Der Seaport war ein erst kürzlich wieder aufgebautes Viertel am River Dix. Zwei Blocks mit Souvenirläden und Imbißbuden säumten eine breite Straße, die zu einer ovalen Tanzfläche mit einem Pavillon für eine Kapelle dahinter führte. Stander schlugen in einer schwachen Brise vom Fluß. Musik trieb durch die warme Luft des Sommerabends. Roselli gehörte zu einer vierköpfigen Rockgruppe, die all die Golden Oldies spielte, die Carella auswendig mitpfeifen konnte. Als er die Musik hörte, die ihm als Heranwachsendem so wichtig gewesen war, und all die hübschen jungen Mädchen in den Armen stattlicher junger Männer sah, mußte er wieder daran denken, daß er bald vierzig werden würde. Auf dem Fluß fuhr ein Vergnügungsdampfer vorbei. Carella hörte den Reiseführer über den Lautsprecher; er erklärte den Passagieren gerade, daß sie am Seventh Street Seaport vorbeifuhren. Plötzlich kam ihm alles so quälend vor, als liefe er unmittelbar Gefahr, sich für immer zu verlieren. Es war zwanzig vor acht, und der Himmel verschmolz bereits mit dem Fluß.
»Da ist er«, sagte Brown.
Die Melodie klang aus. Die Teenager auf der Tanzfläche applaudierten. Die Band spielte eine kurze Erkennungsmelodie und kam von der Plattform. Carella konnte das Gefühl eines drohenden Verlusts nicht abschütteln.
»He«, sagte Roselli, »was suchen Sie denn hier?«
»Mr. Roselli«, sagte Brown, »woher wußten Sie, daß Katies Eltern tot waren?«
»Sie hat es mir gesagt«, erwiderte er. »Wann?«
»Als wir auf Tour waren. Sie war sehr betroffen darüber.«
»Sie hat Ihnen erzählt, daß sie einen Autounfall hatten?«
»Ja.«
»Und das hat sie Ihnen vor vier Jahren erzählt?«
»Irgendwann während der Tour, ich weiß nicht mehr, ob es genau vor vier Jahren war.«
»Und sie hat Ihnen erzählt, daß ihr reicher Bruder, der das ganze Geld geerbt hatte, nichts mit ihr zu tun haben wollte?«
»Ja.«
»Hat sie zufällig erwähnt, wann sich der Autounfall ereignet hat?«
»Nein.«
»Im vergangenen Juli, Sal.«
»Nicht vor vier Jahren, Sal.«
»Am 4. Juli, Sal. Dem Unabhängigkeitstag. Im vergangenen Jahr.«
Er sah sie an. Er rechnete nicht im Kopf nach, weil er wußte, daß es zum Kopfrechnen zu spät war. Er wußte genau, was sie wußten. Er wußte, Katie konnte ihm nicht von ihren Eltern erzählt haben, wenn er sie nicht seit dem vergangenen Juli gesehen hatte. Er wußte, er hatte einen Fehler gemacht, einen schlimmen Fehler, und er sah keine Möglichkeit, ihn zu korrigieren. Auf der anderen Seite des Flusses gingen in den Fenstern der Wohnhäuser die ersten Lichter an. Wenn die Nacht in diese Stadt kam, kam sie mit atemberaubender Plötzlichkeit.
Er legte den Kopf in die Hände und fing an zu weinen.
»Ich kann euch gar nicht sagen, wie toll ihr gewesen seid, Kinder«, sagt Charlie. Er hat zu viel getrunken und spricht undeutlich. Mit einer Flasche Bier in der Hand geht er schwankend zum Safe, bewahrt nur mühsam sein Gleichgewicht. »Upps«, sagt er, kichert glucksend, grinst dann breit als Entschuldigung und zwinkert Katie zu. Er hebt die Flasche zu einem verspäteten Toast. »Auf das nächste Mal«, sagt er, hebt die Flasche an den Mund und trinkt erneut. Sal hofft, daß er nicht ohnmächtig wird, bevor er den Safe geöffnet und sie bezahlt hat. Er selbst hat den ganzen Abend über Pot geraucht und ist ein wenig benommen. Auf jeden Fall hofft er, daß Katie nicht zu müde ist, um das Geld zu zählen.
Charlie trägt einen zerknitterten weißen Leinenanzug, er sieht aus, als wolle er sich um die Rolle von Big Daddy in Süßer Vogel Jugend bewerben. Er kaut auf einer Zigarre, rülpst und nimmt sie aus dem Mund, nur um wieder einen Schluck Bier zu trinken. Schließlich stellt er die Flasche auf den Safe. Es ist ein großer, alter Mosler, der auf dem Boden steht, Charlie hat Schwierigkeiten, vor ihm niederzuknien, zum einen, weil er so fett, zum anderen, weil er so betrunken ist. Sal macht sich jetzt wirklich Sorgen, daß sie bis zum Morgen warten müssen, um iltre Gage zu bekommen. Wie will Charlie sich an die Kombination erinnern, geschweige denn die Ziffern auf der Scheibe sehen können? Und wie soll er selbst, Salvatore Roselli, den Unterschied zwischen einem Ein-Dollar-Schein und einem Hundert-Dollar-Schein erkennen, so stoned, wie er ist?
Hier im Büro ist es unerträglich heiß. Die Klimaanlage am Fenster arbeitet, aber nur minimal, und in der Hoffnung, daß eine Brise Erleichterung verschafft, hat Charlie die Glastür zur Veranda aufgerissen. Draußen erklingen die Geräusche von Insekten und wilderer, gefährlicherer Geschöpfe, die Schreie der Tiere in der tiefen Dunkelheit. Nur die Alligatoren sind still.
