14

Wegen eines Staus auf der M11 kam er erst nach ein Uhr in Porthill Green an. Das Wetter hatte sich verschlechtert, ein Schneesturm schien sich zusammenzubrauen. Das Wine's the Plough war noch geöffnet, aber anstatt direkt in das Pub zu gehen, um noch einmal mit John Darrow zu sprechen, ging Lynley zuerst über den knirschenden Schnee auf dem Dorfanger zu einer Telefonzelle und rief New Scotland Yard an. Es dauerte nur Augenblicke, ehe Barbara Havers sich meldete. Den Hintergrundgeräuschen von Geschirrgeklapper und Stimmengewirr entnahm er, daß sie das Gespräch in der Kantine entgegengenommen hatte.

»Verdammt noch mal, wo sind Sie denn abgeblieben?« rief sie scharf und fügte dann pflichtschuldig, aber trotzig, »Sir« hinzu. »Wo sind Sie? Inspector Macaskin hat angerufen. Sie haben jetzt die kompletten Autopsiebefunde über Sinclair und Gowan Kilbride. Macaskin läßt Ihnen ausrichten, daß sie die Todeszeit von Joy Sinclair auf die Zeitspanne zwischen zwei und Viertel nach drei Uhr fixiert haben. Und er teilte mir unter viel Gestammel mit, daß es keinerlei Anzeichen dafür gibt, daß sie vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte oder gar vergewaltigt wurde. Er sagte, die Freunde von der Spurensicherung hätten noch nicht alles gesichtet, was sie aus dem Zimmer mitgenommen haben. Er ruft wieder an, sobald die Ergebnisse vollständig sind.«

Lynley war dankbar für Macaskins Gründlichkeit und seine Bereitschaft zu helfen, ohne sich von der Übermacht Scotland Yards einschüchtern zu lassen.

»Wir haben Stinhurst noch mal verhört. Es ist mir nicht gelungen, ihm wegen Samstag nacht auch nur eine einzige Widersprüchlichkeit nachzuweisen, obwohl wir die Geschichte x-mal durchgekaut haben.« Havers schnaubte verächtlich. »Jetzt ist gerade sein Anwalt gekommen - typisch Alt-Eton, steif und zugeknöpft. Den hat zweifellos seine Frau geschickt, da seine Lordschaft sich selbstverständlich nicht dazu herabließ, Volk wie Nkata und mich um die Erlaubnis zu bitten, einen Anruf zu machen. Er sitzt jetzt in einem Vernehmungszimmer, aber wenn nicht schleunigst was Entscheidendes passiert, können wir ihm nichts anhaben. Warum sind Sie nicht gekommen?«

»Ich bin in Porthill Green.« Er unterbrach ihre Empörungsäußerungen mit: »Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich behaupte gar nicht, daß Stinhurst mit Joy Sinclairs Tod nichts zu tun hat. Aber ich lasse diese Darrow-Sache hier nicht einfach auf sich beruhen. Vergessen wir nicht die Tatsache, daß Joy Sinclairs Zimmertür abgeschlossen war, Havers. Ob es Ihnen nun paßt oder nicht, einziger Zugang ist und bleibt die Verbindungstür von Helens Zimmer.«

»Aber wir waren uns doch einig, daß Francesca Gerrard ihm den Schlüssel -«

»Und Hannah Darrows Abschiedsbrief war aus einem Theaterstück abgeschrieben.«

»Aus einem Theaterstück? Aus welchem denn?«

Lynley blickte über den Anger hinweg zum Pub. Rauch stieg aus seinem Schornstein zum düsteren Himmel auf.

»Das weiß ich nicht. Aber ich vermute, John Darrow weiß es. Und ich denke, er wird es mir sagen.«

»Aber was hilft uns das denn, Inspector? Und was soll ich mit seiner ehrenwerten Lordschaft anfangen, während Sie draußen in den Fens rumtollen?«

»Lassen Sie ihn noch einmal alles erzählen. Im Beisein seines Anwalts, wenn er darauf besteht. Sie kennen die Routine, Havers. Planen Sie es mit Nkata. Variieren Sie die Fragen.«

»Und dann?«

»Dann lassen Sie ihn gehen.«

»Inspector -«

»Sie wissen so gut wie ich, daß wir im Augenblick nichts Handfestes gegen ihn haben. Allenfalls Vernichtung von Beweismaterial durch die Verbrennung der Skripten. Aber abgesehen davon absolut nichts außer der Tatsache, daß sein Bruder vor fünfundzwanzig Jahren für die Russen spioniert und er selbst beim Tod seines Bruders sich der Beihilfe oder unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht hat. Ich glaube kaum, daß es etwas bringt, wenn wir Stinhurst dafür heute in Haft nehmen. Und Ihnen dürfte doch klar sein, daß sein Anwalt darauf bestehen wird, daß wir entweder Anklage erheben oder ihn auf freien Fuß setzen.«

»Vielleicht bekommen wir von der Spurensicherung Strathclyde noch was«, meinte sie.

»Vielleicht. Dann holen wir ihn uns eben wieder. Im Augenblick sind uns die Hände gebunden. Wir können nicht mehr tun. Ist das klar?«

Er hörte die zornige Gereiztheit in ihrer Stimme, als sie antwortete. »Und was für Aufträge haben Sie für mich, wenn Stinhurst abgedampft ist?«

»Gehen Sie in mein Büro, machen Sie die Tür zu und warten Sie, bis Sie von mir hören.«

»Und wenn Webberly einen Fortschrittsbericht verlangt?«

»Dann sagen Sie ihm, er kann mir den Buckel runterrutschen«, versetzte Lynley. »Nachdem Sie ihm vorher mitgeteilt haben, daß wir über die Einmischung vom Special Branch und MI5 Bescheid wissen.«

Er konnte Barbaras Lächeln förmlich sehen. »Mit Vergnügen, Sir. Wie ich immer schon sagte, wenn das Schiff sowieso sinkt, kann man ruhig noch ein paar Löcher in den Bug schlagen.«

Als Lynley eine Käseplatte und ein Glas Guinness verlangte, machte John Darrow ein Gesicht, als würde er die Bestellung am liebsten zurückweisen. Doch die Anwesenheit dreier Männer am Tresen und einer alten Frau, die am Feuer über einem Schnaps döste, hielt ihn offenbar davon ab. Und so bekam Lynley, der an einem der Tische beim Fenster Platz genommen hatte, keine fünf Minuten später eine große Platte mit Stilton und Cheddar, eingelegten Silberzwiebeln und knusprigem Brot serviert.

Er aß in aller Ruhe, ohne sich von den neugierigen Blicken der anderen Gäste stören zu lassen. Bauern aus der Gegend ohne Zweifel, die bald gehen würden, um ihr Tagwerk zu erledigen. Dann würde John Darrow keine Wahl bleiben, als sich dem Gespräch mit Lynley zu stellen, dem er unverkennbar so gern aus dem Weg gegangen wäre.

Darrow war jetzt mit den Männern am Tresen richtiggehend vertraulich geworden, als hoffte er, diese ungewohnte Freundlichkeit könne sie verleiten, länger als gewöhnlich zu bleiben. Im Augenblick unterhielten sie sich über Sport, ein lautes Gespräch über das Fußballteam von Newcastle, das unterbrochen wurde, als die Tür aufflog und ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren hereinstürmte.

Lynley hatte ihn schon aus der Richtung von Mildenhall kommen sehen, auf einem alten Motorrad, dessen Farbe man unter der Schmutzschicht kaum erkennen konnte. Der Junge, derb gekleidet in schwere Arbeitsstiefel, Bluejeans und eine voluminöse Lederjacke, hatte seine Maschine vor dem Haus abgestellt und sich dann ein paar Minuten Zeit genommen, um auf die andere Straßenseite zu gehen und Lynleys Wagen zu begutachten. Er war so stämmig gebaut wie John Darrow, hatte aber die helle Haut und das blonde Haar seiner Mutter.

