»Dies, Herr Süden«, sagte der Staatsanwalt, »ist ein Kontaktgespräch. Wir sind allein in diesem Raum, ein übrigens, bei allem Respekt, nicht sehr kommoder Raum; ich wusste nicht, dass Sie Ihre Vernehmungen unter derart beengten Verhältnissen durchführen müssen. Wir sind allein, Herr Süden. Wir haben eine halbe Stunde Zeit. Wenn wir mehr Zeit brauchen, werde ich sehen, was ich tun kann. Nichts wird protokolliert. Im Moment. Herr Süden?«
Dr. Michael Vester betrachtete mein Schweigen. Sein Blick fixierte meinen Mund, als hätte er anderweitige Absichten.
»Ja«, sagte ich dann.
»Ich möchte Sie etwas fragen.« Er hatte die Hände auf dem Tisch übereinander gelegt und klopfte in regelmäßigen Abständen mit dem rechten Daumen auf den linken Handrücken, möglicherweise nicht aus Nervosität oder Ungeduld, es wirkte eher wie ein Tick. »Haben Sie getrunken, diese Nacht?«
»Ja«, sagte ich.
»Wie viel haben Sie getrunken?«, sagte Vester.
»Fünf Bier«, sagte ich.
»Fünf Nulldreigläser?«
»Fünf Flaschen«, sagte ich. Es waren sieben gewesen, aber ich stand nicht unter Eid.
»Das ist sehr viel«, sagte Vester.
Sein Daumen hob und senkte sich, wir sahen uns an, vom einen Ende des rechteckigen Tisches zum anderen, wir waren uns vorher noch nie begegnet, und als er heute Morgen um halb acht vor der Tür meiner Wohnung stand, sagte er als Erstes: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.« Dann sagte er: »Leider sind die Umstände wenig erfreulich.«
Je länger wir inzwischen in dem kleinen Raum mit dem niedrigen Fenster im zweiten Stock des Dezernats saßen, desto unerfreulicher wurden die Umstände. Und ich war der Grund dafür.
»Wenn es zur Vernehmung kommt«, sagte Vester, »muss ich eine Blutprobe veranlassen. Sie wissen das.«
»Ja«, sagte ich.
Es war nicht meine Absicht, einsilbig oder verstockt aufzutreten, ich konnte nicht anders, die halbe Nacht lang hatte ich gesprochen, nun war ich erschöpft und meine Stimme ein ausgehöhltes Organ. Überhaupt befand ich mich an diesem Morgen in einer Höhle tausend Kilometer unter der Oberfläche des Tages, in einer Finsternis so weit jenseits dieses zehnten April, dass ich mir nicht sicher war, ob es mir je wieder gelingen würde, meine Stimme, meinen Schatten, meine Existenz zurückzuerlangen. Nicht einmal Sonja, deren Nähe mich in den vergangenen Stunden vor dem vollkommenen Absturz bewahrt hatte, reichte jetzt noch für eine bescheidene Rettung. Die Wände der Höhle berührten meinen Körper und überzogen meine Haut mit einer Eisschicht.
Beinah bildete die Gegenwart des Staatsanwalts eine Art gerichtsverwertbaren Beweis dafür, dass es mich noch gab. Durch ihn hatte ich einen Platz in der Wirklichkeit, solange er, irgendwo am Ende eines Tisches, mir gegenübersaß, stellte ich eine Koordinate in einem geordneten, erprobten System dar, man konnte mich sehen und ansprechen und ausfragen und verurteilen. Doch es fiel mir schwer, mich nicht selbst zu verurteilen und wegzusperren und zu vergessen.
»Hören Sie mir zu?«, fragte Vester.
»Ja«, sagte ich. »Wenn es sein muss.«
»Bitte?«
»Die Blutprobe«, sagte ich.
»Wir werden sehen.«
Der Tisch war leer. Vester hatte seine Aktenmappe auf einen Stuhl gelegt und kein Blatt herausgenommen. Und ich war, als er mich gemeinsam mit Karl Funkel und Volker Thon abholen kam, derart abwesend gewesen, dass ich vergessen hatte, meinen kleinen karierten Block und den Kugelschreiber einzustecken. Das war mir noch nie passiert. Die Utensilien gehörten zu meiner Erscheinung wie die an den Seiten geschnürte Lederhose, das weiße Leinenhemd, die Narbe am Hals und die Kette mit dem blauen Stein und dem Adlermotiv.