Sal hat sich erschöpft und verschwitzt in einen der großen, schwarzen Ledersessel fallen lassen, das T-Shirt ist völlig durchgeschwitzt, streckt die Beine aus und muß aufpassen, daß er nicht eindöst. Charlie kniet vor dem Safe, kann kaum das Gleichgewicht bewahren, murmelt die Kombination laut vor sich hin, als sei niemand bei ihm im Zimmer, drei nach rechts, auf die Zwanzig. Zwei nach links, an der Zwanzig vorbei, auf die Sieben. Eins nach rechts, auf die Vierunddreißig - aber der Safe geht nicht auf. Also fängt er noch mal von vorn an, und dann noch mal, bis er endlich die richtigen Ziffern erwischt. Kühn drückt er den Griff hinab, und schwungvoll öffnet er die Safetür. Alles prachtvolle Bewegungen. Alles groß und barock. Genau wie der betrunkene Charlie selbst.
Die Einnahmen des Abends liegen im Geldschrank. Charlies Kundschaft setzt sich hauptsächlich aus Teenagern zusammen, und die zahlen bar. Er zählt die Scheine ab, muß auch sie dreimal zählen, bevor er es richtig hinbekommt. Er legt den Rest des Geldes in den Safe zurück, schlägt die Tür zu, dreht mit einer dramatischen Bewegung an der Ziffernscheibe. Jetzt hält er ein Bündel Hundert-Dollar-Scheine in der linken Hand. Mit der rechten stützt er sich auf dem Safe ab und hievt sich wieder auf die Füße.
Er dreht sich zu Sal um, der es sich in dem schwarzen Ledersessel bequem gemacht hat und schon fast eingeschlafen ist.
»Na, Piano Boy«, sagt er und schwankt auf ihn zu. »Willst du das Geld haben?« Sal öffnet die Augen. »Willst du bezahlt werden?« sagt er. »Deshalb sind wir hier, Boss«, sagt Katie.
»Willst du das Geld haben?« fragt Charlie erneut und wedelt mit den Scheinen vor Sals Gesicht.
»Hören Sie auf damit«, sagt Sal schläfrig, streckt die Hand aus und schlägt nach dem Geld, als wolle er es wie ein lästiges Insekt verscheuchen.
»Süßer, wenn du das Geld haben willst, weißt du ja, was du zu tun hast«, sagt er und schiebt das Geld in die rechte Jackentasche. Es beult sie aus, als sei dort plötzlich ein Tumor gewachsen. Er macht seinen Reißverschluß auf. Und hält plötzlich seinen Schwanz in der Hand.
»Komm schon, Charlie, steck das wieder weg«, sagt Katie.
»Was soll ich wegstecken, Kleine?« sagte Charlie. »Das Geld oder meinen Pimmel?«
»Nun hör schon auf, Charlie.«
»Soll ich das Geld wieder in den Safe stecken? Oder soll ich Sally meinen Pimmel in den Mund stecken?«
»Nun hör schon auf, Charlie.«
»Was denn nun?« sagt Charlie. »Denn so wird’s laufen, Katie. Entweder der kleine Junge hier lutscht meinen Schwanz, oder ihr kriegt kein Geld.«
Sal weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Er ist ein Junge aus der Stadt, der mit den Knalltüten aus der Wildnis keine Erfahrung hat. Er spielt kurz mit dem Gedanken, rauszulaufen und die anderen zu holen, alle für einen und einer für alle und so weiter. Aber Charlie hat jetzt sein Kinn in eine Hand genommen, drückt fest zu und bedrängt ihn mit der störrischen Entschlossenheit eines Betrunkenen, wedelt jetzt mit seinem steifen purpurnen Schwanz vor seinem Gesicht, wie er gerade eben mit den Geldscheinen gewedelt hat. Als Junge aus der Großstadt und Feigling, der er ist, sitzt er wie erstarrt in Charlies Griff da und kann sich nicht bewegen.
Und Katie sagt noch einmal »Nun hör schon auf, Charlie!« und schlägt ihm von hinten mit der Bierflasche, die er auf den Safe gestellt hat, auf den Kopf. Bier sprüht als feine Gischt durch den Raum, als sie die Flasche schwingt. Der Mann taumelt, ist aber nicht ernsthaft verletzt, Katies Schlag war ziemlich wirkungslos. Aber Sal springt sofort auf, stößt Charlie gegen die Brust, stößt den fetten, betrunkenen Trottel durch die offene Glastür auf die Veranda hinaus, dann stößt er ein letztes Mal nach ihm, knallt ihm die gespreizten Finger der rechten Hand gegen die Brust, ein Zischen kommt über seine Lippen, als er ihn über das Geländer stößt. Es klatscht, als er auf das Wasser prallt, und dann ertönen augenblicklich schreckliche knüppelnde Geräusche, die ihnen verraten, daß die Alligatoren ihn erwischt haben, noch bevor er wieder aufgetaucht ist.
Sal atmet sehr schwer. Er hat gerade einen Menschen getötet.
»Das Geld«, sagt er.
»Du hast ihn umgebracht«, sagt Katie.
»Das Geld. Es war in seiner Tasche.«
»Vergiß das Geld.«
»Weißt du die Kombination noch?«
»Bei der Jungfrau Maria, du hast ihn umgebracht!«
»Die Kombination. Erinnerst du dich an sie?«
Vom Fluß unter ihnen dringt eine entsetzliche Stille zu ihnen empor.
Drei nach rechts, auf die Zwanzig, zwei nach links, an der Zwanzig vorbei, auf die Sieben. Eins nach rechts, auf die Vierunddreißig.
Katie spricht die Ziffern laut aus, während er die Scheibe langsam nach rechts dreht, dann nach links, dann wieder nach rechts. Er zieht die Tür auf. Von dem Geldbündel im Safe zählt er die Summe ab, die ihnen zusteht, legt den Rest wieder in den Safe zurück, schließt die Tür und dreht an der Scheibe, um sie wieder zu verschließen. Katie sieht zu, wie er die Scheibe und den Griff abwischt. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, wie ein kleines Mädchen, das dringend pinkeln muß. Er wischt auch die Bierflasche ab und stellt sie dann wieder auf den Safe, wo Charlie sie zuvor hingestellt hat. Er sieht sich ein letztes Mal um, und dann verlassen sie das Büro.
