fahrer auf seinen Rücken. Gebückt stolperte er unter der schweren Last zur Tür. Reynolds’ Füße schleiften über den Boden. Draußen ließ der Sergeant den Fahrer in den Seitenwagen sinken. Reynolds protestierte, das Motorengeräusch würde sie verraten. Barnes sagte nichts, löschte im Haus das Licht und zog von außen die Tür ins Schloß.

Das Knattern des Motorrades erschien ihm lauter als jedes andere Geräusch zuvor, doch das war jetzt unwichtig. Er mußte unbedingt einen sicheren Ort für Reynolds finden. Die Straße lag leer und verlassen, als er aus Lemont herausfuhr und wenige Minuten später beim Gehöft anlangte. Barnes stellte den Motor ab und rief Colburn eine Warnung zu. Der Kanadier trat hinter einer Scheune hervor, die Maschinenpistole im Anschlag. Zusammen bereiteten sie Reynolds ein bequemes Strohlager in einem der Gebäude und betteten ihn darauf.

Diesmal ging Barnes kein Risiko ein. Bert hatte möglicherweise seine letzte Fahrt vor sich, und dabei konnte der Sergeant keinen Verwundeten gebrauchen. Ohnehin war seine Mannschaft auf ganze zwei Mann

zusammengeschrumpft, dachte der Sergeant grimmig. Nur Colburn und er waren noch übrig.

Gegen 3.20 Uhr waren sie zur Abfahrt bereit. Sie hatten wie die Sklaven geschuftet. Barnes schaute nochmals zu Colburn herein, der nun seine eigene Position im Turm eingenommen hatte. Auf seiner letzten Fahrt würde der Panzerkommandant seinen Panzer selbst fahren. Reynolds blieb auf dem Hof zurück.

»Sind Sie sicher, Colburn, daß unser Plan auch klappt?«

»Jedenfalls ist er sicherer, als nur ein paar Granaten in das Depot zu feuern, die nicht unbedingt eine größere Explosion auslösen. Hingegen können Sie Ihr bißchen Leben darauf wetten, daß diese Ladung hier das ganze Depot in den Himmel bläst – vorausgesetzt, wir kommen nahe genug heran und gehen nicht schon vorher selbst in die Luft. In diesem Fall braucht sich keiner mehr Gedanken um unsere Beerdigung zu machen. Sehen Sie mal nach unten – Bert ist eine rollende Bombe.«

Der Boden der Drehplattform war zugepackt mit Schießbaumwolle, Sprengkapseln und Aufschlagzündern, mehreren Kanistern Sprit, einigen Paketen Phosphor und ein paar Granaten, die der Kanadier in einem Ranzen gefunden hatte. Eine Tasche am oberen Turmrand enthielt weitere Granaten, daneben hingen ein Sprengapparat und eine Dram rolle. Colburn deutete auf den Sprengapparat. »Angenommen, Barnes, wir kommen hier raus, bevor der Panzer mit dem ganzen Zeugs hochgeht…«

»Damit würde ich nicht unbedingt rechnen, Colburn.«

»Zum Teufel, auch ich rechne mit dem Schlimmsten. Doch nehmen wir mal an, Sie bleiben als einziger übrig, vergessen Sie, um Gottes willen, nicht den Draht und den Auslöser hier.

Ich habe den Draht durch die Schießschlitze hier geführt. Sie können also das Luk zuwerfen. Bei geschlossenem Luk erhöht sich nämlich die Sprengwirkung ein wenig.«

»Wir müssen los, Colburn.«

»Jesus, ich weiß, daß ich mich wiederhole. Trotzdem sage ich es Ihnen lieber zweimal – es könnte Ihnen das Leben retten. Der Apparat da ist harmlos wie ein Kätzchen – bis Sie den Schalter umdrehen. Ehrlich gesagt, Barnes, wenn ich so darüber nachdenke, hat dieses Unternehmen viel zu viele Fragezeichen.«

»Wir haben noch siebzig Panzergranaten und jede Menge Kisten mit Besa-Munition, um die Explosion noch zu verstärken.«

»Ich weiß. Ich hoffe nur, daß ich in der Nähe bin, wenn die Ladung hochgeht. Es wäre die Krönung meiner bisherigen Arbeit als Sprengexperte – und für mich sicherlich das schönste Feuerwerk. Mit ›in der Nähe‹ meine ich das andere Ende des ausgelegten Drahtes«, fügte Colburn hinzu.

»Fahren wir, Colburn. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir durch Ihre nette Spielerei viel zuviel Zeit verloren haben. Sie müssen die Augen offenhalten und mich über Bordfunk dirigieren. Glauben Sie, Sie schaffen das?«

»Sicherlich wesentlich besser als Bert selbst zu fahren. Okay. Also auf zur letzten Anschwebe – wie wir Bomberpiloten sagen.«

»Was gar nicht so unpassend ist, da wir ja eine mobile Bombe bei General Storch abzuliefern haben.«

Drei Minuten später brauste der Panzer mit Höchstgeschwindigkeit durch das Dorf. Die Scheinwerfer blitzten, wie ein rächendes Phantom donnerte Bert über die verlassene Dorfstraße. Sie hatten nur dann eine Chance durchzukommen, wenn sie vorwärts stürmten, als ob der Ort ihnen allein gehörte. Dessen war sich Barnes sicher. Ihr einziger Vorteil war ihr völlig unerwartetes Auftauchen, ein Vorteil, den sie voll nutzen mußten, um das Flugfeld mit dem Tanklager und dem Munitionsdepot zu erreichen. Wenn sie überhaupt bis dorthin kamen.

Das Auftauchen des Tanks in den frühen Morgenstunden sollte beim Gegner Zweifel und Unentschlossenheit hervorrufen, zumindest für ein paar lebenswichtige Sekunden, und in dieser Zeit mußte Bert sämtliche Streifen passieren, denen sie begegneten. Alles hing von der Frage ab, wie bald sie auf die geballten Streitkräfte stießen.

Sie kamen an dem Haus vorbei, aus dem Reynolds ihn gerettet hatte. Barnes war sicher, es im Vorbeifahren erkannt zu haben, obwohl seine Sicht begrenzt war und er sich hauptsächlich auf Colburns Anweisungen über Bordfunk verlassen mußte. Der Fahrersitz war auf die niedrigste Position heruntergedreht, und das geschlossene Luk über seinem Kopf sperrte die Außenwelt bis auf den schmalen Sehschlitz vor ihm aus. Fast zehn Zentimeter dickes, kugelsicheres Panzerglas und siebzig Millimeter dicke Stahlplatten schützten ihn vor direktem Beschuß. Der gesamte Vorbau des Tanks bestand aus massiven Panzerplatten, so daß der Fahrer in seinem Abteil relativ sicher war. Nur wenn der Tank Feuer fing und die Kanone im niedrigsten Winkel nach vorn zeigte und so den Fahrer am Aussteigen hinderte, wurde es gefährlich. Zynische Panzerfahrer behaupteten, nur aus diesem Grunde hätte man sie mit einem Revolver ausgerüstet – um einen angenehmeren Tod zu finden, als bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

›Verdammt, warum denke ich ausgerechnet jetzt an so was‹, dachte Barnes. Jetzt erlebte er selbst einmal, was der arme Reynolds manchmal durchgemacht haben mußte.

Der Sergeant konnte nur beten, daß Colburn mit einer Mills-Handgranate umgehen konnte, wenn es nötig war. Der Kanadier hatte ihm erzählt, ein britischer Staff-Sergeant habe ihm ihre Funktionsweise auf einem Bombenübungsplatz erklärt, und Barnes konnte sich Colburns Interesse für den Mechanismus eines solchen Sprengkörpers vorstellen.

Trotzdem…

»Barnes.« Colburns Stimme drang klar aus dem Kopfhörer.

»Wir nähern uns einem Platz. Nach Ihrer Skizze müssen wir quer drüber, was weiter auch kein Problem wäre. Aber ich sehe Lichter. Fahren Sie mal weiter, ich bleibe in der Leitung.«

Oben im Turm starrte Colburn angestrengt nach vorne. Die Lichter schimmerten durch die Äste von ein paar Bäumen, die sich auf dem von Häusern gesäumten Platz in den grauenden Morgen reckten. Die Lichter bewegten sich nicht. Colburn sah keine Soldaten, nicht das geringste Anzeichen von Gefahr. Nur die Lichter kamen näher.

Barnes hatte ihm erzählt, daß, soweit er das bei der Patrouille mit Jacques hatte erkennen können, alle Zivilisten aus dem Ort evakuiert worden waren. Was durchaus Sinn machte, da die Deutschen das Dorf als Ausgangspunkt für eine neuerliche Offensive benutzten. Barnes und der Junge waren bis zum Haus von Jacques’ Vater vorgedrungen, hatten aber niemanden angetroffen. Mit anderen Worten, jedes Lebenszeichen bedeutete eine Gefahr für sie.

Sie näherten sich dem offensichtlich verlassenen Platz, und Colburn beugte sich von einer Seite zur anderen, um besser sehen zu können. Da war etwas – und im nächsten Moment sah er sie.

