Wir hatten Theaterkarten für eine Aufführung um halb acht, daher hatte Charlie versprochen, um viertel nach sechs zu Hause zu sein, und ich hatte rechtzeitig Marsala-Hühnchen für unser Abendessen mit Ella vorbereitet. Aber um zwanzig vor sieben war er immer noch nicht da, und unsere Babysitterin, eine College-Studentin namens Shannon, die Ella über alles liebte, wartete schon auf ihren Einsatz. Ich rief in Charlies Büro an und erreichte nur seinen Anrufbeantworter, auf dem die Stimme seiner Sekretärin erklärte, er sei außer Haus oder in einer Besprechung. Hatte er unsere Verabredung vergessen – wir wollten in Tschechows Möwe – und war in den Country Club gefahren, um Squash zu spielen oder Krafttraining zu machen? War er bei einem Baseballspiel? Es war ein Mittwoch im Mai, und obwohl wir im Marcus Center Abonnenten waren, besuchten wir das Theater üblicherweise eher freitags oder samstags.
Ich sah in der Zeitung nach, und tatsächlich hatten die Brewers ein Heimspiel, sie traten gegen die Detroit Tigers an. Das war die plausibelste Erklärung für Charlies Abwesenheit, aber um sicherzugehen, rief ich noch im Country Club an. Dort ließ ich mich mit Tony verbinden, dem Siebzigjährigen, der in der eichengetäfelten Bar zwischen den beiden Umkleideräumen Getränke ausschenkte und mir sagte, er hätte Charlie nicht gesehen. Das konnte aber immer noch heißen, dass Charlie auf dem Weg in die Squashhallen oder den Kraftraum einen Seiteneingang benutzt hatte, oder vielleicht war er im Haus seiner Eltern, wo Arthur und er sich gern in Ruhe Baseball im Fernsehen ansahen. Harold und Priscilla waren zwei Jahre zuvor, 1986, nach Washington D. C. umgezogen, nachdem Harold zum Vorsitzenden des Republican National Committee gewählt worden war, aber das Haus war noch immer voll möbliert.
Dann rief ich Jadey an – sie und Arthur wohnten ebenfalls am Maronee Drive, gut einen Kilometer westlich von uns – und hatte ihren fünfzehnjährigen Sohn Drew am Apparat. »Mom ist gerade mit Lucky draußen«, sagte er.
»Und ist dein Vater schon zu Hause?«, fragte ich.
»Er arbeitet heute länger.«
Als ich auflegte, war es zehn vor sieben, und die Autofahrt ins Stadtzentrum würde gut und gerne fünfundzwanzig Minuten dauern. Shannon saß in der Küche mit Ella, die schon fast mit dem Abendbrot fertig war. Ich ging zu Ella hinüber und küsste sie auf die Stirn. Zu beiden sagte ich: »Um halb neun geht es nach oben, um viertel vor neun ist das Licht aus, und kein Fernsehen.«
»Mommy, deine Ohrringe sehen aus wie Reißzwecken«, sagte Ella.
Ich lachte. Die Ohrringe, die sie meinte, waren golden und hatten mit Reißzwecken tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Dazu trug ich ein blassrosa Kostüm und farblich passende Pumps von Ferragamo. »Denk daran, Barbies Teegesellschaft wegzuräumen«, sagte ich zu ihr und wandte mich dann an Shannon: »Im Kühlschrank sind noch Steaks, falls Sie sich was warmmachen möchten. Wir werden gegen halb elf zurück sein. Ich werde noch bei Mr. Blackwells Elternhaus vorbeischauen, weil ich vermute, dass er dort ist, aber falls er hier auftauchen sollte, sagen Sie ihm bitte, ich sei schon unterwegs in die Stadt.«
Im Haus seiner Eltern war er allerdings auch nicht. Als ich in die Einfahrt des palastartigen Anwesens einbog, sah ich Licht in der Küche und dachte zuerst, ich hätte ihn gefunden, aber auf meinem Weg zur Hintertür erkannte ich durch eines der Fenster Miss Ruby, die gerade den Gürtel ihres gelbbraunen Regenmantels schloss.
Sie öffnete mir, und ich sagte: »Charlie ist nicht da, oder?«
»Haben Sie’s im Country Club versucht?«
»Ich fürchte, dort ist er auch nicht.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Wir wollten uns ein Theaterstück ansehen, das um halb acht anfängt.«
Miss Ruby sah mich teilnahmslos an. Im Laufe der Jahre hatte ich oft genug erlebt, wie die Blackwells um ihre Missgunst wetteiferten – wenn sie Arthur zum Beispiel dafür schalt, dass er sein Glas ohne Untersetzer auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte, freute er sich wie über einen kleinen Sieg –, aber mir war nicht daran gelegen, in diesen Wettbewerb einzutreten. Miss Ruby mochte griesgrämig sein, aber sie arbeitete auch hart. Während unserer Urlaube hatte ich sie mehr als einmal um elf Uhr abends noch in der Küche beim Geschirrspülen angetroffen, und wenn ich dann morgens um acht wieder das Haus betrat, deckte sie den Frühstückstisch. Erst vor ein paar Jahren hatte ich erfahren, dass es neben der Küche ein Schlafzimmer für sie gab, zu dem auch ein eigenes Badezimmer gehörte. Aber die Nacht bei den Blackwells zu verbringen, statt zu Hause zu schlafen, erschien mir eher ein Nachteil ihrer Stelle zu sein als ein Privileg.
Inzwischen war es genau sieben Uhr, was bedeutete, dass ich den Beginn des Stücks sehr wahrscheinlich verpassen würde, was wiederum bedeutete, dass es jetzt auch nicht mehr darauf ankam. Ich wies mit einem Nicken auf die Hintertür. »Sie brechen gerade auf?«
»Wollte nur sichergehen, dass alles fertig ist für Mr. und Mrs.«
Ich hatte vergessen, dass Harold und Priscilla planten, das Wochenende hier zu verbringen, und dass wir deshalb am Samstagabend bei ihnen zum Abendessen erwartet wurden. Innerlich machte ich mir eine Notiz, Priscilla zu fragen, was ich mitbringen sollte.
Ich bedeutete Miss Ruby mit einer Geste, vorauszugehen, doch sie schüttelte fast unmerklich den Kopf – ich trat zuerst durch die Tür, und sie folgte mir. Draußen mochte es um die fünfzehn Grad warm sein, der späte Maihimmel verdunkelte sich bereits, und die Bäume, die den Rasen mit ihren Kronen überwölbten, waren voller neuer Blätter. Auf unserem Weg über den Kies der Einfahrt bemerkte ich, dass mein Auto das Einzige war, das hier parkte, und wandte mich zu Miss Ruby um. »Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«
»Nein, Ma’am, ich nehme den Bus.«
»Dann möchte ich Sie zumindest bis zur Haltestelle bringen. Sie ist an der Whitting Avenue, oder?« Dort hatte ich sie manchmal am späten Nachmittag oder frühen Abend im Vorüberfahren stehen sehen.
»Das ist nicht nötig«, sagte sie.
»Doch, ich bestehe darauf.« Ich lachte etwas gezwungen. »Irgendetwas Sinnvolles muss ich ja nun mit meiner Zeit anfangen.« Sie stieg ins Auto, und ich hatte entschieden das Gefühl, sie täte es nur mir zuliebe.
Auf der Fahrt schwiegen wir. Beim Anlassen hatte das Radio eine Sendung des NPR fortgesetzt, die ich auf dem Hinweg gehört hatte, aber ich hatte es ausgemacht, falls Miss Ruby das Programm nicht mochte – Charlie verballhornte den Sendernamen in Anspielung auf die manchmal delikaten Talkthemen gern zu »National Pubic Radio«. Kurz vor der Kreuzung Montrose Lane / Whitting Avenue sagte ich: »Hätten Sie vielleicht Interesse, mit mir ins Theater zu gehen? Wir haben Karten für Die Möwe, und sie verfallen sonst. Aber fühlen Sie sich bitte nicht dazu verpflichtet – es wird eine ziemlich hektische Angelegenheit, wenn wir es noch schaffen wollen.« Sie antwortete nicht gleich, und ich fragte mich, ob ich ihr das Stück erklären oder etwas über den Autor erzählen sollte oder ob es anmaßend war, davon auszugehen, dass sie Tschechow nicht kannte.
»Ich denke, ich bin unpassend angezogen«, sagte sie schließlich, und ich warf einen Blick zu ihr hinüber. Ich befürchtete, sie könnte das schwarze Kleid anhaben, das sie bei der Arbeit trug – in einer Dienstmädchenuniform hätte ich auch nicht ins Theater gehen wollen –, aber unter ihrem Regenmantel erkannte ich eine rote Stoffhose und einen schwarzen Pullover.
»Doch, das ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich bin eigentlich sogar ein bisschen zu aufgedonnert. Waren Sie schon mal im Marcus Center?«
»Jessica war mit ihrer Schule zu einem Chorkonzert an Weihnachten da.« Jessica war Miss Rubys Enkelin, die Tochter von Yvonne, und ich wusste, dass beide bei ihr wohnten; von Jessicas Vater hörte man nichts. Yvonne hatte Charlie und mir zu Beginn unserer Ehe während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester einige Male geholfen, Feste auszurichten, und arbeitete jetzt im St. Mary’s, einem Krankenhaus in der Innenstadt, in der Notaufnahme. Anders als ihre Mutter hatte Yvonne ein sonniges Gemüt, und ich hatte sie schon immer besonders gemocht. Ella vergötterte Jessica, die ein paar Jahre älter war als sie selbst, und wenn Miss Ruby ihre Enkelin zur Arbeit mitbrachte, wenn sie schulfrei hatte und Yvonne arbeiten musste, spielten die beiden Mädchen stundenlang in Priscillas Küche mit ihren Barbiepuppen. Mir fiel auf, dass ich Jessica und Yvonne schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, schon seit Harold und Priscilla nach Washington umgezogen waren. »Geht Jessica noch auf die Harrison Elementary?«, fragte ich.
»Ja, Ma’am, das tut sie.« Ein wenig unsicher fügte Miss Ruby hinzu: »Ich denke, ich könnte mir das Theaterstück ansehen.«
Ich war ebenso verblüfft wie erfreut, bemühte mich aber um einen beiläufigen Tonfall. »Wundervoll«, sagte ich, und dann, während ich beschleunigte: »Jessica macht so einen intelligenten Eindruck. Müsste sie nicht inzwischen in der fünften Klasse sein?«
»Sie ist in der sechsten bei Mr. Armstrong. Lauter Einsen im Zeugnis, zweite Vorsitzende der Schülervertretung, und in der Lord’s Baptist Church leitet sie die Jugendgruppe.«
»Das ist ja großartig«, sagte ich. »Auf welche Junior Highschool wird sie gehen?«
»Sie kommt auf die Stevens.«
Ich riss mich zusammen, um nicht falsch auf diese Neuigkeit zu reagieren. Stevens war mit Abstand die schlechteste Junior Highschool in Milwaukee. Wir lebten in einem guten Wohnviertel, und Ella ging auf eine Privatschule, die Biddle Academy, aber man musste kein regelmäßiger Leser des Milwaukee Sentinel sein, um zu wissen, wie schlecht es den öffentlichen Schulen der Stadt ging – und ganz besonders dieser. Im vorherigen Jahr hatte an der Stevens ein Siebtklässler eine Schusswaffe mit in die Schule gebracht, die in der Pause losgegangen war, und innerhalb der letzten paar Monate waren zwei Neuntklässler von der Schule verwiesen worden, weil sie Crack verkauft hatten. (Neuntklässler! Und Crack! Das erinnerte mich daran, warum ich es vorgezogen hatte, jüngere Kinder zu unterrichten, obwohl ich mir so etwas in den siebziger Jahren nur schwer hätte vorstellen können.) »Welches ist denn Jessicas Lieblingsfach?«, fragte ich.
»Englisch, glaube ich, aber sie ist in allen Fächern gut.« Miss Ruby deutete nach draußen. »Wenn Sie Zeit sparen wollen, fahren Sie den Howard Boulevard runter.«
»Es freut mich, dass sie so erfolgreich ist«, sagte ich. »Wie geht es Yvonne?«
»Schläft nicht viel, seit das Baby da ist. Er hat es wirklich gern, getragen zu werden.«
»Du meine Güte, ich wusste ja gar nicht, dass Yvonne ein Kind bekommen hat. Wann denn?«
»Antoine Michael wird am ersten Juni zwei Monate alt.«
»Miss Ruby, das ist ja so aufregend. Ich würde ihn so gern sehen!« Ich hatte geglaubt, meine Vernarrtheit in Babys würde sich legen, wenn ich erst einmal mein eigenes bekommen hätte, aber sie ließ nicht nach. Nach wie vor war ich hingerissen von ihren winzigen Fingernägeln und Näschen und Ohrmuscheln, von ihrer unvergleichlich zarten Haut – sie erschienen mir wie zauberhafte Wesen von einem anderen Stern. Als Ella zum Kleinkind und später zum Schulkind heranwuchs, begrüßte ich jede neue Lebensphase; sie war immer ein lustiges und charmantes und natürlich auch anstrengendes Kind. Aber ich muss zugeben, dass ich ein wenig trauerte, sobald sie kein Neugeborenes mehr war; dieser Übergang war mir schwergefallen. »Vielleicht könnten Ella und ich einmal vorbeischauen«, sagte ich, und als Miss Ruby nicht antwortete, ergänzte ich noch: »Oder wir finden einen Termin, zu dem Ihre Familie zu uns kommen kann. Würde Ihnen ein Mittagessen Sonntag in einer Woche passen? Oder« – ich wusste nicht genau, wann die Suttons zur Kirche gingen, das sprach gegen den Sonntag – »was halten Sie von Montag? Kommenden Montag ist doch Memorial Day.«
»Ich denke, wir könnten kommen.«
»Oh, Ella wird sich so freuen. Und Yvonne …? Ist der Vater des Kindes …«
»Clyde. Er wohnt auch bei uns. Yvonne und er haben letzten Sommer geheiratet.«
»Miss Ruby, ich hatte ja keine Ahnung, wie ereignisreich Ihr Leben ist. Wie haben sich die beiden denn kennengelernt?«
»Er arbeitet auch im Krankenhaus, unten in der Kantine.« Miss Ruby gluckste leise. »Hat Yvonne ihren Kaffee serviert, man glaubt es kaum.«
»Wie schön für sie.«
Beim Marcus Center angekommen parkten wir in der Water Street und beeilten uns, hineinzugehen. Die Platzanweiser waren schon dabei, die Türen zu schließen, ließen uns aber noch durchschlüpfen, und wir erreichten unsere Plätze, als das Licht gerade ausging. Ich hatte Die Möwe noch nie gesehen und war sehr angetan von dem Stück; die Darstellerin der Arkadina war superb. Erst zu Beginn des zweiten Akts beschlich mich ein ungutes Gefühl. Wo war Charlie? Konnte ich wirklich sicher sein, dass er sich das Baseballspiel ansah, oder war er womöglich ganz woanders?
