4. KAPITEL

Eine Woche vor Weihnachten fand Egan das Kätzchen. Er war in einen Durchgang getreten, um ein Mietshaus von der Seite zu betrachten, das er renovieren sollte. Weil er eifrig nach oben schaute, hätte er das kleine Waisenkind beinahe nicht gesehen. Aus den Augenwinkeln nahm er etwas wahr, das wie die abgerissene Hälfte des schwarzen Ohrenschützers eines Kindes aussah, die mit dem Müll weggeworfen worden war. Doch dann begann der Ohrenschützer zu zittern und kläglich zu miauen. Ohne lange nachzudenken bückte sich Egan, hob das Kätzchen auf und steckte es unter seine Jacke.

Er verbrachte noch zwei Minuten damit, die Abfälle zu durchsuchen, ob dort vielleicht eine verschreckte Katzenmutter steckte, die sich wegen seiner Anwesenheit nicht traute, ihr Kind zu retten. Aber in dem Durchgang war kein weiteres Lebewesen. Woher auch immer das Kätzchen gekommen war, es -- oder genauer: sie, wie er bald feststellte --, war allein und fast erfroren.

Egan ging ins Haus und untersuchte seinen Fund. Das Tierchen wurde allmählich wärmer und aktiver. Egan schloss daraus, dass er es noch rechtzeitig gerettet hatte. Es war winzig und mager, hatte aber bereits genug Fleisch auf den Knochen, um der Kälte widerstehen zu können. Das Fell war völlig schwarz, abgesehen von den winzigen weißen Pfötchen und einem weißen herzförmigen Fleck genau unter dem Kinn. Wenn das Tier sauber und der Pelz wieder locker war, würde es sehr niedlich aussehen. Im Moment wirkte es allerdings so wie die Gassenkatze, die es war.

Sofort dachte Egan an Chloe.

Doch dann sagte er sich, dass Chloe nie auch nur das leiseste Interesse dafür gezeigt hatte, ein Haustier zu besitzen. Während ihres ausgedehnten Weihnachtseinkaufsbummels waren sie auf dem Rückweg zum Auto an einem Tiergeschäft vorbeigekommen. Er war stehen geblieben, weil er einfach nicht in der Lage war, an Tieren vorbeizugehen, ohne sie zu bewundern, und er hatte Chloe dazu gebracht, ebenfalls anzuhalten. Im Schaufenster hatten drei siamesische Kätzchen miteinander gespielt, und er hatte über ihre Bewegungen gelacht. Doch Chloe hatte stumm -- wahrscheinlich gelangweilt -- neben ihm gestanden.

“Sie werden vor Geschäftsschluss Käufer gefunden haben”, hatte er gesagt. “Wollen wir hineingehen und fragen, ob sie uns eines abgeben?”

Sie hatte auf ihre Uhr geschaut. “Vielleicht ein anderes Mal.”

“Eine Frau, die keine Katzen mag?”

Sie hatte ihn mit verschlossener Miene angesehen. “Ich kann wirklich nicht bleiben. Wir haben nachher eine Personalversammlung.”

Dieses Kätzchen war mit den Tieren im Laden nicht zu vergleichen. Es war weder rasserein noch wohl genährt. Es war schmutzig, traurig, und es fror.

Und doch dachte Egan weiterhin an Chloe.

Vielleicht lag es daran, dass auch Chloe ein Waisenkind gewesen war. Natürlich hatte niemand sie in der Kälte ausgesetzt. Ihre Grundbedürfnisse waren befriedigt worden. Aber niemand hatte sich darum gekümmert, dass sie innerlich fror, dass sie sich nach Wärme und Liebe sehnte und nach einer Familie, die nicht mit den Jahreszeiten wechselte.

Das Kätzchen miaute, rollte sich in Egans Hand zusammen und schnurrte. Er hielt das Tier an seine Wange. Es öffnete die Augen. Egan kam es so vor, als schaue er in Chloes Augen in einem Moment, in dem sie besonders verletzlich war.

“Wünschst du dir ein Heim?” fragte Egan leise. “Vielleicht kenne ich genau den richtigen Ort für dich.”

Das Kätzchen schloss die Augen und schlief ein.