»Barnes, am anderen Ende des Platzes stehen ein paar Kräder mit Seitenwagen. Die Scheinwerfer brennen, aber niemand ist zu sehen.«

Barnes brachte den Motor auf eine höhere Drehzahl und starrte nach vorn, wo die Panzerscheinwerfer schon die Straße hinter dem Platz beleuchteten. Er saß eingezwängt zwischen Kisten mit Sprengkapseln, und die Nähe der Explosivkörper trug nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei. Trotzdem hatte er darauf bestanden, die Kisten einzuladen, um die Wucht der rollenden Bombe zu vergrößern. Jetzt fragte er sich, ob diese Entscheidung wirklich so gut gewesen war. Wie Colburn behauptete, waren britische Sprengkapseln sehr instabil. Die Deutschen benutzten Trotyl, das wesentlich sicherer war. Und Colburn mußte es ja wissen.

Sie hatten den Platz schon zur Hälfte überquert, und im Unterbewußtsein wartete Barnes auf Colburns Stimme – die nur Ärger bedeuten konnte. Die dunkle Straßeneinmündung flog auf ihn zu. Sie hatten den Platz hinter sich.

Gepreßt kam Colburns Stimme über den Hörer.

»Sie kamen gerade heraus, als wir den Platz verließen. Zwei Deutsche. Sie blieben stehen und starrten uns ein paar Minuten nach. Dann sprangen sie auf eins der Kräder.«

Barnes schaute nach vorn. Der Tanz begann früh – fast zu früh. Weiter vorn lag eine Linkskurve. Er mußte das Tempo stark drosseln, um sie zu passieren, und gerade jetzt, wo sich ihnen dieses Motorrad an die Fersen heftete, war der am wenigsten geeignete Moment, um die Geschwindigkeit wegzunehmen. Er wünschte sich sehnlichst, das Interkom wäre ein Zweiwegsystem, um Colburn vor dem Mann im Seitenwagen zu warnen, dem Soldaten, der die Maschinenpistole hatte.

Statt dessen ertönte wieder Colburns Stimme:

»Das Krad fährt hinter uns her. Ich habe die Linkskurve vor uns gesehen. Halten Sie ruhig das Tempo, und machen Sie sich keine Sorgen. Ich komme damit schon klar.«

In Wirklichkeit war Colburn sehr besorgt. Er blickte zurück.

Der Scheinwerfer des Verfolgerfahrzeugs kam rasch näher.

Der Kanadier bemerkte die Gefahr, in der er schwebte. Wenn er aufrecht im Turm stehenblieb und das Motorrad nahe genug herankam, konnte der Soldat im Seitenwagen, der vor dem Haus die Maschinenpistole getragen hatte, ihm mühelos den Kopf wegpusten. Colburn nahm zwei Handgranaten aus der Tasche und legte eine hinter den Sprengapparat, wo sie nicht hin und her rollen konnte. Nicht viele hätten dies gewagt, doch für Colburn war der Apparat tot, bis der Schalter gedreht wurde. Mit einem Blick streifte er die Schießbaumwolle unten auf der Drehplatte.

›Laß das Ei nicht da drauffallen, Junge‹, ermahnte er sich selbst.

Er hackte den Finger in den Reißring der Granate.

›Mach’s richtig, Junge, kalkuliere die Geschwindigkeit des Tanks und das Tempo des Krades. Und wirf genau.‹

Er riß den Ring ab und zählte: eins, zwei, drei, vier.

Dann holte er weit aus und schleuderte den Sprengkörper den Verfolgern entgegen. Sofort griff er nach der zweiten Granate.

Abziehen, zählen…

Er nahm den Kopf herunter, als die erste Granate dicht vor den Deutschen detonierte und krachend die Straße aufriß. Der Blitz reflektierte an den Häuserwänden. Das Motorrad stieg hoch und riß den Seitenwagen mit sich. Die Räder drehten sich wild in der Luft, der Seitenwagen brach aus seinen Halterungen.

Colburn warf die zweite Granate ungezielt aus seiner Deckung heraus, weil er sie loswerden mußte. Im Lichtblitz der Explosion sah er das Wrack des Krades mitten auf der Straße. Sogar der Scheinwerfer war zerborsten.

Erleichtert stieß er den Atem aus, was auch Barnes über Bordfunk mitbekam.

»Ich hab’ sie erwischt.«

Colburn lehnte sich gegen den Turmrand und wischte sich die schweißnassen Hände an seiner Fliegerhose trocken. Er hatte noch mitbekommen, wie der Mann im Seitenwagen kopfüber auf die Straße stürzte, und war froh, daß es so schnell vorbei war. Diese wenigen Minuten hatten ihn so sehr das Fürchten gelehrt, daß er beinahe einen lebensgefährlichen Fehler begangen hätte. Die Furcht hatte ihn so in ihren Klauen gehalten, daß er vergessen hatte, die feuchten Hände vorher trocken zu wischen. Die zweite Granate wäre ihm fast aus den Händen in den Turm gefallen. Allein der Gedanke an diese Situation trieb ihm wieder den Schweiß auf die Stirn, doch es war vorüber. Er war erleichtert und froh, daß er noch am Leben war.

Und das war erst der Anfang gewesen, eine Bagatelle, wenn man so wollte. Was ihnen noch bevorstand, hatte ganz andere Dimensionen…

Die Scheinwerfer fielen auf eine beschriftete Hausmauer: Restaurant de la Gare.

»Wir nähern uns dem Haus – diesem Restaurant an der Linkskurve. Ich weise Sie ein.«

Barnes hatte schon das Tempo gedrosselt und fuhr vorsichtig um die Ecke. Er hatte die Hände auf den Steuerhebeln und lenkte den Koloß entsprechend Colburns Anweisungen. Die Kurve war sehr eng, die Ketten schlitterten über das abschüssige Kopfsteinpflaster. Barnes mußte die Kehre im Kriechgang nehmen. Colburn prüfte ständig den Seitenabstand und sprach ununterbrochen ins Mikrofon. Sie schrammten fast an der rechten Hauswand entlang, dann hatte Bert die Kurve geschafft, und Barnes gab wieder Gas. Die Ketten klirrten und ratterten über die Pflastersteine.

›Das war knapp‹, dachte Colburn, ›aber wir haben das sauber hingekriegt.‹ Er blickte nach vorn und genoß das Gefühl der Erleichterung, wobei er sich fragte, was Barnes wohl empfinden mochte.

In der Nase von Bert kämpfte Barnes mit einem völlig anderen Gefühl. Er steckte in ernsthaften Schwierigkeiten. Der Sergeant fragte sich, ob sie ihr Vorhaben jemals zu Ende bringen konnten. Lähmendes Entsetzen hatte ihn gepackt. Eine der Kisten mit den Sprengkapseln hatte sich gelöst, als Barnes Bert langsam um die Kurve auf die abfallende Straße steuerte.

Er hatte die Kehre fast gemeistert, als er einen schweren Schlag an der rechten Schulter spürte. Dem Sergeant blieb gerade Zeit für einen kurzen Seitenblick. Die schwere Kiste war vorgerutscht und ragte weit über die darunterliegende Kiste hervor. Nur Barnes’ Schulter verhinderte, daß sie herunterfiel. Das Kopfsteinpflaster ließ den Tank heftig vibrieren. Auf der Fahrt hügelabwärts versuchte Barnes, die Kiste mit der Schulter in ihre ursprüngliche Lage zurückzuschieben, und fiel dabei vor Schmerz fast von seinem Sitz. Wellen von Übelkeit durchliefen seinen Körper und raubten ihm beinahe das Bewußtsein. Er biß sich auf die Lippen. Zum zweitenmal in dieser Nacht schmeckte er sein eigenes Blut auf der Zunge.

Die schwere Kiste drückte hart gegen seine Schulter, und er konnte nichts dagegen unternehmen, außer zu beten, daß sie in der nächsten Rechtskurve in ihre Ausgangsposition zurückrutschte. Fuhr er immer noch geradeaus?

Mit fast übermenschlicher Willensanstrengung konzentrierte er sich wieder auf die Straße vor dem Sehschlitz.

»Barnes, ich sehe die Kanalböschung unten am Ende des Abhangs. Wir sind auf der richtigen Straße. Gleich müssen wir nach rechts abbiegen.«

Nichts erwartete Barnes sehnsüchtiger als diese Kurve. Aber er würde den schmerzhaften Druck der schweren Kiste noch einige Zeit ertragen müssen, denn er brauchte beide Hände zum Steuern.

Wieder ertönte Colburns Stimme, wieder klang sie angespannt – erstes Anzeichen einer drohenden Gefahr.

»Da, vor uns bewegt sich was… ein Soldat in einem Hauseingang. Wahrscheinlich ein Posten. Halten Sie die Geschwindigkeit. In knapp hundert Metern biegen wir ab…«

Colburn duckte sich unter den Turmrand und wartete auf den Anruf des Postens und den Feuerstoß aus der Maschinenpistole. Die eigene Maschinenpistole hielt er schußbereit in der Hand. Der Tank ratterte über das Pflaster, die dunklen Silhouetten der Hausdächer schwebten über dem offenen Turmluk vorbei, am Himmel glitzerten Sterne. Der Mond stand tief, und Colburn spürte die Morgenkälte im Nacken. Nichts tat sich.