Im Wagen sagt Sal: »Ich hab die Knete, fahren wir.« Und Katie zieht das T-Shirt von ihrem Körper weg, damit die kühle Luft aus der Klimaanlage an ihre Haut gelangen kann.
Sie hatten Angst, er würde dichtmachen. Sie hatten ihm seine Rechte vorgelesen und ihn mit aufs Revier genommen, und nun befürchteten sie, er würde kein Wort mehr sagen. Er war noch immer in Tränen aufgelöst. Sie wollten nicht, daß er völlig zusammenbrach, und so waren sie übereingekommen, es Carella allein versuchen zu lassen. Auf diese Weise wirkte es nicht so bedrohlich. Sie waren jetzt im Verhörraum. Die anderen Detectives standen hinter der einseitig verspiegelten Scheibe im Raum nebenan, sahen und hörten zu und wagten kaum zu atmen. Carella schaltete die Videokamera ein und las Roselli erneut seine Rechte vor.
Manchmal machten sie dicht, wenn sie die Miranda-Aufzählung zum zweiten Mal hörten. Danach kam ihnen alles unwiderruflich vor. Sie dachten dann: He, vielleicht solltest du wirklich einen Anwalt verlangen. Bei Profis war das keine Frage. Die verlangten immer sofort einen Anwalt. Amateure wie Roselli glaubten entweder, sie wären klüger als die Polizei, oder ihre Schuldgefühle machten ihnen dermaßen zu schaffen, daß sie alles nur noch loswerden wollten. Carella wartete. Roselli nickte. Ja, er hatte seine Rechte verstanden und war bereit, Fragen zu beantworten, ohne einen Anwalt hinzuzuziehen. Carella brauchte aber laut und deutlich seine Einwilligung.
»Dann kann ich also fortfahren, Mr. Roselli?«
»Ja.«
Jetzt war Schluß mit Sal. Jetzt waren sie gleichberechtigt. Mr. Roselli und Mr. Carella, zwei alte Freunde, die bei strahlendem Sonnenschein an einem runden Tisch unter freiem Himmel saßen, Cappuccino schlürften und sich über Politik unterhielten. Aber das Licht kam von einer Neonröhre, der Tisch war viereckig und wies zahlreiche Brandflecke von Zigaretten auf, und der Kaffee wurde im Schreibzimmer gekocht und in Pappbechern gebracht, und es ging nicht um Politik, sondern um Mord.
»Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist, Mr. Roselli?«
Roselli saß da, betrachtete seine Hände.
»Mr. Roselli?«
»Ja.«
»Wollen Sie es mir erzählen?«
»Ja.«
Carella wartete.
»Ich habe sie zufällig gesehen.«
»Katie?«
»Ja.«
»Katie Cochran?«
»Ja. Ich hatte sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen, sie hatte sich stark verändert.« Er verstummte, erinnerte sich.
»Früher sah sie aus wie ein Teenager«, sagte er. »Jetzt sah sie aus… Ich weiß nicht. Gereift?« Er fing wieder an zu weinen.
Carella schob eine Schachtel mit Papiertüchern näher zu Roselli heran. Die Tränen strömten sein Gesicht hinab. Carella wartete. Abgesehen von Rosellis Schluchzen und dem leisen Surren der Videokamera war es völlig still im Raum. Carella fragte sich, ob er es riskieren konnte, ihn etwas zu drängen.
»Wo sind Sie ihr begegnet?« fragte er.
Sanft. Behutsam. Beiläufig. Zwei Gentlemen, die an ihrem Kaffee nippten. Sonnenschein leuchtete auf weißem Leinen.
»Mr. Roselli?«
»Im St. Margareta.«
Er nahm noch ein Tuch aus der Schachtel, putzte sich die Nase. Trocknete seine Augen.
»Dem Krankenhaus«, sagte er und putzte sich erneut die Nase. Er seufzte schwer. Carella hoffte, daß er nicht dichtmachen würde. Aufhören. Das war’s. Keine weiteren Fragen. Er wartete.
»Ich dachte, ein Freund von mir hätte einen Herzinfarkt, ich habe ihn in die Notaufnahme gebracht«, sagte Roselli. »Es stellte sich raus, daß er okay war, aber mein Gott, sein Gesicht war ganz blau angelaufen! Katie spazierte einfach an mir vorbei, ich konnte es nicht fassen. Ich kümmerte mich um meinen Freund, ich dachte, er würde sterben. Dann sehe ich diese Frau, die wie Katie aussieht, aber auch wieder nicht. Ich meine, Sie hätten Katie damals kennen müssen. Als sie noch gesungen hat. Eine Million Volt, das schwöre ich Ihnen. Diese Frau sah so … keine Ahnung … so gelassen aus? Sie kam in die Notaufnahme. Direkt aus der Vergangenheit. Gefaßt. Sie blieb stehen, sprach ein paar Worte mit einer Schwester, und wusch, war sie wieder zur Tür hinaus und weg. Ich fragte die Schwester, wer das gewesen sei. Sie sagte: Das ist Schwester Mary Vincent. Was? sagte ich. Schwester Mary Vincent, wiederholte sie. Eine Nonne. Arbeitet oben in der Intensivpflege. Schwester Mary Vincent? dachte ich. Eine Nonne? Ich dachte, ich hätte mich geirrt.«
Er schüttelte den Kopf, erinnerte sich, erinnerte sich.
Carella schaute zu der Videokamera hinaus. Das rote Lämpchen brannte noch. Das Band lief noch. Laß mich jetzt nicht im Stich, dachte er. Erzähl weiter, Sal.