»Wem gehört der Schlitten da draußen?« rief er vergnügt, als er hereinkam.

»Mir«, sagte Lynley.

Der Junge kam zu ihm an den Tisch und warf dabei mit einer halb verlegenen Kopfbewegung das blonde Haar zurück. »Tolles Gerät«, sagte er und blickte sehnsüchtig zum Fenster hinaus. »Muß Sie 'ne Stange Geld gekostet haben.«

»Tut es immer noch. Es schluckt Benzin, daß einem Hören und Sehen vergehen kann. Ich frage mich ehrlich gesagt oft, ob ich nicht lieber auf so was umsteigen soll.«

Lynley wies mit dem Kopf auf das Motorrad vor dem Haus.

»Das wär was!« Der Junge lachte. »Das ist ein echtes Museumsstück, sag ich Ihnen. Aber laufen tut sie klasse. Letzte Woche -«

»Du hast noch was zu erledigen, Teddy«, unterbrach John Darrow scharf. »Mach dich an die Arbeit.«

Mit der Ermahnung hatte Darrow das Gespräch zwischen seinem Sohn und dem unwillkommenen Polizeibeamten unterbrochen und auch die anderen Gäste an die Zeit erinnert. Die Bauern bezahlten, die alte Frau am Kamin stand gähnend auf, und Augenblicke später waren nur noch Lynley und John Darrow in der Gaststube. Gedämpfte Rockklänge und Türenschlagen aus der Wohnung darüber kündeten davon, daß Teddy sich bereits an seine Arbeit gemacht hatte.

»Er ist gar nicht in der Schule«, stellte Lynley fest.

Darrow schüttelte den Kopf. »Er ist fertig. In der Beziehung ist er wie seine Mutter. Für Bücher hatte er nie viel übrig.«

»Ihre Frau hat nicht gelesen?«

»Hannah? Die hat nie ein Buch aufgeschlagen. Sie besaß nicht mal eines.«

Lynley nahm seine Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Dann schlug er die Akte über Hannah Darrows Selbstmord auf. Er nahm den Abschiedsbrief heraus. »Dann ist das hier doch sehr merkwürdig, finden Sie nicht? Was glauben Sie, wo sie es abgeschrieben hat?«

Darrow kniff die Lippen zusammen, als er den Brief erkannte, den Lynley ihm schon einmal gezeigt hatte.

»Dazu hab ich nichts mehr zu sagen.«

»Sie werden leider nicht darum herumkommen.« Lynley stand auf und trat mit Hannahs Brief in der Hand an den Tresen. »Denn sie ist ermordet worden, Mr. Darrow, und ich glaube, das wissen Sie schon seit fünfzehn Jahren. Offen gesagt war ich bis heute morgen überzeugt davon, daß Sie selbst sie getötet haben. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Aber ich bin fest entschlossen, heute erst wieder abzufahren, wenn Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Joy Sinclair mußte sterben, weil sie der Wahrheit über den Tod Ihrer Frau zu nahe kam. Wenn Sie sich also einbilden sollten, man wird diesen Todesfall einfach auf sich beruhen lassen, nur weil Sie nicht darüber sprechen wollen, was 1973 hier im Dorf geschah, müssen Sie umdenken. Oder aber wir fahren alle zusammen nach Mildenhall und unterhalten uns mit Chief Constable Plater. Sie, Teddy und ich. Denn wenn Sie nicht bereit sind, mir zu helfen, muß ich mich an Ihren Sohn wenden, der sicher noch einige Erinnerungen an seine Mutter hat.«

»Den Jungen lassen Sie da gefälligst raus! Der hat damit nichts zu tun. Er hat's nie erfahren.«

»Was denn?« fragte Lynley und blickte Darrow in das verschlossene, mißtrauische Gesicht. »Jetzt hören Sie mal zu, Darrow. Ich weiß nicht, was damals geschah. Aber letztes Wochenende wurde ein sechzehnjähriger Junge - ein Junge wie Ihr Sohn - brutal ermordet, weil sich ein Killer von ihm bedroht fühlte. Derselbe Killer - davon bin ich felsenfest überzeugt -, der Ihre Frau getötet hat. Und ich weiß, daß sie ermordet wurde. Mann, helfen Sie mir, ehe noch ein Mensch umkommt.«

Darrow starrte ihn mit stumpfem Blick an. »Ein Junge, sagen Sie?«

Lynley spürte, wie Darrows Abwehr bröckelte, und nahm seinen Vorteil wahr. »Ein Junge namens Gowan Kilbride. Er wollte nichts weiter im Leben, als nach London gehen und ein zweiter James Bond werden. Aber dann wurde er in einem Haus in Schottland umgebracht. Auf grausamste Weise. Sein Gesicht und seine Brust waren von kochend heißem Wasser verbrüht, und in seinem Rücken steckte ein Fleischermesser. Und wenn der Killer als nächstes hierher kommt, weil er herausbringen möchte, was genau Joy Sinclair von Ihnen erfahren hat - wie wollen Sie sich oder Ihren Sohn vor einem Mann oder einer Frau schützen, die Sie nicht einmal kennen?«

Darrows Gesicht war anzusehen, daß er mit sich kämpfte. Sollte er tun, was Lynley von ihm verlangte - in die Vergangenheit zurückkehren, alles noch einmal durchleben? In der Hoffnung, sich und seinen Sohn vor einem Mörder zu schützen, der vor vielen Jahren auf so grausame Weise in ihr Leben eingegriffen hatte.

Er fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Es war ein Mann.«


Darrow sperrte die Tür zum Gasthaus ab, und sie setzten sich an einen Tisch beim Kamin. Er nahm vom Tresen eine Flasche Whisky mit, machte sie auf und schenkte sich ein. Ohne ein Wort zu sagen, trank er, als hätte er für das, was auf ihn zukam, Stärkung nötig.

»Sie sind Hannah gefolgt, als sie an dem Abend damals aus der Wohnung ging«, sagte Lynley.

Darrow wischte sich den Mund mit dem Handrücken.

»Ja. Sie sollte mir und einem Mädchen aus dem Dorf hier unten helfen, drum war ich in die Wohnung raufgegangen, um sie zu holen. Und da hab ich auf dem Küchentisch einen Brief gefunden. Aber es war nicht der Brief, den Sie da in der Akte haben. Es war einer, in dem sie mir schrieb, daß sie mich verlassen würde. Daß sie mit irgend so einem geschniegelte!Kerl nach London gehen würde. Zum Theater.«

Also doch, dachte Lynley. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen, auch wenn alles, was er von St. James und Helen, Barbara Havers und Stuart Stinhurst gehört hatte, in eine ganz andere Richtung zu weisen schien.