In der Pause fand ich ein Münztelefon in der Eingangshalle, aber in Charlies Büro nahm immer noch niemand ab, und zu Hause sagte Shannon, sie hätte nichts von ihm gehört. Ich schwankte zwischen Irritation und Sorge. Genau genommen hatte ich bessere Gründe anzunehmen, dass er das Stück vergessen oder sogar absichtlich vermieden hatte hinzugehen, als dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Im Laufe der letzten Monate hatte Charlie mich immer weniger gern ins Theater begleitet, und manchmal ließen wir Inszenierungen ganz aus, wenn ich sie nicht so dringend sehen wollte, als dass ich mir die Mühe gemacht hätte, ihn dazu zu überreden. Die traurige Wahrheit war, dass Charlie seit beinahe zwei Jahren schlechte Laune hatte; er war fast immer ruhelos und unleidlich.
In gewissen Graden kannte ich diese Unruhe schon seit unserer ersten Begegnung. Charlie trommelte mit den Fingern auf der Tischkante, wenn ihm ein Abendessen bei Freunden zu lang wurde, und flüsterte mir zu: »Ich wette, sogar Gott ist inzwischen eingeschlafen«, wenn er genug von einer Sonntagspredigt hatte. Bisher war seine Ruhelosigkeit aber eher körperlich und situationsbedingt gewesen als existentiell. Mit seiner jetzigen schlechten Laune war es anders: Sie richtete sich nicht gegen mich, aber sie war so sehr zu einer Konstante geworden, dass die Situationen, in denen er nicht davon befallen war, die Ausnahme waren.
Ich hatte versucht, herauszufinden, wann das alles angefangen hatte, und es schien um seinen vierzigsten Geburtstag herum gewesen zu sein, im März 1986. Sehr zu meiner Überraschung hatte er niemanden einladen wollen – Ella, er und ich hatten mit Hamburgern und Möhrenkuchen allein zu Hause gefeiert –, und in den Monaten davor und danach sprach Charlie oft von seinem Vermächtnis. »Ich frage mich einfach, womit ich mir einen Namen machen werde«, sagte er dann. »Als Granddad Blackwell in meinem Alter war, hatte er eine Firma mit drei Dutzend Mitarbeitern auf die Beine gestellt, und Dad wurde mit vierzig vom Generalstaatsanwalt zum Gouverneur.« Wenn ich einmal ganz offen sein wollte, müsste ich gestehen: Charlie besaß viele Eigenschaften, von denen andere glaubten, sie müssten mich stören – seine ungehobelte Art, sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sein Talent, sich aus allem herauszuwinden – und die mir in Wirklichkeit nichts ausmachten. Aber diese zwanghafte Beschäftigung mit seinem Vermächtnis (sogar das Wort begann ich zu hassen) fand ich unerträglich. Sie erschien mir so selbstgefällig, so albern, so männlich; nicht ein einziges Mal habe ich eine Frau erlebt, die sich Gedanken über ihr Vermächtnis gemacht hätte, geschweige denn, darüber in Panik geraten wäre. Einmal erwähnte ich diese Beobachtung Charlie gegenüber so diplomatisch wie möglich, und er sagte: »Das liegt daran, dass ihr diejenigen seid, die die Kinder kriegen.« Diese Antwort fand ich wenig überzeugend.
Was auch immer die Ursache seiner Unzufriedenheit sein mochte, Ende 1986 und Anfang 1987 wurde sie dadurch verschlimmert, dass bei Blackwell Meats in drei aufeinanderfolgenden Quartalen die Gewinne zurückgingen. Das löste eine monatelange Debatte darüber aus, ob das Unternehmen an die Börse gehen sollte, eine Idee, die Charlie unterstützte und die sein Bruder John, der nach wie vor der Vorsitzende der Geschäftsführung war, ablehnte. Die anderen fünf Mitglieder waren Arthur, Harold, Harolds Bruder, dessen Sohn und der Ehemann von Harolds Schwester. Ihr Votum war geteilt, wobei Harold auf Johns Seite stand. Letztlich hing alles von Arthurs Entscheidung ab, der nach einigem Hin und Her für Johns Beschluss und gegen Charlie stimmte. Charlie ließ Arthur und Harold außen vor und konzentrierte seine gesamte Wut auf John, und im November des Vorjahres hatten wir alle ein sehr spannungsgeladenes Thanksgiving erlebt, bei dem Priscilla John und Charlie so weit wie möglich voneinander entfernt platziert hatte. Seither schien sich ihr Verhältnis allmählich wieder zu bessern – immerhin sahen sie einander ja jeden Tag bei der Arbeit –, doch zu Hause fluchte Charlie noch immer wutschäumend über Johns bodenlose Ignoranz, wie er es nannte, denn es kränkte ihn besonders, dass sein Bruder noch nicht einmal Betriebswirtschaft studiert hatte. Seine Ausfälle gaben mir ein anschauliches Beispiel davon, dass es zwar inakzeptabel war, wenn irgendjemand von außerhalb einen Blackwell kritisierte, doch wenn ein Familienmitglied dasselbe tat, war dagegen nichts einzuwenden. Ich hatte mich darum bemüht, meine Beziehung zu Johns Ehefrau Nan nicht darunter leiden zu lassen, indem ich sie öfter als sonst zum Essen einlud oder vorschlug, zusammen zu den Junior-League-Treffen zu fahren. Ella ahnte ohnehin nicht, dass ihr Vater und ihr Onkel stritten, und bewunderte ihre beiden Cousinen rückhaltlos: Liza, die mir bei meinem ersten Besuch in Halcyon das Fadenspiel beigebracht hatte, war mittlerweile zwanzig und stand kurz davor, ihr vorletztes Studienjahr in Princeton abzuschließen, und Margaret mit ihren siebzehn Jahren würde sich im kommenden Herbst dort einschreiben.
Charlie war dagegen immer seltener bereit, an Familientreffen teilzunehmen, geschweige denn selbst welche zu initiieren, und war nur dann mit einiger Sicherheit bei einem Brunch oder Abendessen dabei, wenn seine Eltern in Milwaukee waren – was kaum häufiger als alle sechs Wochen vorkam. Im April, vor einem Monat, hatten John und Nan bei einem Benefizessen für das Kunstmuseum einen Tisch für acht Personen gebucht und uns eingeladen, mitzukommen, und Charlie hatte in letzter Minute beschlossen, nicht hinzugehen. Das war an einem Samstagabend – er hatte während eines Baseballspiels, das er in unserem Fernsehzimmer verfolgt hatte, heftig getrunken, und als er sah, dass ich seinen Smoking für ihn an die Schlafzimmertür gehängt hatte, sagte er: »Den Teufel werd ich tun, dieses Affenkostüm anzuziehen.«
»Charlie, der Smoking ist Pflicht«, sagte ich, und er antwortete: »So ein Scheißpech aber auch. Ich werde genau das tragen, was ich jetzt anhabe, oder du kannst ohne mich gehen.« Im ersten Moment hatte ich noch gedacht, er wollte mich nur aufziehen, aber er blieb bei seiner Weigerung, sich vor dem Abendessen umzuziehen, was praktisch der Weigerung gleichkam, überhaupt hinzugehen. Als ich ihn fragte, was ich John und Nan sagen sollte – ich wusste, dass sie für jedes Gedeck hundert Dollar bezahlt hatten –, zuckte er nur mit den Schultern: »Sag ihnen die Wahrheit.« Stattdessen behauptete ich, ein Mageninfekt hätte ihn ans Bett gefesselt. Als ich nach dem Essen zurückkam, sah er immer noch fern; es lief irgendein Krimi. Er lächelte schief und sagte: »Und, wirst du deinem nichtsnutzigen Ehemann verzeihen?« Weil es die Sache nicht wert war, verzieh ich ihm, aber am Montag darauf bestellte ich Broschüren von zwei Betreuungseinrichtungen für Alkoholiker, eine vor Ort und eine in Chicago. Als ich sie Charlie zeigte, fuhr er mich an: »Weil ich mich am Samstag nicht umziehen wollte? Soll das ein Witz sein? Lindy, jetzt bleib mal auf dem Teppich.«
Irgendwann im Laufe des Frühjahrs war zu den Problemen mit seinen Brüdern noch ein neuer Quell des Unmuts hinzugekommen: Das zwanzigste Jahrgangstreffen in Princeton, das Anfang Juni stattfinden sollte. Im Vorfeld dieses Ereignisses hatte er per Post ein in Leder gebundenes Buch bekommen, in dem die Alumni der Universität über ihre berufliche und private Entwicklung berichteten. Charlie hatte begonnen, abends vor dem Einschlafen laut daraus vorzulesen, wobei sein Tonfall zwischen Hohn und schierem Unglauben wechselte. »›Mein Einstieg bei Ellis, Hoblitz & Carson war ein Ereignis, mit dem es nur das unbeschreibliche Glück aufnehmen kann, bei Sonnenaufgang am Haleakala auf Maui mit meiner Cynthia unseren fünfzehnten Hochzeitstag zu begehen …‹ – Glaub mir, dieser Typ konnte im College seinen Arsch nicht von seinem Ellbogen unterscheiden. Oh, das hier ist gut: ›Es erfüllt mich mit Demut, dass meine onkologische Forschung tatsächlich Leben rettet.‹ – Wir wussten doch alle, dass O’Brian ein Homo ist.« Ich liebte diese Exzerpte und Charlies Kommentare dazu nicht besonders, in erster Linie weil ich selbst lesen wollte und er mich ständig unterbrach. Wir mussten ja zu dem Jahrgangstreffen nicht hinfahren, wie ich ihm einmal deutlich zu machen versuchte, doch das brachte mir sofort eine gereizte Abfuhr ein: Natürlich mussten wir hin! Welche Null käme freiwillig auf die Idee, das Treffen zu verpassen? (So nannten die Princeton-Alumni das Ereignis, nicht Jahrgangstreffen, sondern schlicht das Treffen.) Es war offensichtlich, dass das Buch bei ihm einen wunden Punkt berührt hatte. In einem Familienbetrieb in der Fleischindustrie zu arbeiten mochte für Maronee gut genug sein, aber Charlie fragte sich, wie eindrucksvoll dieser Verdienst wohl im überregionalen Kontext klingen würde. Sosehr ich mich auch darum bemühte, mitfühlend auf seine Verunsicherung einzugehen, so konnte ich mich doch des Gedankens nicht erwehren, dass dies ein Problem war, um das ihn andere beneidet hätten.
In den vergangenen Wochen war Charlie immer später und später von der Arbeit gekommen und hatte nur selten angerufen, um mir zu sagen, wo er war. Manchmal stellte sich heraus, dass er im Country Club gewesen war, manchmal hatte er sich unterwegs in einer Bar ein paar Drinks genehmigt (das machte mir am meisten zu schaffen, weil es mir so schäbig vorkam – in Riley trieben sich Ehemänner und Väter in Bars herum, aber doch nicht in Maronee), und dann wieder war er direkt vom Büro zu einem Heimspiel der Brewers gefahren. Die Blackwells besaßen vier Dauerkarten, die ursprünglich Harold gehört hatten und jetzt von Charlie und seinen Brüdern untereinander aufgeteilt wurden; oft genug blieben sie aber auch ungenutzt. Wenn ich nach so einem Spiel fragte, mit wem er hingegangen war, antwortete er einmal mit Cliff Hicken (Cliff und Kathleen, auf deren Gartenparty Charlie und ich uns kennengelernt hatten, waren drei Jahre nach uns von Madison nach Milwaukee gezogen, wo Cliff stellvertretender Geschäftsführer einer Consultingfirma geworden war), und einmal hatte ihn ein jüngerer Mitarbeiter seiner Firma begleitet, aber häufig klang es auch so, als sei Charlie allein dort gewesen. Er kam dann erst nach Hause, wenn ich ins Bett ging, und ich war gleichzeitig wütend, besorgt und viel zu müde, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Immer wieder beschloss ich, die fällige Aussprache auf den nächsten Morgen zu verschieben, und mochte dann doch nicht den neuen Tag mit den Sorgen des Vorabends beginnen lassen. Davon abgesehen hatte ich den Eindruck, dass Charlie, auch wenn er es nie so sagte, an einem solchen Morgen meist zu verkatert war, um mehr zu bewältigen als den Weg vom Bett in die Dusche.
Es war mir durchaus in den Sinn gekommen, dass er eine Affäre haben könnte, aber ich glaubte nicht ernsthaft daran. Wir schliefen nach wie vor regelmäßig miteinander, wenn auch nicht so häufig wie zu Beginn, und er war auf seine Weise so liebevoll wie immer. Manchmal ergriff er mitten in der Nacht meine Hand und hielt sie im Schlaf; vor einer Woche war ich nachts um drei davon aufgewacht, dass er seine Füße an meinen rieb. Beim Aufstehen hatte ich ihn gefragt: »Hast du etwa mit mir gefüßelt letzte Nacht?«, und er sagte: »Lindy, jetzt tu bloß nicht so, als sei das nicht deine Lieblingsnummer.« Seine ständige schlechte Laune hatte seinen eigentlichen Charakter nicht ersetzt, sie begleitete ihn eher wie der Beiwagen eines Motorrades. Und was die Möglichkeit einer Affäre anging, schien er eher mit den Gedanken woanders zu sein, als dass er den Eindruck machte, mir etwas zu verheimlichen.