»Ich ging noch einmal hin. Ich mußte mich vergewissern, daß das nicht Katie war. Denn wenn sie es war, wollte ich mit ihr über diese Nacht vor vier Jahren sprechen. Genau, wie man als Kind seine Mutter nach etwas fragt, verstehen Sie? Ich wollte Katie fragen, was in dieser Nacht passiert ist. Wollte mich vergewissern, daß es wirklich passiert ist. Das mit Charlie Custer. Als wir ihn umgebracht haben.«
Carella kam in den Sinn, daß nur einer Custer umgebracht hatte, und zwar Roselli. Er war derjenige, der ihn über das Geländer und in den Tod gestoßen hatte. Ja, formaljuristisch waren sie gemeinschaftlich vorgegangen, Katie hatte ihn mit der Flasche geschlagen, Roselli hatte ihn den Alligatoren zum Fraß vorgeworfen. Und ja, formaljuristisch konnte der Staatsanwalt beide anklagen. Aber Katie hatte ihn nicht vorsätzlich töten wollen, und Roselli hatte in Selbstverteidigung gehandelt. Genauso würde ein Strafverteidiger argumentieren, und er hatte damit nicht unrecht. Manchmal war Carella froh, daß er nur ein Cop war.
»Ich habe draußen vor der Notaufnahme gewartet«, sagte Roselli, »auf dem Parkplatz, auf dem die Krankenwagen halten. Das war zwei oder drei Tage später. Ständig gingen Krankenschwestern rein oder raus. Es war Katie, da bestand nicht der geringste Zweifel. Ich sprach sie nicht an, weil ich nicht wußte, wie sie sich verhalten würde. Sie war aus der Band ausgestiegen und verschwunden. Sie war Nonne geworden und hatte einen anderen Namen angenommen. War sie davongelaufen, weil sie Angst vor dem Gesetz hatte? Oder Angst vor mir? War sie Nonne geworden, weil sie sich auf diese Weise verstecken wollte? Vor dem Gesetz? Oder vor mir?«
Er nickte erneut, erinnerte sich. Nickte unentwegt. Versuchte zu verstehen. Faltete die Hände auf dem Tisch. Die Finger arbeiteten. Er knetete die auf dem Tisch gefalteten Hände.
»Ich habe in allen Telefonbüchern nachgesehen, aber es war niemand namens Mary Vincent eingetragen. Also bin ich ihr eines Tages nach Hause gefolgt«, sagte er. »Sie wohnte in einem Haus ohne Fahrstuhl an der Yarrow. Ich habe mir die Briefkästen angesehen und fand einen, an dem Mary Vincent stand. Jetzt wußte ich also, wie ich sie erreichen konnte, falls ich das wollte. Aber warum sollte ich es wollen?«
Und nun schien Roselli sich treiben zu lassen, abzuschweifen. Seine Stimme wurde so leise, daß sie kaum mehr als ein Flüstern war, und er vertraute sich Carella an, als säßen die beiden tatsächlich allein irgendwo draußen in der Sonne. Er war sich der Kamera jetzt nicht mehr bewußt, richtete den Blick nach innen, und die Worte ergossen sich aus seinem Herzen wie scharfe Glasscherben.
Carella lauschte und litt.
Mir war klar, daß eine Nonne nicht mal das Schwarze unter den Fingernägeln hat, aber Sie wissen ja, sie kam aus einer begüterten Familie. Irgendwo aus Pennsylvania. Als wir unterwegs waren, hat sie ständig von ihnen gesprochen. Ihr Vater war Professor an der Uni, ihre Mutter Psychiaterin. Da war Geld. Was bedeuten so einer Familie schon ein paar tausend Dollar? Ich wußte natürlich nicht, daß ihre Eltern tot waren. Das habe ich erst später erfahren. An jenem Abend im Park. Ich wußte nicht, daß ihr Bruder das ganze gottverdammte Geld geerbt hatte. Ich dachte einfach … Sie wissen schon … wenn ich sie um etwas Geld bitte, nur damit ich über die Runden komme, bis ich mit meinem Buchmacher klar bin, irgendwo eine feste Anstellung gefunden habe, dann könnte sie es ja vielleicht von ihren Eltern bekommen? Wenn eine meiner Töchter Nonne wäre, würde ich ihr geben, was sie will. Einfach alles. Ich liebe die kleinen Mädchen. Ich würde ihnen alles geben. Vielleicht werden Katies Eltern ihr aushelfen. Das habe ich jedenfalls gedacht.
Ich konnte sie nicht anrufen, sie stand ja nicht im Telefonbuch, aber ich wollte sie auch nicht einfach auf der Straße ansprechen. He, Katie, erinnerst du dich an mich? Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir beide Charlie Custer umgebracht haben? Erinnerst du dich daran, wie die Alligatoren ihn gefressen haben? Das war doch zum Piepen, was? Erinnerst du dich an das alles, so wie ich mich daran erinnere, außer wenn ich ganz tief im Dopeland bin? Erinnerst du dich, Katie?
Ich schrieb ihr einen Brief.
Er war auf Montag, den 10. August datiert. Ich weiß das, weil ich ihn noch mal gelesen habe, nachdem ich in ihre Wohnung eingebrochen bin, um ihn mir zurückzuholen. Ich zerriß ihn in dem Augenblick, in dem ich wieder zu Hause war. Spülte die kleinen Fetzen die Toilette runter. In dem Brief stand: Hallo, Katie, schön zu wissen, daß du noch lebst und es dir gut geht. Ich will dich nicht belästigen, Katie, ich weiß, daß du jetzt ein neues Leben führst, aber ich habe ein paar Probleme, und du kannst mir vielleicht helfen. Es geht um folgendes. Ich brauche ein paar tausend Dollar, um Schulden zu bezahlen. Ich hatte gehofft, du könntest deine Eltern um ein Darlehen bitten, bis ich wieder auf den Füßen stehe. Glaubst du, das wäre möglich? Ich wüßte deine Hilfe wirklich zu schätzen. Bitte ruf mich an, Katie. Ich wohne im Augenblick auf Sand’s Spit, in einem kleinen Reihenhaus. Die Nummer lautet 803-7256. Ich will dir nichts Böses. Ich brauche nur etwas Geld. Angesichts unserer gemeinsamen Vergangenheit bin ich überzeugt, daß du mir helfen wirst. Bitte ruf mich an. Sie hat nie angerufen.