»Das war alles, was in dem Brief stand?«

Darrow schüttelte finster den Kopf und starrte in sein Glas, aus dem ein starker Malzgeruch aufstieg. »Nein. Sie hat mich beschimpft und mit dem anderen verglichen, denn ich sollte wissen, was sie getrieben hatte und warum sie gehen wollte. Sie wolle einen richtigen Mann haben, schrieb sie, einen, der wüßte, wie man eine Frau richtig liebt und glücklich macht. Ich hätte sie nie glücklich gemacht, schrieb sie. Ich sollte mir an ihrem Liebhaber ein Beispiel nehmen, dann würde ich vielleicht noch mal eine Frau finden. Als wollte sie mir damit noch einen Gefallen tun.«

»Woher wußten Sie, wohin sie wollte?«

»Ich hab sie gesehen. Als ich den Brief gelesen hatte, ging ich zum Fenster. Sie muß knapp vorher gegangen sein, vielleicht ein, zwei Minuten, ehe ich in die Wohnung raufkam. Ich hab sie noch draußen auf der Straße gesehen. Sie hatte einen großen Koffer dabei und ging rüber zu dem Weg am Kanal, der durch Mildenhall Fen führt.«

»Dachten Sie gleich an die Mühle?«

»Ich dachte an gar nichts, außer daß ich das kleine Luder erwischen und grün und blau schlagen wollte. Aber dann hab ich mir überlegt, daß es mir viel besser schmecken würde, wenn ich ihr nachgeh und sie mit dem Kerl zusammen erwisch. Dann hätt ich sie gleich beide vertrimmt, verstehen Sie. Also hab ich immer schön Abstand gehalten.«

»Sie hat nicht gemerkt, daß Sie ihr folgten?«

»Es war dunkel. Ich hab mich ganz am Rand vom Weg gehalten, wo er dicht bewachsen war. Sie hat sich zwei- oder dreimal umgeschaut. Ich dachte, sie hätte was gemerkt, aber dann ging sie ganz ruhig weiter. An der Stelle, wo der Kanal einen Knick macht, war sie mir ein ziemliches Stück voraus, drum sah ich nicht, daß sie zur Mühle abbog, und ging weiter - vielleicht dreihundert Meter oder so. Als ich merkte, daß sie nicht mehr vor mir war, wußte ich gleich, wo sie verschwunden war - es gab nicht viele andere Möglichkeiten da draußen, verstehen Sie. Ich bin umgekehrt und dann zur Mühle abgebogen. Ihr Koffer lag ungefähr dreißig Meter hinter der Abzweigung auf dem Weg.«

»Sie war ohne ihn weitergegangen?«

»Er hatte ein Riesengewicht. Ich dachte, sie wär in die Mühle gegangen, um ihrem Kerl zu sagen, daß er den Koffer für sie holen soll. Drum hab ich gewartet. Ich wollt ihn mir gleich da auf dem Weg greifen. Und dann wollte ich in die Mühle und mit ihr abrechnen.«

Darrow schenkte sich neu ein und schob die Flasche Lynley zu, der jedoch ablehnte.

»Aber es kam keiner, um den Koffer zu holen«, fuhr er fort. »Ich hab ungefähr fünf Minuten gewartet. Dann hab ich mich näher an die Mühle rangeschlichen, weil ich sehen wollte, was sie trieben. Ich war noch nicht mal bei der Lichtung, als der Kerl rausgerannt kam. Er rannte um die Ecke, dann hörte ich ein Auto, und weg war er.«

»Haben Sie ihn sehen können?«

»War viel zu dunkel. Und ich war zu weit weg. Ich hab noch einen Moment gewartet, dann bin ich zur Mühle gegangen. Und da hab ich sie gefunden.« Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Erhängt.«

»War alles genauso wie auf den Polizeifotos?«

»Ja. Nur aus ihrer Manteltasche schaute ein Zettel raus.

Den hab ich rausgezogen. Das war der Brief, den ich dann der Polizei gegeben hab. Gleich beim Lesen hab ich gemerkt, daß es nach Selbstmord aussehen sollte.«

»Ja. Aber es hätte nicht nach Selbstmord ausgesehen, wenn Sie ihren Koffer am Weg liegengelassen hätten. Aber Sie haben ihn mit nach Hause genommen.«

»Ja. Ich hab ihn raufgebracht. Dann hab ich Alarm geschlagen. Ich hab allen den Zettel aus ihrer Manteltasche gezeigt. Den anderen Brief hab ich verbrannt.«

Trotz allem, was der Mann durchgemacht hatte, verspürte Lynley Zorn. Hier war in kaltem Blut eine junge Frau getötet worden, und fünfzehn Jahre lang war dieser Mord ungesühnt geblieben.

»Aber warum haben Sie das alles getan?« fragte er. »Wollten Sie denn nicht, daß der Mörder bestraft wird?«

Darrow warf ihm einen Blick zu, in dem sich Spott und Verachtung mischten. »Sie haben offensichtlich keinen Schimmer, wie's auf dem Land zugeht, Mann. Können Sie sich vorstellen, wie man sich vorkommt, wenn das ganze Dorf weiß, daß einem die Frau mit einem anderen durchbrennen wollte, nur weil der im Bett mehr drauf hatte? Und daß der Kerl sie dann auch noch umgebracht hat? Nicht der eigene Mann, nein - das hätten alle im Dorf verstanden -, sondern genau der Mistkerl, der's heimlich mit ihr getrieben und dem Ehemann Hörner aufgesetzt hat. Und glauben Sie vielleicht, das alles wär nicht rausgekommen, wenn ich damit rausgerückt wäre, daß Hannah ermordet worden war?« Darrow wartete nicht auf eine Antwort. »Auf diese Weise mußte wenigstens Teddy nie erfahren, was seine Mutter für eine war. Für mich war Hannah tot. Und Teddy war's wert, den Mörder laufen zu lassen.«

»Besser eine Mutter, die Selbstmord begangen hat, als ein Vater, dem Hörner aufgesetzt worden sind?« fragte Lynley. Darrow schlug mit der Faust auf den fleckigen Tisch.

»Genau! Mit mir hat er nämlich in diesen fünfzehn Jahren leben müssen. Mir hat er jeden Tag ins Gesicht schauen müssen. Und wenn er das tut, soll er einen Mann sehen, verstehen Sie. Nicht einen verdammten Schwächling, der's nicht fertiggebracht hat, die eigene Frau zu halten. Und glauben Sie ja nicht, dieser feine Pinkel aus London hätte sie halten können!« Er schenkte sich wieder ein und goß einen Teil des Whiskys achtlos daneben, als die Flasche ans Glas stieß. »Schauspielunterricht hat er ihr versprochen und eine Rolle in irgendeinem Stück. Aber wenn das alles nichts geworden wäre, hätte sie ihn genauso .«

»Eine Rolle in seinem Stück? Schauspielunterricht? Woher wissen Sie das? Stand das in ihrem Brief?«

Darrow drehte sich zum Kamin um und antwortete nicht. Aber Lynley war jetzt klar, warum Joy Sinclair diesen Mann immer wieder angerufen hatte, was sie in den Gesprächen mit ihm so hartnäckig herauszufinden versucht hatte. Ohne Zweifel hatte er ihr in seinem Zorn, ohne es zu wollen, eine Informationsquelle verraten, die sie dringend brauchte, um ihr Buch schreiben zu können.

»Gibt es Aufzeichnungen, Darrow? Tagebücher vielleicht?«

Der Mann antwortete nicht.

»Darrow! Nun kommen Sie schon! Wissen Sie den Namen des Mörders?«

»Nein.«

»Aber Sie wissen eine ganze Menge. Woher?«

Noch immer starrte Darrow mit unbewegter Miene ins Feuer. Aber sein keuchender Atem verriet, wie erregt er war. »Tagebücher«, stieß er schließlich hervor. »Hannah hat sich selber immer unheimlich wichtig genommen. Alles hat sie aufgeschrieben. Die Tagebücher waren in ihrem Koffer. Zusammen mit allen ihren anderen Sachen.«

»Geben Sie mir die Tagebücher, Darrow«, sagte Lynley, der wußte, daß der Mann behauptet hätte, sie schon vor Jahren vernichtet zu haben, wenn er sein Verlangen als Frage formuliert hätte. »Geben Sie sie mir. Ich kann nicht garantieren, daß Teddy niemals die Wahrheit über seine Mutter erfahren wird, aber ich verspreche Ihnen, daß er sie von mir auf keinen Fall erfahren wird.«

Darrow senkte den Kopf. »Ich kann nicht«, murmelte er.