Gary O’Brien war in der vergangenen Woche vorbeigekommen, um die Fenster, die ersetzt werden sollten, auszumessen. Bei dieser Gelegenheit hatte er Chloe gefragt, welches Parfüm wohl für die Frau richtig sei, mit der er einige Male ausgegangen war. Joe hatte seine Arbeit beim Ausbau eines Büros unterbrochen und Chloe erzählt, was Dick Dottie zu Weihnachten schenkte. Und Rick, der gar nicht mit seinen Brüdern zusammen in der Baufirma arbeitete, hatte sie eines Abends angerufen und ihr sechs Karten für ein griechisches Essen in der orthodoxen Kirche angeboten, das im nächsten Monat stattfinden sollte.

“Wie sind Sie denn an so viele Karten herangekommen?”

“Ich habe letztes Jahr einem Mitglied der Gemeinde bei der Einbürgerung geholfen. Der Mann dachte, Sie und einige Ihrer Mädchen hätten vielleicht Spaß daran, an dem Essen teilzunehmen.”

Natürlich würde sie Spaß daran haben. Chloe hatte bereits eine entsprechende Mitteilung an das Schwarze Brett gehängt, und sie hatte vor, die Mädchen zu begleiten. Ob Egan Rick wohl von ihrer geheimnisvollen Abstammung erzählt und Rick deshalb an sie gedacht hatte?

Sie fragte sich verwundert, warum Egans Brüder sich an sie wandten. Und nicht nur sie, sondern auch sein Vater tat das. Er war vor einigen Tagen vorbeigekommen, um sich das Ergebnis der Renovierungsarbeiten anzusehen, und hatte sie zu einem Kaffee eingeladen. Und Dottie hatte sie während der vergangenen Wochen dreimal über schneebedeckte Straßen zu ihrem Landhaus gefahren, wo sie gebacken und gekocht und -- ja, tatsächlich -- Kissenbezüge für einen Eilauftrag für ein Puppenhaus genäht hatten. Inzwischen hatte es sich wie ganz selbstverständlich ergeben, dass sie sich mit der ganzen Familie duzte.

Wenn Chloe auch nur die geringste Spur von Mitleid für sie bei Egans Familie entdeckt hätte, wäre ihr dies alles sehr peinlich gewesen. Aber es gab keinerlei Hinweise darauf, dass jemand nur deshalb seine Zeit mit ihr verbringen wollte, weil sie keine eigene Familie hatte. Obwohl eine leise Stimme in ihr immer noch nach dem Warum fragte, begann Chloe zu glauben, dass die Antwort ganz einfach war. Die O’Briens mochten sie. Sie füllte eine Lücke in ihrer Familie aus, die schon immer bestanden hatte. Sie war die Schwester, die Egans Brüder nie gehabt hatten, die Tochter, nach der Dottie -- und vermutlich auch Dick -- sich immer gesehnt hatte. Sie stand zur Verfügung, um an allen ihren kleinen Weihnachtsgeheimnissen und an ihren Traditionen teilzunehmen, und dafür waren sie dankbar.

Das war komisch, aber -- nein, es war überhaupt nicht komisch. Denn die ganze Aufmerksamkeit, die liebevolle Wärme der Familie O’Brien, von der sie ein Teil wurde, begann ihr sehr viel zu bedeuten. Es war nicht komisch, es war wunderbar, eine Erfahrung, die sie sehr schätzte.

Dann war da natürlich noch Egan, der Mann mit den grünen Augen und den breiten Schultern, die so viel auf sich nehmen konnten. Egan hatte den vergangenen Samstagnachmittag nicht mit Chloe verbringen können, weil er den Weihnachtsmann in der Kinderabteilung eines Krankenhauses spielte. Durch sorgfältige Prüfung seiner Baurechnungen hatte sich Chloe vergewissert, dass er keinen Cent an seiner Arbeit für das Heim verdienen würde.

Chloe saß auf der obersten Stufe der Treppe zum Heim und streckte die Hand aus, um die lange Papierkette zu ergreifen, mit der Roxanne das Treppengeländer schmücken wollte. Sie versuchte, Egan aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber wie immer war das fast unmöglich.