Schließlich hielt es der Kanadier nicht mehr aus und spähte über den Turmrand. Die Straße lag verlassen da, doch er sah deutlich den Schatten in dem Eingang, einen reglosen Schatten. Es war unglaublich. Seine Verblüffung klang deutlich durch den Kopfhörer.

»Barnes, er rührt sich nicht von der Stelle – obwohl wir in einem britischen Tank sitzen.«

›Es funktioniert‹, dachte Barnes. ›Das Überraschungsmoment wirkt.‹ Vielleicht wußte der Posten nicht viel über die unterschiedlichen Panzertypen. Vielleicht hatte man ihn von anderen Aufgaben zum Wachestehen abgezogen, und er war müde und setzte einfach voraus, daß jedes Fahrzeug mit aufgeblendeten Scheinwerfern im deutsch besetzten Lemont ein deutsches Fahrzeug sein mußte. Vielleicht war er auch im Stehen eingeschlafen. Hauptsache, die Überraschung war gelungen. Vielleicht gelang sie ihnen noch einmal.

Colburns Stimme kam erregt über die Leitung:

»Ich kann jetzt das Ufer deutlich sehen. Wir sind dicht vor der Abzweigung. Seien Sie vorsichtig, die Kurve ist sehr eng. Ich weise Sie ein…«

Barnes drosselte das Tempo fast bis auf Null. Er erinnerte sich, daß diese Kurve die schlimmste war. Die Strecke, die sie fahren mußten, war so einfach, daß er seit Verlassen des Hofes immer genau wußte, wo sie sich gerade befanden. Der Weg durchs Dorf führte immer geradeaus über den Platz, durch die einmündende Straße bis zur ersten Linkskehre und den Hügel hinunter. Unten ging’s dann rechts über die Straße am Kanalufer entlang geradeaus weiter. Wenn sie durch die Kurve kamen…

Sie waren fast durch, da passierte es. Ein harter Stoß ließ Bert erbeben, mit laufendem Motor blieb er stehen. Barnes war sofort auf die Bremse getreten. Durch die heftige Erschütterung war die Kiste mit den Sprengkapseln erneut gegen seine Schulter geprallt. Der Sergeant kämpfte gegen ein überwältigendes Schwindelgefühl an und kam infolge der Schmerzen überhaupt nicht auf den Gedanken, mit seinen momentan freien Händen die Kiste in die ursprüngliche Position zu schieben. Durch seine Benommenheit drang Colburns Stimme:

»Die Kette hat die linke Straßenmauer gestreift. Tut mir leid – mein Fehler. Wir müssen schleunigst raus hier. Der Posten kommt den Hügelhang herunter. Langsam zurücksetzen. Vorwärts kommen wir nicht weiter.«

Als Barnes vorsichtig rückwärts stieß, hörte er deutlich das Knirschen der Kette, die an der Mauer entlangschabte. Der Tank saß fest.

Der Sergeant verzog das Gesicht und dachte einige Sekunden nach. Wenn sie Pech hatten, besaßen sie bald kein Fahrzeug mehr. Er hatte einmal gesehen, wie eine Kette gerissen war und sich von den Rädern gelöst hatte. Der Panzer war noch ein paar Meter weitergefahren und hatte die Kette wie einen Teppich aus Metall ausgerollt. Wenn ihnen das passierte, war alles zu spät.

Außerdem gab es da noch das kleine Problem mit dem Posten, der die Straße herunterkam, um sich das seltsame Gefährt genauer zu betrachten. Vorwärts ging’s nicht weiter.

Also dann zurück! Barnes knirschte mit den Zähnen, legte den Rückwärtsgang ein und gab gleich Gas. Das Knirschen der Kette wurde lauter – und dann waren sie frei. Die Kette hatte gehalten.

Colburn dirigierte Barnes ruhig um die Kurve, und sie folgten der Straße, die einsam und verlassen im Scheinwerferlicht lag.

Barnes warf einen Blick auf die Uhr, die er sich von Colburn geliehen hatte. 3.30 Uhr.

Oben im Turm legte Colburn den Revolver neben den Sprengapparat und wischte sich die Hände trocken. Für einen einzelnen Soldaten war der Revolver die bessere Waffe. Er warf noch einen Blick zurück zu der gefährlichen Ecke und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Weg vor sich, gab Barnes gelegentlich Instruktionen, um den Panzer in der Straßenmitte zu halten.

Zu seiner Rechten dehnte sich die glatte Vorderfront zweistöckiger Reihenhäuser, deren Fenster im Obergeschoß sich auf gleicher Höhe mit dem Turm befanden. Zu seiner Linken verlief die Uferböschung des unsichtbaren Kanals, eine steile Böschung von mindestens sechs Metern Höhe, die den Blick aufs offene Land versperrte. Vor ihm lag die Straße, ein dunkler, menschenleerer Hohlweg in den tanzenden Scheinwerferkegeln. Die ganze Szenerie wirkte unheimlich, und die Anspannung zerrte an Colburns Nerven. Jeden Augenblick konnte der Tanz losgehen.

Barnes dachte ähnlich, doch seine Gedanken wurden von den Schmerzen überlagert, die inzwischen seinen ganzen Körper peinigten. In erster Linie war es die Schulterwunde, die vom Aufprall der Kiste mit den Sprengkapseln am meisten in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der Schlag mit dem Gewehrkolben, durch den er in Gefangenschaft geraten war, hatte an seinem Hinterkopf eine dicke Beule hinterlassen. Sein linker Handrücken mit den Verbrennungen fühlte sich seltsam taub an, als ob er nicht mehr zum Arm gehörte und frei in der Luft schwebte. Und dann war da noch die überwältigende Müdigkeit, die ihm die Sinne trübte. Nur die starken Schmerzen hielten ihn wach.

Mechanisch bediente er die Steuerhebel und die zwei Fußpedale – die Kupplung für die Gänge links und das Gaspedal auf der rechten Seite. Vor ihnen stieg die Straße fast bis zum Kanalufer an und senkte sich dann wieder zum nächsten Hügel…

Colburns angespannte Stimme drang durch den Kopfhörer:

»Wir fahren an der Kanalböschung entlang. Links ist eine Häuserreihe. Nirgends ein Anzeichen von Gefahr.«

So sah es auch Barnes. Sollten sie wirklich ein solch unverschämtes Glück gehabt haben? Sie fuhren jetzt schon durch die Außenbezirke von Lemont. Der Ort endete an der Uferböschung; dahinter lag offenes Land. Jacques hatte Barnes erklärt, dies sei eine Nebenstraße mit wenig Verkehr; deswegen hatten sie sich für diese Route entschieden. Und jetzt hatten sie schon hinter sich, was Barnes als den schwierigsten Teil ihrer letzten Operation bezeichnet hatte – ihren Vorstoß quer durch das ganze Dorf. Was jetzt noch vor ihnen lag, war nicht mehr der Rede wert, und es schien, als ob sie unangefochten den Flugplatz erreichen würden.

In Gedanken sah er schon das flache Feld vor sich. Auf dieser Straße waren sie zu dem verlassenen Haus von Jacques’ Vater geschlichen und dann aus Sicherheitsgründen quer über die Felder auf der anderen Seite des Kanals um den Ort herumgewandert… Der Sergeant hörte plötzlich einen einzelnen Schuß, dann noch einen.

Colburn hatte Mühe, die ganze Umgebung gleichzeitig im Auge zu behalten – die Straße vor und hinter sich, die Häuserreihe rechts und den Schatten der Uferböschung links, die sich dunkel gegen das heraufdämmernde Tageslicht abhob.

Automatisch wollte er auf die Uhr schauen und erinnerte sich, daß er sie Barnes geliehen hatte. Die Oberkante der Uferböschung senkte sich, als sie hügelaufwärts fuhren. Bald würde er über den Kamm schauen können. Der Kanadier ließ den Blick langsam über die Häuserfront wandern. Die dunklen Fenster in den oberen Stockwerken waren sehr nah. Von dort schien keine Gefahr zu drohen, trotzdem nahm er den Revolver in die Hand. Die Waffe verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Der Überfall kam so plötzlich, daß der Schreck ihm den Atem raubte. Ein Fenster im Obergeschoß eines Hauses flog auf. Der Vorhang mußte direkt am Rahmen angebracht sein, denn heller Lichtschein fiel jetzt auf die Straße und den Tank.

Ein deutscher Soldat steckte seinen Kopf mit dem puddingförmigen Helm heraus. Der Mann stieß einen überraschten Ruf aus, langte hinter sich und hob eine Maschinenpistole hoch. Colburn reagierte sofort und feuerte zweimal. Der Deutsche kippte langsam aus dem Fenster und stürzte in den Garten hinunter.