Nach der Pause ging ich zurück zu Miss Ruby in den Zuschauerraum und fragte: »Was halten Sie von dem Stück?« – »Es ist interessant«, antwortete sie zurückhaltend. Sobald nach dem Schlussapplaus das Licht anging, kamen einige Bekannte zu mir herüber. Ich stellte ihnen meine Begleiterin unter dem Namen Ruby Sutton vor, da es mir in dieser Umgebung unpassend vorgekommen wäre, sie Miss Ruby zu nennen. Sie fragten sich offensichtlich, wer sie war. Die Einzige, die sie erkannte, war eine ältere Frau namens Tottie Gagneaux, die prüfend die Augen zusammenkniff und meinte: »Sind Sie nicht Priscillas Gehilfin?«
Schnell warf ich ein: »Wussten Sie, dass die beiden am nächsten Wochenende hier sind? Sie kommen direkt aus Arizona, wenn ich mich nicht irre, aber es ist gar nicht so einfach, bei ihren vielen Reisen auf dem Laufenden zu bleiben …«
Es nieselte, als wir das Theater verließen, und Miss Ruby wies mir den Weg zu sich nach Hause. Sie lebte in Harambee, in einem bescheidenen eingeschossigen Haus auf einer Hügelkuppe; eine steile Betontreppe führte zum Eingang. Als ich sie dort absetzte, sah ich in einem der vorderen Fenster das bläuliche Flackern eines Fernsehers. Eine Gestalt mit Baby auf dem Arm – das musste Yvonne sein – schob den Vorhang zur Seite, um einen Blick auf mein Auto zu werfen. »Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mir heute Gesellschaft geleistet haben«, sagte ich, und Miss Ruby antwortete: »Ja, Ma’am.« Bevor sie die Tür hinter sich schloss, setzte sie noch hinzu: »Gute Nacht, Alice.« Ich war beinahe sicher, dass dies in den elf Jahren, seit wir einander kannten, das erste Mal war, dass sie meinen Namen nannte.
Auf dem Heimweg fühlte ich mich eigenartig unbeschwert und zufrieden. Der Abend war ganz anders verlaufen als erwartet, aber auf angenehme Weise: Charlie hätte sich im Theater sicher gelangweilt, während es Miss Ruby gefallen zu haben schien. Doch als ich in unsere Einfahrt einbog, stiegen Zweifel in mir auf. Shannons Auto war nicht mehr da, und in der Garage stand Charlies Jeep Cherokee. War das Spiel vielleicht wegen Regens abgebrochen worden?
Ich schloss die Haustür auf, und sobald ich einen Fuß hineingesetzt hatte, hörte ich schwere Schritte auf mich zukommen. Charlie kam mir im Flur entgegen. »Ich kann nur hoffen, dass das ein verdammt gutes Stück war.«
»Ist mit Ella alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Ich habe Shannon um neun nach Hause geschickt, und seitdem warte ich hier auf dich.«
»In der Pause habe ich noch hier angerufen und mit ihr gesprochen, also musst du kurz danach angekommen sein.«
»In der Pause, ja?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Immer wenn er morgens zur Arbeit ging oder abends nach Hause kam, umarmten und küssten wir uns. Bisher aber hatten wir weder das eine noch das andere getan. Mit einem sarkastischen Unterton sagte er: »Dann hast du deine tägliche Dosis der schönen Künste gehabt?«
Ich antwortete nicht.
»Und du hast dich nicht gefragt, wo ich bin?«, fuhr er fort. »Nicht mal ein, zwei Minuten zwischendurch, während du den Schauspielern beim Labern zugeguckt hast?«
»Ich dachte, du wärst beim Spiel. Charlie, ich habe im Country Club angerufen, bei Arthur und Jadey, ich bin zum Haus deiner Eltern gefahren, und es tut mir leid, das zu sagen, aber es war auch nicht das erste Mal, dass ich nicht wusste, wo du steckst.«
»Also bist du nicht eine Sekunde lang auf die Idee gekommen, dass etwas passiert sein könnte?«
»Ist etwas passiert?«
»Ich weiß nicht. Was denkst du?« Du hast Mist gebaut, schien seine Haltung auszudrücken, und ich habe alle Zeit der Welt, um darauf zu warten, dass dir das klar wird.
Ich war zutiefst erschrocken, und zugleich spürte ich Verbitterung in mir aufsteigen. Wenn etwas passiert war, warum spielte er dann Spielchen mit mir? Und wenn nichts passiert war, stellte sich dieselbe Frage – warum spielte er mit mir?
»Hör auf damit«, sagte ich. Einige Sekunden lang sahen wir einander nur an, und ich lächelte nicht mein fürsorgliches Lächeln, ich lächelte überhaupt nicht. Ich war gern bereit, Charlie zu umsorgen, wenn er glaubte, die ganze Welt hätte sich gegen ihn verschworen, aber nicht, wenn er sich verhielt, als sei auch ich Teil des Komplotts.
Endlich sagte er mit erstaunlich ruhiger Stimme: »Die Firma ist am Arsch.« Damit drehte er sich um und ging am Wohnzimmer vorbei ins Fernsehzimmer. Ich folgte ihm. (Im Grunde war ich nicht so streng, wie ich tat, ich folgte ihm letztlich doch, und ich würde ihn umsorgen, wenn er mir im Gegenzug nur das kleinste Quäntchen Respekt erwies – oder auch weniger als das, wenn er sich nur neutral verhielt. Wenn irgendjemand uns beobachtet hätte, hätte es auf ihn vielleicht gewirkt, als machte ich mich zum Fußabtreter, aber mir war es wichtig, nicht wegen jeder Kleinigkeit meine Kraft zu vergeuden. Außerdem gab es selten etwas, das mir wichtiger war, als nicht mehr streiten zu müssen.)
Der Fernseher war an; es lief das Baseballspiel, zu dem Charlie offenbar nicht hingegangen war. Auf dem Tisch davor standen eine angebrochene Tüte Maischips, eine halbleere Whiskeyflasche und ein Glas mit etwas goldgelber Flüssigkeit darin. Charlie setzte sich mitten auf die Couch, in einer raumgreifenden Pose, die nicht dazu einlud, sich dazuzusetzen. Ich entschied mich für einen der Sessel, die zu beiden Seiten der Couch standen.
Mit einem Nicken wies ich auf die Chipstüte und sagte: »Hast du gesehen, dass es auch Marsala-Hühnchen gibt?«
»Ich hatte ein Steak.«
Er griff nach einem Sofakissen mit dunkelbraunem Cordbezug und umklammerte es mit einer so kindischen Geste, dass es amüsant oder rührend gewirkt hätte, wäre er nicht so maßlos wütend gewesen. Den Blick fest auf den Bildschirm geheftet, sagte er: »Elf Leute in Indianapolis haben sich nach einem Sportbankett am Montagabend die Seele aus dem Leib gekotzt, und was, glaubst du, war der erste Gang des Festmahls? Na? Wenn du jetzt sagst, Chili con Carne aus Blackwell-Hack, dann, Ding-Dong, herzlichen Glückwunsch, bist du die Gewinnerin des Abends! Das Landwirtschaftsministerium hat sich eingeschaltet, und John hat eine Rückrufaktion beschlossen – wir reden hier von mindestens ein paar hunderttausend Pfund von dem Zeug in mindestens fünf Staaten –, und weißt du, was das Beste ist? Ich verwette meinen Arsch, dass das nicht unsere Schuld war. Nach allem, was wir wissen, haben diese Penner in Indiana abgelaufenes Fleisch gekauft, aber hey, wenn die große Firma oben in Milwaukee dafür gradestehen kann, warum eigentlich nicht?«
»Charlie, das tut mir so leid.«
Er hob den Kopf. »Mir auch, uns beiden. Ich habe heute Abend eine volle Stunde mit so einem Schwachkopf vom Sentinel telefoniert, obwohl mich das Ganze nicht die Bohne interessiert. Ich werde weiter Fleisch grillen und essen, und damit hat sich’s. Ich habe es satt, so zu tun, als könnte ich mich für die inneren Werte von Würstchen begeistern. Schließlich habe ich nicht Wirtschaft studiert, um in der Qualitätskontrolle zu landen.«
»Wie kommen Arthur und John damit zurecht?«
»Arthur und John können mich mal.«
In dem Moment verfehlte ein Schlagmann der Brewers den Ball zum dritten Mal und beendete damit das Inning, und Charlie schleuderte das Kissen, das er immer noch umklammert hielt, Richtung Fernseher. Dann beugte er sich vor und stützte den Kopf in seine Hände. Ich setzte mich neben ihn und legte sanft meine Hand auf seinen Rücken.
Das Gesicht in den Händen vergraben, sagte er: »Ich habe diesen ganzen Mist so satt.«
»Ich weiß.« Ich streichelte ihn. »Das weiß ich doch.«
»Ich bin so nah dran zu kündigen. Es reicht mir wirklich.«
»Es ist in Ordnung, wenn du kündigst«, sagte ich, »ich denke nur, du solltest es so diplomatisch wie möglich tun.« Schon recht früh in unserer Ehe hatte ich zu meinem Befremden erfahren, dass Charlies Einkommen keinerlei Einfluss auf unseren Lebensstandard hatte. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren hatte er 700 000 Dollar geerbt, und er hatte zwar 1978 für den Wahlkampf 25 000 Dollar aus eigener Tasche gezahlt und 163 000 für unser Haus ausgegeben, aber ansonsten hatte er das Geld kaum angerührt und verdiente gut. Abgesehen von der Phase des Börsenkrachs im Oktober 1987, waren auch unsere Anlagen gut gediehen, und inzwischen besaßen wir, auf verschiedene Konten verteilt, mehr als eine Million Dollar. Dennoch erschien es mir wichtig, dass Charlie Arbeit hatte, für sein Selbstbewusstsein, damit er etwas erzählen konnte, wenn man ihn fragte, was er tat, und außerdem konnte ich mir kaum etwas Verheerenderes für unsere Ehe vorstellen, als wenn wir beide den ganzen Tag zu Hause verbringen müssten. Was genau er tat, war mir allerdings nicht wichtig, und ich war ebenso überzeugt wie er, dass es etwas Passenderes für ihn geben musste als die Fleischindustrie.
Da ich selbst acht Monate nach unserer Heirat meine Stelle gekündigt hatte, hatte ich denkbar wenig zum Familieneinkommen beigetragen und blieb mir immer der Tatsache bewusst, dass unser Geld genaugenommen nicht unseres war. Allerdings war ich diejenige, die unsere Rechnungen bezahlte und die Übersicht über unsere Konten behielt. Inzwischen wusste ich, dass es Dinge gab, für die man Schecks mit vielen Nullen brauchte: für den Außenanstrich unseres Hauses, einen akzeptablen Beitrag zu der jährlichen Kollekte der Biddle Academy oder meinen Volvo Kombi, den wir auf einen Schlag bezahlten, da Charlie mit der Idee der Ratenzahlungen wenig anfangen konnte.
Ich vermute, unsere Steuerzahlungen, die jedes Jahr im April höher ausfielen als mein früheres Lehrergehalt, selbst unter Berücksichtigung der Inflationsrate, überzeugten mich schließlich davon, dass es vertretbar war, einen Teil unseres Geldes für gute Zwecke einzusetzen. Ohne Charlie etwas davon zu sagen, spendete ich von Zeit zu Zeit kleinere Beträge an wohltätige Organisationen, die mir mehr zusagten, als es bei ihm der Fall gewesen wäre. Mal ging es um zwei- oder dreitausend, maximal um fünftausend Dollar: Wenn ich in der Zeitung etwas über eine Essensausgabe oder ein Alphabetisierungsprojekt las oder über ein Jugendzentrum in der Innenstadt, dem die Schließung drohte, während ich in der Küche unseres geräumigen Hauses am Maronee Drive saß, ergriff mich ein mir wohlbekanntes wachsendes Unbehagen. Dann stellte ich einen Scheck aus und schickte ihn ab, und für eine gewisse Zeit ließ das Unbehagen wieder nach – bis zum nächsten Mal. Obwohl Charlie sich nur einmal im Jahr mit unseren Finanzen beschäftigte, wenn die Steuern fällig wurden, setzte ich meine Spenden nicht auf die Ausgabenliste für unseren Steuerberater. Natürlich steht jeder, der einmal gespendet hat, bis auf weiteres im Postverteiler der entsprechenden Institution, und Charlie bemerkte tatsächlich einmal, als er die Post durchging: »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass die uns im Monatstakt irgendwelche Sachen schicken?«
Im Fernsehzimmer richtete sich Charlie wieder auf, und ich ergriff die Gelegenheit, mich zu ihm hinüberzubeugen und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Er drehte sich zu mir um und küsste mich auf den Mund, und als wir uns dann umarmten, verflog die Anspannung von unserer feindseligen Begegnung im Flur. »Wenn du aus der Firma aussteigst, was hast du dann stattdessen vor?«, fragte ich.
»Ich werde First Baseman für die Brewers.« Er grinste.
»Bestimmt habe ich das schon mal gesagt, aber ich bin sicher, du wärst ein wundervoller Highschool-Baseballtrainer. Du weißt so viel darüber, du wärst an der frischen Luft, und ich möchte wetten, die Kids würden sich sofort von deinem Enthusiasmus anstecken lassen.«
Sein Grinsen gefror.
»Nein, wirklich«, sagte ich. »Natürlich ist es nicht einfach, einen Job an der Highschool zu ergattern, aber du könntest auf dem Junior-High-Niveau anfangen – vielleicht gibt es ja sogar an der Biddle Academy offene Stellen – und dich dann hocharbeiten, und in ein paar Jahren …«
»Herrgott, Alice! Ist das alles, was du mir zutraust?« Ich senkte meinen Blick, und er fuhr fort: »Ich will dich wirklich nicht verletzen, aber würdest du bitte dasselbe auch mit mir versuchen? Meine Güte, Baseballtrainer an der Highschool …«
Ich sagte: »Ich fand die Arbeit an der Schule sehr erfüllend.«
»Alice, ich war in Princeton. In Wharton. Ich habe für den Kongress kandidiert.«
Ich schwieg.