Sie muß den Brief irgendwann in dieser Woche erhalten haben. Selbst wenn sie ihn Ende der Woche erhalten hatte, sagen wir, Donnerstag oder Freitag, hätte sie anrufen können. Aber sie tat es nicht.
Also schrieb ich ihr einen zweiten Brief. Der stammte vom Samstag, dem 15. August. Auch er ging die Toilette runter, direkt, nachdem ich ihn in ihrer Wohnung gefunden hatte. Darin stand, daß ich das wirklich dringend brauchte, weil der Mann, dem ich es schuldete, anfing zu drohen. Ich schrieb, ich wüßte, ihre Eltern wären wohlhabend, also könnte sie sie doch bitte mal fragen, oder? Ich brauchte nur zweitausend. Ich bat sie, mich am kommenden Freitag im Grover Park zu treffen. Dem 21. August. Abends um halb sieben. Nimm den Eingang Larson Street. Geh zur dritten Bank rechts. Ich sitze da und warte auf dich. Bitte bring das Geld mit. Ich werde dir nichts tun, Katie. Das verspreche ich dir. Bitte triff dich mit mir, Katie. Wir sind doch alte Freunde. Weißt du nicht mehr, Katie? Bitte hilf mir.
Ich habe um halb sieben an diesem Abend dort auf sie gewartet.
Sie kam erst um sieben. Ich wollte gerade gehen. Sie hat gesagt, sie sei durch den Park gegangen. Sie hat gesagt, sie habe gebetet. Bestätigt, daß Gott die Entscheidung, die sie getroffen hatte, noch immer gutheiße. Das hat sie wörtlich gesagt. Bestätigt.
Da sind wir also, sagte sie.
Und lächelte. Wirkte ganz ruhig und gelassen und … na ja… fast selig.
Sie sagte, ich sähe sehr gut aus, was gelogen war, und ich erwiderte, ich sei sehr froh, daß sie sich mit mir getroffen hatte. Aber ich sei sehr überrascht gewesen, als ich herausfand, daß sie eine Nonne war, ob sie das Singen völlig aufgegeben habe? Du warst eine so gute Sängerin, sagte ich.
Ich singe manchmal in der Station, sagte sie. Ich singe meinen Patienten etwas vor.
Sie erzählte mir, sie habe hauptsächlich mit Todkranken zu tun. Ich erwiderte, das könne ich mir nicht so richtig vorstellen. Katie Cochran eine Nonne in einem Krankenhaus? Die todkranken Patienten etwas vorsingt? Nun hör schon auf, sagte ich.
» Nun hör schon auf, Charlie.«
Ich erzählte ihr, daß ich verheiratet war und zwei kleine Mädchen hatte, Josie und Jenny. Meine Frau ist ein hübsches Mädchen, Katie, es würde mich freuen, wenn ihr euch mal kennenlernen könntet.
Ich würde sie gern kennenlernen, sagte Katie.
Ich sagte ihr, es täte mir leid, sie auf diese Weise zu belästigen, aber ich steckte wirklich in der Klemme, sagte ich.
Ich brauche das Geld wirklich, sagte ich. Wirklich, Katie.
Katie, ich bin drogensüchtig, sagte ich.
Es tut mir leid, das zu hören, sagte sie.
Aber meine Frau ist clean, völlig sauber. Na ja, sie nimmt dann und wann mal was, um sich zu entspannen, eigentlich nur, um mir gelegentlich Gesellschaft zu leisten. Ich habe Katie erklärt, daß ich ernste Probleme habe. Ich habe ihr gesagt, wegen des Kokains schulde ich meinem Dealer an die dreitausend Dollar. Wenn ich ihm jetzt zwei geben könnte, würde er sich mit dem Rest gedulden, bis ich wieder irgendwo ‘ne feste Anstellung als Musiker finde.
Hast du das Geld also mitgebracht? fragte ich. Deine Briefe klangen so bedrohlich, sagte sie. Nein, nein, ich will dir nichts Böses. Ja, ganz besonders diese Worte. »Ich will dir nichts Böses.« Warum solltest du mir etwas Böses wollen? Will ich doch gar nicht.
Aber deine Worte. »Angesichts unserer gemeinsamen Vergangenheit.« Und in dem zweiten Brief … »Weißt du nicht mehr, Katie?« Solche Drohungen.
Nein, nein, so habe ich sie nicht gemeint.
Sie haben mir Angst gemacht, Sal. Deine Worte. Ich habe gebetet, daß Gott dir deine Worte verzeihen wird. Es war seltsam, daß ich deine Briefe ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bekam. Als ich meinen Entschluß bereits gefaßt hatte.
Katie, hast du das Geld mitgebracht?
Ich habe versucht, es zu bekommen, sagte sie.
Versucht?
Ich habe meinen Bruder in Philadelphia angerufen. Als meine Eltern starben, hat er eine Menge Geld geerbt. Sie sind im vergangenen Juli bei einem Autounfall umgekommen, Sal.
Tut mir leid, das zu hören. Aber…
Am Unabhängigkeitstag. Er hat alles geerbt, was sie hatten. Ich war sicher, er würde mir helfen. Er hat mir nämlich schon mal geholfen.
Versucht? sagte ich.
Er hat abgelehnt. Es tut mir leid, Sal. Ich habe es versucht.
Nein! Bitte ihn noch mal!
Er wird wieder ablehnen. Ich habe das fast geahnt, Sal. Denn verstehst du, Gott hat bereits…
Katie, ich will nichts von Gott hören! Frag einfach deinen Bruder…
Gott hat den Weg enthüllt, Sal. Ich habe so eindringlich um seine Führung gebetet. Und endlich hat er mir vergeben. Noch bevor deine Briefe kamen…
Verdammt, Katie…
… wußte ich, daß ich mir auch vergeben kann. Gottes Wille ist mein Wille geworden.