»Barnes, ein Jerry hat ein Fenster geöffnet und uns gesehen. Ich war aber schneller als er.«

Diesmal wünschte sich Colburn das Interkom als Zweiwegsystem. Es war, als redete man mit einem Gespenst.

»Wenn es im Haus ein Telefon gibt, haben sie uns bald am Wickel. Vielleicht hatte der Bursche aber nur ein Stelldichein mit einem Mädchen und hat in seiner Eile vergessen, den Helm abzunehmen«, versuchte er zu scherzen.

Barnes lächelte grimmig über den Witz. Schön, wenn es so wäre: Das Mädchen könnte dann einen Nachbarn zu Hilfe holen und mit ihm die Leiche des Soldaten in den nahen Kanal werfen. Doch das war unwahrscheinlich, denn das Dorf war offensichtlich evakuiert worden. Sie gingen besser davon aus, daß die Deutschen jetzt gewarnt waren.

Bald mußten sie die Hügelkuppe erreichen, ganz in der Nähe der Stelle, an der Barnes mit Jacques den Kanal auf einem großen Lastkahn überquert hatte.

War da oben schon wieder was im Gange? Er spürte fast körperlich, wie Colburn den Atem anhielt.

Colburn vergaß tatsächlich zu atmen. Die Häuser und die Uferböschung waren plötzlich Nebensache. Sie hatten die Hügelkuppe erreicht, und er starrte gebannt geradeaus. Sein Mund wurde trocken vor Furcht, einer Furcht, wie er sie auf ihrer ganzen Fahrt durch Lemont noch nicht erlebt hatte.

Von der Hügelkuppe hatte er freie Sicht über die Straße vor sich. Eine endlose Lichterkette rollte auf ihn zu, und der Himmel hinter dem nächsten Hügel reflektierte den Lichtschein von der Straße. Kein Zweifel, eine Panzerkolonne näherte sich ihnen – vielleicht sogar mit dem Auftrag, sie abzufangen. ›Mein Gott‹, dachte Colburn, ›und ich glaubte schon, wir hätten es geschafft. Jetzt ist alles aus. Vorbei!‹

»Barnes, vor uns ist der Teufel los – jede Menge Fahrzeuge, die auf uns zurollen. In ein paar Minuten dürften sie hier sein. Wahrscheinlich sollen sie uns abfangen. Müssen Panzer sein – eine ganze Horde.«

Barnes’ Reaktion überraschte den Kanadier. Er merkte, wie Bert Tempo zulegte und immer schneller den Abhang hinunterratterte, als ob Barnes den Zusammenstoß mit der Kolonne kaum erwarten könne. Im ersten Moment glaubte Colburn, der Sergeant sei verrückt geworden, doch am Fuß des Abhanges stoppte der Panzer, die Scheinwerfer erloschen.

Barnes öffnete das Luk und schob die Kiste mit den Sprengkapseln an ihren alten Platz. Dann stellte er den Sitz in eine höhere Position, so daß sein Kopf aus dem Fahrabteil ragte.

»Wie weit waren die Fahrzeuge entfernt?« rief er zu dem Kanadier hoch.

»Etwa achthundert Meter, schätzungsweise. Genau kann ich das nicht sagen.«

»Waren es vielleicht nur vierhundert?«

»Nein, mindestens achthundert. Barnes, unsere Scheinwerfer…«

»Ich habe sie abgeschaltet. Ich möchte vermeiden, daß sie uns die Uferböschung hochfahren sehen.«

»Da hinauf?«

Colburn betrachtete entsetzt den steilen Hang, der sechs Meter hoch vor ihnen aufragte. War Barnes übergeschnappt?

Vielleicht hatte der Sergeant nicht richtig verstanden, was er über die Stärke der Kolonne gesagt hatte.

»Da kommen mindestens zwanzig oder dreißig Fahrzeuge auf uns zu«, rief er vom Turm herunter.

»Hören Sie, Colburn.« Barnes’ Stimme klang erregt. »Wir werden nicht gegen sie antreten, sondern versuchen, sie zu überlisten. Ich habe mit Jacques den Kanal genau gegenüber dieser Straße hinter uns auf dem Rückweg zum Gehöft überquert. Wir gingen über einen großen Lastkahn, der ein Deck wie ein Flugzeugträger besaß. Der Kahn überbrückt fast den ganzen Kanal. Wir stoßen jetzt hier rückwärts in diese Seitenstraße und fahren dann mit Vollgas die Böschung hinauf.«

»Schaffen wir das denn?«

»Das werden wir sehen, doch uns bleibt keine andere Wahl. Es ist unsere einzige Chance. Es wird gleich hell, und wenn wir es jetzt nicht versuchen, bleiben wir auf der Strecke. Wenn wir oben ankommen, haben Sie nur einen Sekundenbruchteil Zeit, um mich genau auf den Lastkahn zu dirigieren. Ich kann erst bremsen, wenn wir den Abhang hinter uns haben. Sie müssen also verdammt schnell reagieren. Alles klar?«

»Wenn ich ›okay‹ sage, fahren Sie weiter. Sonst sage ich ›stop‹.«

Die Seitenstraße war breit genug, um ohne Schwierigkeit rückwärts hineinzustoßen. Barnes hielt kurz an und bewegte die Finger, um sie ein wenig gelenkiger zu machen. Dann fuhr er an, ohne noch lange über Erfolg oder Mißerfolg nachzudenken. Colburn mußte das ganze Unternehmen für die letzte Tat eines Irrsinnigen halten, und tatsächlich hatte Colburn im Turm alles andere als Zutrauen zu Barnes’ Vorhaben, denn dafür hätte er nach zwei Seiten gleichzeitig schauen müssen – zur Hügelkuppe hinauf, hinter der die Panzerkolonne anrückte, und hinunter zur Uferböschung, die steil wie eine Bergflanke vor Bert aufragte.

Unter Colburn ratterten die Ketten die ansteigende Böschung hoch. Sein Körper wurde durch die Schräglage gegen den hinteren Rand des Turms gedrückt. Der Sergeant raste mit mörderischem Tempo die Steigung empor. Was war, dachte Colburn, wenn der Lastkahn, der ihnen als Brücke dienen sollte, nicht an der richtigen Stelle lag? Oder der Feind tauchte auf dem Hügel auf, wenn sie gerade mitten in der Böschung hingen? Ihm fielen die Worte wieder ein, die er Barnes zu Beginn ihres Unternehmens gesagt hatte. Waren da letztlich doch zu viele Fragezeichen gewesen?

›Ich glaube nicht, daß wir es diesmal schaffen‹, dachte der Kanadier.

Barnes dagegen hatte sich entschieden und verschwendete keinen Gedanken mehr daran, ob sie es schaffen würden oder nicht. Sein schmerzumnebelter Verstand konzentrierte sich nur noch auf ein Problem – zum Kanal hinaufzufahren. Da sich der Neigungswinkel des Tanks nur in der Längsachse veränderte, verrutschten die Kisten mit den Sprengkapseln diesmal nicht.

Doch das konnte sich jederzeit ändern.

Der Tank ruckte und holperte, als die Ketten tief in den weichen Untergrund sanken und sich wieder daraus befreiten.

Barnes ließ den Motor auf hohen Touren laufen. Als sehr instabil hatte Colburn die britischen Sprengkapseln bezeichnet.

Bert neigte sich zur Seite, als die linke Kette wieder in ein tiefes Erdloch einsank. Die gleiche Kiste prallte erneut gegen Barnes’ Schulter und drückte mit ihrem Gewicht auf die offene Wunde. Der Sergeant zuckte zusammen und fluchte kräftig. Er würde diese verdammte Box aus dem Tank werfen, sollten sie je am anderen Kanalufer ankommen. Er beschleunigte, als er sah, daß sie den Uferrand fast erreicht hatten.

Colburn stand aufrecht an seinem Platz und hielt sich mit beiden Händen am Turmrand fest, wollte unbedingt so früh wie möglich erkennen, ob sie an der richtigen Stelle auf den Lastkahn stießen, den er bis jetzt nicht einmal sah. Er merkte, wie Barnes beschleunigte. Sie würden die Böschung schaffen.

Eifrig beugte er sich aus dem Turm. Sie erreichten das Kanalufer.

»Okay, Barnes, okay!«

Da lag er, der Lastkahn. Sie schossen genau darauf zu. Der Tank hing für einen Sekundenbruchteil mit den Vorderketten in der Luft und sackte dann auf den Boden, durchquerte einen schmalen Wasserstreifen und rollte mitten auf das flache Deck.

Der Kahn schwankte unter dem Gewicht.

Barnes fuhr Bert bis in die Mitte. Plötzlich starb der Motor ab.

Colburn verschlug es die Sprache. Jetzt saßen sie fest, im Sichtfeld der feindlichen Panzer, die sicher schon den letzten Hügel emporkrochen. Er hörte, wie Barnes immer wieder zu starten versuchte. Er schaute zur Hügelkuppe hinüber. Noch war nichts zu sehen, doch die Kolonnenspitze konnte nicht mehr weit sein. Er konnte sich die Szene klar und deutlich vorstellen: Der erste schwere Panzer erreichte die Hügelkuppe, entdeckte die Silhouette des Feindpanzers, die sich deutlich gegen den Morgenhimmel abhob, gab die Meldung über Funk weiter an die folgenden Panzer, die dann mit geladener Kanone…

Colburn bemerkte überrascht, wie sich seine Hand um den Revolver krampfte, und versuchte, sich etwas zu entspannen.