»Es ist nicht so, dass ich zu wenig Auswahl hätte. Das ist nicht das Problem«, sagte er. »Dad würde sich freuen, wenn ich zu ihm in das RNC käme. Und Ed würde mich mit Kusshand als politischen Berater nehmen, ob hier oder in Washington. Die Frage ist nur: Welche Arbeit würde mir am meisten bedeuten? Was wäre am befriedigendsten für mich?« Bitte sag es nicht, dachte ich, und er sagte: »Was kann ich tun, damit ich ein Vermächtnis hinterlasse, auf das ich stolz sein kann?«
»Ich stehe voll hinter der Idee, in Eds Zweigstelle zu arbeiten, aber du weißt, was ich von einem Umzug nach Washington halte.«
»Soll das heißen, du würdest nicht umziehen?«
Ich seufzte. »Nur ungern. Washington ist so weit von Riley entfernt, und ich finde, in ihrem Alter ist es besonders schön, dass Ella ihre Urgroßmutter noch hat.«
»Aber dafür könnte sie Maj und Dad immer sehen. Das kommt doch aufs selbe raus, oder?«
Der Meinung war ich durchaus nicht, aber ich sagte nur: »Deinen Eltern fällt es viel leichter zu reisen als meiner Großmutter.« Tatsächlich verließ sie das Haus in der Amity Lane gar nicht mehr, und meine Mutter hatte einen Treppenlift für sie einbauen lassen, damit sie nicht zu Fuß in den ersten Stock hochsteigen musste. Die Sitzfläche und die Lehne waren mit beigefarbenem Kunstleder bespannt, und manchmal winkte meine Großmutter wie die Königin von England, wenn sie damit nach oben fuhr. Ich hatte mich auch dafür eingesetzt, Ella nach ihr zu benennen, wohingegen Charlie ihr den Namen seiner Mutter geben wollte. Schließlich einigten wir uns auf den Kompromiss, beide Namen zu verschmelzen, und meine Mutter wurde, sicher nicht zum ersten Mal, mehr oder weniger übergangen.
Charlie nippte am Whiskey. »Ich wünschte, mein Lebensweg wäre inzwischen klarer zu erkennen, weißt du? Meine Bestimmung.« Oh, wie ich dieses Thema hasste. Wer dachte schon jenseits der Highschool noch ernsthaft über seine Bestimmung nach?
»Schatz, ich weiß nicht, ob es so etwas wie eine Bestimmung wirklich gibt, aber falls doch, bin ich ziemlich sicher, dass du sie hier drin nicht finden wirst.« Dabei deutete ich auf die Whiskeyflasche.
Charlie grinste breit. »Wie kann ich mir da sicher sein, bevor ich unten angekommen bin?«
Ich verfolgte das Thema nicht weiter, sondern sagte: »Wenn du in der Firma bleiben willst, finden wir einen Weg, deine Position dort zu verbessern, und wenn du beschließt, zu gehen, bin ich sicher, dass du etwas auftun wirst, das dir gefällt. Du hast ein schönes Leben, und wir haben es gut zusammen – wir haben einander und Ella. Vergiss das bitte nie, versprochen?«
Charlie grinste noch immer. »Baseballtrainer werde ich nur, wenn du Cheerleader wirst und mir deine Pompons zeigst.«
Ich beugte mich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Verlass dich lieber nicht darauf.«
Ich stand in der Autoschlange, die sich immer nach Schulschluss vor der Biddle Academy bildete, und wartete auf Ella, als eine Frau auf der Beifahrerseite ans halboffene Fenster meines Volvos klopfte. Sie beugte sich herunter, und ich erkannte Ellas Lehrerin, Ida Turnau. »Alice, kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte sie.
Mrs. Turnau war eine zierliche Person mit rosigem Teint und einem sehr freundlichen Gesicht, etwa in meinem Alter. (Im direkten Gespräch nannte ich sie zwar Ida, aber zu Hause sprachen wir immer von Mrs. Turnau.) Ich hatte sie in der letzten Zeit ein wenig kennengelernt, weil ich einige Male als zusätzliche Aufsicht zu Klassenausflügen mitgekommen war: In einer Pizzeria in Menomonee Falls hatten sich die Kinder die Küche angesehen und ihre eigenen individuellen Pizzakreationen erschaffen, und im Erlebnispark Old World Wisconsin hatten sie an einer nachgespielten Prohibitionskampagne teilgenommen und eine Flachsspinnerei besichtigt. Ich selbst fand diese Aktivitäten um einiges interessanter als Ella und ihre Freunde.
Mrs. Turnau sagte: »Es ist mir ein bisschen peinlich, aber gestern Abend habe ich in den Nachrichten von dieser Rückrufaktion für Hackfleisch gehört, und ich habe mich gefragt, ob es wohl möglich wäre, zur Schuljahres-Abschlussfeier auf Blackwell-Hamburger zu verzichten? Das ist mir wirklich unangenehm, und ich bin sicher, bis dahin wird das Problem längst behoben sein, aber ich weiß einfach, dass mich Eltern danach fragen werden.« Die Abschlussfeier der dritten Klasse sollte in zwei Wochen bei uns zu Hause stattfinden.
»Oh, natürlich«, sagte ich. Ich hätte gern wiederholt, was Charlie zu mir gesagt hatte, dass der Fehler wahrscheinlich nicht bei Blackwell Meats gelegen hatte, aber das hätte vermutlich nichts genützt. »Das ist doch selbstverständlich.«
»Es ist ja nur, damit die anderen Eltern sich keine Sorgen machen«, sagte Mrs. Turnau. Die Warteschlange bewegte sich ein Stück weiter, und sie fügte hinzu: »Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Es war schön, Sie zu sehen, Alice.«
Als sie gegangen war, bemerkte ich, dass direkt vor mir in der Schlange der Volvo von Beverly Heit stand, deren Sohn ein Jahr weiter war als Ella. (Ich hatte mitbekommen, dass die Lehrer in Biddle uns Eltern die Volvo-Mafia nannten, ein Spitzname, an dem auch ich nicht unschuldig war. Mehr als einmal hatte ich aber auch den Impuls – dem ich nie nachgab –, Ellas Lehrern zu sagen: Ich bin eine von euch! Ich weiß, dass ich wie eine von denen aussehe, aber in Wirklichkeit bin ich eine von euch!) Ich drückte ganz vorsichtig auf die Hupe, und als Beverly durch den Rückspiegel zu mir schaute, winkte ich ihr zu. Sie winkte zurück, dann hielt sie ein Handgelenk hoch und tippte auf ihre Uhr: Das dauert ja ewig! Ich nickte: Ich weiß!
Da ich selbst eine staatliche Schule besucht und an zweien unterrichtet hatte, war ich zuerst dagegen gewesen, Ella in der Biddle Academy einzuschreiben. Es war nicht so, dass Charlie und ich darüber diskutiert hätten, das nicht. Diese Schule, die von der Montessori-Vorschulgruppe bis zur zwölften Klasse alle Stufen abdeckte, hatten Ellas sämtliche Cousins und Cousinen besucht, wenn sie nicht noch dort waren, Charlies Bruder John war Vorsitzender des Stiftungsrats, Charlie selbst von der zweiten bis zur achten Klasse in Biddle unterrichtet worden, und Jadey hatte 1967 dort ihren Abschluss gemacht. (Bis 1975 waren Jungs und Mädchen auf den gegenüberliegenden Seiten des Schulgeländes getrennt unterrichtet worden, jetzt waren die beiden Bereiche nach höheren und niedrigeren Klassenstufen aufgeteilt.) Obwohl die öffentlichen Schulen in Maronee finanziell sehr gut ausgestattet waren, nicht zu vergleichen mit denen in der Innenstadt von Milwaukee, war es von vornherein beschlossene Sache, dass Ella die Biddle Academy besuchen würde. Dennoch war ich eine Zeitlang besorgt, ob die Schüler arrogant und die Lehrer zu sehr von sich eingenommen sein würden. Es stellte sich bald heraus, dass ich das helle Holzgebäude für die unteren Klassenstufen mit dem Säulengang davor ebenso lieben sollte wie die vielen Traditionen der Schule – in der dritten Klasse hatten alle Schüler japanische Brieffreunde (die von Ella hieß Kioko Akatsu), und in der vierten bestickten alle, auch die Jungs, ihr eigenes Stofflesezeichen – und ihren leichten Hang zum Hippietum: Zu den Liedern, die Ella aus dem Musikunterricht mit nach Hause brachte, gehörten »If I Had a Hammer«, »One Tin Soldier« und »Imagine«. Ich erkannte, dass die Lehrer viel mehr kreativen Freiraum hatten, wenn sie nicht strikt dem staatlich vorgegebenen Lehrplan folgen mussten, und freute mich besonders auf Ellas fünftes Schuljahr: Bei einer Unterrichtseinheit zu Amerika in der Kolonialzeit würden sich ihre Mitschüler verkleiden, die Jungen mit Dreispitzen, Jabots und Kniebundhosen, und die Mädchen mit Kleidern, zu denen Schürzen und Häubchen gehörten, und sie würden ein Fest mit Maiseintopf, frischgepresstem Apfelsaft und Wildbret ausrichten.
Es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis ich mit meinem Auto das Schultor erreichte, und kaum dass ich da war, stürzte Ella auf mich zu und schwang sich auf den Vordersitz. Ihre lilafarbene Schultasche glitt ihr von der Schulter, und in der Hand hielt sie ein paar lose Blätter, die sie mir entgegenstreckte, noch bevor sie die Tür geschlossen hatte. »Du musst unterschreiben, dass ich auf das Slip ’n Slide darf, obwohl die Party bei uns zu Hause ist«, sagte sie.
»Ich muss?«, wiederholte ich.
Sie drehte sich zu mir herum und lächelte – Ella hatte ohne Zweifel das schönste Lächeln von allen Menschen, denen ich je begegnet war, so lebhaft, verschmitzt und herzlich – und sagte dann: »Ich meinte, würdest du bitte, bitte, meine liebe Mutter? Hast du mir Cracker mitgebracht?« Schon hatte sie die Keksdose zwischen den Sitzen gefunden, öffnete sie und begann zu kauen, wobei sich die Krümel über ihr T-Shirt verteilten. Mutter war eine neue Vokabel für Ella, ein ironischer Ausdruck. Nicht dass meine neunjährige Tochter auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, was Ironie bedeutete, aber sie hatte die Angewohnheit, mich Mutter statt Mommy zu nennen, bei ihrer Freundin Christine aufgeschnappt, die abgeklärte und respektlose ältere Schwestern hatte. Ich war davon nicht begeistert, fand es aber immer noch besser, als wenn Ella Charlie und mich mit Vornamen angeredet hätte, wie sie es im Alter von vier Jahren eine Zeitlang getan hatte – vermutlich hatte sie es sich von unserer Art, einander anzusprechen, abgeschaut.
»Kann ich einen anderen Sender reinmachen?«, fragte sie, und bevor ich antworten konnte, beugte sie sich vor und drehte am Senderwahlknopf, um von NPR auf 101,8 FM umzuschalten. Sofort brach Bon Jovis »You Give Love a Bad Name« über uns herein. Ella sang den Refrain laut mit: »Shot through the heart / And you’re to blame …«
Ach, meine Tochter, mein lautes, glückliches, starrköpfiges, unbezähmbares Einzelkind – ich liebte sie. Zu den Dingen, mit denen ich nie gerechnet hatte, bevor ich Mutter wurde, gehörte, wie unterhaltsam das sein konnte. Von meiner Arbeit in der Schulbücherei her hatte ich schon gewusst, dass Kinder witzig sein konnten, sehr sogar, aber es war noch etwas anderes, noch viel schöner, wenn es das eigene Kind war. Mit Ella verbrachte ich jeden Tag etliche Stunden, kannte jeden ihrer Gesichtsausdrücke und all ihre Stimmlagen, jede ihrer Vorlieben, Ängste und Leidenschaften. Zu ihren neuesten Obsessionen gehörten Aufkleber, Himmel-und-Hölle, Nagellack (ihre Tante Jadey hatte eine viel größere Auswahl davon als ich), Nutter-Butter-Cookies und Uno, und was sie sich am dringlichsten wünschte, war, einen Pekinesen zu kaufen, was nicht in Frage kam, da sie auf Hunde allergisch war, und den Film Dirty Dancing zu sehen, was ich ihr erst in der siebten Klasse erlauben wollte, weil er eine Altersfreigabe ab siebzehn hatte.
Immer wieder überraschte es mich, wie weltgewandt Ella war, wie viel mehr sie von popkulturellen Trends mitbekam, als ich es in ihrem Alter je getan hatte: Sie hatte sich zu Weihnachten ein Jane-Fonda-Aerobicvideo gewünscht (das wir ihr nicht geschenkt hatten, weil wir nicht wollten, dass sie sich zu viele Gedanken über ihre Figur machte – außerdem spielte sie schon Fußball, Squash und Softball); sie hatte mich dazu ermuntert, meine Haare dauerwellen zu lassen, um meine Frisur »aufzupeppen«, und in der Woche davor hatte sie uns beim Abendbrot gefragt, ob man sich auf einer Toilette mit AIDS anstecken könne. Charlie hatte gesagt: »Nein, es sei denn, du meinst die Toilette bei Billy Torks zu Hause.« Er bezog sich damit auf einen Freund von Jadey, der als Innenarchitekt arbeitete. Ich hatte ihm einen strengen Blick zugeworfen und gesagt: »Nein, das kannst du nicht, aber du solltest trotzdem Toilettenpapier auf die Brille legen, wegen der anderen Keime.«
Im Auto sangen Ella und Bon Jovi noch immer, und ich sagte: »Liebes, mach das bitte ein bisschen leiser.«
Sie beugte sich vor, und ihr langes hellbraunes Haar fiel nach vorn. Natürlich hatte meine Tochter lange Haare, bis zur Mitte ihres Rückens – ich war so sicher gewesen, dass ich auf der Einhaltung dieses einen mütterlichen Verbots bestehen würde, aber ich hatte mich geirrt. Schon als kleines Mädchen hatte Ella vehement protestiert, wenn ich ihr Haar um mehr als ein paar Zentimeter kürzen wollte. Zwar hatte ich mehr Zeit damit verbracht, Kletten zu entwirren (und einmal ein Kaugummi mit Traubengeschmack herauszulösen), als ich es vorher je geahnt hätte, aber ich musste zugeben, dass Ella sehr hübsch war: Zu meinen blauen Augen hatte sie eine anmutige Stupsnase mit goldenen Sommersprossen darauf. Ich war froh darüber, dass sie sich ihrer Schönheit bisher nicht bewusst zu sein schien – ihre Abneigung gegen das Haareschneiden schien eher eine Demonstration ihres freien Willens zu sein als eine Folge von Eitelkeit.