Roxanne warf ihr die Papierkette zu. Der Umstand, dass sie Chloe bemerkt hatte, war fast so erstaunlich wie die Kette selbst. Chloe war überzeugt, dass Roxanne wusste, wie nahe Weihnachten war. Es war ein ermutigendes Zeichen, dass Roxanne sich veranlasst sah, etwas wegen des Festes zu tun. Die Aufgabe, die sie übernommen hatte, war dem jetzigen Stand ihrer gefühlsmäßigen Entwicklung angemessen, sie war beruhigend, einfach und bestand aus Wiederholungen.

“Meine Schwester und ich haben früher eine solche Kette gemacht”, sagte Roxanne. “Wir wickelten sie um einen Baum vor unserer Wohnung, um den Baum, immer rundherum.” Sie machte langsame kreisende Bewegungen mit dem Finger.

Chloe vergaß fast zu atmen. Sie zwang sich, in ganz beiläufigem Ton zu reden. “Du vermisst deine Schwester?”

“Besonders Weihnachten.” Roxanne lächelte bedrückt.

Es war das erste Lächeln, überhaupt der erste Ausdruck einer Gefühlsregung, den Chloe jemals im Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Sie wollte sie umarmen und vor Freude jubilieren. Sie wollte weinen.

“Es ist sehr schwer, jemand zu verlieren, den man liebt”, sagte Chloe.

“Woher weißt du das?” Roxanne fragte das so, als sei sie wirklich an einer Antwort interessiert. Eine Bindung bahnte sich an, eine sehr zarte, zaghafte Bindung.

“Ich habe meine Eltern verloren, als ich sieben war.”

“Tatsächlich?”

“Sehr lange Zeit wollte ich nichts mehr fühlen.”

“Meine Eltern leben noch.”

“Ich weiß.”

“Sie haben mir wehgetan. Und Mary Jane.”

“Auch das weiß ich.”

“Woher?”

Chloe suchte nach einer Antwort. “Niemand hat ihnen jemals beigebracht, wie man gute Eltern wird, Roxanne. Jemand muss auch ihnen sehr wehgetan haben, als sie noch Kinder waren.”

“Ich hasse sie.”

“Ja, ich weiß.”

“Das ist böse, nicht wahr?”

“Nein, das glaube ich nicht. Gefühle sind niemals böse.”

“Ich tue nie Menschen weh, auch wenn ich sie hasse.”

“Dann bist du erwachsener, als deine Eltern es waren.”

“Ich möchte sie nie wiedersehen.”

“Das brauchst du auch nicht. Niemals.”

“Bist du sicher?”

“Völlig.”

Roxanne senkte den Blick und spielte mit der Kette. “Wirklich?”

“Ja, wirklich. Wenn du willst, kannst du mich das jeden Tag fragen, und ich werde dir immer dieselbe Antwort geben.”

“Mary Janes Lieblingsfarbe war Rot. Ich habe in dieser Kette eine Menge Rot verwendet.”

“Du könntest jedes Jahr zu Weihnachten eine Kette für Mary Jane machen, als Erinnerung an sie.”

“Erinnerst du dich noch an deine Eltern?”

“Oh ja.”

Das schien Roxanne zufrieden zu stellen. Während Chloe die Kette an einem Ende festhielt, wickelte Roxanne sie sorgfältig um das Geländer, bis die Treppe mit einem hellen farbigen Band geschmückt war. Als sie fast fertig war, entfernte Roxanne ein Kettenglied, ein rotes, und steckte es in die Tasche. “Das bewahre ich auf”, erklärte sie.

Dann verschwand sie im Haus.

Egan traf Chloe auf der Treppe. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so still, so blass und so erschüttert gesehen zu haben.

Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an ihn und verbarg das Gesicht an seinem Hals.

“Kann ich helfen?” fragte er.

Er spürte, dass sie den Kopf schüttelte.

“Soll ich das Liedersingen für heute Abend absagen?”

Wieder schüttelte sie den Kopf.

“Vielleicht wirst du dir wünschen, ich hätte es getan, nachdem du mich hast singen hören. Das hast du sicher noch nie erlebt.”

“Lass einfach deine Arme für eine Minute da, wo sie gerade sind, Egan.”

“Meinetwegen können wir hier für immer so sitzen.”

“So lange muss es nicht dauern.”

Egan winkte Bunny und Jennifer zu, die vorbeikamen.