Lynley ließ nicht locker. »Ich weiß, daß Joy Sinclair mit ihren Fragen alles wieder aufgerührt hat. Ich weiß, daß sie Ihnen Kummer und Unruhe bereitet hat. Aber, um Himmels willen, hat sie deshalb verdient, ermordet zu werden? Von einem brutalen Mörder, der ihr einen Dolch in den Hals stieß? Wer von uns verdient einen solchen Tod? Gibt es überhaupt ein Verbrechen im Leben, das eine solche Strafe verdient? Und Gowan! Was ist mit dem Jungen? Er hatte nichts getan, nichts, Darrow, und trotzdem mußte auch er sterben. Überlegen Sie, Mann! Sie können den Tod dieser beiden doch nicht einfach so hinnehmen!«

Danach gab es nichts mehr zu sagen. Danach konnte er nur noch auf die Entscheidung des Mannes warten. Ein Holzscheit im Kamin knackte laut und zerbarst in einem kleinen Funkenregen. Von oben war das Rumoren von Darrows Sohn zu hören. Nach einer qualvollen langen Stille hob Darrow den Kopf.

»Kommen Sie mit rauf in die Wohnung«, sagte er tonlos.


Eine Außentreppe an der Rückfront des Hauses führte in die Wohnung hinauf. Darunter zog sich ein gekiester Weg durch einen verwilderten Garten zu einem Törchen, hinter dem sich in endloser Weite die Felder dehnten, in einer Monotonie, die nur hier und dort durch einen vereinzelten Baum, einen Kanal, die wuchtige Form einer Windmühle unterbrochen wurde. Der trüb!Himmel schien alle Farbe aus dem Land aufzusaugen, und die Luft war geschwängert vom modrigen Geruch nach Torf und Morast. Jahrhundertelanges Wechselspiel von Überschwemmungen und Fäulnis hatte diese trostlos wirkende Landschaft geformt, die still war bis auf das rhythmische Keuchen der Entwässerungspumpen, das aus der Ferne über das flache Land klang.

John Darrow öffnete die Tür und führte Lynley in die Küche, wo Teddy, umgeben von feuchten Wischlappen, Topfkratzern und einem Eimer Wasser, auf allen vieren vor dem alten Herd lag und sich abmühte, das verkrustete Backrohr zu reinigen. Der Fußboden um ihn herum war feucht und schmutzig. Aus dem Radio auf dem Büffet schallte die heisere Stimme eines Rocksängers. Bei ihrem Eintreten blickte Teddy von seiner Plackerei auf und schnitt eine Grimasse.

»Da haben wir 'n bißchen zu lang gewartet, Dad. Bei der Kruste käme ich mit einem Meißel besser voran.« Er wischte sich grinsend das Gesicht.

Darrows Ton war barsch, aber liebevoll. »Geh runter, Junge. Kümmre dich um die Wirtschaft. Das Rohr kann warten.«

Dagegen hatte Teddy nichts einzuwenden. Mit einem Sprung war er auf den Füßen und schaltete das Radio aus.

»Ich kann ja jeden Tag ein bißchen was dran machen. Dann werden wir es bis Weihnachten schon sauber kriegen«, meinte er lachend. Dann winkte er ihnen zu und flitzte hinaus.

Als die Tür sich hinter dem Jungen geschlossen hatte, wandte sich Darrow an Lynley. »Ich hab ihre Sachen oben auf dem Speicher. Ich wär Ihnen dankbar, wenn Sie sich die Tagebücher da oben anschauen würden, sonst kreuzt womöglich Teddy hier auf und will sehen, was Sie da lesen. Aber es ist kalt. Ziehen Sie lieber Ihren Mantel wieder an.«

Er ging Lynley voraus durch ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer, dann durch einen düsteren Flur, an dem die beiden Schlafzimmer lagen. Am Ende des Ganges griff er zu einer Falltür in der Decke, stieß sie nach oben und zog eine Klappleiter aus Metall herunter, die relativ neu zu sein schien.

Als hätte er Lynleys Gedanken gelesen, sagte er: »Ich geh ab und zu mal rauf. Immer wenn ich eine Erinnerung brauche.«

»Eine Erinnerung?«

Trocken gab ihm Darrow die Erklärung. »Wenn ich mal Sehnsucht nach einer Frau hab. Dann schau ich mir Hannahs Tagebücher an. Und dann vergeht's mir auf der Stelle.«

Er stieg die Leiter hinauf.

Auf dem Speicher war es kalt und muffig wie in einer Gruft. Dicker Staub, der bei jeder Bewegung in Wolken in die Höhe wirbelte, hatte sich auf Kisten, Kartons und ausrangierten Möbelstücken abgelagert. Der Raum war klein, von Gerüchen nach Mottenkugeln, modriger Kleidung, feuchtem, langsam verrottendem Holz erfüllt. Ein blasser Lichtstrahl fiel durch das einzige, schmutzverschmierte Fenster im Dach.

Darrow zog an einer Schnur, die von der Decke herabhing, und eine nackte Glühbirne warf ihren Lichtschein auf den Boden darunter. Er wies mit dem Kopf auf zwei alte Schiffskoffer, die rechts und links von einem alten Stuhl standen. Weder der Stuhl noch die Koffer waren staubig. Lynley fragte sich, wie oft Darrow hier heraufzukommen pflegte in die Totengruft seiner Ehe.

»Ihre Sachen sind nicht geordnet«, sagte Darrow. »Mir war alles egal damals. An dem Abend, an dem sie gestorben ist, hab ich die Sachen aus dem Koffer nur schnell in ihre Kommode gestopft, bevor ich die Leute im Dorf zusammengetrommelt hab, um sie zu suchen. Und später, nach der Beerdigung, hab ich einfach alles in die zwei Koffer da gepackt.«

»Warum hatte sie an dem Abend zwei Mäntel und zwei Pullover an?«

»Habgier, Inspector. Die Sachen haben nicht mehr in ihren Koffer gepaßt. Wenn sie sie also mitnehmen wollte, mußte sie sie entweder tragen oder anziehen. Wahrscheinlich kam's ihr einfacher vor, sie anzuziehen. Kalt genug war's ja.«

Darrow zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und sperrte die Schiffskoffer auf. Er klappte die Deckel auf und sagte dann: »So, da haben Sie alles. Das Tagebuch, das für Sie interessant ist, liegt ganz oben auf dem Stapel. Ich laß Sie jetzt allein.«

Nachdem Darrow gegangen war, setzte Lynley seine Brille auf. Aber er griff nicht gleich nach den fünf Tagebüchern, die auf den Kleidern lagen. Er sah sich zuerst die anderen Sachen an, um sich wenn möglich ein Bild von Hannah Darrow zu machen.

Ihre Kleider waren alle von der gleichen Sorte - billig gemacht, mit einem Anspruch auf teuren Schick. Es waren größtenteils auffallende Sachen - Pullover mit Glitzer, enge Röcke, kurze, tief ausgeschnittene Kleider aus dünnem Material, enge Hosen mit ausgestellten Beinen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er, daß der Stoff an den Nähten zu reißen drohte. Sie hatte ihre Sachen offenbar hauteng getragen.

Aus einem Plastikköfferchen stieg ein merkwürdiger, ranziger Geruch auf. Es enthielt ein großes Sortiment an billigen Kosmetika und Cremes - eine Palette verschiedener Lidschatten, ein halbes Dutzend Lippenstifte, alle sehr dunkel, Wimperntusche, Make-up, Puder, ein Päckchen Watte. In einer Seitentasche steckten ihre Antibabypillen.

Eine Einkaufstüte aus Norwich enthielt eine Kollektion neuer Unterwäsche, Reizwäsche, wie sie in billigen Katalogen als verführerisch angepriesen wird. Winzige Bikinihöschen aus roter, schwarzer oder violetter Spitze, Strumpfbänder aus dem gleichen Material und in den gleichen Farben, durchsichtige Büstenhalter mit neckischen kleinen Schleifchen, enge, bis zur Hüfte geschlitzte Halbunterröcke aus satinartiger Kunstfaser.