Dasselbe Lächeln lag wieder auf ihrem Gesicht. Es konnte einen wirklich aus der Fassung bringen. Es ging jetzt auf halb acht zu, die Lampen im Park waren schon angegangen, der Himmel wurde dunkler, aber sie schien lächelnd in ein blendendes Licht zu starren.
Ich habe die Vergangenheit vergessen, Sal. Die gesamte Vergangenheit. Gott hat mir dabei geholfen.
Niemand kann die Vergangenheit vergessen, sagte ich.
Ich schon, sagte sie. Ich habe sie vergessen. Bete zu Gott, sagte sie. Daß er dir verzeiht. Daß er dir hilft, auch zu vergessen.
Aber ich erinnerte mich.
Als sie all diesen religiösen Scheiß verzapfte, erinnerte ich mich an alles, was vor vier Jahren passiert war, in dieser schwülen Nacht Anfang September. Die Geräusche der Nacht jenseits der Glastür, die sich zum Fluß öffnet. Wir beide in Charlies Büro, allein mit ihm. Charlies obszöner Annäherungsversuch. Macht den Reißverschluß auf. Entblößt sich vor ihr. Vor einem jungen Mädchen wie Katie.
» Willst du das Geld haben?« fragt Charlie erneut und wedelte mit den Scheinen vor Katies Gesicht.
Hat Gott zweitausend Dollar? sagte ich. Um den Mann zu bezahlen, der mir die Finger brechen will? Die Finger! sagte ich und hob die Hände, um sie ihr zu zeigen, wackelte mit ihnen vor ihrem Gesicht.
»Hören Sie auf damit«, sagt Katie, streckt die Hand aus und schlägt nach dem Geld, als wolle sie es wie ein lästiges Insekt verscheuchen.
Meinen Lebensunterhalt, sagte ich. Meine Musik, Katie! Mein Leben!
Es tut mir leid, sagte sie.
»Denn so wird’s laufen. Entweder das kleine Mädchen hier lutscht meinen Schwanz, oder ihr kriegt kein Geld.« Hör mir zu, sagte ich.
Vergiß diese Nacht, sagte sie. Bete zu Gott, und er wird dir vergeben, Sal. Wie er mir vergeben hat. Glaub mir, Sal, Gott wird dich hören!
Gott kann mich am Arsch lecken, sagte ich.
Sie schrie leise auf. Ihre Hand fuhr an ihre Lippen.
Ruf deinen Bruder noch mal an, sagte ich. Sag ihm, ich werde zur Polizei gehen. Sag ihm, ich erinnere mich an alles, Katie. An alles! Du hast Charlie mit der Flasche geschlagen, du hast ihn in den Fluß gestoßen, ich weiß alles! Geh zu ihm, sagte ich. Besorg dir das Geld.
Ich kann mich nicht noch einmal an ihn wenden, sagte sie.
Dann besorg es dir irgendwo anders! Ganz egal, woher, nur…
Sal, bitte. Ich bin eine Nonne.
Dann geh zu deiner Mutter Oberin, geh zum Papst, aber besorg das verdammte Geld. Oder ich gehe zur Polizei, das schwöre ich dir. Ich…
Wenn jemand zur Polizei geht…
Ja, sagte ich, ich werde gehen.
… dann werde ich es sein, sagte sie.
Ich sah sie an.
Ich bin eine Nonne, sagte sie.
Es war sehr dunkel auf diesem Weg. Die Sonne war untergegangen, kein Lüftchen regte sich. Eine Nonne, sagte sie.
Die Blätter der Bäume bewegten sich nicht, die Nacht war still.
Zwing mich nicht dazu, sagte sie. Du hast ihn umgebracht, Sal. Du. Nein.
Du allein. Ich bin eine Nonne. Du hast ihn umgebracht, weil er… Halt die Klappe, flüsterte ich. … dich zwingen wollte …
Halt die Klappe! rief ich, und dann packte ich sie am Hals.
16
»Am Ende hat er seine eigene Geschichte geglaubt«, sagte Brown.
»Ja, er hat sie geglaubt«, sagte Carella. »Genau wie sie.«
»Sie hat seine Geschichte geglaubt?«
»Ihre.«
Beide Männer waren leicht angetrunken.
»Beide haben das, was passiert ist, für sich umgeschrieben«, sagte Carella.
»Haben versucht, die Vergangenheit zu verändern.«
»Er hat Charlie in den Fluß gestoßen, sie hat Charlie in den Fluß gestoßen.«
»Niemand hat Charlie in den Fluß gestoßen.«
»Charlie ist in den Fluß gesprungen!«
Beide Männer brachen in Lachen aus.
»Psst«, sagte Carella.
Teddy schlief oben, die Zwillinge schliefen in ihrem Zimmer ein Stück den Korridor entlang. Der Uhr auf dem Kaminsims zufolge war es zehn nach zehn. Die Detectives waren seit halb sieben am Morgen wach und hatten seit Viertel vor acht Dienst gehabt. Es war ein langer, langer Tag gewesen.
»Glaubst du, sie wäre wirklich zur Polizei gegangen?« fragte Carella.
»Na klar. Sie hatte Gott auf ihrer Seite.«
»Das hat ihr im Park nicht besonders viel geholfen.«
»Sie hat vergessen, »Lieber Gott im Himmel, hilf mir!< zu rufen«, sagte Brown und lachte wieder schallend auf.
»Psst«, sagte Carella und brüllte dann ebenfalls los. Brown hielt wie ein Kind, das ein böses Wort gesagt hatte, die Hand vor den Mund. Carella sah zum Flur und schloß die Augen. Beide Männer waren einen Augenblick lang still und lachten dann wieder los.
»Psst«, sagte Carella.
»Psst«, sagte Brown.
»Hast du noch was zu trinken? Komm, ich hol dir noch was.«
»Nur noch ein Schlückchen. Ich muß los. Caroline wird sich sonst Sorgen machen.«
Carella ging in die Küche, goß Scotch in Browns Glas und Canadian Club in seins. Ein wenig Soda in beide. Eiswürfel. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, stand Brown an den Bücherregalen und betrachtete die Titel.