“Ich bin einen Zoll gewachsen”, rief Jennifer ihm zu. “Einen ganzen Zoll! Der Arzt sagt, mein Wachstum nimmt wieder zu.”

“Das ist ja toll. Nun iss schnell ein paar Würstchen und wachs noch einen Zoll.”

“Was hat Chloe?”

“Ich glaube, sie ist müde.” Egan spürte, dass Chloe nickte. “Sie sagt Ja.”

“Sie darf nicht müde sein. Wir wollen doch Weihnachtslieder singen, oder etwa nicht?” fragte Bunny.

“Ich trage sie Huckepack”, bot Egan an.

Kichernd verschwanden die beiden Mädchen.

Egan hatte den Eindruck, dass es an seinem Hals verdächtig feucht wurde. “Einen Zoll -- das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr? Chloe, ich bin ja bereit, alles auf der Welt für dich zu tun. Aber wenn du noch einmal nickst oder den Kopf schüttelst, wird mein Hals auf Dauer ausgerenkt sein.”

Chloe musste lachen. Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. “Sind wir allein?”

“Im Moment ja.”

“Gut.” Ihre Lippen fanden seine. Egan schmeckte Salz und Gefühle, und die Mischung aus beidem gefiel ihm sehr. Wärme durchzog ihn, wurde schnell zu Verlangen. Das Verlangen wurde in diesen Tagen schnell in ihm wach. Chloes Stimme am Telefon, der zarte Duft, der von ihr ausging, der Anblick ihres glänzenden schwarzen Haars -- und sofort sehnte er sich danach, sie zu berühren.

“Huckepack?” fragte Chloe schließlich.

“Das habe ich nur so gesagt. Du gehst.”

“Schade.”

“Bist du sicher, dass du es schaffst?”

“Auf jeden Fall. Neun Mädchen haben sich bereit erklärt, mit uns zu kommen. Das ist ein Rekord. Noch nie waren neun Mädchen auf einmal damit einverstanden, dasselbe zu tun.”

“Es wundert mich, dass drei meinem Charme widerstehen können.”

“Shandra hat Halsschmerzen, und Vicky und Lianne besuchen ein Konzert in der Schule.”

“Diese Entschuldigungen erkenne ich an.” Egan stand auf, um der wachsenden Versuchung zu entgehen, Chloe noch einmal zu küssen. Die Versuchung wurde noch stärker, als sie den Arm hob, um sich die Augen trocken zu wischen, und dabei ihr Pullover hochrutschte und ein Stück nackter Haut entblößte. Er wandte sich ab. “Fangen wir die Mädchen ein.”

Es war ein kalter Abend. Frisch gefallener Schnee knirschte unter zwei Dutzend Stiefeln. Die Gegend, in der das Alma-Benjamin-Heim vor hundert Jahren gebaut worden war, bestand aus schönen alten Häusern. Die Aktivitäten der Mädchen des Heims waren von den Nachbarn nicht immer begrüßt worden. Aber inzwischen hatte man sich an sie gewöhnt. Chloe hoffte, dass sie an diesem Abend etwas Zuneigung gewinnen konnten.

Im ersten Haus standen geschmackvolle Kränze mit roten Bändern in jedem Fenster, die von sanftem goldfarbenen Licht angestrahlt wurden. Auf jeder Fensterbank brannte eine dünne elegante Kerze.

“Dies ist ein Haus vom Typ ‘Stille Nacht’”, meinte Egan.

“Das ist ein langweiliges Lied. Ich verstehe es überhaupt nicht”, sagte eines der Mädchen.

Egan ließ sich von diesem Einwand nicht abschrecken. Er summte einen Ton. “Alle bereit? Dann fangen wir an.”

Egan begann das Lied in einem klaren Bariton. Chloe fiel ein, und eines nach dem anderen sangen auch die Mädchen mit. Schließlich trugen ihre Stimmen das Lied allein.

“Kleine Engel”, flüsterte Egan Chloe zu.

“Glaubst du, dass sie den Text verstehen?”

“Keine Ahnung. Meinst du, wir sollten ihnen das Geheimnis der unbefleckten Empfängnis erläutern?”

“Du kannst diese Kinder nicht anschwindeln, Egan. Sie ertappen dich bei jeder Lüge.”