Unter der Tüte lag ein Bündel Fotografien. Sie zeigten alle Hannah selbst, immer in Pose, geputzt und geschminkt, ob sie nun nachlässig an einen Zaun gelehnt stand, von einem Pferderücken herunterlachte oder am Strand saß und sich das Haar vom Wind zerzausen ließ. Vielleicht waren sie als Reklamefotos gedacht gewesen. Vielleicht hatte sie die Bestätigung gebraucht, daß sie eine hübsche Frau war, oder die Bestätigung, daß sie wirklich existierte.

Lynley nahm das oberste Tagebuch. Der Einband war rissig, mehrere Blätter waren zusammengeklebt, viele waren von der Feuchtigkeit gewellt. Langsam blätterte er das Buch durch, bis er zum letzten Eintrag kam, der vom 25. März 1973 stammte. Die Schrift war die gleiche wie auf dem Abschiedsbrief, große, runde Buchstaben, eine kindliche Schrift; im Gegensatz zu dem Brief jedoch war dieser Text voller Schreibfehler.


Jezt steht es feßt. Morgen abend geh ich. Ich bin so froh, daß es entlich entschieden ist. Wir haben heut abend Stunden lang geredet und alles genau besprochen. Und wie dann entgültig alles ausgemacht war wollt ich mit ihm schlafen, aber er hat gesagt, nein, Han, wir haben nicht genug Zeit. Im ersten Moment hab ich gedacht er ist villeicht sauer, weil er meine Hand richtig weggestosen hat aber dann hat er gelächelt so richtig lieb und hat gesagt Schatz dafür haben wir noch viel viel Zeit wenn wir erst in London sind. London! London!! Morgen um dieße Zeit. Er hat gesagt das seine Wohnung fertig ist und das er alles arrangschiert hat. Ich weis überhaupt nich wie ich den langen Tag morgen aushalten soll. Ich mus dauernd an ihn denken. Mein Liebster! Mein Liebster!


Lynley blickte auf, sah zu dem kleinen Dachfenster hinauf, in dessen schwachem Licht Staubkörnchen schwebten. Er hatte nicht damit gerechnet, daß die Worte einer Frau, die so lang schon tot war, ihn auch nur im geringsten bewegen könnten; einer Frau, die sich grell geschminkt und grell gekleidet hatte und die bei dem Gedanken an ein neues Leben in einer Stadt, die für sie ein Ort der Verheißung und der Hoffnung war, in einen Taumel freudiger Erregung geraten war. Aber ihre Worte hatten ihn tatsächlich bewegt. Sie schien ihm wie eine nach Wasser dürstende Pflanze, die zum ersten Mal die Pflege und Aufmerksamkeit erhielt, die sie brauchte, um gedeihen zu können. Selbst in ihren unbeholfenen Worten von Sinnlichkeit und Sexualität zeigte sie eine beinahe kindliche Unschuld. Hannah Darrow, das unerfahrene, naive Mädchen vom Lande, hatte sich letztendlich selbst zum perfekten Opfer gemacht.

Er blätterte langsam in dem Tagebuch zurück und überflog die einzelnen Einträge auf der Suche nach jener Stelle, wo sie zum ersten Mal von ihrer Bekanntschaft mit dem unbekannten Mann berichtete. Unter dem Eintrag vom 15. Januar 1973 fand er, was er suchte, und während er las, wurde er sich zunehmend sicherer, daß seine Ahnungen ihn nicht getrogen hatten.


So einen schönen Tag wie heut in Norwich hab ich fast noch nie erlebt. Trotzdem ich vorher so einen Riesenkrach mit John hatte. Mama und ich sind einkaufen gegangen weil sie sagte daß würde mich aufmuntern. Vorher sind wir bei Tante Pammy vorbeigegangen und haben sie auch mitgenommen. Sie hatte natürlich schon wieder gesüffelt und hat fürchterlich nach Gin gestunken. Beim Mittagessen haben wir das Plakat von einer Teatergruppe gesehen und Pammy hat gesagt, sie wäre uns was schuldig drum hat sie uns in das Theaterstück eingeladen. Aber ich glaub sie hats hauptsächlich getan weil sie ihren Rausch ausschlafen wollte. Sie hat geschnarcht das es kaum zum aushalten war und am Ende hat der Mann hinter ihr mit dem Fus an ihren Sitz getreten. Ich war vorher noch nie im Teater. Das muß mann sich mal vorstellen. Das Stück hat von einer Herzogin gehandelt, die erwürkt wird und am Schlus ersticht einer den anderen. Und ein Mann hat immer gesagt er wär ein Wolf. - Richtig spannend. Und was für schöne Koßtüme die anhatten. Sowas hab ich noch nie gesehen. Lange Kleider und glitzernde Kronen auf den Köpfen. Und die Männer hatten Strumpfhosen an und vorn so komische kleine Beutel. Als es aus war hat die Herzogin Blumen gekriegt und die Leute sind aufgestanden und haben geklatscht. Ich hab im Programm gelesen das sie im ganzen Land rumfahren und ihre Stücke aufführen. Sowas würd ich auch gern machen. Das wär ein Leben. In PGreen ists zum Verücktwerden. Manchmal würd ich am liebsten laut schreien. John will dauernd mit mir schlafen aber ich mag einfach nicht mehr. Seit dem Baby ist bei mir was nicht in Ordnung aber er glaubts mir nich.


Es folgte eine Woche, in der sie verdrossen und niedergeschlagen ihr tägliches Leben im Dorf schilderte: Wäsche waschen, das Baby versorgen, tägliche Telefongespräche mit der Mutter, die Wohnung saubermachen, im Pub aushelfen. Sie schien keine Freundinnen gehabt zu haben. Ihr Leben hatte anscheinend nur aus Arbeit und Fernsehen bestanden. Unter dem 25. Januar fand Lynley die nächste bedeutungsvolle Eintragung.


Entlich ist was pasiert. Ich kanns faßt nicht glauben, wenn ich dran denk. Ich habe John angelogen und gesagt ich hätt wieder Blutungen und müste zum Dokter. Zu einem neuen Dokter in Norwich einem Spezialissten hab ich gesagt. Und dann hab ich noch gesagt das ich abends bei Tante Pammy essen würde und er sich nichts denken soll wenns später wird. Ich weis gar nicht warum ich das gesagt hab aber es war ein Glück. Ich wollt nur das Stück nochmal sehen und die tollen Koßtüme. Ich hab keinen guten Platz gekriegt ganz hinten und ich hatte meine Brille nicht dabei und es war auch ein andres Stück. Stinklangweilig. Die Leute haben dauernd nur davon geredet das sie heiraten oder wegziehen wollen und die drei Frauen hatten eine Wut auf das Mädchen das ihr Bruder geheiratet hat. Komisch es waren dieselben Schauspieler aber sie haben ganz anders ausgeschaut als in dem anderen Stück. Wie dies wohl schaffen das sie nicht alles durcheinanderbringen? Als es aus war bin ich zum Bühnenausgang gegangen. Ich wollt so gern mal mit einem von den Schauspielern reden und mir ein Autogram geben lassen. Ich hab eine Stunde lang da gestanden aber sie kamen immer nur zu zweit oder in Gruppen raus. Nur ein Mann kam allein raus. Ich weis nich wen er gespielt hat weil ja mein Platz so weit hinten war aber ich wollt ihn. fragen ob er er mir ein Autogram gibt. Aber dann hab ich mich in letzter Minute nich getraut. Dafür bin ich ihm nachgegangen. Ich weis selbst nich warum. Er ging in ein Pub und hat sich was zu essen und zu trinken bestellt. Ich hab ihn beobachtet und am Schluß bin ich einfach zu ihm hingegangen und hab gesagt Sie haben doch auch in dem Stück mitgespielt, nich? Würden Sie mir ein Autogram geben. Einfach so. Er sieht ganz toll aus. Er war erstaunt und hat gesagt ich soll mich doch einen Moment setzen und wir haben über das Teater geredet und er hat mir erzehlt daß er schon lange dabei ist. Ich hab ihm gesagt wie gut mir das Stück mit der Herzogin gefallen hat und das ich die Koßtüme ganz toll fand. Da hat er gesagt ob ich Lußt hätte mit ihm ins Teater zu kommen und mir die Koßtüme anzuschaun. Er sagte aus der Nähe besehen wären sie nichts besonderes. Er sagte ich könnte villeicht eins anprobiern wenn niemand da wäre. Dann sind wir zusammen ins Teater zurückgegangen. Und er hat mir alles gezeigt. Ich hätt nie gedacht das da hinter der Bühne soviel Platz ist. Lauter Garderoben und Warteräume und Kammern wo sie die ganzen Sachen aufheben die sie im Stück brauchen. Die Kulissen sind aus Holz aber sie sehen ganz echt aus. Dann sind wir in einen Ankleideraum gegangen und er hat mir die ganzen Koßtüme gezeigt die da auf einer Stange hingen. Sie waren aus Samt. So weich. Er hat mich gefragt ob ich eines probieren will.