Mir war klar, dass Ella ein bisschen verwöhnt war, vielleicht auch mehr als ein bisschen. Ich vermute, es fiel mir schon allein deshalb schwer, ihr etwas abzuschlagen, weil sie die einnehmende Persönlichkeit ihres Vaters geerbt hatte. Aber zum Teil lag es auch daran, dass wir keine weiteren Kinder bekommen hatten; nach ihrer Geburt wurde ich nicht wieder schwanger. Über Hormontherapien oder künstliche Befruchtung hatten wir nachgedacht – diese Verfahren wurden damals gerade erst entwickelt –, aber ich hatte Vorbehalte dagegen. Wenn mein Körper die Schwangerschaft verweigerte, so schloss ich, gab es vielleicht einen Grund dafür, und dann sollte ich nicht versuchen es zu erzwingen. Diese Überlegung teilte ich Charlie mit, aber was ich ihm nicht anvertraute, war ein tiefsitzendes Gefühl, dass es gierig gewesen wäre, ein zweites Kind zu fordern, dass es mehr wäre, als ich verdient hatte. Es lag eine bittersüße Symmetrie darin, eine Abtreibung gehabt und ein Kind geboren zu haben, und um ein zweites zu kämpfen hätte vielleicht bedeutet, das Schicksal herauszufordern. Ich bin sicher, dass Charlie enttäuscht war – für ihn war eine Familie mit nur einem Kind eine Anomalie –, aber von einigen Gesprächen abgesehen, bedrängte er mich nicht weiter, und er hatte an Ella so viel Freude wie ich.
Ich fuhr vom Parkplatz und bog nach links ab, immer noch hinter Beverly Heit. Familie Heit wohnte nur ein paar hundert Meter von uns entfernt, und ich würde ihr wahrscheinlich den ganzen Weg nach Hause folgen. »Wie war es in der Schule, Liebes?«, fragte ich.
»Mrs. Turnau hat Megan zum Direktor geschickt, weil sie nicht aufgehört hat, Leute zu fragen, ob sie ein Pups-Sandwich wollten.«
»Ein was?«
»Ein Pups-Sandwich. Oh, ich liebe diesen Song!« Im Radio lief jetzt »So Emotional« – Ella hatte sich vor ein paar Monaten die neue Kassette von Whitney Houston geholt, die erste Musik, die sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte –, und sie beugte sich vor, um das Radio lauter zu stellen. Ich streckte eine Hand aus und schaltete es ab.
»Ella, du musst höflicher sein, wenn jemand mit dir spricht.« Ich sah kurz zu ihr hinüber. »Also, was um alles in der Welt ist ein Pups-Sandwich?«
Sie zuckte mit den Schultern. Megan Thayer war die Tochter von Joe und Carolyn, einer weiteren Halcyon-Familie. Im vergangenen Winter hatten sie sich getrennt, und von Jadey hatte ich erfahren, dass Carolyn vor kurzem die Scheidung eingereicht hatte; es gab Gerüchte, dass sie an Geld aus ihrer eigenen Familie gekommen war und sich deshalb frei fühlte, die Ehe zu beenden. Charlie und ich waren beide weder mit Carolyn noch mit Joe besonders eng befreundet, aber wir trafen uns in Milwaukee häufig mit anderen Bewohnern von Halcyon, weil sie wie wir Mitglieder des Country Club waren, weil ich die Ehefrauen im Garden Club oder in der Junior League traf und weil unsere Kinder alle auf dieselbe Schule gingen. Daher teilten wir regelmäßig eine Picknickdecke mit Carolyn und Joe, wenn Ella und Megan Fußball spielten, oder wechselten auf Fundraising-Veranstaltungen ein paar Worte mit ihnen. Als bekannt wurde, dass sie sich getrennt hatten, schienen die meisten schockiert zu sein, aber mich überraschte es nicht. Joe war ein gutmütiger, eher langweiliger Mensch, den viele Frauen in Maronee auf klassische Weise gutaussehend fanden: Er war groß und schlank, mit einer langen, wohlgeformten Nase und hatte volles graues Haar, das vorn als Welle seine hohe Stirn rahmte. Carolyn dagegen war eine komplizierte Person, die nie besonders glücklich wirkte. Eine gern überlieferte Anekdote über sie lautete, dass sie einmal, als sie Gäste zum Abendessen hatten, den Hauptgang hereingetragen hatte, ein Enten-Cassoulet, und als einer der Gäste, ein Mann namens Jerry Greinert, der gut mit dem Paar befreundet war, im Scherz sagte: »Nicht das schon wieder«, schleuderte Carolyn die Servierplatte zu Boden, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.
»Kann ich die Musik jetzt wieder anmachen?«, fragte Ella.
»Noch nicht. Wird Megan von den anderen gehänselt?«
»Wenn du die Antwort auf diese Frage wissen willst, kriegst du sie aber erst, wenn das Radio wieder an ist.«
»Sei freundlich zu ihr«, sagte ich. »Wenn du in der Pause mit Christine spielst, dann frag Megan, ob sie mitmachen möchte.« Obwohl Megan und Ella einander gut kannten – es gab in der dritten Klassenstufe insgesamt nur vierundvierzig Schüler, und einen Großteil des Sommers verbrachten sie fast als Nachbarn –, waren sie nie wirklich Freunde geworden. Megan war dunkelhaarig, groß und breitschultrig und eine gute Sportlerin, aber sie hatte eine lauernde, übereifrige Art, die Erwachsenen und Kindern gleichermaßen unangenehm war. Vorigen Sommer hatte sie mich einmal gefragt, ob Ella ihren nächsten Geburtstag mit einer Pyjamaparty feiern würde und ob sie, Megan, dazu eingeladen würde.
Ich sagte zu Ella: »Aber wenn Megan dir ein Pups-Sandwich anbietet, lehnst du es ab.«
Sie verdrehte genervt die Augen. »Mutter, das habe ich doch schon.«
»Oh, gut«, sagte ich. »Aber sei trotzdem freundlich zu ihr. Du hast so ein großes Herz, Liebes.«
»Kann ich jetzt das Radio anmachen?«
Bis nach Hause waren es noch anderthalb Kilometer. »Aber nicht so laut«, sagte ich.
Obwohl das Landwirtschaftsministerium den Fall weiterhin untersuchte, war noch nicht geklärt, warum das Fleisch auf der Feier in Indianapolis verdorben gewesen war. An diesem Abend kam Charlie pünktlich nach Hause und machte, ob aus Gewohnheit oder Trotz, den Grill an. (Wegen des Geschmacks bestand er nach wie vor darauf, Holzkohle zu benutzen.) Ich hatte mich mit Jadey auf einen kurzen Spaziergang verabredet, und nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, trafen wir uns auf halber Strecke zwischen unseren beiden Häusern und bogen auf einen asphaltierten Weg des Golfplatzes ein. An Wochenenden war dieser Spaziergang nicht ungefährlich – fünf Monate zuvor hatte ein Ball Lily Jones an der Schulter getroffen –, aber ich liebte das grüne Gras, die Kiefernhaine, die Abenddämmerung am Frühlingshimmel. Von den Golfbällen abgesehen, war die Szenerie ungemein entspannend.
Jadey trug eine weiße Trainingshose, ein rotes T-Shirt und ein weißes Stirnband, mit dem sie ihr Haar im Zaum hielt. Wir trugen unsere Haare jetzt beide kürzer, etwa auf Kinnlänge, wobei sie sich für einen Stufenschnitt entschieden hatte. Als wir gerade den Ententeich hinter uns gelassen hatten, sagte sie: »Also, ich habe mir überlegt, wie ich es Arthur heimzahlen kann. Zuerst will ich abnehmen, und dann stürze ich mich in eine Affäre. Machst du die Diät mit mir zusammen?«
»Das meinst du doch hoffentlich nicht ernst.«
Sie hob einen Arm und griff sich mit Daumen und Zeigefinger ein Stück Fleisch unterhalb des Bizeps. »Arthur hat ja recht. Wer würde freiwillig mit so was Ehebruch begehen?«
Ein paar Wochen zuvor hatte Arthur, so Jadey, ihr zu verstehen gegeben, dass sie abnehmen müsse; seither hatte sie sich geweigert, mit ihm zu schlafen. Natürlich solidarisierte ich mich mit ihr, aber die Geschichte erschien mir doch etwas einseitig. Arthur konnte geschmacklos sein, aber grausam war er nicht, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er den Gedanken so plump geäußert hatte, wie Jadey es behauptete; ich vermutete sogar, dass sie ihn danach gefragt haben könnte. Tatsächlich hatte Jadey, seit ich sie kennengelernt hatte, etwa fünfzehn Kilo zugenommen, aber sie war nach wie vor hübsch. Sie sah weicher und weniger mädchenhaft aus, aber sie war auch kein Mädchen mehr, sondern achtunddreißig. Was sollte daran falsch sein, so alt auszusehen, wie man war? Ich selbst hatte in den letzten zehn Jahren vielleicht fünf Kilo zugelegt, vor allem die Pfunde, die ich nach Ellas Geburt nicht wieder losgeworden war, und das empfand ich als einen fairen Preis. Ich sagte: »Ist es erlaubt zu fragen, mit wem du eine Affäre zu haben gedenkst?«
»Ich kann nur sagen, dass ich alle Bewerber gewissenhaft prüfen werde.«
»Das ist ein schlechter Plan, Jadey.«
»Oh, komm schon, spiel jetzt nicht den Moralapostel.«
»Nun, auch moralisch gesehen ist der Plan schlecht, aber ich dachte an seine logistische Seite. Kannst du dir vorstellen, dich scheiden zu lassen, das Sorgerecht unter euch aufzuteilen und dann von Drew und Winnie getrennt zu sein? Oder was wäre, wenn Arthur wieder heiraten würde?«
Jadey schüttelte den Kopf. »Nur über seine Leiche. Andererseits – wäre es nicht faszinierend zu sehen, für wen er sich entscheiden würde? Ich hatte schon immer das Gefühl, dass er eine Menge für Marilyn Granville übrighat.«
»Sie ist verheiratet.«
»Das bin ich auch.«
»Du bist viel attraktiver als Marilyn«, sagte ich.
»Ja, nicht?« Jadey warf mir einen gespielt koketten Blick über die Schulter zu, runzelte dann aber die Stirn. »Nur schade, dass Arthur da nicht derselben Meinung ist.«
»Weiß er, wie wütend du bist?«
»Es ist jetzt bald einen Monat her, dass er auf der MS Jadey das Penthousedeck betreten durfte, also sollte er bald drauf kommen.«
»Hat er versucht, mit dir zu schlafen, und du hast ihn abgewiesen?«
»Ob er es versucht hat?«, sagte Jadey. »Alice, ist der Papst katholisch?«
»Und du hast nein gesagt?«
»Sechzehnjährige Jungfrauen sagen nein. Ich erhebe Einspruch.«
»Jadey, ich mache mir einfach Sorgen. Sex ist wichtig für die Ehe.«
»Es fehlt mir nicht mal. In letzter Zeit war alles so vorhersehbar geworden, als hätten wir es schon getan, bevor wir überhaupt anfingen – ich musste mich kneifen, um nicht dabei einzuschlafen. Vor kurzem ist mir klargeworden, dass ich schon fast mein halbes Leben lang mit Arthur verheiratet bin. Kannst du dir das vorstellen? Warum hat mir niemand gesagt, dass man mit einundzwanzig zu jung ist, um sich für jemanden zu entscheiden?«
»Mein Hausarzt sagt, man sollte zweimal pro Woche Sex haben.«
»Und du hörst auf ihn?«
»Na ja …« Normalerweise war ich bei derart intimen Fragen weniger mitteilsam als Jadey. Es gab niemanden, dem ich mehr anvertraute als ihr, aber ich war mir auch bewusst, dass ihre größte Stärke und ihr schwerwiegendstes Problem darin bestanden, dass sie gern redete. Allerdings war unser Gespräch nun mal an diesem Punkt angekommen, und es erschien mir nicht fair, übermäßig prüde zu sein, also antwortete ich: »Ich versuch es mit einem Mal pro Woche.«
»Macht es dir Spaß?«
»Manchmal bin ich vorher nicht in Stimmung, aber danach bin ich doch froh. Ich fühle mich ihm dann so nah.«
»Und kriegst du immer, du weißt schon, einen Sechser im Lotto?«
»Meistens«, sagte ich. »Manchmal bin ich einfach zu müde dazu.«
»Ich kann das nur, wenn die Kinder nicht zu Hause sind.«
»Dann ist es kein Wunder, dass es nicht so aufregend ist. Vielleicht solltest du dir ein paar Bücher oder Filme besorgen.«
»Redest du von Pornos? Empfiehlt Alice Blackwell mir gerade Pornographie?« Sie setzte eine gestrenge Miene auf. »So wahr mir Gott helfe …«
»Jadey, komm schon.« Ich stieß sie mit dem Ellbogen an. Zwei Männer kamen uns in einem Golfcart entgegen und waren keine dreißig Meter mehr von uns entfernt, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie kannten, lag bei neunzig Prozent – so war es im Maronee Country Club immer.
»Aber ihr beiden benutzt so was nicht, oder?« Immerhin sprach sie ein wenig leiser.