Sein Blick streifte den Sprengapparat im Turm und wanderte dann wieder zur Hügelkuppe, hinter der der Tag aufdämmerte, während Barnes vergeblich versuchte, den Motor zu starten.

Der Blick des Kanadiers wanderte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Straße lag immer noch verlassen da. Wer hatte ihnen die Kolonne auf den Hals gehetzt?

Wahrscheinlich die zweite Motorradstreife auf dem Platz.

Der Motor röhrte auf, der Tank rollte vorwärts über den Kahn und die andere Uferböschung hinunter. Unten beschrieb Barnes eine weite Kehre, stoppte Bert parallel zum Kanal, stellte den Motor ab und kletterte eilig aus dem Fahrerabteil.

»Ich dachte schon, wir blieben da oben hängen. Noch nichts von der Kolonne in Sicht? Sehr gut. Kommen Sie herunter, Colburn, und helfen Sie mir mit dieser verdammten Kiste hier.«

Der Sergeant warf einen Blick auf die Uhr. 3.40 Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Punkt Null.

Der Boden hinter dem Kanal war fest und sicher, es gab kein Moor, das sie aufhielt, obwohl links von ihnen das Land unter Wasser stand. Der Tank rumpelte vorwärts, Barnes hockte auf seinem niedrigen Fahrersitz. Das Luk über ihm war geschlossen. Er fuhr den gleichen Weg, den er mit Jacques gegangen war. Die nächsten zwanzig Minuten würden entscheiden, ob die 14. Panzerdivision das ahnungslose Dünkirchen überrollte oder ob sie den Deutschen einen solchen Schlag versetzen konnten, daß eine Offensive unmöglich wurde.

»Ich glaube, da ist die Kanalunterführung«, sagte Colburn.

Diese Unterführung war das Ziel ihres ›Ausflugs‹. Colburn hatte das Unternehmen so bezeichnet, ehe Barnes mit Jacques zu ihrem Erkundungsgang aufgebrochen war. Dabei war zwar Reynolds auf der Strecke geblieben, doch ohne diese Patrouille hätten sie ihr Ziel niemals erreicht. Unterhalb eines Streifens freien Feldes lag der Flugplatz mit dem riesigen Munitionsdepot und dem Nachschublager für die Panzer. Mit zusammengepreßten Lippen spähte Barnes durch den Sehschlitz. Bert rollte in den beginnenden Tag.

Der Sergeant merkte, daß er unwillkürlich die Geschwindigkeit erhöhte. War die Unterführung breit genug?

Er hatte die Breite abgeschritten, als er mit Jacques hier gewesen war. Zur Not würde Bert gerade hindurchpassen. Er mußte – die Unterführung war der einzige Zugang zum Flugfeld von dieser Seite des Kanals aus.

Das erste Tageslicht fiel durch den Sehschlitz, und Barnes hoffte inständig, daß die Sicherheitsposten inzwischen nicht verstärkt worden waren. Doch die Deutschen verließen sich bestimmt auf die Kolonne, die den Eindringling abfangen sollte. Der Sergeant fragte sich, wie sich Colburn in diesen möglicherweise letzten Minuten seines Lebens fühlen mochte.

Im Turm spähte Colburn nach Osten, wo die Dämmerung am Horizont emporkroch. Eine halbe Stunde später hätten sie den Ort niemals unangefochten durchqueren können. Und selbst wenn sie das geschafft hätten, wäre die 14. Panzerdivision dann schon unterwegs gewesen.

Sollte es tatsächlich klappen? Er betrachtete den Sprengapparat mit einem Gefühl der Verwunderung. Ihm war plötzlich bewußt, daß er innerhalb einer Stunde oder sogar noch früher tot sein konnte. Ein merkwürdiges Gefühl, das ihn erschauern ließ.

Die Luft war sehr kalt; von den Feldern stiegen weiße Nebelschwaden auf. Diesen Frühnebel kannte Colburn von den Feldern in der Umgebung von Manston. Doch Manston verblaßte, und vor ihm lag die Unterführung.

Sie schien viel zu eng für Bert. Gerade breit genug, um einen Bauernkarren durchzulassen. Der Kanadier empfand bittere Enttäuschung. Im letzten Moment durchkreuzte eine zu enge Unterführung ihren Plan. Es brachte auch nichts, die Böschung wieder hinaufzufahren. Sie war viel zu steil, und außerdem blieb dann immer noch der Kanal. Colburns Enttäuschung schwang deutlich in seiner Stimme mit.

»Barnes, die Unterführung ist viel zu eng, da bin ich ganz sicher.«

Der Tank beschrieb einen weiten Halbkreis. Barnes steuerte ihn frontal auf die Unterführung zu. Durch den Sehschlitz erkannte er, daß über dem Feld hinter dem Kanal dichter Nebel hing. Er würde sie gegen die Sicht der Deutschen decken.

Colburn gab es auf, den Sergeanten überzeugen zu wollen, und dirigierte ihn, so gut er konnte, auf die Unterführung zu.

Der Abstand zwischen den Steinmauern und der Frontpartie von Bert wurde immer kleiner. Der Boden war sehr uneben, und Barnes hatte alle Mühe, die Anweisungen des Kanadiers genau zu befolgen. Er befand sich dicht vor der Unterführung, als Colburn ihn anhalten ließ. Bert stand viel zu weit rechts.

Barnes setzte zurück und veränderte den Fahrtwinkel um eine Spur. Er starrte angespannt durch den Sehschlitz und versuchte, nicht an die rasch verrinnende Zeit zu denken.

Diesmal mußten sie durch. Er hörte das plötzliche Schaben und Kratzen von Metall auf Stein, der Tank erbebte und blieb abrupt stehen, als Barnes auf die Bremse trat. Vielleicht ging’s doch nicht. An diesem Hindernis konnten sie scheitern, selbst bei Tag. Der Sergeant schob das Luk zurück und steckte den Kopf heraus. Von oben wanderte der Strahl einer Taschenlampe über die Mauern der Unterführung.

Der heftige Stoß hatte Colburn erschreckt, und er versuchte mit Hilfe der Lampe, ihren Standort zu klären. Sie waren natürlich gegen die linke Wand gefahren, hatten die Anfahrt zu weit nach links korrigiert. Aber konnten sie überhaupt noch zurück? Der Kanadier leuchtete über das Heck. Zwischen Wand und Kette war ein Spalt von etwa zehn Zentimetern.

Theoretisch war es also möglich, zurückzusetzen, doch sie würden viel Glück brauchen, um die Unterführung in diesem ungewissen Licht hinter sich zu bringen.

Von oben rief er Barnes zu:

»Hinten sind etwa zehn Zentimeter Platz, wahrscheinlich aber weniger.«

»Dann schaffen wir’s, vorausgesetzt, die Ketten halten.«

»Das wäre ein Wunder.«

»Vielleicht geschieht eins – extra für uns.«

Zum zweitenmal setzte Barnes zurück und konzentrierte sich auf die Bedienung der Steuerhebel. Die metallenen Ketten schabten an der Wand entlang, doch zumindest war Bert wieder in Bewegung. Das nervtötende Knirschen verstummte schließlich, und sie kamen aus dem engen Tunnel frei. Diesmal mußten sie es schaffen. Colburn dirigierte Barnes ein kurzes Stück zurück, gab dann aber keine Anweisungen mehr. Wenn Barnes jetzt die unmerkliche Richtungsänderung nicht selbst schaffte, würden sie an der anderen Wand hängen bleiben.

Colburn stützte sich auf den Turmrand, leuchtete mit seiner Lampe die rechte Seite aus, um sicherzugehen, daß Barnes den Anfahrtwinkel nicht zu stark verändert hatte, und kümmerte sich nicht um die andere Seite. Wenn die rechte Kette nicht die Wand berührte, mußte es klappen. Der Kanadier war so in seine Beobachtung vertieft, daß er dafür beinahe sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Erst im letzten Augenblick dachte er an den Tunnelbogen und tauchte gerade noch rechtzeitig in den Turm.

Ein neues Problem beschäftigte ihn nun: Paßte der Turm durch den Bogen? Er streckte die Hand nach oben aus. Seine Finger streiften das Gestein. Der Tank rumpelte vorwärts. Sie hatten fast das Ende der Unterführung erreicht, als das Kratzen und Schaben wieder einsetzte. Barnes beschleunigte, und sie schossen hinaus aufs freie Feld, auf dem der Nebel im Glühen des neuen Tages aufleuchtete.

Barnes hielt den Tank kurz an, stellte den Motor ab und lauschte. Die dichte Nebelbank löste sich langsam auf, und er hörte das stakkatohafte Brummen von Bohrmaschinen.

Wahrscheinlich eine Panzerreparaturwerkstatt. Aber da war noch ein anderes Geräusch, das Rattern von Panzerketten.

