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Insgesamt befanden sich außer mir sechs weitere Personen in dem Gebäude. Der Name der älteren Dame war Maria. Zu „Friedenszeiten“ war sie die Empfangsdame des Hauses und die Informationsstelle im Erdgeschoss war ihr Arbeitsplatz.

Zwei schwer bewaffnete Soldaten (mit einem von ihnen hatte ich bereits Bekanntschaft gemacht) bildeten den einzigen Schutztrupp der Umzingelten. Der Rest der Gruppe bestand fast ausschließlich aus Mitarbeitern der Radiostation.

Über die hohe Aufmerksamkeit, die mir entgegen gebracht wurde, war ich mehr als erstaunt. Es war ein ungewohntes, aber zugleich angenehmes Gefühl, das in diesen Tagen wohl wertvoller war als irgendetwas anderes.

Als Maria mich vorstellte, hatte ich den Eindruck, sie würden in mir einen Geist sehen. Die Tatsache, dass ich unbeschadet in ein Gebäude eindringen konnte, das von hunderten Untoten umzingelt wurde, war ihnen ein Rätsel. Es kam mir vor, als würden sie in mir einen Retter, einen langerwarteten Messias sehen, der sie nun von ihren Ängsten und Sorgen befreien würde. Für diese Ehrerbietung wären die beiden ausgebildeten Soldaten stärker prädestiniert gewesen.

Im Grunde hatten sie einen weitaus sichereren Unterschlupf als ich es in den letzten Tagen gehabt hatte. Die Türen, die an den Treppenpodesten jedes Stockwerkes angebracht waren, wurden von den Soldaten verriegelt und mit schwerem Mobiliar zugestellt. Der einzige Zugang zu unserem Aufenthaltsort im vierten Obergeschoss war der Personenaufzug, dessen Tür nach unserer Ankunft mit einem Stuhl verriegelt wurde. Auf diese Weise konnten keine ungebetenen Gäste die Gruppe überraschen.

Das Proviant und das Trinkwasser waren in genügender Menge vorhanden. Wie es aussah, hatten die Herrschaften die im Erdgeschoss gelegene Cafeteria und die Getränkeautomaten geplündert.

Dieser Ort erschien mir wie eine gut gesicherte Burg, in der man eine länger andauernde Belagerung aushalten konnte.

Nachdem sich die anderen vorgestellt hatten, war auch ich an der Reihe und erzählte ihnen eine Kurzfassung meines Überlebenskampfes der vergangenen Tage. Als ich ihnen erzählte, dass ich in aller Ruhe durch die Kanalisation in das Gebäude gelangt war, staunten sie nicht schlecht. Keiner von ihnen ist im Laufe der Tage auf diese Idee gekommen.

Die mir bereits vertraute Stimme des hartnäckigen Funkers lachte laut auf und der Mann klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich wusste zwar nicht weshalb, aber er war mir vom ersten Augenblick an sympathisch.

Nikolai war ein russischer Arzt im mittleren Alter. Als die Epidemie ausbrach, befand er sich auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, der städtischen Klinik. In dem wilden Chaos und der Panik entschied er sich, Zuflucht in dem Gebäude des Radiosenders zu suchen und hatte mit seiner Entscheidung die richtige Wahl getroffen.

„Ich musste mich in diesem Augenblick spontan entscheiden, aber das bin ich als Unfallchirurg gewöhnt. Nun wie man sieht, hat mich mein Gefühl auch diesmal nicht getäuscht. All die anderen, die mich geschubst und angerempelt haben, nur um ihre eigene Haut zu retten, stehen nun da draußen und starren gierig das Gebäude an. Ich dagegen bin weiterhin bei vollem Verstand und lebe.“

Der kleine Funken Schadenfreude in seiner Stimme wurde vom niemanden in der Runde negativ aufgenommen. In diesen Tagen war jeder Ausdruck von Freude eine willkommene Abwechslung und ich empfand es gar als einen Segen.

Ich öffnete meinen Rucksack, holte den Erste Hilfe Kasten, den ich im Militärfahzeug gefunden hatte, heraus und reichte ihn an den freundlich aussehenden Arzt. Mit sichtlicher Dankbarkeit nahm er meine kleine Aufmerksamkeit entgegen und versprach, dessen Inhalt jedem zugute kommen zu lassen, der es benötigte. 

Nikolai konnte mit diesem medizinischen Zeug mehr anfangen als ich.