»Charlie sieht sich manchmal Zeitschriften an.«
»Stört dich das denn gar nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Männer sind eben meistens stärker visuell orientiert als Frauen.«
»Und dann nimmt er sozusagen die Dinge selbst in die Hand?«
»Das vermute ich.«
»Du vermutest es? Also, wo ist er, wenn er seine Zeitschriften ansieht, und wo bist du dann?«
»Wenn er nicht einschlafen kann, geht er manchmal ins Badezimmer.« Einerseits fand ich, dass wir uns auf ein Terrain begeben hatten, das Jadey nichts anging, andererseits erschien mir die Tatsache, dass mein Ehemann gelegentlich pornographische Zeitschriften ansah und masturbierte, nicht besonders bemerkenswert. Und, ja, es war eine Tatsache, dass Charlie masturbierte, und zwar mit Hilfe der Penthouse – er hatte sie nicht abonniert, aber alle paar Monate kaufte er eine Ausgabe, und wir sprachen zwar nicht darüber, aber er versuchte auch nicht, es zu verheimlichen. Ich hätte es entsetzlich gefunden, wenn er eine dieser Zeitschriften im Wohnzimmer hätte herumliegen lassen oder wenn Ella eine gefunden hätte, aber da er diskret damit umging – er bewahrte sie in der abschließbaren untersten Schublade seines Nachttischs auf –, nahm ich keinen Anstoß daran.
Manchmal kam mir der Gedanke, dass ich weniger leicht zu schockieren war als die Menschen in meiner Umgebung, weil ich so viel las. Ich wusste viel, auch über Sex, ja, aber ebenso über Taifune oder Zoroastrismus. Zusätzlich zu den Romanen, von denen ich alle ein bis zwei Wochen einen durchlas, hatte ich die Time, The Economist, The New Yorker und House and Garden abonniert, und wenn mich das Thema eines Artikels besonders interessierte, recherchierte ich dazu in der öffentlichen Bibliothek.
Jadey sagte: »Findest du es nicht beleidigend, wenn er sich andere Frauen ansieht?«
»Ich gehe davon aus, dass die meisten Männer sich gelegentlich andere Frauen ansehen, und die meisten Frauen andere Männer. Du tust es jedenfalls.«
Sie lachte. »Das ist ja das Problem: Mir fällt einfach niemand ein, mit dem ich eine Affäre haben könnte.« In dem Moment fuhr das Golfcart an uns vorüber, und einer der beiden Männer rief uns zu: »Ahoi, Blackwell Ladys!« Ich erkannte Sterling Welsh, der ein Bauträgerunternehmen besaß, und Bob Perkins, der gut mit Charlies Bruder Ed befreundet war.
Jadey drehte sich zu mir um und wies mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken zu dem davonrollenden Gefährt hinüber. »Ganz sicher nicht«, sagte ich. »Sie sind beide nicht halb so attraktiv wie Arthur.«
»Willst du mich wenigstens bei meiner Diät unterstützen? Ich halte nie durch, wenn ich allein eine mache.«
»Du musst keine Diät machen. Iss einfach vernünftig, und wir gehen öfter spazieren. In Halcyon sollten wir das auch tun.« Unsere Familien planten beide, den Juli und einen Teil des Augusts dort zu verbringen; Charlie und Arthur wollten gelegentlich zwischendurch nach Milwaukee zurückfahren.
»Hast du von der gehört, bei der man zu jeder Mahlzeit eine halbe Grapefruit isst?«
»Oh, Jadey, das haben Mädchen aus meiner Studentenverbindung ausprobiert, und nach drei Tagen fingen sie schon beim Anblick einer Grapefruit an zu würgen.« In dem Moment spürte ich, wie sehr ich Jadey mochte. Sie war zwar eher so aufgewachsen wie Charlie und Arthur als wie ich – ihr Vater hatte als Zementfabrikant ein Vermögen gemacht, und sie war in einem Haus großgeworden, das dem von Harold und Priscilla in nichts nachstand –, aber als Blackwell-Schwägerinnen, so kam es mir vor, hatten wir zueinander gefunden wie Landsleute im Exil. Ich sagte zu ihr: »Ich möchte dich etwas fragen. Hast du je den Eindruck gehabt, dass Charlie zu viel trinkt?«
Jadey zog die Augenbrauen zusammen. »Die Blackwells verstehen schon was vom Feiern – nicht Ed, aber unsere beiden. Aber … nein. Ich meine, was tut Chas nach ein paar Drinks, was er nüchtern nicht tun würde? So ist es mit Arthur auch.«
»Ja, du hast recht.« Es tat so gut, diese Worte aus Jadeys Mund zu hören. Sie entsprachen ungefähr dem einen von zwei Standpunkten in einer Diskussion, die ich seit Monaten mit mir selbst führte. »Wie viel trinkt Arthur an einem normalen Abend? Wenn ihr alle zusammen Abendbrot esst, zum Beispiel?«
»Er trinkt ein paar Bier. Und ich trinke ein paar Bier. Und Drew trinkt ein paar Bier. Ich bin eine furchtbar schlechte Mutter, oder?« Sie lachte. »Kein Wunder, dass jeder glaubt, wir in Wisconsin seien alle Quartalssäufer.«
»Dann trinkt Arthur also drei Bier? Oder mehr?«
»Alice, lass uns nicht um den heißen Brei herumreden. Wie viel trinkt Charlie?«
Zögernd antwortete ich: »Na ja, in letzter Zeit ist es vor allem Whiskey, und ich würde sagen, ungefähr eine Drittel Flasche, vielleicht auch ein bisschen weniger. So genau weiß ich es nicht, weil er die Kisten im Großhandel kauft.«
»Pro Abend eine Drittel Flasche?«
»Ich glaube schon.«
»Und wirkt er betrunken?«
»Letzte Woche hat er sich auf dem Weg in die Küche den Kopf am Türrahmen gestoßen, als hätte er sich in der Breite des Durchgangs verschätzt. Aber vor allem ist seine Laune nicht die beste. Er ist nicht aggressiv, eher mutlos. Natürlich muss ich dich bitten, Arthur nichts davon zu erzählen.«
»Während wir einander leidenschaftlich umarmen, meinst du?«
»Charlie spielt morgens nicht mehr Squash und bringt Ella nicht zur Schule«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob er verkatert ist oder einfach nur … ich weiß es nicht.«
»Hast du ihn mal drauf angesprochen?«
»Ich habe ihn gebeten, sich zurückzuhalten, aber ich würde nicht sagen, dass er auf mich gehört hat.«
»Also, dann achte ich darauf, ob mir irgendetwas Ungewöhnliches auffällt, wenn wir am Samstag bei Maj und Pee-Paw sind.« Jadey verzog das Gesicht. »Wobei ich nicht sagen würde, dass die Umstände gewöhnlich sind, nach dem ganzen Bohei in Indianapolis – falls dich das ein bisschen beruhigt: Arthurs Laune war gestern Abend einfach zum Davonlaufen.«
»Während wir uns hier unterhalten, grillt Charlie zu Hause Steaks zum Abendbrot«, sagte ich. »Würdest du im Moment Fleisch von Blackwell essen?«
Sie nickte. »Es war nicht ihr Fehler. Dann hätten inzwischen viel mehr Menschen krank werden müssen, und du kannst darauf wetten, dass unsere Leute in jeder Notaufnahme der Region nachgefragt haben. Die von dem Sportfest können einem leidtun, oder?« Wir schwiegen eine Weile. Eine Frühlingsbrise wehte den Geruch von frischer Erde über das satte, grüne Gras des Country Club. Dann sagte Jadey: »Das ist eben das Problem, wenn man mit einem von ihnen verheiratet ist. Es bleibt uns nicht erspart, zu wissen, wie die Wurst in die Pelle kommt.«
Beim Abendessen schaffte ich es tatsächlich, ein Steak runterzukriegen, auch wenn ich nicht behaupten würde, dass ich es genossen hätte. Ohne vorher mit Charlie darüber zu sprechen, machte ich für Ella stattdessen ein Erdnussbutterbrot – es hätte mich viel nervöser gemacht, wenn sie Blackwell-Fleisch gegessen hätte, als wenn ich es tat –, und Charlie hatte es entweder nicht bemerkt oder beschlossen, nichts dazu zu sagen. Nach dem Essen badete Ella, und ich wusch ihr die Haare, wobei mir schmerzlich bewusst wurde, dass sie mich nur allzu bald nicht mehr darum bitten würde, das zu tun. Dann setzte ich mich zu ihr aufs Bett und las ihr aus Der Schwan mit der Trompete vor. Das war für mich immer der schönste Teil des Tages. Bevor ich das Licht ausmachte, beorderte sie jedes Mal Charlie in ihr Zimmer. Sie kreischte: »Daddy! Daddy, du musst mich zudecken!«, und er hörte aufs Wort. Oft genug weckte er sie eher wieder auf, als dass er sie zur Ruhe gebracht hätte, indem er sie durchkitzelte, ihr etwas vortanzte oder so unmögliche Geräusche und Gesichter machte, dass sie quiekend vor Lachen auf dem Bett herumhüpfte. An diesem Abend wirkte er jedoch so gedämpft, dass Ella mich, sobald er wieder gegangen war, im Flüsterton fragte: »Ist Daddy sauer auf mich?«
Ich ließ meine Hand über ihr Haar gleiten und strich es auf dem Kissenbezug glatt. Ella hatte ein übertrieben kindlich eingerichtetes Schlafzimmer, ganz in Rosa und Weiß (wir hatten ihr erlaubt, die Möbel selbst auszusuchen), und sie hatte ein Doppelbett, was für eine Drittklässlerin etwas verschwenderisch wirkte. Es war einfach das Bett, das ich vor meiner Ehe mit Charlie benutzt hatte. »Daddy ist nicht wütend«, sagte ich. In dem Moment klingelte das Telefon, und ich hörte, wie Charlie sich meldete.
»Kann ich übers Wochenende Dirty Dancing ausleihen?«, fragte Ella.
»Du kannst Dirty Dancing ausleihen, wenn du in der Siebten bist.«
»Mommy, es ist wirklich kein schmutziger Film, bloß weil er so heißt.«
Ich beugte mich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf jetzt, mein Liebling.«
Als ich das Fernsehzimmer betrat, stutzte ich einen Augenblick, weil Hank Ucker in einem der Sessel saß und sich mit Charlie das Spiel ansah. Ohne aufzustehen, deutete Hank eine Verbeugung an. »Du verströmst mütterliche Wärme und Güte, Alice«, sagte er. »Ich fühle mich wirklich an eine Renaissance-Madonna erinnert.«
»Mich erinnert sie eher an Madonna, die sexy Sängerin«, sagte Charlie und grinste. »Komm her zu mir, Baby.« Sobald ich neben ihm stand, tätschelte er liebevoll meinen Hintern.
»Hank, ich wusste gar nicht, dass du uns heute Abend beehren würdest«, sagte ich. »Kann ich dir was anbieten?« Es war schon kurz vor neun, und ich fragte mich, wie lange er wohl vorhaben mochte zu bleiben. Soweit ich wusste, lebte Hank noch immer in Madison. Ich hatte ihn zwar seit mehreren Jahren nicht gesehen, hatte aber gehört, dass er seine Stelle als Stabschef für den Oppositionsführer des Senats von Wisconsin aufgegeben hatte, um stattdessen einem Republikaner aus Fond du Lac bei seiner Wahlkampfkampagne für den US-Senat zu helfen. Der Mann hatte ursprünglich kaum eine Chance gehabt, aber in den vergangenen Wochen hatte er in mehreren Meinungsumfragen vor der Amtsinhaberin gelegen.
»Ein Glas Wasser mit Eis wäre superb«, sagte Hank.
Charlie, der sich einen Whiskey eingeschenkt hatte, gluckste. »Du lebst wie immer auf der Überholspur, hab ich recht?«
Hank setzte sein zögerndes, wenig vertrauenerweckendes Lächeln auf. »Wie immer.«
Ich zog mich in die Küche zurück, um Hank sein Glas Wasser zu holen, und als ich wiederkam, sprachen sie gerade über Sharon Olson, die Amtsinhaberin, gegen die Hanks Kandidat antrat. »So ein Pech, dass gerade jetzt das mit ihrer Vorliebe für Männer von der dunkleren Sorte rauskommen musste«, sagte Charlie grinsend. Die Umfragewerte von Hanks Schützling hatten deutlich von den neuesten Enthüllungen über seine Konkurrentin profitiert. Ich selbst hatte gar nicht den Eindruck, dass es da etwas zu enthüllen gab, aber in den Regionalnachrichten war tatsächlich von Enthüllungen die Rede: Olson, eine weiße Demokratin, war in den sechziger Jahren eine kurze und kinderlos gebliebene erste Ehe mit einem Schwarzen eingegangen. Inzwischen war sie mit einem weißen Juristen verheiratet und hatte mit ihm zwei halbwüchsige Söhne und eine Tochter. Ich sah nicht ein, warum jene erste Ehe so ins Gewicht fallen sollte (ihr früherer Ehemann war schon vor Jahren nach Seattle umgezogen, wo er ebenfalls als Anwalt arbeitete), aber es gab einen Fernsehspot, in dem ein Bild von ihr bei ihrer ersten Hochzeit, Hand in Hand mit dem Bräutigam, von bedrohlicher Musik unterlegt war. Der Spot endete mit der in roten Lettern auf schwarzem Grund gesetzten Frage: Wenn uns Sharon Olson das verschwiegen hat … was verschweigt sie uns noch?
Hank lächelte süffisant. »Wirklich zu schade. Das arme Mädchen.«
Ich reichte Hank sein Glas und sagte: »Wenn ihr mich entschuldigt – ich muss noch einiges lesen. Hank, es war schön, dich zu sehen.«
Über eine Stunde später, als ich die Haustür zuschnappen und ein Auto wegfahren hörte, ging ich wieder hinunter. »Hast du vor zu kandidieren?«
»Herr im Himmel, jetzt reg dich ab, Weib.« Seine Stimme klang etwas schwerfällig, und ich bemerkte, dass er die Whiskeyflasche fast geleert hatte, konnte mich aber nicht erinnern, wie voll sie vorher gewesen war.