»Kommst du überhaupt noch zum Lesen?« fragte er.
»Nicht oft. Nur noch im Urlaub.«
»Wann nimmst du deinen?«
»In vierzehn Tagen.«
»Wo geht’s hin?«
»Ans Meer.«
»Wird bestimmt schön.«
»Ja.« Carella hob sein Glas. »Auf die goldenen Tage«, sagte er.
»Und die purpurnen Nächte«, sagte Brown. Sie tranken.
»Wie konnten die beiden nur glauben, sie könnten die Vergangenheit vergessen?« sagte Carella und nippte an seinem Drink. »Weißt du was?« sagte er.
»Was?«
»Ich werde im Oktober vierzig.«
»O je«, sagte Brown.
»Vierzig.«
»Ich hab’s gehört.«
»Weißt du noch, wie wir einen trinken gegangen sind, wenn wir einen wichtigen Fall aufgeklärt haben?«
»Das tun wir doch auch jetzt, Steve.«
»Ich meine, in eine Bar. Als wir beide noch nicht verheiratet waren. Erinnerst du dich an die Bar bei der Brücke? Direkt an der Culver? Alle Jungs vom Revier sind dahin gegangen und haben sich vollaufen lassen. Weißt du das noch? Nach einem wichtigen Fall? Kling war damals noch Streifenpolizist. Hawes war noch nicht mal dabei. Weißt du das noch?« Er nickte, während er in seinen Erinnerungen schwelgte, und setzte sich Brown gegenüber in den Sessel. Er trank einen großen Schluck und sah dann in das Glas. »Damals war ein Cop namens Hernandez bei uns, den ich gut leiden mochte«, sagte er. »Er wurde von einem billigen Dieb ermordet, der sich im Revier verkrochen hatte, weißt du das noch? Erinnerst du dich an einen Cop namens Havilland? Roger Havilland? Er war schlimmer als Parker. Manchmal glaube ich, Parker ist Havilland, von den Toten auferstanden. Erinnerst du dich noch, wie der Junge dieses reichen Typs oben in Smoke Rise gekidnappt wurde? King. Douglas King. Komisch, wie man sich an die Namen erinnert, was? Erinnerst du dich daran, wie Virginia Dodge mit einer Flasche Nitro in der Handtasche in den Dienstraum kam? Sie wollte mich umbringen, weil ich ihren Mann geschnappt hatte. Weißt du das noch? Weißt du noch, wie Ciaire in dieser Buchhandlung erschossen wurde? Klings Freundin, weißt du noch? Ciaire Townsend. Weißt du noch, wie der Taube den Tunnel unter diese Bank gegraben hat? Ich wette, der wird nie alt, Artie, der Taube doch nicht. Weißt du noch … Mein Gott, weißt du noch, was damals war? Ich erinnere mich an alle von ihnen, Artie. Ich erinnere mich an alles, an alles. An jede einzelne Minute. Es geht viel zu schnell vorbei, Artie. Ich werde im Oktober vierzig. Wo ist nur die Zeit geblieben, Artie?«
Er sah auf.
»Artie«, sagte er.
Brown schnarchte leicht vor sich hin. Der Schlaf zeichnete seine Züge weicher, ließ ihn viel jünger aussehen. Carella ging zu ihm, betrachtete ihn liebevoll, lächelte. Dann schaltete er das Licht aus und ging zum Telefon, um Caroline zu sagen, daß ihr Mann müde war und bei ihnen schlafen würde.
Sonny war vor Sonnenaufgang in Riverhead. Er stellte den gestohlenen Wagen vier Blocks vom Haus der Carellas entfernt in einem Parkhaus ab, das die ganze Nacht über geöffnet hatte, und ging dann über die Dover Plains Avenue zum Hochbahn-Bahnhof, versuchte auszusehen wie jeder einfache Farbige, der an diesem Mittwochmorgen wie an jedem anderen Tag zur Arbeit schlurfte. Er ging an der Treppe vorbei, die zum Bahnsteig führte, und bog dann nach rechts in die Straße ab, in der Carella wohnte. Er war ein Schwarzer, der zu Fuß in einer weißen Gegend unterwegs war, während die Sonne noch schlief. Er hoffte, keinem Streifenwagen zu begegnen, hoffte, niemand würde aus dem Fenster sehen und ihn für einen Einbrecher statt für einen Mann halten, der einen Detective von der Polizei töten wollte. Das amüsierte ihn. Er lachte auf, zog den Kopf ein, als habe jemand seine Gedanken gelesen, und eilte die Straße entlang.
Der Chevy, dem er in den vergangenen vierzehn Tagen gefolgt war, stand vor Carellas Garage. Das überraschte ihn. Er schaute zum Haus hinüber. Kein einziges Licht brannte. Er ging schnurstracks den Grasstreifen neben der Auffahrt hinauf, schlich leise zu der Tür an der Seite der Garage, zwischen ihr und dem Haus. Das war der gefährlichste Teil. Jetzt konnte man ihn vom Haus aus sehen. Aber es war dunkel, und er war schwarz - auch das amüsierte ihn -, und er knackte das Micky-Maus-Schloß in Null Komma nichts. Blitzschnell öffnete er die Tür und schloß sie genauso schnell wieder hinter sich. In der Garage standen zwei Wagen, was erklärte, wieso Carella die alte Polizeilimousine auf der Auffahrt abgestellt hatte.
Sonny nahm die Desert Eagle aus dem Gürtel.
Er sah auf seine Uhr. Zehn vor sechs.
Er schätzte, daß Carella in einer Stunde tot sein würde.
Sie tranken in der Küche Kaffee, als Fat Ollie Weeks anrief. Teddy und die Zwillinge schliefen noch. Die Uhr an der Wand zeigte 6 Uhr 35.