Auch hatte ich mich, entgegen meiner Gewohnheit, sofort hingesetzt und war nicht stehen geblieben, hatte mich nicht an die Wand gelehnt, tat, wozu der Staatsanwalt mich aufforderte. Und ich war ihm dankbar.
»Möchten Sie Mineralwasser trinken?«, sagte er.
»Nein«, sagte ich.
»Fühlen Sie sich nüchtern?«
Ich schwieg.
»Sie haben die Nacht in Ihrer Wohnung zusammen mit der Kollegin Feyerabend verbracht«, sagte er.
Ich schwieg.
»Herr Süden«, sagte er, tippte mit dem Daumen auf seine Hand und sah mich an, eine Minute oder länger, und ich erwiderte seinen Blick. »Ich möchte Sie, obwohl es nicht notwendig wäre, weil Sie das Procedere kennen… Sie sind ein erfahrener Kriminalist, und, wie ich weiß, einer unserer erfolgreichsten, und ich muss nochmal sagen, ich freue mich wirklich, Sie persönlich kennen zu lernen, eine andere Situation wäre mir allerdings lieber, Ihnen auch, schätze ich… Sie können immer noch, jetzt sofort, wenn Sie wollen, einen Rechtsbeistand hinzuziehen. Obwohl dies ein Kontaktgespräch ist, worauf ich großen Wert lege. Möchten Sie das? Wollen Sie sich Ihre Entscheidung noch einmal überlegen? Sie erhalten jede Chance, die Ihnen zusteht, ich werde versuchen, Sie nicht anders zu behandeln als jede andere Person in Ihrer Lage.«
Er machte eine Pause, holte Luft, sah zum Fenster, durch das nur spärlich Licht hereinfiel, runzelte die Stirn und senkte für einen Moment den Kopf.
»Das ist das erste Mal, dass ich gegen einen Polizeibeamten ermitteln muss«, sagte Vester. »Ich geb zu, keine einfache Situation. Wie für Sie auch, schätze ich. Wir hatten die Bedenkzeit also beide nötig. Ich für mein Teil habe gestern den ganzen Tag Ihre Akten gelesen, auch nachts noch, statt Bier habe ich schwarzen Tee getrunken, vermutlich die gleiche Menge wie Sie Bier. Was mir aufgefallen ist: Sie sind ein eigenwilliger Beamter, Sie neigen dazu, auszuscheren. Würden Sie diese Einschätzung teilen?«
»Was meinen Sie mit ›ausscheren‹?«, sagte ich.
»Aus der Gruppe«, sagte Vester. »Sie scheren aus dem Team aus, aus dem Kollegenkreis, Ihr Kollege Thon hat mir meinen Eindruck bestätigt. Gleichwohl schätzt er Sie außerordentlich, das hat er ausdrücklich betont.«
Er sah mich an und zupfte am Ärmel seines hellblauen, klein karierten Hemdes, dessen Manschetten aus den dunklen Sakkoärmeln hervorstanden. Ich schätzte Dr. Michael Vester auf Ende vierzig und vermutete, dass er bis vor einiger Zeit schlanker gewesen war, da er sich in Abständen an die Wangen fasste und sie drückte und sich mit schnellen unauffälligen Bewegungen über die Hüften strich. Er trug eine teure silberglänzende Armbanduhr und wenn er einen Blick darauf warf, ließ er sich Zeit.
»Hat Torsten Kolb Anzeige erstattet?«, sagte ich.
Er antwortete erst nach einer Weile, während er mich unvermindert anstarrte.
»Wir sitzen hier«, sagte Vester, »weil ich darüber zu beschließen habe, ob wir ein Verfahren einleiten müssen oder nicht. Unabhängig von Herrn Kolb, der sich zu der Sache bis zur Stunde nicht geäußert hat. Es geht hier nicht um die Sache Kolb, jedenfalls nicht in erster Linie, es geht um Sie. Sie sind der Grund, warum Herr Thon keine andere Wahl hatte als mich zu informieren beziehungsweise einfach das zu tun, was er tun muss. Mich und Sie muss die Frage beschäftigen, ob Ihr Verhalten eine Dienstaufsichtsbeschwerde und möglicherweise förmliche Disziplinarmaßnahmen nach sich zieht. Im Augenblick möchte ich mir nur ein Bild von Ihnen machen, ich möchte Ihre Sicht der Vorfälle kennen lernen, und ich versichere Ihnen, was immer in Ihren Akten stehen mag, die Äußerungen mancher Kollegen, Anmerkungen über eigenmächtiges Verhalten und dergleichen, Ihre eigenen Aussagen zu bestimmten Fällen und Personen – das alles werde ich nicht dazu benutzen, ein eventuelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Sie zu untermauern. Mit all dem, was ich erwähnt habe, können Sie sich nicht selbst beschuldigen, machen Sie sich darüber keine Sorgen! Ausschließlich Ihr Verhalten vom Montag zählt, Sie sind im Augenblick kein Beschuldigter, ist Ihnen das klar?«
»Natürlich«, sagte ich.