»Es ist fast Juni. Wo könntest du denn, realistisch gesehen, noch antreten?«
»Im Ernst«, sagte Charlie, »beruhig dich erst mal.«
»Du weißt, dass ich Hank noch nie über den Weg getraut habe.«
»Und jeder, der für ein Amt kandidiert, ist ein aufgeblasener Popanz, oder, Baby?«
»Jetzt legst du mir Worte in den Mund.«
Er grinste anzüglich. »Ich wüsste da schon was, das ich dir gern in den Mund legen würde.«
»Kannst du mir nicht einfach meine Frage beantworten, warum Hank hier war?«
Wir sahen einander an, er auf der Couch und ich einige Schritte entfernt, und er sagte: »Bevor Ucker hier auftauchte, hat Arthur angerufen. Ich hatte recht damit, dass wir an dem Fleischproblem nicht schuld waren. Und das Problem lag auch nicht bei dem Laden, in dem die Leute für ihr Sportfest eingekauft haben, sondern es war die Kühltruhe, in der die Mutter von einem der Sportler das Zeug aufbewahrt hat. Anscheinend hatte eine Ratte das Kabel angenagt.« Charlie erhob sein Glas.
»Die arme Frau – sie fühlt sich bestimmt furchtbar.«
»Nur gut, dass wir eins Komma zwei Millionen Pfund Fleisch zurückgenommen haben. Heute Abend ist der gesamte obere Mittlere Westen vor der Blackwell-Plage sicher.«
»Ihr habt das Richtige getan.«
Charlie wies zum Fernseher hinüber. »Du hast gerade John in den Nachrichten verpasst, wie er sagte: ›Unser Fleisch ist kein Verbrecher.‹« Er lehnte sich zurück und schmunzelte über seine eigene Anspielung auf Richard Nixon.
»Wie gut, dass sich alles aufgeklärt hat.« Ich setzte mich und beugte mich vor, um mir die neueste Ausgabe des New Yorker vom Beistelltisch zu nehmen. »Wusstest du, dass Yvonne Sutton ein Baby bekommen hat?«
»Wer ist Yvonne Sutton?«
»Miss Rubys Tochter.«
Charlie schüttelte verwundert den Kopf. »Man kann wirklich nicht behaupten, dass diese Leute nicht fruchtbar wären.«
»Charlie, Yvonne hat zwei Kinder. Sie trägt nicht gerade zur Bevölkerungsexplosion bei.«
»Ich nehme mal an, dass es einen anderen Vater hat als Jessica?«
»Er ist ihr Ehemann, und er arbeitet auch im St. Mary’s.« Ich klappte die Zeitschrift, die ich ohnehin nicht gelesen hatte, wieder zu. »Ich habe sie zum Memorial Day zum Mittagessen eingeladen.«
»Wenn das nicht egalitär war. Vielleicht können sie unserer Tochter beibringen, wie man Dreadlocks macht.« Einige Jahre zuvor hatte sich Ella zu ihrem fünften Geburtstag eine Barbiepuppe gewünscht. Wir hatten ihr eine gekauft – Dreamtime Barbie, zu deren Ausrüstung ein winziger rosafarbener Teddy gehörte –, aber als sie die Schachtel ausgepackt hatte, brach sie in Tränen aus. Sie wolle eine Barbie »wie Jessicas«, sagte sie immer wieder, und irgendwann kam ich darauf, dass sie eine schwarze Puppe wollte. Schließlich tauschte ich Dreamtime Barbie gegen Day-to-Night Barbie ein, zu deren Ausrüstung ein rosafarbenes Kostüm und ein rosafarbenes Kleid mit glitzerndem Oberteil und halbtransparentem Rock gehörten, eine Puppe mit dunkler Hautfarbe und schwarzem Haar. Ich war beinahe stolz auf Ella, und Charlie fand die Episode amüsant, glaube ich, auch wenn er es sich nicht verkneifen konnte zu sagen: »Wenn Maj das sieht, werden Ella und du bestimmt exkommuniziert.« Interessanterweise betonte Charlie zwar gern, wie rassistisch seine Mutter war, machte aber selbst viel häufiger entsprechende Bemerkungen, als sie es tat. Er schien zu glauben, dass es ihn entschuldigte, wenn er sie mit einem Augenzwinkern vorbrachte. Obwohl ich gar nicht dieser Meinung war und es besonders wenig leiden konnte, wenn er sich in Ellas Gegenwart verächtlich äußerte, hatte ich es schon längst aufgegeben, ihn zurechtzuweisen.
Im Fernsehzimmer sagte ich zu ihm: »Jessica geht nächstes Jahr auf die Stevens, und das macht mir ernsthaft Sorgen.«
»Das wird schon in Ordnung sein.«
»Sie scheint eine herausragende Schülerin zu sein und viele Interessen zu haben.«
»Bist du ihr in letzter Zeit begegnet?«
»Gestern habe ich Miss Ruby getroffen – ich war bei deinen Eltern, als ich nach dir gesucht habe.« Es schien mir nicht nötig, zu erwähnen, dass Miss Ruby mich ins Theater begleitet hatte. Ich fügte hinzu: »Ich bin sicher, dass Jessica in einer Schule wie der Biddle Academy richtig erfolgreich sein könnte.«
»Das ist sie doch schon, nach dem, was du sagst.«
»Weißt du, was für eine Schule Stevens ist?«
Charlie grinste. »Was denkst du denn, wo ich immer meine Crack-Vorräte auffülle?« Dann sagte er: »Ich kandidiere für gar nichts, okay? Hank war hier, um mit mir über Möglichkeiten für die Zukunft zu sprechen, aber du hast recht: Für dieses Wahljahr ist es zu spät.«
»Gut«, sagte ich.
Er streckte ein Bein aus und balancierte seinen Fuß auf meinem Knie. »Ich liebe dich wirklich, Lindy, auch wenn du eine engstirnige Demokratin bist, die mich für einen intriganten Republikaner hält.«
Ich legte eine Hand auf seinen Fuß. »Wenn ich engstirnig wäre, Schatz, würde ich deine Liebe nicht erwidern.«
Als am nächsten Freitagnachmittag das Telefon klingelte, war es gerade ein Uhr, und ich putzte im großen Badezimmer die Fliesen der Dusche (ich hatte nie eine Putzkraft oder Haushälterin angeheuert, und ich wusste, wie befremdlich Priscilla und meine Schwägerinnen das fanden, aber mich beruhigte die Hausarbeit immer). Auf dem Weg ins Schlafzimmer zog ich den gelben Gummihandschuh von meiner rechten Hand, und als ich den Hörer abgenommen hatte, hörte ich Lars Enderstraisse sagen: »Alice, es tut mir so leid, dass ich derjenige sein muss, der dich anruft …«
Sofort blieb mir fast das Herz stehen; es hing bewegungslos in meiner Brust, und dann quetschte ich die Worte hervor: »Mom?«, und er sagte: »Nein, nein, nicht Dorothy. Es geht um Emilie. Sie ist gestürzt, und sie hatte innere Blutungen, eine Blutung im Gehirn, deshalb sind wir jetzt im Lutheran Hospital.« Es war dasselbe Krankenhaus, in dem ich geboren worden war, und auch das, in das Andrew Imhof und ich an jenem schrecklichen Abend im September 1963 gebracht worden waren.
»Aber sie ist nicht …« Ich stockte. »Sie lebt doch?«
»Sie ist nicht bei Bewusstsein, aber die Ärzte geben ihr Bestes. Deine Mutter redet gerade mit einem von ihnen. Sie und ich sind hier in einem Warteraum vor der Intensivstation, und wir hoffen, dass wir sie bald …«
»Granny ist auf der Intensivstation?«
»Sie ist ja nicht mehr die Jüngste, und da gehen sie auf Nummer sicher.«
»Ich komme, so schnell ich kann.«
Es war am späten Vormittag passiert, ohne erkennbaren Grund – sie war auf dem Weg vom Ess- ins Wohnzimmer irgendwie auf dem Boden gelandet und hatte das Bewusstsein verloren –, und die Ärzte versuchten vor allem herauszufinden, ob die Hirnblutung eine Folge des Sturzes gewesen war oder ob die Blutung den Sturz verursacht hatte. Meine Mutter hatte sie fallen gehört, und es war nicht einmal laut gewesen, »wie wenn die Post eingeworfen wird«, hatte sie gesagt. Sie war sofort hingeeilt und hatte meine Großmutter auf dem Boden liegen sehen. Meine Mutter hatte sich erfolglos bemüht, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, und dann einen Krankenwagen gerufen.
Im Krankenhaus entschuldigte sich meine Mutter immer wieder bei mir, als sei alles ihre Schuld. »Es tut mir so leid, dass du so überstürzt herkommen musstest«, sagte sie.
»Mom, das ist doch selbstverständlich.«
Irgendwann am späten Nachmittag holte Lars vom Shop auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Schachtel Kekse, die weder meine Mutter noch ich anrührten, bis er sie schließlich an die anderen Leute im Warteraum verteilte. Im Fernseher in der Ecke liefen Seifenopern und Talkshows, und obwohl niemand zusah, schien sich auch niemand herausnehmen zu wollen, ihn abzuschalten. Die Werbespots mit ihren exaltierten Sprechern und aufdringlichen Melodien wirkten besonders unpassend.
Von einem Münztelefon im Warteraum aus hatte ich Charlie angerufen und dann Jadey gebeten, Ella von der Schule abzuholen, und ein paar Stunden später hatte ich noch einmal bei Jadey angerufen, um Ella zu erklären, was passiert war. Ich hatte gehofft, der Klang meiner Stimme würde sie beruhigen, aber stattdessen war es ihre Stimme, die mich aus der Fassung brachte. Ich wünschte mir so sehr, bei ihr zu sein und sie in den Arm zu nehmen, dass ich meine Tränen zurückhalten musste. Mit ihrer kindlich ernsten Stimme sagte sie: »Muss Granny jetzt sterben?« Ella nannte meine Großmutter Granny, genau wie ich; zu meiner Mutter sagte sie Grandma, und Lars (den meine Mutter 1981 in aller Stille geheiratet hatte) hieß für sie Papa Lars.
»Ich hoffe nicht, Liebes«, sagte ich.
Gegen fünf Uhr meldete ich mich noch einmal in Charlies Büro. »Ich bin immer noch hier, und es gibt keine wirklichen Neuigkeiten«, sagte ich. »Würdest du Ella abholen?«
»Meinst du, Jadey hätte was dagegen, sie ein bisschen länger dazubehalten? Ich bin um halb sechs mit Stuey Patrickson zum Squash verabredet.«
Von der Zimmerecke aus, in der das Münztelefon hing, sah ich mich im Warteraum um: Ein junger Mann hielt eine Hand über die Augen, um sich auszuruhen oder weil er weinte; ein Kind ließ einen Spielzeuglaster auf dem Teppich hin- und herfahren; meine Mutter las in einer monatealten Ausgabe der McCall’s, und Lars Enderstraisse saß neben ihr und aß noch einen Keks. (Ich hatte ihn nie als meinen Stiefvater betrachtet. Nicht dass ich ihn nicht gemocht hätte – ich hatte ganz im Gegenteil eine große Zuneigung zu ihm entwickelt, und zu meiner Überraschung galt dasselbe für meine Großmutter. Sie hatte ihm Scrabble beigebracht, und er war besonders gut bei den schwierigen Zwei-Buchstaben-Wörtern, so dass er sich im Laufe der Zeit zu einem viel stärkeren Gegner für sie entwickelt hatte als meine Mutter. Aber eine Vaterfigur war er nicht für mich, sondern einfach der Ehemann meiner Mutter, ihr Lebensgefährte.)
»Alice?«, sagte Charlie, und ich antwortete: »Es wäre mir lieber, wenn du Ella jetzt abholen könntest. Ich möchte nicht, dass sie sich verunsichert fühlt.«
»Geht es ihr nicht gut?«
»Na ja, ich überlege, die Nacht bei meiner Mutter zu verbringen. Wir konnten Granny noch nicht besuchen, und ich möchte nicht gern nach Milwaukee zurückkommen, solange noch alles in der Schwebe ist.«
»Du hast nicht mal eine Zahnbürste dabei, oder?«, sagte er.
»Die kann ich mir kaufen.«
»Wenn du nach Hause kommst, kannst du jederzeit ins Auto springen und in, sagen wir mal, fünfunddreißig Minuten wieder dort sein.«
Das galt vielleicht für Charlies Fahrstil, aber nicht für meinen. Außerdem wusste ich, dass sein Wunsch, ich möge nach Milwaukee zurückkommen, weniger dem Verlangen entsprang, mich zu sehen, als – es war nicht abzuschütteln – seiner Angst vor der Dunkelheit. Mein Ehemann hatte Angst, die Nacht allein zu Hause zu verbringen. Je nach den Umständen fand ich diese Phobie entweder rührend oder ärgerlich. »Was hältst du hiervon«, sagte ich. »Ich rufe Jadey an, und du übernachtest mit Ella bei ihr.«
»Weißt du noch, wie deren gottverdammter Köter letztes Mal die ganze Nacht gebellt und mir das Gesicht abgeschleckt hat?«
»Charlie, meine Großmutter ist auf der Intensivstation. Du hast die Möglichkeit, zu Hause zu bleiben, bei Arthur und Jadey zu übernachten, oder du kannst gern mit Ella herkommen und die Nacht im Haus meiner Mutter verbringen. Wie wär’s, wenn ich dir ein paar Minuten Zeit gebe, um darüber nachzudenken, und dann rufe ich noch mal an?«
Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Nein, du hast recht, du hast ja recht. Ich hole Ella, und wenn du Jadey Bescheid sagen könntest, rufe ich Stuey an und sage ihm ab. Wie geht es deiner Mutter und Lars?«
»Es geht ihnen gut.«
»Und dir?«
»Mir auch«, sagte ich, obwohl ich in dem Moment, da ich diese Frage hörte, spürte, wie die Trauer von mir Besitz ergriff.