Barnes war sich da verdammt sicher. Mit ein wenig Glück übertönten diese Geräusche Berts Brummen bis zum letzten Augenblick. Der Sergeant blickte auf die Uhr. 3.48 Uhr. Noch zwölf Minuten, dann setzten die Panzer zum letzten Sturm an.

»Der Nebel löst sich auf«, sagte Colburn leise. »Ich kann schon den Hangar mit dem Munitionslager sehen. Ich bleibe solange wie möglich hier oben und beobachte dann durch das Periskop weiter.«

»Das dürfte in der Tat Ihrer Gesundheit etwas besser bekommen.«

»Im Ernstfall werde ich das Besa bedienen – im Umgang mit Maschinengewehren war ich schon immer gut. Der Nebel verzieht sich verdammt schnell. Der Hangar liegt genau vor uns. Viel Glück, Barnes. Fahren Sie los!«

»Danke für Ihr Kommen, Colburn, danke für Ihre Hilfe.«

›Die Worte hören sich verdammt abgedroschen an, aber irgend etwas mußte ich doch sagen‹, dachte Barnes und schloß das Luk des Fahrerabteils.

Auf dem ebenen Grund kam der Panzer gut vorwärts und durchstieß immer schneller die Nebelschwaden. Colburn spürte eine entsetzliche Angst an seinen Eingeweiden nagen, trotzdem blieb er auf seinem Posten und schaute zu einer ziemlich steilen Anhöhe hinüber, die sich dicht hinter dem Hangar erhob. Dahinter zeichneten sich die Dächer einiger Häuser undeutlich im Morgennebel ab. Wie Barnes erzählte, hatten er und Jacques von diesem Hügel auf das Flugfeld hinabgesehen, von dort aus hatten sie die dicht an dicht geparkten Panzer entdeckt, die ganze Streitmacht, die General Storch gegen Dünkirchen werfen wollte.

Etwas abseits sah Colburn den Stacheldrahtverhau des Depots, mit dem man diesen Bereich von dem Flugfeld abgegrenzt hatte. Sein Herz machte einen Sprung. Hinter dem Tanklager entdeckte er unzählige niedrige Schatten.

Die schweren Kampfpanzer, das Herz der 14. Panzerdivision.

Der Ausgangspunkt der Offensive lag vor ihnen.

Rasch wies er Barnes auf einen neuen Kurs ein, der sie auf direktem Weg zum Eingangstor des Hangars führte, dem sie sich von der Seite näherten. Colburn verzichtete darauf, in den Turm zu klettern und das Luk zu schließen. Sie brauchten einen klaren Überblick. Er hob die Maschinenpistole und vergaß beinahe seine Furcht vor dem Holocaust, der sie erwartete. Er sah so vieles, auf das er sich jetzt konzentrieren mußte.

Ein Panzerwagen parkte in der Nähe des Hangars, etwas abseits stand ein zweites Fahrzeug, das ihm seltsam vertraut vorkam. Links davon schemenhafte Bewegungen im Nebel.

Der Kanadier erkannte den Wagentyp: Es war einer dieser riesigen Transporter mit einem Panzer auf der Ladefläche.

Im gleichen Augenblick bemerkte er auch die ersten Deutschen – kleine Gestalten, die im Schein einiger abgeschirmter Lampen auf der Ladefläche arbeiteten. Seine Hand umklammerte die Maschinenpistole fester. Bert rollte immer näher.

Wieso hatten die Brüder sie noch nicht entdeckt? Im Nebel tanzten seltsame Funken, der Kanadier bemerkte ein violettes Glühen. Offensichtlich arbeiteten sie mit Schweißgeräten, und das Lärmen ihrer Werkzeuge hatte Berts Motorengeräusch übertönt. Niemand schien von ihrem Näherkommen Notiz zu nehmen.

Der Drahtverhau lag dicht vor ihnen, und Nebelfetzen trieben hinter den Stacheldrahtschleifen. Es war reiner Zufall, daß Colburn den Kopf drehte und so die Bewegung dicht am Boden vor dem Verhau bemerkte. Im unsicheren Licht der Dämmerung entdeckte er einen rechteckigen Schutzschild und den Schatten eines langen Rohres, das in ihre Richtung schwang. Der Richtschütze hatte sein Opfer noch nicht im Visier.

Colburn ließ sich ins Kampfabteil hinuntergleiten und auf den Sitz des Kanoniers fallen, hängte seinen Arm in die Lederschlaufe der Kanone und packte mit der anderen Hand den Hebel der Traverse. Der Turm schwenkte zu schnell und zu weit, Colburn mußte eine Korrektur vornehmen. Sein Auge klebte förmlich an der Linse des Teleskops.

Beide Waffen – die Feldhaubitze und Berts Zweipfünder – waren jetzt auf das jeweilige Opfer gerichtet. Colburn hatte den Schutzschild im Fadenkreuz. Er mußte unbedingt als erster schießen. Trotzdem senkte er erst noch das Rohr um ein paar Grad und riß dann den Abzug durch. Der Panzer bockte heftig bei dem Rückstoß.

Großer Gott! Die Sprengkapseln! Jeden Moment mußte sich Bert in seine Einzelteile auflösen – aber der Tank rollte weiter.

Colburn schwenkte den Turm, um das Zielobjekt wiederzufinden, sah aber nur eine weiße Rauchwolke.

Volltreffer!

Schnell kletterte er wieder in den Turm hinauf und schaute sich um. Der Tank hatte den Stacheldrahtverhau erreicht und überrollte die Drahtschlingen. Von der Feldhaubitze war nichts mehr zu sehen.

Von dieser Sekunde an erlebte der Kanadier die Ereignisse nur noch als kaleidoskopartige Aneinanderreihung von Eindrücken, während er Barnes automatisch zum Tor des Hangars dirigierte.

Aus dem Nichts tauchten Männer auf und liefen zu dem abgestellten Panzerwagen hinüber. Colburn registrierte die Gefahr, hob die Maschinenpistole und zielte sorgfältig. Er riß den Abzug durch und schwenkte den Lauf von einem Punkt in der Nähe des Panzerwagens nach außen, überzog die Soldaten mit einem Kugelhagel und mähte sie nieder, ehe sie den Panzerwagen erreichten. Drei Mann stürzten getroffen zu Boden, der vierte rannte weiter, blieb abrupt stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen, warf die Arme hoch und sackte zusammen. Rasch legte Colburn ein neues Magazin ein. Der Tank rumpelte vorwärts, passierte in wenigen Zentimetern Abstand den Panzerwagen und fuhr auf ein Maschinengewehr zu, hinter das sich ein Soldat aus dem Hangar geworfen hatte.

Colburn duckte sich. Die Kugeln schlugen gegen die Turmpanzerung. Der Tank beschleunigte, der tonnenschwere Koloß überrollte Mensch und Waffe und zermalmte beide unter seinen Ketten.

Sie hielten auf den Panzertransporter zu. Colburn fielen die Männer wieder ein, die dort mit Reparaturen beschäftigt waren. Er hob seine Waffe und bestrich die Ladefläche mit einem langen Feuerstoß. Ein paar Männer bäumten sich auf und kippten über die Seite. Einem Soldaten gelang es, den Abzug seiner Maschinenpistole durchzuziehen, ehe ihn eine Kugel erwischte. Der Deutsche stürzte flach aufs Gesicht, seine Maschinenpistole rutschte unter die Kette des Panzers.

Colburn fühlte eine plötzliche Taubheit in seiner linken Schulter und wußte, daß er getroffen war. Hinter dem defekten Panzer tauchte eine barhäuptige Gestalt im Overall auf und sprang auf den Panzer.

Colburn hatte das Magazin seiner MP leergeschossen. Er ließ die Waffe auf den Turmrand fallen und griff nach dem Revolver. Der Soldat im Overall reckte eine Hand zum Wurf.

Colburn hob die Pistole und schoß ihm direkt ins Gesicht. Der Deutsche fiel vom Panzer und wurde von den Ketten überrollt.

»Wir sind gleich da. Halten Sie sich stur geradeaus…«, rief der Kanadier atemlos ins Mikro.

Die Panzer machten Barnes Sorgen. Er wußte, was sie anrichten konnten. Sie mußten den Hangar erreichen, ehe die Deutschen ihre schweren Geräte auffuhren. Ohne Ladekanonier für den Zweipfünder hatte Colburn nicht den Hauch einer Chance gegen sie, selbst wenn er einen von ihnen erledigen konnte. In seinem Fahrabteil hatte der Sergeant den Abschuß der Feldhaubitze nicht bemerkt. Er konzentrierte sich voll und ganz aufs Fahren. Sie mußten das Überraschungsmoment nutzen und die Deutschen schwächen, wo sie konnten.

›Jetzt rücken wir Ihnen auf die Pelle, General Heinrich Storch‹, dachte Barnes grimmig.

Colburn hielt sich wacker. Der Sergeant hörte die MG-Kugeln von der Hülle abprallen. Es klang wie das Summen angriffslustiger Wespen. Seine Stirn und seine Hände waren feucht von Schweiß. Unter der Nervenanspannung dieser letzten Kraftanstrengung spürte er kaum noch die Schmerzen.

