31.

Montag, 26. April

Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammenhatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: »Guten Morgen«, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück.

Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. »Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!«

»Dass ich dich besser hören kann!«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!«

»Dass ich dich besser sehen kann!«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!«

»Dass ich dich besser packen kann!«

»Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!«

»Dass ich dich besser fressen kann!«

Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.

Schweißgebadet wachte ich auf. Meine Zähne klapperten und ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Was war passiert? War mit Theodora alles okay? Verena saß neben mir und fuhr mir mit einem feuchten Lappen über die Stirn. Besorgt blickte sie mich an. »Du hattest einen bösen Traum, mein Spätzchen. Aber jetzt ist alles in Ordnung, du bist hier in deinem Bett und ich bin auch da.«

»Geht es Oma gut?«, fragte ich und hatte das Gefühl, meine Stimme käme von weit, weit her. »Ja, natürlich«, beschwichtigte Verena mich und ließ den Lappen zurück in die gläserne Schale gleiten, die auf meinem Nachttisch stand. »Sie wird planmäßig entlassen… aber du machst mir ein bisschen Sorgen. Dieser Gewittersturm hat dir scheinbar mächtig zugesetzt. Wie fühlst du dich denn?« Gute Frage! »Ein bisschen so, als wäre ich einmal auf den Mond und wieder zurück geschleudert worden«, antwortete ich. »Und ich habe wieder diesen furchtbaren Rotkäppchen-Traum gehabt.« Verena streichelte meine Wange. »Ich hätte dieses Märchen von dir fernhalten sollen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich mochte es noch nie…«

»Weiß man eigentlich schon, was mit Omas Dach ist?« Mir brach erneut der Schweiß aus bei der Erinnerung an die herumfliegenden Ziegel. »Sobald es dir besser geht, fahre ich hin und nehme einen Handwerker mit, damit er den Schaden begutachten kann, vielleicht kann Leo uns ja einen empfehlen. Laut Irene wurde das halbe Dach abgedeckt. Gut, dass ihr Schwiegersohn so nett war, nach dem Sturm eine Plane über die Löcher im Dach zu spannen.«

»Weiß Oma schon, was passiert ist?« Verena schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, es ihr nicht zu sagen. Es würde sie zu sehr aufregen.«

»Meinst du, dass das sehr teuer wird?«, fragte ich ängstlich, obwohl ich mir die Antwort im Grunde schon denken konnte. Im Kopf addierte ich die Summe der Ausgaben für die technischen Geräte, die neue Heizungsanlage, das neue Dach. Ein Albtraum.

»Ich mache mir wirklich Sorgen. Wie kann es sein, dass seit einiger Zeit so viel schiefläuft. Hast du denn schon mit ihr über die Bezahlung der Heizung gesprochen?«

»Ich habe ihr angeboten, die Hälfte beizusteuern, mehr habe ich leider selbst nicht. Keine Ahnung, wie sie aus diesem Schlamassel wieder herauskommen soll. Hoffentlich übernimmt ihre Versicherung das.«

»Du meinst, sie könnte sonst doch gezwungen sein zu verkaufen?«

»Momentan fällt mir keine andere Lösung ein. Es sei denn, einer von uns gewinnt im Lotto. Aber denk jetzt nicht an Theodora, sondern komm lieber erst wieder selbst auf die Beine.« Plötzlich schimmerten Verenas Augen feucht: »Ach Schätzchen, ich bin ja so froh, dass dir nichts passiert ist. Dieser Orkan hat Bäume entwurzelt und Strommasten umgeknickt. Wenn ich daran denke, dass du ganz allein da draußen warst…«