“Dann erklär du ihnen die Jungfrauengeburt.”

Im Hauseingang wurde Licht gemacht, die Tür öffnete sich. Die Mädchen sangen weiter und gingen dann mit Egans Hilfe zu einem anderen Weihnachtslied über.

Die Bewohner des Hauses bestanden darauf, Martha eine Spende zu geben. Die Mädchen hatten schon vorher beschlossen, dass etwaige Spenden an UNICEF geschickt werden sollten.

Nachdem sie vor drei weiteren Häusern gesungen und auch hier Spenden empfangen hatten, schloss Chloe aus Marthas Gesichtsausdruck, dass der Betrag ausreichen würde, um ein hungriges Kind in Afrika oder Asien mehrere Monate zu ernähren.

Wie vorher verabredet, sangen die Mädchen zuletzt vor dem Haus, das dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats des Heims gehörte. Anschließend wurden sie in das Haus gebeten und mit Kakao und Gebäck bewirtet. Chloe achtete darauf, dass niemand den Perserteppich beschmutzte, und Martha beschützte das zerbrechliche Porzellan.

Egan überredete den Vorsitzenden dazu, einige Weihnachtslieder auf dem großen Flügel zu spielen, der einen kleinen Teil des riesigen Wohnzimmers einnahm. Die Mädchen standen um den Flügel herum und sangen. Als sie schließlich aufbrachen, hatte der Vorsitzende sich auf Bitten Egans bereit erklärt, drei interessierten Mädchen Klavierstunden zu geben.

“Es ist wirklich schade, dass die Leute keine Pferde auf dem Grundstück hatten”, sagte Chloe, während alle zum Heim zurückgingen. “Vielleicht hättest du für Mona Reitstunden herausschlagen können, Egan.”

“Das ist nicht nötig. Meine Eltern wollen ein oder zwei Pferde zu diesem Zweck anschaffen.”

“Ist das ein Scherz?” Chloe blieb stehen.

Egan nahm sie an die Hand und zog sie mit sich. “Nein.”

“Hattest du nicht gesagt, sie wollten sich nicht mehr mit großen Tieren abgeben?”

“Im Prinzip stimmt das. Aber sie würden es tun, wenn es bedeutet, dass einige der Mädchen regelmäßig zu ihrem Haus kommen. Dabei ist natürlich nicht an Vollblutpferde gedacht, nur an kräftige, friedliche Gäule.”

“Du bist wirklich unverbesserlich.”

“Denk mal über meinen Vorschlag nach. Ich erwarte deine Befehle.”

“Was soll ich nur mit dir machen?”

Das fragte sich Egan auch, vor allem, wenn er daran dachte, was Chloe im Heim erwartete. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück und hörten zu, wie sich die Mädchen lustige Reime auf Zeilen aus Weihnachtsliedern ausdachten.

Als sie im Heim waren, fragte Chloe: “Kannst du noch etwas bleiben?”

“Ja, ich habe noch Zeit.”

Sie gingen die Treppen hinauf. Der Abend hatte Chloe mutig gemacht. “Lass uns in meine Wohnung gehen und uns von der Meute erholen.”

“Eine gute Idee.” Egan ergriff zwei der Mädchen und nahm sie mit.

„He, was machst du?” rief Mona und versuchte, Egans Griff zu entkommen.

“Ja, was soll das?” wollte Heidi, eine dunkelhaarige und dunkelhäutige Schönheit, wissen.

“Ich hatte längere Zeit keine Gelegenheit, mich mit euch beiden zu unterhalten. Kommt mit und erzählt mir, wie es in der Schule läuft.”

Chloe sah Egan verwundert an.

“Du bist doch einverstanden, Chloe, oder?”

“Nun … “

Egan zog Mona auf die nächsthöhere Treppenstufe. “Erzähl mir von dem Theaterstück, in dem du mitspielst.”

“Das habe ich doch gestern schon getan.”

“Aber da hast du mir nicht erzählt, was du heute gemacht hast. Die Aufführung ist doch morgen, nicht wahr? Ihr müsst heute eine Kostümprobe gehabt haben.” Egan redete pausenlos weiter, ohne den Mädchen eine Chance zum Antworten zu geben. Er sah Chloe deutlich an, wie sie auf die unwillkommenen Gäste reagierte.