Sie hatten es gleich geschafft! Wenn sie jetzt von einem panzerbrechenden Geschoß getroffen würden, ging Berts zusätzliche Ladung hoch, und mit ihr wahrscheinlich auch das Munitionsdepot und das Tanklager. Doch Barnes wollte sicher sein, absolut sicher. Er mußte mit Bert durch das Tor.

Durch seinen Sehschlitz sah er Männer um die Ecke des Gebäudes laufen. Hatte Colburn sie auch entdeckt?

Colburn sah sie ebenfalls und schob unbeholfen ein neues Magazin in die Maschinenpistole. Er beugte sich über den Turmrand, drückte die Waffe fest gegen die rechte Schulter und hob den Lauf. Die MP war schwer wie eine Kanone, der Tank schien wie ein Schiff bei schwerer See zu schwanken.

Die linke Schulter begann zu klopfen, Schmerzwellen durchliefen seinen Körper wie die Vibrationen einer zu straff gespannten Violinsaite. Müde hob er den Lauf noch ein Stück an, riß den Abzug durch und feuerte eine lange Salve auf die herbeieilenden Soldaten.

Sie liefen zu dicht nebeneinander, hatten nicht mehr rechtzeitig ausschwärmen können. Colburn schoß sie ab wie die Hasen. Nur einer erwiderte ziellos das Feuer mit ein paar Schüssen, doch die Kugeln zwitscherten harmlos am Tank vorbei, der auf die Deutschen zuraste. Colburn sackte über dem Turmrand zusammen, versuchte krampfhaft, die Waffe festzuhalten, die zwischen Brust und Turmrand gerutscht war und jeden Moment ins Innere zu fallen drohte. Der Kanadier kämpfte verzweifelt gegen eine Ohnmacht an.

Barnes erreichte das Ende des Gebäudes, bremste die rechte Kette ab und vollführte eine Linkskehre, fuhr noch ein paar Meter und stoppte Bert im weit geöffneten Tor des Hangars.

Colburn erfaßte dumpf, daß sie am Ziel waren, hob den Kopf und ließ den Blick kurz über die gestapelten Kisten des Munitionsdepots wandern. Sein Instinkt schien noch zu funktionieren, denn er drehte den Kopf in die richtige Richtung und bemerkte im letzten Moment die Gefahr.

Eine Gruppe behelmter Gestalten rannte um die Ecke des Hangars. Er packte die MP, preßte sie gegen die rechte Schulter und feuerte in den heranstürmenden Haufen.

Es war das reinste Massaker, die Männer in der ersten Linie stürzten zu Boden, die nachdrängenden Kameraden trampelten über sie hinweg und starben ebenfalls in dem tödlichen Kugelhagel.

Das Magazin war leer. Colburn wußte, daß er nicht mehr in der Lage war, die Waffe neu zu laden. Über die toten Soldaten hinweg sah er einen dunklen, bulligen Schatten vom Lager auf Bert zukriechen.

»Panzer fahren auf… nicht vergessen… Luk schließen…«, flüsterte er ins Mikro.

Dabei ließ er den Blick wandern und starrte benommen über die riesigen Kistenstapel mit Granaten und Munition.

Es war sein letzter Eindruck von dieser Welt. Hinter einem Stapel hob ein deutscher Soldat sein Gewehr und tötete Colburn mit dem ersten Schuß. Die MP rutschte dem Kanadier aus der Hand und verfehlte Barnes, der gerade mit dem Revolver in der Hand aus seinem Abteil kletterte, um Haaresbreite. Der Sergeant blickte sich blitzschnell um, hob die Waffe und gab zwei Schüsse ab. Der Deutsche sackte zusammen.

Barnes sprang zu Boden, lief hinter dem Tank herum und kletterte nach einem raschen Blick auf Colburn in den Turm.

Der Kanadier, der nur mal eben für ein paar Stunden vorbeischauen wollte, hatte nun ein Loch in der Schläfe.

Barnes rutschte auf den Sitz des Kanoniers, sprang aber sofort wieder fluchend hoch, weil die Kanone nicht geladen war. Mit Schwung schob er eine neue Granate ins Rohr, vergewisserte sich, daß der Verschluß einrastete, setzte sich wieder auf seinen Platz und schwenkte den Turm. Mit der Schulterschlaufe hob er den Lauf der Kanone um ein paar Zentimeter.

Hinter dem Drahtverhau tauchte der erste Panzer auf und kroch wie ein riesiger häßlicher Käfer vorwärts – ein Anblick, den Barnes während des Feldzuges schon so oft erlebt hatte.

Er riß den Abzug durch. Bert erbebte unter dem Rückstoß.

Die Granate schlug genau ins Ziel, der deutsche Panzer blieb brennend liegen. Bert hatte seinen ersten Gegner geknackt.

Barnes stieg in den Turm und betrachtete die Sprengbox.

Ringsum war es plötzlich totenstill. Ohne Zögern packte der Sergeant den Griff und drückte ihn nach unten.

Nichts geschah. Barnes hatte vergessen, den Schalter zu betätigen. Er steckte den Kopf aus dem Turm und schaute sich um. Außer dem brennenden Panzer war nichts von den Deutschen zu sehen. Ohne lange zu überlegen, packte der Sergeant die Sprengbox und die Drahtrolle, stieg auf das Chassis herab, schloß das Turmluk, sprang zu Boden und begann den Draht abzuwickeln, der durch den Schießschlitz im Turm verschwand. Barnes spähte um die Ecke, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nichts rührte sich.

Schnell eilte er außen an der Seitenwand des Hangars entlang, vorbei an den toten Soldaten, vorbei an dem Transporter, auf dessen Ladefläche ein Schweißgerät immer noch Funken versprühte, und wickelte wie ein Roboter die Drahtrolle aus.

Wie weit würde sie reichen?

In seinem schmerzvernebelten, erschöpften Zustand schien es Barnes wie ein Omen, daß er vergessen hatte, den Schalter zu drehen. Vielleicht könnte er überleben, wenn er nur nicht aufgab. Er erreichte die Hangarrückwand. Der Streifen zwischen dem Gebäude und der Anhöhe lag verlassen vor ihm.

Der Sergeant überquerte den Streifen und stieg am Hang empor, von dem aus er mit Jacques auf das Flugfeld heruntergeschaut hatte, ehe sie es bis zu der Stelle umgingen, von der aus Barnes den Hangareingang durch das Fernglas beobachten konnte. Der Sergeant hatte fast die Hügelkuppe erreicht, als in dem Erdstreifen hinter dem Hangar Mannschaftswagen bremsten. Er warf sich flach zu Boden, neben den Sprengapparat und die fast abgespulte Drahtrolle, und blieb mit zur Seite gewendetem Gesicht regungslos liegen.

Soldaten quollen aus den Lastwagen hervor und bildeten zwei Abteilungen, die auf das Kommando eines Offiziers hin an beiden Seiten des Hangars vorrückten. Barnes sprang auf, hastete das kurze Stück bis zur Kuppe empor und ließ sich in einen riesigen Bombentrichter in der Nähe der Häuser gleiten.

Er warf einen Blick auf seine Uhr – auf Colburns Uhr –, schaute dann noch einmal zum grauen Himmel empor, den er vielleicht nie mehr sehen würde, drehte den Schalter und drückte auf den Hebel der Sprengbox.

Um 3.58 Uhr flog die Welt in die Luft.

Die erste Explosion erzeugte eine Druckwelle, die aus Richtung Lemont über das ganze Armeelager hinwegfegte. Ihr folgte gleich darauf die zweite, als in dem Feuersturm der ersten die gesamte Munition des riesigen Depots in einer Kettenreaktion in die Luft flog. Die beiden Druckwellen rasten mit zerstörerischer Gewalt über das Lager hinweg, drückten die schweren Metallplatten der Panzer wie Papier zusammen und prallten mit voller Wucht gegen die Mauern des Bauernhofes, in dem der deutsche Gefechtsstand untergebracht war.

Als Meyer, aus einer Stirnwunde heftig blutend, ins Büro von Storch taumelte, fand er den General tot am Boden, eine Hand nach dem Telefon ausgestreckt, das halb verschüttet in einem Schutthaufen lag. Ein heruntergestürzter Deckenbalken hatte dem Kommandeur den Schädel zertrümmert. Meyer kniete nieder und nahm den Hörer auf. Das Feldtelefon funktionierte noch. Er verlangte Keller. Der Oberst wußte genau, was er jetzt zu tun hatte. Er mußte die Einheit vor dem Desaster bewahren, mit dem er insgeheim seit Überquerung der Maas bei Sedan auf dieser Pontonbrücke gerechnet hatte. Ihm war schon gemeldet worden, daß britische Tanks durch Lemont rollten, um sie von hinten anzugreifen, und daß eine Panzerabteilung vergeblich versucht hatte, den Feind abzufangen. Was auch immer Meyer befürchtet hatte, es war nun eingetreten.