»Gut«, sagte Vester. »Haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt den Wunsch, dass Ihr Vorgesetzter Thon oder Dezernatsleiter Funkel an diesem Kontaktgespräch teilnimmt?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich versuche, Ihnen Möglichkeiten zu bieten, damit Sie sich wohl fühlen, damit Sie sich entspannen, damit wir vernünftig und schnell zu einer Klärung kommen. Sind Sie sicher, dass Sie dieses Gespräch weiter allein mit mir führen wollen?«
»Ja«, sagte ich.
»Dann weise ich Sie darauf hin, dass ich, wenn ich den Eindruck gewinnen sollte, es wäre notwendig, im Anschluss an dieses Kontaktgespräch eine informatorische Befragung durchführen werde, und zwar in Anwesenheit der Herren Thon und Funkel.« Vester faltete die Hände und holte tief Luft. »Selbstverständlich würde ich nach dieser Befragung eine Aktennotiz erstellen und meine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Tatbefundsbericht hinzufügen. Von unserem jetzigen Gespräch wird es keinerlei Vermerke geben, das hab ich Ihnen bereits erklärt. Auch wenn es Ihnen merkwürdig oder überflüssig erscheint: Ich weise Sie nochmals darauf hin, dass Sie das Recht haben, die Aussage zu verweigern. Ich finde zwar nicht, dass Sie das tun sollten, aber…«
»Ich auch nicht«, sagte ich.
Vester nickte, setzte an, etwas zu sagen, und zögerte.
Das Sirren der Neonröhre an der Decke krönte die Stille.
»Erzählen Sie jetzt!«, sagte Vester.
Ich schwieg. Ich fror. Mein Herz schlug unterirdisch.
Sein Nicken ging über in Kopfschütteln und endete abrupt.
»Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?«, fragte er.
»Das ist Ihre Aussage? Und Sie würden dabei bleiben, wenn es zu einer offiziellen Vernehmung und im schlimmsten Fall zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde käme?«
»Ja«, sagte ich. Dann stand ich auf, ging zur Wand, lehnte mich dagegen und verschränkte die Arme. Ich versuchte, meine innerliche Erstarrung zu überlisten, das Sprechen hatte mir dabei geholfen. Aber als ich die Wand mit dem Rücken berührte, hatte ich vergessen, was ich gesagt hatte.
»Bitte setzen Sie sich wieder!«, sagte Vester. Ich sagte: »Ich stehe lieber.«
»Ich bitte Sie«, sagte Vester. Ich bewegte mich nicht.
Vesters Daumen zuckte. »Demnach wollen Sie, dass wir das Kontaktgespräch beenden«, sagte der Staatsanwalt.
»Sie können mich weiter befragen«, sagte ich.
»Sinnlos«, sagte er, nahm die Aktenmappe vom Stuhl und ging zur Tür. »Wir machen fünfzehn Minuten Pause, dann beginnen wir mit der informatorischen Befragung. Ich bitte Sie, das Dezernatsgebäude nicht zu verlassen.« Ich blieb an der Wand stehen, bis Sonja Feyerabend in der offenen Tür auftauchte.
»Traust du dich nicht herein?«, sagte ich.
»Was ist passiert?«, sagte sie.
Sie trug einen grauen Rollkragenpullover aus Cashmere und Bluejeans. Ihre halblangen braunen Haare, die sie frisch gewaschen hatte, glänzten fast im Neonlicht, und das Leuchten ihrer Augen schien die trostlose Entfernung zwischen uns zu begrünen. Ich wollte auf sie zugehen und schaffte es nicht.
Sie blickte über die Schulter in den Flur.
»Der Staatsanwalt behauptet, du kooperierst nicht«, sagte sie.
»Nein«, sagte ich.