Es würde keiner was merken. Also hab ichs getan!! Aber als ich es wieder ausziehen wollt bin ich mit den Haaren am Reisverschluß hängengeblieben und er hat sie ganz vorsichtig wieder rausgezogen und dann hat er angefangen meinen Hals zu küssen und mich zu streicheln. In der Ecke stand so ein Sofading aber er hat gesagt nein nein gleich jetzt hier auf dem Boden und dann hat er die ganzen Koßtüme runtergerissen und wir habens mittendrin getan. Danach haben wir irgendwo im Teater eine Frau reden gehört und ich kriegte eine Heidenangst. Aber er sagte es ist mir egal wer das ist, es ist mir egal, egal und dann hat er gelacht und hat wieder angefangen mich zu streicheln und wir habens nochmal getan. Und es hat überhaupt nicht wehgetan. Mir ist ganz anders geworden heiß und kalt und es war ganz toll und er hat wieder gelacht und gesagt du dummes Ding so muß es doch sein. Er hat gefragt ob ich nächste Woche wieder komme. Natürlich komm ich. Ich bin erst nach Mitternacht heimgekommen, aber John war noch unten im Pub und hat nichts gemerkt. Hoffentlich läßt er mich in Frieden. Mit ihm mag ichs nicht tun, da tuts immer weh.


In den nächsten fünf Tagen folgten Gedanken über das Erlebnis in Norwich, romantische Ergüsse eines jungen Mädchens, das zum ersten Mal die Wonnen der sinnlichen Liebe erfahren hat. Am sechsten Tag jedoch schlugen ihre Gedanken eine andere Richtung ein. Die Eintragung war auf den 31. Januar datiert.


Er ist bestimmt nich für immer da. Die Truppe fährt ja überall in der Gegend rum und im März ziehen sie weiter. Ich kann den Gedanken nicht aushalten. Morgen seh ich ihn wieder. Er soll mir seine Adresse zuhause geben. John fragt warum ich schon wieder nach Norwich mus und ich hab gesagt weil ich zum Dokter mus. Ich hab gesagt das ich schlimme Schmerzen hab und der Dokter hätte gesagt er soll mich in Ruhe lassen bis die Schmerzen weg sind. Wie lang hat er gefragt. Was fü!Schmerzen? Ich hab gesagt wenn dus mit mir tust dann tuts weh un der Dokter hat gesagt das ist nicht recht und drum sollst du mich in Ruhe lassen. Ich bin seit Teddys Geburt nicht in Ordnung hab ich gesagt. Ich weis nicht ob er mir das glaubt aber er hat mich gottseidank nicht mehr angerührt.


Auf der folgenden Seite berichtete sie von dem Zusammentreffen mit ihrem Liebhaber.


Er hat mich in seine Wonung mitgenomen. Was besondres ist sie nich. Nur so eine scheusliche Einzimmerwonung in einem alten Haus gleich bei der Katetrale. Er hat faßt keine Möbel drin weil seine richtige Wonung ja in London ist. Und ich versteh gar nich warum er sich eine Wonung gesucht hat die soweit vom Teater weg ist. Er hat gesagt er geht gern zu fuß. Und auserdem brauchen wir beide doch nicht viel hat er dann noch gesagt und dazu so lieb gelächelt. Gleich bei der Tür hat er mich ausgezogen und wir habens im stehen getan. Danach hab ich gesagt ich weis das er im März mit der Truppe weggeht und das ich doch auch Schauspielerin werden kann. Ich glaub nich das es schwer ist. So gut wie die Frauen die ich auf der Bühne gesehen hab kann ichs auch. Er hat gesagt ja ich soll mirs überlegen er könnte mir Schauspielunterricht geben lassen und jemanden suchen der mit mir übt. Dann hab ich gesagt das ich Hunger hab und ob wir nich essen gehen könnten und er hat gesagt er hätte auch Hunger - aber nich auf was zu essen!


In der Woche darauf hatte Hannah offenbar keinen Kontakt gehabt, aber allem Anschein nach eifrig Zukunftspläne geschmiedet. Sie drehten sich alle um ihren Liebhaber und das Theater. Sie schien zu dem Zeitpunkt bereits entschlossen, sich mit dem Mann zusammenzutun und aus Porthill Green zu verschwinden. Am 10. Februar schrieb sie kurz über ihre Pläne.


Er mag mich. Er hats selbst gesagt. Mama würde natürlich wieder behaupten das alle Männer das sagen wenn sie einen ins Bett kriegen wollen. Aber das ist was andres. Ich weis das ers ehrlich meint. Ich hab mir alles lang überlegt und ich glaub es ist am besten wenn ich zu der Truppe geh. Ich will ja am Anfang gar keine grose Rolle haben. Ich weis noch gar nicht wie teaterspielen geht aber auswendig lernen kann ich gut. Und wenn ich bei der Truppe bin können wir immer zusamen sein. Ich hab ihm die Nummer von der Wonung gegeben damit er mich hier anrufen kann aber bis jetzt hat ers nich getan. Wenn er bis morgen nicht angerufen hat fahr ich einfach wieder nach Norwich und wart am Teater auf ihn.


Der Bericht über ihren Besuch in Norwich folgte erst am 15. Februar.


Es ist soviel pasiert. Ich bin wirklich nach Norwich gefahren. Stundenlang hab ich am Teater gewartet. Dann kam er. Aber er war nich alein. Er war mit einer von den Frauen zusamen, die in dem Stück mitspielen und mit einem andren Mann. Sie redeten miteinander ich glaub es war ein Streit. Ich hab ihn gerufen aber er hat mich nich gehört. Da bin ich hingegangen und hab ihn am Ärmel gezupft. Im ersten Moment waren sie alle drei wie versteinert aber dann hat er mich angelächelt und gesagt: Hallo ich hab dich gar nich gesehn. Wartest du schon lang? Entschuldige mich einen Moment. Dann ist er mit der Frau und dem anderen Mann zu einem Auto gegangen. Die Frau und der Mann sind eingestiegen und weggefahren. Er ist zu mir zurückgekommen. Ich hab ihm angesehn das er wütend war. Warum hast du mich nich vorgestellt hab ich gefragt. Und er hat gesagt wieso bist du hier? Warum hast du mir nich bescheid gegeben? Wozu denn hab ich gesagt. Schenierst du dich mit mir? Er hat gesagt sei nicht albern. Weist du nicht das ich versuche dich bei der Truppe unterzubringen. Aber ich kann erst was unternehmen wenn du soweit bist. Diese Leute sind Profis hat er gesagt und sie nehmen keinen auf der nich auch ein Profi ist. Benimm dich also entsprechend. Da hab ich zu weinen angefangen. Ach verdammt Han hat er gesagt tu das nicht. Komm doch. Wir sind dann zu ihm gegangen. Ich war bis zwei Uhr dort. Vorgestern bin ich wieder zu ihm gefahren und er hat gesagt er würde sehen das ich vorsprechen kann aber dafür müste ich eine schwere Zene aus einem Stück lernen. Ich hab gehofft es wär was aus dem Stück mit der Herzogin aber es war aus dem andren. Er hat gesagt ich soll mir den Teil abschreiben und dann auswendig lernen. Es war sehr lang und ich hab gefragt warum ich es erst abschreiben mus er könnte mir doch das Buch geben. Aber er hat gesagt es wären nicht genug Bücher da und die bei der Truppe würden es merken wenn eins fehlt und dann würden sie alles wissen und es wär keine Überraschung mehr wenn ich vorspreche. Naja dann hab ich eben mit dem Abschreiben angefangen. Aber ich bin nich fertig geworden und mus morgen nochmal hin. Wir haben auch miteinander geschlafen. Erst wollte er nich aber hinterher war er doch ganz vergnügt.