Die gewaltige Explosion, der Storch zum Opfer fiel, war der letzte Beweis. Da keine feindlichen Flieger gemeldet worden waren, mußten die Briten irgendwo in der Nähe schwere Artillerie zusammengezogen haben. Damit hatten sie das Munitionsdepot in die Luft gejagt.

Meyer hörte eine Stimme und meldete sich.

»Keller, hier ist Meyer. General Storch ist tot. Die Briten greifen von Süden her an – ja, von Süden. Blasen Sie sofort den Angriff auf Dünkirchen ab, haben Sie verstanden? Sie haben das überflutete Land im Rücken, deshalb müssen Sie…«

Mitten im Satz brach die Verbindung ab, doch Meyer genügte es, daß Keller seinen Befehl verstanden hatte. Wieder erschütterte eine Reihe heftiger Explosionen den beginnenden Tag. Das Tanklager!

Zum erstenmal kam Meyer der schreckliche Verdacht, daß er sich doch geirrt haben könnte. Er hörte Flugzeuge, die in niedriger Höhe den Platz überflogen, und gleich darauf das Bellen der Flak. Mit einem Fluch stürzte er in den Garten hinaus.

Im gleichen Moment erhielt das Haus einen Volltreffer, ein schwerer Mauerbrocken erschlug den Oberst, die einstürzenden Wände begruben die Leiche unter sich.

Punkt 3.55 Uhr überflog Squadron Leader Paddy Browne mit seiner Staffel Blenheims die französische Küste. Seine Befehle waren ungewöhnlich allgemein gehalten, ließen ihm einen unglaublichen Ermessensspielraum. Aber schließlich war auch die ganze Situation unglaublich und ungewöhnlich. Die Evakuierung des britischen Expeditionsheeres, das die deutschen Panzer vor sich hertrieben, war in vollem Gange.

Von Minute zu Minute änderten sich die Positionen, waren ›fließend‹ geworden, wie Kriegsberichterstatter es ausdrückten. Brownes eigentliches Zielobjekt war der Eisenbahnknotenpunkt Arras, doch hatte man ihm die Wahl des Objekts freigestellt für den Fall, daß er beim Anflug feindliche Bodeneinheiten entdeckte und sie einwandfrei identifizieren konnte.

»Aber pfeffern Sie, um Himmels willen, nicht in unsere eigenen Jungs hinein«, hatte ihm der Einsatzoffizier geraten.

Browne war nicht sonderlich mit der Gegend um Gravelines und Lemont vertraut, doch als er jetzt mit seiner Staffel das Gebiet überflog, zog ein riesiger Rauchpilz am Horizont magisch seinen Blick an. Der Pilz wuchs und wuchs immer höher am Morgenhimmel empor, als sollte diese ganze Ecke von Frankreich in die Luft gesprengt werden.

Besser, wir sehen mal nach, dachte Browne, und gab der Staffel den Befehl zum Anflug. Zwei Faktoren überzeugten ihn schnell davon, daß er es mit dem Feind zu tun hatte. Fast unverzüglich setzte das Flakfeuer ein, und außerdem erspähten seine scharfen Augen unten am Boden Käfer, die wild durcheinander krochen.

Er konnte es kaum glauben, aber er glaubte es trotzdem.

Hunnenpanzer – ein ganzes Lager!

Ohne zu überlegen machte Browne von seiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch: Er befahl den Bombenabwurf. Eine Bombenlawine regnete zur Erde nieder, und als die Staffel abdrehte, rührte sich unten am Boden nichts mehr.

Brownes Kommentar beim Rückflug war typisch für ihn:

»Wie nett von ihnen, uns ein Rauchzeichen zu geben.«

Auch Lieutenant Jean Durand von der 14. Französischen Kürassiereinheit mochte im ersten Moment seinen Augen nicht trauen, als er durch das Fernglas die überflutete Region absuchte. Seine Einheit war mit der Bewachung dieses Sektors im vorgelagerten Verteidigungsgürtel rund um Dünkirchen beauftragt. Bis jetzt war’s ein ruhiger Morgen gewesen. Wie hätte es auch anders sein sollen, da Panzer noch nicht über Wasser fahren konnten. Aber wieso konnte es dieser Idiot da vorne?

Über das Feldtelefon bat er den englischen Verbindungsoffizier unverzüglich zu sich. Diesen Anblick mußte man unbedingt mit jemandem teilen.

Tief über den Lenker eines Fahrrades gebeugt, durchquerte eine einsame Gestalt die endlose Wasserfläche. Dabei hob der Fahrer nicht einmal den Kopf, als wüßte er den Weg auswendig. Barnes mußte mit gesenktem Kopf fahren, um die Straße zehn Zentimeter unter der Wasseroberfläche sehen zu können. Automatisch, ohne zu überlegen, trat er in die Pedale.

Er hatte schon seit längerem nicht mehr aufgeblickt und wußte nicht, daß er den alliierten Linien schon so nahe war.

Der englische Verbindungsoffizier, Lieutenant Miller, trat neben seinen Kameraden. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er die Uniform erkannte. Abgesehen von der Tatsache, daß der Mann da übers Wasser radelte, war das Auftauchen eines weiteren Gespenstes für ihn nichts Neues mehr, denn in der gegenwärtigen Kampflage tauchten immer mehr ausgemergelte versprengte Soldaten im Verteidigungsgürtel auf. Kanonenfutter, wie Miller sie insgeheim nannte.

Der Radfahrer hatte sich ihnen bis auf hundert Meter genähert, als beinahe ein Unglück geschah. Durand und Miller wußten nichts von der Existenz der Straße, und Barnes kannte die Strecke nicht, weil er sie noch nie vorher gefahren war. Die Straße sackte plötzlich ab, und ehe er bemerkte, was los war, stand dem Sergeant das Wasser bis zur Brust. Er fiel vom Rad, schluckte Wasser und tauchte unter. Er hustete und spuckte, als er von den beiden Offizieren herausgezogen und auf trockenes Land gebracht wurde. Barnes wollte unbedingt etwas los werden, doch Miller beruhigte ihn.

»Die Straße geht ganz durch… bis Lemont… Jerry-Panzer…«, brach es schließlich aus dem Sergeanten hervor.

»Hab’ verstanden, mein Junge. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen Sie jetzt erst mal ins Hospital.«

Barnes verbrachte zwei Tage im Dünkirchener Lazarett. Er hatte versucht, den Ärzten einzureden, er sei nur erschöpft.

Doch sie hörten nicht auf ihn, und so wartete er eine günstige Gelegenheit ab und schlich sich dann im Pyjama aus dem Hospital, das Bündel mit seinen Kleidern unterm Arm. Er brauchte eine halbe Stunde, um sich in der Ruine eines ausgebombten Hauses umzuziehen. Dann ging er bewußt aufrecht zum Strand, als sei er völlig in Ordnung – in seinem Zustand eine ungeheure Anstrengung.

Die Evakuierung lief auf vollen Touren, und er befürchtete, man würde ihn nicht mitnehmen, wenn man merkte, daß er nicht gesund war.

Die Fahrt blieb ihm nur lückenhaft im Gedächtnis, wie ein Film, den man zu schnell durch den Projektor jagt. Das endlose Warten am Strand, das dumpfe Aufspritzen des Sandes bei den Bombeneinschlägen, das überfüllte Boot, das unter dem Gewicht der Schulter an Schulter sitzenden Soldaten fast zu sinken drohte, die glatte Fläche des Kanals, als sie im Bombenhagel bei hellem Sonnenschein nach England übersetzten.

In Dover dann das gleiche Durcheinander, als die Männer einfach in Züge verfrachtet und irgendwohin transportiert wurden.

Barnes wartete stundenlang und suchte so angestrengt in dem Meer von Gesichtern, daß er manchmal selbst nicht mehr wußte, wonach er eigentlich suchte. Zweimal hatte er einen Militärpolizisten überreden können, ihn noch ein wenig warten zu lassen, und er war schon nahe daran aufzugeben. Plötzlich machte sein Herz einen Sprung. Drei Soldaten halfen einem vierten über den Bahnsteig zum wartenden Zug. Diese breiten Schultern, den Stiernacken des Humpelnden kannte Barnes nur zu gut. Reynolds! Er wollte es kaum glauben und lief hinter den vieren her.

Als die Soldaten seine Streifen bemerkten, überließen sie bereitwillig den Fahrer seiner Obhut und stiegen müde in den Zug. Reynolds stützte sich schwer auf seine Krücke und produzierte ein schwaches Grinsen.

»Die drei Typen da haben mich vor Lemont aufgelesen. Sie schoben mich auf einen der riesigen Lastwagen. Ich wurde erst wieder wach, als wir in die Sicherheitszone von Dünkirchen einfuhren.«

Sie zwängten sich in den überfüllten Zug. In diesem Moment tauchte der Militärpolizist zum dritten Male auf und fragte nach ihrem Reiseziel.

»Colchester«, antwortete Barnes.

Colchester war die Basis ihrer Einheit. Nur noch ein Gedanke beherrschte den Sergeant: Er brauchte dringend einen neuen Tank.