»Hab mir gedacht, daß du schon wach bist«, sagte Ollie.
»Bin seit sechs Uhr auf«, sagte Carella.
»Ich hab ‘nen Nonnenwitz für dich.«
»Zu spät. Wir haben den Fall bereits aufgeklärt.«
»Wer ist wir?«
»Artie und ich.«
»Artie?«
»Brown.«
»Ach ja. Brown«, sagte Ollie. »Er sitzt neben mir«, sagte Carella. »Was hat er denn so früh bei dir zu suchen?«
»Wir haben gestern abend gefeiert«, sagte Carella. »Wie in den alten Zeiten.«
»Aber was hat er so früh bei dir zu suchen?«
»Er hat hier geschlafen.«
»Er hat bei dir geschlafen?«
Für Ollie war es unvorstellbar, daß irgendein Weißer einem Schwarzen erlauben würde, in einem seiner Betten zu schlafen. Oder in eine seiner Toiletten zu pinkeln. Oder eins seiner Handtücher zu benutzen. Unvorstellbar.
»Grüß ihn vor mir«, sagte er, doch es hörte sich an wie eine Verwünschung. »Wie gefällt dir denn dein schwarzer Tanzpartner?«
»Was meinst du?«
»Hat Parker es dir nicht gesagt?«
»Nein. Was?«
»Sonny Cole beschattet dich.«
»Was?«
»Sonny Cole. Der Bursche, der deinen Vater erschossen hat. Er beschattet dich.«
»Wenn das ein Scherz ist, Ollie…«
»Kein Scherz. Er sitzt in einem grünen Honda, achte darauf.«
»In einem grünen Honda?«
»Er verfolgt dich seit vierzehn Tagen.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat in Hightown wahrscheinlich einen Dealer abgemurkst. Ich mußte den Fall übernehmen.«
»Aber woher weißt du, daß er…?
»Die Augen und Ohren der Welt, mein Junge, a ja«, sagte Ollie. »Grüß ihn auch von mir.«
Es klickte in der Leitung.
»Ein grüner Honda?« sagte Brown.
»Sonny Cole fährt ihn«, sagte Carella.
»Was hat er denn vor?«
»Dreimal darfst du raten«, sagte Carella.
Sonny schaute durch die Fensterscheibe der Seitentür der Garage, sah, daß die Tür von Carellas Haus geöffnet wurde, öffnete im selben Augenblick die Garagentür, trat hinaus und zerrte die Desert Eagle aus seinem Gürtel. Er ging schnellen Schrittes die drei Meter von der Garage zum Haus, bereit, Carella in dem Augenblick wegzublasen, in dem er vor die kleine Veranda vor der Küche trat, doch statt dessen kam der große schwarze Trottel heraus, der sein Partner war.
Brown sah Sonny, als er die Treppe herunterkam.
Er griff sofort nach seiner Waffe.
Carella kam einen Augenblick später aus dem Haus und sah den Mann, den er all die Tage, die er im Gerichtssaal gesessen hatte, beobachtet hatte, während Henry Lowell ihn davonkommen ließ, obwohl er der Mörder seines Vaters war, und zog sofort seine eigene Waffe, so daß jetzt an diesem strahlenden Morgen im September drei Männer ihre Neuner aufeinander richteten, und alle Waffen schienen Mord im Sinn zu haben. Drei Neuner stellten das Zeichen des Teufels auf den Kopf: neun, neun, neun.
»Geh mir aus dem Weg, Nigger«, sagte Sonny. »Ich hab keinen Streit mit dir.«
»Aber ich hab jede Menge Streit mit dir«, sagte Brown.
Carella wußte nicht, ob er die Worte aussprach oder nur dachte, doch als er den Abzug betätigte, waren sie noch da.
Vater unser, der du bist im Himmel… Und er schoß.
Und nun schoß auch Brown. Und Sonny Cole brach zusammen.
Er rief Lieutenant Byrnes zu Hause an und sagte ihm, daß er und Brown einen Mann namens Samson Wilbur Cole erschossen hatten, der vor seinem Haus mit einer Desert Eagle in der Hand gewartet hatte. Er bat den Lieutenant, das zuständige Revier, die Mordkommission und auch die Dienstaufsicht zu informieren, und erklärte ihm, er und Brown würden hier am Tatort warten.
Die Schüsse hatten die gesamte Nachbarschaft geweckt, und alle standen in Bademänteln und Schlafanzügen auf der Straße, als zuerst ein Streifenwagen und dann mehrere nicht gekennzeichnete Fahrzeuge eintrafen. Es war mittlerweile kurz vor sieben. Etwa zwanzig Minuten später hielten zwei weitere Streifenwagen vor dem Haus der Carellas und spuckten jede Menge hohe Tiere aus, die versessen darauf waren, mit Carella und Brown zu sprechen, bevor die Medien Wind bekamen. Den größten Teil des Tages verbrachten die beiden Detectives im Polizeipräsidium, wo kein geringerer als der Polizeichef persönlich sie instruierte, was sie sagen sollten, sobald die Zeitungs- und Fernsehreporter zuhauf über sie herfielen.
Als Carella und Brown an diesem Abend ihre zehn persönlichen Minuten Fernsehruhm allmählich bedauerten, trat der Cookie Boy aus dem Scheinwerferlicht und stieg in eine 747 nach London, wo er Verwandte in der Fleischverpackungsbranche hatte. Als sein Flugzeug um sechs Uhr die Runway zum Take-off entlangraste, wurde Carella von einem Fernsehjournalisten, der die Sonny-Cole-Story unbedingt in eine Familienvendetta verwandeln wollte, gefragt, was er gefühlt habe, als er den Mann erschoß, der wegen Mordes an Carellas Vater angeklagt worden war.
Brown hielt den Kopf hin und sagte: »Es war meine Kugel, die ihn getötet hat.«
Carella fragte sich, was genau er gefühlt hatte. Die Wahrheit war… er wußte es nicht. Er schätzte, er fühlte sich ganz gut.