»Soll ich dir einen Kaffee bringen?«
»Nein.«
Sie machte einen Schritt ins Zimmer, als hinter ihr eine Stimme ertönte.
»Entschuldigen Sie!«
Sonja hielt inne und drehte sich um. Gefolgt von Kriminaloberrat Karl Funkel, dem Leiter des Dezernats 11, und Hauptkommissar Volker Thon, meinem direkten Vorgesetzten, kam Michael Vester wieder herein.
»Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie den Raum verlassen, Frau Feyerabend«, sagte der Staatsanwalt.
Hinter den Männern tauchte Erika Haberl auf, die Sekretärin aus dem K 114, der Vermisstenstelle, mit einer Kunststofftasche in der Hand. Ich wusste, was darin war.
»Ich möchte nicht, dass Sie an der Vernehmung teilnehmen«, sagte Vester zu Sonja. »Sie werden das verstehen.«
Sonja warf mir einen Blick zu, den zu erwidern mir nicht gelang, obwohl meine Augen so grün waren wie die ihren.
»Bitte setzen Sie sich dorthin!« Vester meinte Erika Haberl und zeigte auf den Stuhl neben dem Tisch. Sie setzte sich, packte den Laptop aus, schloss das Kabel an und startete den Computer.
Nur in den seltensten Fällen benutzten wir bei Vernehmungen Tonbandgeräte, entweder wir schrieben selbst mit – was mein Freund und Kollege Martin Heuer und ich meistens taten – oder wir fertigten hinterher ein Protokoll an. Die schnellste Methode war, eine Schreibkraft hinzuzuziehen, und Erika Haberl galt als eine der zuverlässigsten Kräfte auf diesem Gebiet, sie arbeitete konzentriert und ausdauernd, unterdrückte jegliches Mienenspiel, so krude oder fürchterlich die Aussagen des Verdächtigen auch sein mochten, und formulierte fehlerhafte Ausdrücke selbstständig und korrekt um.
»Bitte setzen Sie sich an den Tisch!«, sagte der Staatsanwalt.
»Ich stehe lieber«, sagte ich. Es waren nur noch drei Stühle vorhanden.
»Das geht in Ordnung«, sagte Funkel. Er zog einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich in die Nähe der Tür, die beiden anderen Männer nahmen am Tisch Platz und wandten sich mir zu.
Neben den Laptop hatte Erika Haberl ein Päckchen Papiertaschentücher, einen unlinierten Schreibblock und einen Bleistift gelegt. Manchmal, das kannte ich aus meiner Erfahrung mit ihr, notierte sie Wörter, die sie nicht verstand, manchmal auch Dinge, die sie nach Dienstschluss unbedingt einkaufen musste.
»Fertig«, sagte sie, nachdem sie das Datum und den Ort der Vernehmung hingeschrieben hatte.
»Herr Süden«, sagte Vester. »Möchten Sie nach den Paragraphen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig StPO vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen?«
»Nein«, sagte ich.
»Vernehmungsbeginn neun Uhr zwanzig, Mittwoch, zehnter April. Hauptkommissar Tabor Süden wurde darüber belehrt, dass er die Aussage verweigern kann, wovon er keinen Gebrauch macht. Diese informatorische Befragung dient ausdrücklich der Klärung der Frage, ob ein Straftatbestand vorliegt oder nicht. Außer dem Staatsanwalt nehmen daran teil… Sie kennen die Namen, Frau Haberl. – Herr Süden, trifft es zu, dass Sie vor zwei Tagen, am Montag, dem achten April, in diesem Raum in Gegenwart Ihres Kollegen Martin Heuer die Vernehmung eines Mannes durchgeführt haben, der verdächtigt wurde, an der Entführung seiner eigenen Tochter beteiligt zu sein?«
»Der Verdacht besteht immer noch«, sagte ich.
»Bitte gewöhnen Sie sich an, auf meine Fragen zu antworten!«
Vester saß aufrecht da, die Ellbogen auf den Armlehnen, mit ausdrucksloser Miene.
»Ja«, sagte ich.
»Im Verlauf dieser Vernehmung kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Ihnen und dem Verdächtigen, stimmt das?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er log uns an«, sagte ich. »Er machte sich lustig über uns. Er machte uns Vorwürfe…«
»Welcher Art waren diese Vorwürfe?«, unterbrach er mich.