Lynley fiel auf, daß die Liebe nur noch nebenbei erwähnt wurde, und es wunderte ihn, daß Hannah selbst nicht gemerkt hatte, daß sie an Stellenwert verloren zu haben schien. Aber wahrscheinlich war sie zu sehr in ihre Pläne versponnen gewesen, sich der Theatergruppe anzuschließen und ein neues Leben mit einem anderen Mann anzufangen, um den Moment zu bemerken, als die Liebe zu selbstverständlicher Routine abgeflacht war.

Ihre nächste Eintragung stammte vom 23. Februar.


Teddy war fünf Tage krank. Schlimm. John hat Tag und Nacht von nichts andrem geredet. Es ist mir so auf die Nerfen gegangen das ich am libsten geschrieen hätte. Trotzdem bin ich 2 x weg gekommen und hab die Zene fertig abgeschrieben. Ich weis nich warum ich das Buch nich haben kann. Er sagt die andern würdens merken. Ich soll meine Rolle nur auswendig lernen und nich drüber nachdenken wie ich sie spielen soll. Er hat gesagt er zeigt mir wies geht. Natürlich er kanns ja auch. Er weis wie man das macht. Aber es sind ja nur 8 Seiten. Ich hab mir vorgenommen das ich ihn überrasche. Ich spiels ihm vor. Dann hat er bestirnt keine Zweifel an mir. Manchmal glaub ich das er Zweifel hat. Auser wenn wir mitnander schlafen. Er weis das ich verrückt nach ihm bin. Ich kann kaum die Hände von ihm lassen. Das gefeilt ihm. Gott Hannah sagt er immer du weist genau was ich mach nich? Du weist es würklich. Besser als jede andre. Du bist besser als alles andre. Dann vergist er über was wir geredet haben und wir tun es.


Die folgenden Eintragungen beinhalteten eine genaue Beschreibung ihrer Liebespraktiken. Die Seiten waren stark abgegriffen, zweifellos war dies der Teil des Tagebuchs, den John Darrow sich vorzunehmen pflegte, wenn er sich des Schlimmsten erinnern wollte. Hannahs Beschreibungen waren genau bis ins kleinste Detail, sie hatte nichts weggelassen und auch nicht versäumt, die Liebeskünste ihres Liebhabers mit denen ihres Mannes zu vergleichen. Es war grausam und erbarmungslos und gab Lynley eine Vorstellung davon, wie der Abschiedsbrief an John Darrow ausgesehen haben mußte.

Die vorletzte Eintragung stammte vom 23. März.


Ich hab die ganze Woche geübt immer wenn John unten im Pub war. Teddy schaut mir von seinem Bettchen aus zu und lacht wie ein Wilder über seine Mama, die da wie eine russisch!Dame rumstolziert. Aber jetzt kann ichs. War kinderleicht. Und in 2 Tagen fahr ich nach Norwich und dann überlegen wir was wir tun und wann ich vorspreche. Ich kanns kaum erwarten. Ich hab Sehnsucht nach ihm. John hat mich heut morgen einfach überfallen. Es war eine richtige Vergewaltigung. So brutal. Am liebsten hätt ich geheult. Wenn ich denk das ich bis vor 2 Monaten geglaubt hab es müste so sein. Da kann ich jetzt nur lachen. Aber John sag ichs schon noch eh ich geh. Das geschieht ihm dann ganz recht. Er findet sich so toll. Wenn er wüste das ich einen richtigen Mann hab er würde wahrscheinlich einen Tobsuchtsanfall kriegen. Lieber Gott ich weis nicht ob ichs noch 2 Tage aushalten kann bis ich ihn wiederseh. Ich hab solche Sehnsucht nach ihm. Ich liebe ihn würklich.


Lynley klappte das Tagebuch zu. Hannah Darrows Aufzeichnungen hatten ihm das fertige Bild geliefert. »... die da wie eine russische Dame rumstolziert.« Ein Theaterstück über einen Mann, der heiratet, dessen Schwestern seine Frau verabscheuen. Menschen, die ständig von Umzug und von Heirat sprechen. Und dazu das Plakat an der Wand in Lord Stinhursts Büro: Drei Schwestern, Norwich. Leben und Tod der Hannah Darrow.

Er durchsuchte noch den Rest ihrer Habe, grub in Kleidern, Handtaschen, Handschuhen und billigem Schmuck. Aber erst als er sich dem zweiten Schiffskoffer zuwandte, fand er, was er suchte. Ganz unten, unter Pullovern und Schuhen, unter einem Poesiealbum aus der Jungmädchenzeit war das alte Theaterprogramm, auf das er gehofft hatte. Ein dünnes Heft, auf der Umschlagseite mit einem Diagonalstreifen unterteilt, im oberen Dreieck Schwarz auf Weiß, Die Herzogin von Malfi, im unteren Weiß auf Schwarz, Drei Schwestern.

Ungeduldig blätterte er das Heft durch, um zu sehen, wer damals gespielt hatte. Aber als er die beiden Verzeichnisse fand, traute er kaum seinen Augen. Mit Ausnahme von Irene Sinclair und mehreren Ensemblemitgliedern, an denen er kein Interesse hatte, hatten in beiden Stücken dieselben Schauspieler mitgewirkt: Joanna Ellacourt, Robert Gabriel, Rhys Davies-Jones und, um alles noch ein bißchen komplizierter zu machen, sogar Jeremy Vinney in einer kleinen Rolle, vermutlich der Schwanengesang seiner kurzen Bühnenkarriere.

Mit einer irritierten Bewegung warf Lynley das Programm beiseite. Er stand von dem unbequemen Stuhl auf und ging ein paarmal in dem kleinen Speicherraum auf und ab. Die wenigen Eintragungen Hannahs über ihren Liebhaber mußten doch einen Hinweis enthalten, irgend etwas, das er übersehen hatte, das, wenn auch vielleicht indirekt, über die Identität des Mannes Auskunft gab. Vielleicht hatte er es gelesen, ohne sich der Bedeutung bewußt geworden zu sein. Er kehrte zu dem Stuhl zurück, nahm wieder das Tagebuch zur Hand und begann die Lektüre von vorn.

Erst beim vierten Durchgang entdeckte er es: »Er hat gesagt er zeigt mir wies geht. Natürlich er kanns ja auch. Er weis wie man das macht.« Die Worte ließen nur zwei Deutungen zu: Entweder handelte es sich um den Regisseur des Stücks oder um den Schauspieler, der in jener Szene mitgewirkt hatte, aus der Hannahs »Abschiedsbrief« entnommen war. Ein Regisseur verfügte selbstverständlich über das Können und die Erfahrung, einem von aller Sachkenntnis ungetrübten jungen Ding wenigstens das Grundlegende dessen zu zeigen, was beim Spiel auf der Bühne wichtig war. Und ein Schauspieler, dem die Szene aus eigener Mitwirkung vertraut war, hätte ihr ohne weiteres die richtigen Anweisungen für ihr Spiel geben können.