Aber er wollte ihr nicht allein gegenüberstehen, wenn sie ihre Wohnungstür geöffnet hatte.

Chloe hielt ihre Tür immer verschlossen, um Neugierige fern zu halten. Jetzt fummelte sie mit dem Schlüssel herum, während Egan sein Geplauder fortsetzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn dazu veranlasst hatte, Mona und Heidi mitzunehmen. Sie und Egan hatten nie viel Zeit allein miteinander verbringen können. Jetzt, da sie ihm etwas anbot -- im Widerspruch zu der warnenden Stimme in ihr --, tat er so, als ziehe er es vor, Gesellschaft dabeizuhaben. Chloe empfand Schmerz. Sie erinnerte sich daran, dass es besser für sie war, vorsichtig zu bleiben.

Als sie die Wohnung betreten hatte, schaltete sie das Licht an. Die gedämpften Farbtöne ihrer Wohnungseinrichtung beruhigten sie ein wenig. Sie hatte das erste Zimmer mit soliden alten Möbeln ausgestattet, die sie mit geblümten Stoffen bezogen hatte. Auf dem Sofa türmten sich blaugrüne Kissen, auf dem Schaukelstuhl lag ein gesticktes Kissen mit einem zusammengerollten Kätzchen darauf, ein hoher Lehnsessel mit …

“Kätzchen?”

“Wo?” Egan sah sich gelassen um. Er ließ Heidi und Mona nicht los. Sie sollten ihm jetzt auf keinen Fall entkommen.

Langsam ging Chloe durch das Zimmer. Das winzigste, flauschigste Kätzchen, das sie jemals gesehen hatte, schlief fest mitten auf dem Kissen. Es trug ein rotes Samtband um den Hals, und jemand hatte offensichtlich viel Zeit darauf verwendet, den langen schwarzen Pelz zu bürsten und zu kämmen.

“Woher kommt dieses Kätzchen?” fragte Chloe.

“Ich sehe kein Kätzchen. Mädchen, könnt ihr ein Kätzchen sehen?”

“Egan, ich habe dir eine Frage gestellt.”

Heidi und Mona machten sich aus Egans Griff frei, um zu sehen, worum es hier ging. Das Kätzchen nutzte diesen Augenblick, um sich zu strecken und zu gähnen. Die kleinen Augen öffneten sich und sahen Chloe an.

Egan konnte sich nicht entscheiden, ob er weiterhin den Ahnungslosen spielen oder ein Geständnis ablegen und seine Strafe empfangen sollte. Er tat keines von beidem, sondern schaute an die Zimmerdecke, als wolle er abschätzen, ob sie einen neuen Anstrich brauchte.

“Sieh mal, es hat einen winzigen weißen Fleck gerade unter dem Kinn, wie ein Herz.” Mona kniete vor dem Schaukelstuhl und betrachtete das Tierchen. “Du könntest es Valentine nennen.”

“Das könnte ich, wenn es mein Kätzchen wäre”, erwiderte Chloe.

Ohne sie anzusehen überlegte Egan, wie er den Klang ihrer Stimme deuten sollte. Er war sich Chloes Reaktion immer noch nicht sicher und schien nun darüber nachzudenken, was eine neue Deckenlampe kosten könnte.

“Und es hat winzige weiße Pfoten”, sagte Heidi. “Du könntest es Stiefelchen nennen.”

“Heb sie hoch.” Mona sah Chloe an. “Sieh mal, sie möchte von dir auf den Arm genommen werden.”

Chloe griff nach dem kleinen Tier, weil die Kinder das von ihr erwarteten. Sie stand unter einem Schock und hätte jetzt alles getan, was man von ihr verlangte. Das Kätzchen war weich und leicht wie eine Feder. Es miaute leise, als Chloe es an ihren Pullover drückte, und schmiegte sich in die Falten.

“Siehst du, sie mag es, wenn man sie hält”, erklärte Heidi wissend.

“Hattest du schon einmal eine Katze?” fragte Mona Chloe.

“Nein.”

“Aber ich. Eine ganze Menge.”

Chloe sah Mona an.

“Nein, das stimmt nicht”, gab Mona zu. “Aber ich habe mir immer eine gewünscht.”