»Wir seien nicht fähig, seine Tochter zu finden, deshalb würden wir unsere Unfähigkeit an ihm abreagieren.«
»Gab es weitere Vorwürfe?«
»Ja«, sagte ich.
Funkel blickte zu Boden, Thon kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals und wirkte angespannt und wütend. Und er hatte Grund dazu.
»Torsten Kolb sagte, er könne uns sowieso nicht ernst nehmen, weil wir betrunken seien.«
»Was haben Sie darauf erwidert?«, sagte Vester.
»Dasselbe wie Sie«, sagte ich. »Er solle auf unsere Fragen antworten und sonst nichts.«
»Hat er das getan?«
»Er hat weiter gelogen.«
»Wie kam es zu der tätlichen Auseinandersetzung?« Dasselbe hatte er mich vor einer halben Stunde gefragt.
»Er sagte, ich soll ihn am Arsch lecken.«
»Und deswegen haben Sie ihn gepackt, vom Stuhl gezerrt und zu Boden geworfen?«
Funkel kratzte sich an der Lederklappe über seinem linken Auge, Thon nestelte an seinem Halstuch, eine Angewohnheit, die mir in diesem Moment komisch vorkam.
»Ich weiß nicht mehr, warum ich es getan habe.« Dasselbe hatte ich schon vor einer halben Stunde zu ihm gesagt.
Nach einem Schweigen sagte Karl Funkel: »Du musst eine Erklärung finden. Denk nach, was waren die letzten Worte, bevor du ausgerastet bist, wir brauchen eine Erklärung.«
»Anmerkung«, sagte Vester und drehte ein wenig den Kopf zu Erika Haberl. »Hauptkommissar Süden ist bekannt für seine eigenwilligen Verhörmethoden, wie aus seinen Akten hervorgeht. Obwohl er bisher nie handgreiflich wurde, so fühlten sich einige Personen, die es mit ihm zu tun bekamen, durch seine Art herausgefordert, auch Kollegen, wie Kommissariatsleiter Thon bestätigte.«
»Dies ist keine Beschuldigtenvernehmung, Herr Staatsanwalt«, sagte Thon, ohne ihn anzusehen.
»Das war eine Anmerkung«, sagte Vester. »Herr Süden… Bleiben Sie bei Ihrer Aussage? Soll Ihre Erklärung ›Ich weiß nicht, warum ich den Verdächtigen Kolb niedergeschlagen habe‹ so ins Protokoll?«
»Nein«, sagte ich. Er wollte etwas sagen. »Ich habe ihn nicht niedergeschlagen«, sagte ich. »Ich habe ihn zu Boden geworfen, sonst nichts.«
»Es bleibt beim Tatbestand der Körperverletzung in Ausübung Ihres Dienstes. Ist Ihnen das bewusst?«
»Natürlich«, sagte ich.
»Anmerkung«, sagte Vester. »Bis zum jetzigen Zeitpunkt liegt keine Anzeige des Opfers vor. Herr Süden… Folgen wir vorübergehend Ihrer Formulierung, Sie hätten den zur Vernehmung geladenen Torsten Kolb nicht niedergeschlagen, sondern lediglich zu Boden geworfen. Würden Sie sagen, dass diese Formulierung auch auf Ihr Vorgehen gegen Ihren Kollegen Martin Heuer zutrifft?«
»Nein«, sagte ich.
»Dann frage ich Sie: Trifft es zu, dass Sie Ihren Kollegen, Hauptkommissar Martin Heuer, unmittelbar nachdem Sie Torsten Kolb zu Boden geworfen haben, tätlich angegriffen, seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht niedergestreckt und anschließend auf ihn eingeschrien haben, und zwar so lange, bis Kollegen aus anderen Büros aufmerksam wurden und den schwer verletzten, blutenden Kommissar vorfanden? Trifft es zu, dass Sie, als Ihre Kollegen bereits den Raum betreten hatten, immer noch weiter auf den am Boden liegenden Martin Heuer einschrien, obwohl Sie sahen, wie schwer verletzt er war und dass er dringend ärztliche Hilfe benötigt hätte?«
Ich ließ die Arme fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Das trifft zu«, sagte ich. »Ich habe meinen besten Freund krankenhausreif geprügelt, ich habe ihn geschlagen und angeschrien.«
»Warum haben Sie das getan?«, fragte Vester.
Mit geschlossenen Augen, den Kopf im Nacken, sagte ich: »Weil er es verdient hatte.«