Ein rascher Blick ins Programm zeigte Lynley, daß Stuart Stinhurst der Regisseur gewesen war. Ein Pluspunkt für Barbara Havers und ihren Riecher. Jetzt blieb nur noch festzustellen, aus welcher Szene in Drei Schwestern der »Abschiedsbrief« stammte und wer die Rollen in dieser Szene gespielt hatte. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie es gewesen war: In ihrer Tasche das sauber geschriebene Skript, war Hannah zur Mühle gegangen, um dort ihren Liebhaber zu treffen. Nachdem der Mann sie getötet hatte, hatte er die Abschrift an sich genommen, jenen Teil herausgerissen, der sich wie ein Abschiedsbrief las, und den Rest mitgenommen.

Lynley klappte die beiden großen Koffer zu, knipste das Licht aus, nahm den Stapel Tagebücher und das Programm mit hinunter. Im Wohnzimmer stieß er auf Teddy, der, die Füße auf einem niedrigen Couchtisch, vor dem Fernsehapparat saß und von einem blauen Blechteller Fischstäbchen aß. Als der Junge Lynley bemerkte, sprang er auf und schaltete das Gerät aus.

»Habt ihr hier Bücher mit Theaterstücken?« fragte Lynley, obwohl er der Antwort schon ziemlich sicher war.

»Bücher mit Theaterstücken?« wiederholte Teddy kopfschüttelnd. »Nein. Wir haben überhaupt keine Bücher. Platten und so was, ja. Und Zeitschriften auch.« Während er sprach, schien ihm klar zu werden, daß es Lynley nicht um Unterhaltung ging. »Mein Vater hat gesagt, daß Sie von der Polizei sind. Er will nicht, daß ich mit Ihnen rede.«

»Aber daran hältst du dich im Moment offensichtlich nicht.«

Teddy schnitt ein Gesicht und wies mit dem Kopf auf die Tagebücher unter Lynleys Arm. »Geht wohl um meine Mutter, hm? Ich hab die Bücher gelesen. Mein Vater hat mal einen Abend aus Versehen die Schlüssel stecken gelassen. Ich hab sie alle gelesen.« Verlegen wippte er auf den Fußballen auf und nieder. »Wir haben nie darüber geredet. Ich glaub, mein Vater könnte das gar nicht. Aber wenn Sie den Kerl erwischen, erfahr ich's dann?«

Lynley zögerte unsicher.

»Sie war immerhin meine Mutter«, sagte der Junge. »Sie war keine Heilige, und sie war nichts Besonderes, aber sie war meine Mutter. Sie hat mir nichts Böses getan. Und ich weiß, daß sie nicht Selbstmord begangen hat.«

»Nein. Das hat sie nicht getan.« Lynley wandte sich zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen. Er wollte den Jungen nicht einfach so hängen lassen. »Lies die Zeitung, Teddy. Wenn wir den Mann haben, der Joy Sinclair ermordet hat, dann weißt du, daß wir auch den Mörder deiner Mutter haben.«

»Wird er für den Mord an meiner Mutter auch bestraft, Inspector?«

Lynley erwog zu lügen, um dem Jungen eine weitere unerfreuliche Realität zu ersparen. Aber als er in das offene, gespannte Gesicht sah, wußte er, daß er das nicht konnte. »Nur wenn er ein Geständnis ablegt, Teddy.«

Der Junge nickte, bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Keine Beweise, hm?« sagte er bewußt lässig.

»Keine Beweise. Aber es ist derselbe Mann, Teddy, glaub mir.«

Der Junge wandte sich wieder dem Fernsehgerät zu. »Ich erinnere mich nur noch ganz düster an sie.« Er drehte an einem der Knöpfe, ohne das Gerät einzuschalten. »Hoffentlich erwischen Sie ihn«, sagte er leise.


Anstatt erst in Mildenhall anzuhalten, wo er dann vielleicht doch keine öffentliche Bibliothek gefunden hätte, fuhr Lynley direkt nach Newmarket; er wußte, daß es dort eine gab. Allerdings fand er das Gebäude erst um Viertel vor fünf, nach erbittertem Kampf mit dem Spätnachmittagsverkehr. Er parkte verkehrswidrig, ließ seinen Dienstausweis im Fenster und hoffte das Beste. Es hatte zu schneien angefangen, jede Minute war wichtig, wenn er noch unter halbwegs annehmbaren Bedingungen die Rückfahrt nach London antreten wollte. Das alte Theaterprogramm in der Tasche, eilte er die Stufen zur Bibliothek hinauf.

Es roch nach Bohnerwachs und verstaubtem Papier. In einem großen Raum mit hohen Fenstern und dunklen Bücherregalen stand hinter einer U-förmigen Theke ein korrekt gekleideter Mann mit Brille und speiste Informationen in einen Computer ein, der in dieser antiquierten Umgebung völlig fehl am Platz wirkte.

Lynley ging zum Katalog und suchte nach Tschechow. Fünf Minuten später saß er mit einem Exemplar von Drei Schwestern an einem der langen, mit Leselampen ausgestatteten Tische. Er schlug das Buch auf und fing an zu suchen, indem er den Text hastig überflog, von jeder längeren Rede immer nur die erste Zeile las. In der Mitte des Stücks jedoch wurde ihm klar, daß die Stelle aus Hannahs Abschiedsbrief wahrscheinlich irgendwo aus einer Rede herausgerissen worden war, und er begann noch einmal von vorn. Immer wieder fühlte er sich versucht, wild darauf loszublättern, weil ihm die Gewißheit im Nacken saß, daß die Fahrt nach London, je länger sie sich hinauszögerte, bei diesem Schneetreiben eine Tortur werden würde. Doch er zwang sich zu Gründlichkeit, und nach einer halben Stunde fand er die Passage etwa in der Mitte des vierten Akts. Er las den ganzen Text zweimal aufmerksam durch.


Was für Lappalien, was für dumme Kleinigkeiten manchmal doch im Leben Bedeutung gewinnen, auf einmal, ohne jeden Grund. Man lacht über sie wie früher, hält sie für Lappalien, und trotzdem geht man und fühlt, daß man nicht die Kraft hat stehenzubleiben. Oh, wollen wir nicht davon reden! Ich bin froh. Wie zum ersten Mal im Leben sehe ich diese Tannen, Ahorne, Birken, und alles blickt auf mich voll Neugierde und wartet. Was für schöne Bäume, und was muß das im Grunde für ein schönes Leben in ihrer Nähe sein. Ich muß gehen, es ist Zeit ... Dieser Baum hier ist vertrocknet, aber trotzdem wiegt er sich mit den andern zusammen im Winde. So werde ich, wenn ich auch sterbe, dennoch so oder so am Leben teilnehmen. Leb wohl ... Die Papiere, die du mir übergeben hast, liegen bei mir auf dem Tisch unterm Kalender.


Die Worte waren nicht einer der Frauen in den Mund gelegt, wie Lynley ursprünglich vermutet hatte, sondern einer der Männer, Baron Tusenbach, richtete sie an Irina. Lynley zog das alte Programmheft aus seiner Tasche, schlug es beim Verzeichnis der Mitwirkenden auf, fuhr die Liste mit dem Finger herunter und fand, was er gefürchtet - und gehofft hatte. Rhys Davies-Jones hatte damals, in jenem Winter 1973 den Tusenbach gespielt, Joanna Ellacourt die Irina, Jeremy Vinney den Ferapont und Robert Gabriel den Andrej.

Dies war endlich die Bestätigung, die er gesucht hatte. Denn wer konnte besser wissen, wie ein bestimmter Text sich verwenden ließ, als der Mann, der ihn Abend für Abend gesprochen hatte? Der Mann, dem Helen vertraute. Der Mann, den sie liebte und für unschuldig hielt.

Lynley stellte das Buch wieder an seinen Platz und machte sich auf die Suche nach einem Telefon.