Chloe wollte etwas sagen. Sie wollte Mona erzählen, dass sie sich auch eine Katze gewünscht hatte. Das wäre jetzt die richtige Antwort gewesen. Aber Chloe brachte kein Wort heraus. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Sie ließ sich auf den Sessel sinken und hielt das Tier fester. Tränen liefen ihr über die Wangen.

“Chloe weint”, rief Mona. “Egan! Chloe weint!”

Im nächsten Augenblick kniete Egan neben Chloe. Er fühlte sich sehr mies. Was hatte er ihr angetan? Wie hatte er nur auf eine solche Idee kommen können?

“Meine Weihnachtswunschliste”, schluchzte Chloe. “Das stand an erster Stelle. Ich wünschte … ich wollte mir später nicht selbst eine kaufen, das wäre nicht dasselbe gewesen … wie hast du nur …”

Egan legte die Arme um sie und hielt sie. Fast hätte er auch geweint. Er sah die Mädchen an, die bedrückt schienen. “Sie ist glücklich”, versicherte er ihnen. “Sie ist sehr glücklich.”

Egan wünschte sich, jemand würde ihm das bestätigen.

“Sie sieht aber nicht glücklich aus”, wandte Mona ein.

“Kann das Kätzchen noch atmen?” wollte Heidi wissen.

“Absolut. Ich kann es hören. Geht jetzt ins Bett, Mädchen.”

“In Ordnung, ins Bett.” Mona drehte sich um und ergriff Heidi an der Hand. “Komm, ins Bett.”

Heidi ging widerstandslos mit. “Gute Nacht, wir gehen ins Bett.”

“Sie sind fort”, sagte Egan, als die Mädchen die Tür leise hinter sich geschlossen hatten.

“Meine Wunschliste.” Wieder musste Chloe weinen.

“Chloe, Liebste, es tut mir Leid. Ich weiß nicht, was ich dir angetan habe, aber es tut mir wirklich Leid. Es ist nur so, dass ich das Kätzchen in einem Durchgang gefunden habe und es dort nicht liegen lassen konnte. Das Tier war in einem schlimmen Zustand. Ich brachte es deshalb zu einem Tierarzt …” Egan wusste nicht, weshalb er so viel redete. Er musste einfach etwas sagen.

“Zum Tierarzt?”

“Er sagte, das Kätzchen sei ungefähr sechs Wochen alt, gerade alt genug, um es ohne die Mutter zu schaffen. Er hat es untersucht und ihm eine Spritze gegeben. Er glaubt, der Winzling kommt durch, wirklich. Natürlich hat die Katze einen Schock bekommen, als ich sie gebadet habe, aber dann habe ich ihr Fell trocken gerieben.”

“Du hast sie gebadet?”

“Ja, das musste sein. Du hättest sie in dem Zustand, in dem sie war, nicht haben wollen.”

Chloe drückte das Kätzchen an sich. “Nicht haben wollen?”

“Du wiederholst alles, was ich sage.” Egan streichelte Chloes Wange. “Also gut, dann versuch mal das: ‘Ich werde dich immer lieben, Egan. Und um dir das zu beweisen, werde ich heute Abend mit zu dir gehen, und wir werden uns bis zum Morgen ganz toll lieben.’” Egan schwieg erwartungsvoll.

“Du bist wohl nicht ganz normal, wie?”

“Das habe ich nicht gesagt.” Egan lächelte zärtlich. “Möchtest du das Kätzchen haben, Chloe? Wenn nicht, werde ich ein anderes Heim für das Tier finden. Ich dachte nur … nun, ich dachte einfach, du würdest es vielleicht hier haben wollen.”

Sie schluckte. “Ja.”

“Was hast du da von einer Weihnachtswunschliste gesagt?” Egan wischte Tränen von Chloes Wangen -- die letzten, wie er hoffte.

“Wunschliste?”

“Ja.”

“Du hast mich wahrscheinlich falsch verstanden.”

“Tatsächlich?”

Chloe legte die Arme um ihn und zog ihn an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Während Chloe Egan küsste, schnurrte das Kätzchen zufrieden. Es rollte sich auf ihrem Schoß zu einem Ball zusammen und schlief wieder ein.