Dann sagte Charlie: »Ich weiß, dass du denkst, ich verbringe die Nacht nicht gern ohne dich, weil ich Angst habe. Aber es ist auch, weil ich dich vermisse, Lindy.«
»Willst du mit Ella herkommen?« Ich wusste, dass das unwahrscheinlich war. Bei seinem ersten Besuch in meinem Elternhaus in Riley hatte Charlie sich noch nichts davon anmerken lassen, aber rückblickend glaube ich, dass es ihn schockierte, wie klein es war. In den darauffolgenden Jahren war er nach und nach weniger diplomatisch geworden. Er sagte zum Beispiel: »Mit Lars ein Badezimmer teilen zu müssen ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung.« Selbst wenn wir unseren Urlaub dort verbrachten, übernachteten wir selten in meinem Elternhaus, und Charlie setzte sich immer dafür ein, dass meine Mutter, meine Großmutter und Lars zu Ostern oder Weihnachten zu seinen Eltern kamen. Zu Beginn unserer Ehe hatten sie das einige Male getan, aber sie schienen sich dort nicht besonders wohl zu fühlen. Ich war mir fast sicher, dass weder Priscilla noch Harold wussten, dass Lars bei der Post gearbeitet hatte, bevor er 1980 in den Ruhestand gegangen war, und ich hätte es zwar nicht geleugnet, erzählte es ihnen aber auch nicht. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ihre Heirat mit Lars meine Mutter finanziell viel besser gestellt hatte. Sie hatte seit der Episode mit Pete Imhof das Thema Geld nie wieder angesprochen und hatte mit Lars sogar Ausflüge nach Myrtle Beach und nach Albuquerque gemacht.
»Ehrlich gesagt, ist es mir doch lieber, wenn wir zu Jadey und Arthur gehen«, sagte Charlie. »Bei deiner Mutter wären wir jetzt nur im Weg. Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst, und ruf in jedem Fall heute Abend an, bevor du schlafen gehst.«
»Ella ist morgen mit Christine verabredet, du müsstest also dafür sorgen, dass sie um zehn abholbereit ist. Und achte bitte darauf, dass sie nach dem Frühstück ihre Vitamine nimmt.«
»Du wirst doch rechtzeitig zum Abendessen bei Maj und Pee-Paw wieder da sein?«
Ich zögerte. »Lass uns darüber reden, wenn es so weit ist.«
Mir war klar, dass sich Charlie in dem Moment zurückhielt, mir zu sagen, wie wichtig meine Anwesenheit bei diesem Essen sei – was nicht stimmte, abgesehen davon, dass die Blackwells besonders stolz darauf waren, die Familie immer in voller Besatzung antreten zu lassen.
Ich sagte: »Charlie, ich bin sicher, deine Familie wird Verständnis dafür haben.«
Um sechs Uhr am selben Abend, ganz am Ende der Besuchszeit, wurden meine Mutter und ich endlich mit dem Summer durch die zweiflügelige Tür eingelassen, um meine Großmutter zu besuchen. Auf der Intensivstation waren nicht mehr als zwei Besucher gleichzeitig zugelassen, daher blieb Lars im Warteraum.
Sie war noch immer nicht bei Bewusstsein. Sie trug ein weißes Krankenhaushemd mit seegrünen und marineblauen Schneeflocken darauf, lag unter einer Decke und war an mehrere Monitore angeschlossen, von denen einer regelmäßige Piepstöne von sich gab. In ihrer Armbeuge war ein Schlauch befestigt, und ein zweiter kam aus ihrer Nase. »Sie ist so winzig«, murmelte meine Mutter. Ich hatte genau dasselbe gedacht. In dem großen Krankenhausbett sah sie herzzerreißend alt und herzzerreißend klein aus.
Ich ging auf sie zu und sagte in fröhlichem Tonfall: »Hallo, Granny, wir sind’s, Alice und Mom …«
»Ich bin es, Dorothy«, unterbrach mich meine Mutter. »Granny, wir sind so froh, dich zu sehen. Du hast uns heute einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
»Du willst dich bestimmt ausruhen, also bleiben wir nicht lange«, sagte ich. »Aber der Arzt hat gesagt, du seist jetzt stabil, und das ist doch eine großartige Neuigkeit.« Es war nicht zu erkennen, ob sie uns hören konnte; sehr viel wahrscheinlicher war, dass sie das nicht tat. »Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber du bist heute Morgen gestürzt, deshalb bist du hier. Du wirst jetzt wieder gesund« – das war meine eigene Wunschdiagnose, nicht die Meinung des Arztes; das ermutigendste Wort, das er benutzt hatte, war stabil –, »und die Ärzte und Schwestern kümmern sich rührend um dich.« Auch das war eine optimistische Annahme; ich wusste nicht, wie viel durch die geschlossenen Türen zu ihr durchgedrungen war. Dr. Furnish, der betreuende Arzt, hatte Lars, meiner Mutter und mir einige Minuten zuvor erklärt, dass meine Großmutter eine intrakranielle Einblutung gehabt hatte und dass sie ihr Bluttransfusionen gegeben hatten, aber angesichts ihres hohen Alters und ihrer gebrechlichen Konstitution zögerten, sie zu operieren. Dann hatte er darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise Hirnschäden davontragen würde. Dr. Furnish wirkte nicht besonders warmherzig, aber kompetent. Während er sprach, machte ich mir Notizen auf der Rückseite eines Kassenzettels aus meiner Geldbörse.
»Granny, ich glaube kaum, dass dir der Warteraum da draußen zusagen würde«, sagte meine Mutter. »Die Sitze sind mit einem orangefarbenen Stoff bespannt, den du bestimmt furchtbar geschmacklos fändest.«
»Und Lars hat Kekse mitgebracht, die ganz altbacken aussahen. Mom und ich waren so klug, sie nicht anzurühren, aber alle anderen haben sich draufgestürzt.« Ich bemühte mich, unbeschwert und gut gelaunt zu klingen.
»Emilie, du musst rechtzeitig vor der Abschlussfolge von Mord ist ihr Hobby wieder gesund sein«, sagte meine Mutter.
Ich fügte hinzu: »Aber wenn du mir das Abendessen morgen bei Harold und Priscilla ersparen könntest, wäre ich dir wirklich etwas schuldig.«
»Alice!«
»Ich mache nur Spaß«, sagte ich. »Granny weiß das.«
So ging es weiter – wir sprachen die uns zugeteilten dreißig Minuten über halb mit meiner Großmutter und halb miteinander, und die einzige Antwort war das Piepsen des Monitors. Auf dem Weg zurück in den Warteraum zog meine Mutter ein Taschentuch hervor und betupfte ihre Augen. »Ich weiß, dass Granny ein langes Leben gehabt hat, und es ist nicht an mir, Gottes Plan in Frage zu stellen«, sagte sie. »Aber, Alice, ich bin noch nicht bereit dafür.«
Und dann wachte meine Großmutter wie durch ein Wunder auf. Als ich am nächsten Morgen gegen sieben im Krankenhaus anrief, sagte man mir, sie sei über Nacht wieder zu Bewusstsein gekommen. Sie döse gerade wieder, sagte eine der Schwestern, und sei zwar von den Medikamenten etwas benebelt, würde aber sehr wahrscheinlich mit uns sprechen können, wenn wir sie um neun besuchten.
Meine Mutter blieb in dem Geschenkeladen neben der Eingangshalle zurück, um einen Luftballon zu kaufen – Blumen waren auf der Intensivstation nicht erlaubt –, also betrat ich das Zimmer meiner Großmutter allein. Ihre Augen waren geschlossen, aber als ich »Klopf, klopf« sagte, öffnete sie sie sofort. »Granny, willkommen zurück!«, sagte ich. »Wir haben dich vermisst!« Ich beugte mich über sie und küsste sie auf die Wange.
Sie blinzelte ein paarmal und sagte: »Sie haben mir sehr scharfes Hühnchen zu essen gegeben, davon ist meine Kehle ganz trocken.«
Wusste sie überhaupt, wer ich war? Ich sagte: »Soll ich dir einen Schluck Wasser geben?« Ein weißer Plastikkrug stand auf dem Tisch neben ihrem Bett und daneben ein avocadofarbener Plastikbecher mit Strohhalm. Ich setzte ihr den Strohhalm an die Lippen, und als sie trank, lief ihr ein kleines durchsichtiges Rinnsal aus dem Mundwinkel. Sie bekam über einen Tropf Flüssigkeit zugeführt, aber ich war mir sicher, dass meine Großmutter seit ihrer Aufnahme nichts zu essen bekommen hatte, weder scharf gewürztes Hühnchen noch sonst irgendetwas.
Als sie fertig getrunken hatte und sich in ihr Kissen zurücklehnte, sagte sie: »Auf dem Dach spielen sie um Geld, weißt du?«
Ich zögerte. »Wer?«
Sie nickte wissend. »Na, sie.«
Ich legte eine Hand auf meine Brust. »Ich bin es, Alice. Granny, du bist im Krankenhaus, aber es geht dir schon besser, und ich bin hergekommen, um dich zu besuchen.«
Sie sah mich entsetzt an. »Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist? Ich bin doch nicht senil!« Dann zeigte sie mit dem Finger auf mich. »Warum trägst du Dorothys Bluse? Damit siehst du richtig ältlich aus.«
Ich lächelte. »Ich habe ungeplant eine Nacht in Riley verbracht, also hat Mom sie mir geliehen.«
»Du solltest Sachen tragen, die mehr zu deinem Alter passen.«
»Granny, wie fühlst du dich? Sag mir unbedingt Bescheid, wenn du dich lieber ausruhen möchtest.«
Sie antwortete nicht gleich, sondern sah sich im Zimmer um und sagte dann: »Ich habe gerade an deinen Vater gedacht.«
Angst stieg in mir hoch. Zwar war ich alles andere als sicher, dass es einen Himmel gab, aber es schien durchaus vorstellbar, dass sie mit an ihn gedacht auch gemeint haben könnte, sie habe mit ihm kommuniziert oder sei von ihm gerufen worden. Alles, was mir zu sagen einfiel, war: »Ach?«
»Er war Dorothy treu ergeben«, sagte meine Großmutter. »Ich habe die Ehe deiner Eltern viele Jahre lang beobachten können und habe erlebt, wie sehr sie einander zugetan waren.« Sie sah mich forschend an. »Wie heißt dein Mann?«
Ich schluckte. »Charlie. Charlie Blackwell.«
»Stimmt, der Sohn des Gouverneurs. Ihr beiden seid einander auch sehr zugetan.«
Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Ich hoffe es zumindest.«
Sie bedachte mich mit einem verschlagenen Blick. »Das klang etwas lau.«
»Nein, ich wollte nicht … es ist nur … In letzter Zeit trinkt er mehr, als er sollte«, brachte ich endlich heraus.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung oder versuchte es zumindest, aber mit der Kanüle in ihrer Armbeuge war sie nicht so beweglich wie sonst. »Halte ihn nicht an der kurzen Leine, meine Liebe. Das rächt sich immer.«
»Oh, das tue ich gar nicht, eher im Gegenteil.«
»Du bist nicht streng mit ihm?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vielleicht ist das gerade das Problem, dass er sich wünscht, du wärst strenger.«
Ich zögerte. War dies wirklich die Zeit und der Ort, um mir meine Sorgen von der Seele zu reden? Aber meine Großmutter hatte es schon immer geliebt, sich über andere Leute auszutauschen, und sie war offensichtlich sehr an dem Thema interessiert. »Das klingt vielleicht unsinnig, aber ich glaube, er macht so eine Art Midlife Crisis durch. In ein paar Wochen ist das zwanzigste Jahrgangstreffen seines College, und er macht sich offenbar Sorgen, ob er sich mit seinen Kommilitonen messen kann.«
»Er war in Harvard«, sagte meine Großmutter in einem merkwürdigen Tonfall – es klang, als redete sie gar nicht von meinem Mann, sondern wollte mir gegenüber mit jemand anderem prahlen.
»Es stimmt schon, dass er auf einer Hochschule an der Ostküste war, aber es war Princeton. Wie auch immer, ich vermute, dass er sich erhofft hatte, inzwischen mehr erreicht zu haben. Er stammt aus einer sehr erfolgreichen Familie, wie man an seinem Großvater und seinem Vater sieht, und bestimmt erinnerst du dich, dass sein Bruder Ed Kongressabgeordneter ist.« Ich war mir alles andere als sicher, dass sie sich daran erinnerte, aber sie nickte, während ich sprach. »Aber ich glaube einfach nicht, dass es Charlie bestimmt ist, ein Wirtschaftstitan oder ein Politiker zu werden. Es ist auch nicht so, dass mir das etwas ausmachen würde – dafür habe ich ihn nicht geheiratet. Er ist so humorvoll und lebenslustig, er hat viele Freunde, ist ein fabelhafter Vater, und ich – ich verstehe einfach nicht, warum das nicht reicht, warum unser Leben nicht gut genug sein soll. Für mich ist es doch auch gut genug.«
»Seine Ambitionen übersteigen seine Fähigkeiten.«
Ich gab mir Mühe, das nicht als Beleidigung aufzufassen. »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Er ist sehr intelligent. Und vielleicht liegt es an mir, vielleicht langweile ich ihn …« Die Erinnerung an den Nachmittag, an dem wir einander zum ersten Mal unsere Liebe gestanden haben, schmerzte. Es war der Tag gewesen, an dem Charlie meine Mutter und Großmutter und Lars kennengelernt hatte, und ich erinnerte mich genau daran, wie er sein Bekenntnis damit eingeleitet hatte, dass er glaubte, er werde mich immer interessant finden. Schmerzhaft waren diese Erinnerungen, weil ich mich immer öfter fragte, ob er damit recht behalten hatte. Was für ein wundervolles Kompliment das gewesen war, wie unerwartet und wie anerkannt ich mich gefühlt hatte. Ich war für Charlie nicht irgendeine niedliche Brünette; er begriff, dass ich mir Gedanken machte und meine eigene Meinung zu den Dingen hatte, auch wenn ich sie selten aussprach, und diese Eigenschaften schätzte er an mir. Aber wünschte er sich vielleicht jetzt, im Nachhinein, er hätte eine aufregendere Frau geheiratet, eine, deren Idealvorstellung von einem gelungenen Samstagabend nicht darin bestand, mit unserer neunjährigen Tochter zu Abend zu essen und dann vor dem Einschlafen vierzig Seiten von Eudora Welty zu lesen? Und dass unsere Ehe ohne verbitterten Streit auskam, vielleicht enttäuschte ihn selbst das – es gab keine Gelegenheiten zu Geschrei und Türenknallen, keine aufregend hässlichen Wutausbrüche, keine erotisch geladenen Versöhnungsszenen.
Meine Großmutter sagte: »Jeder ist mal langweilig. Die faszinierendste Person, die ich je kennengelernt habe, war eine Frau namens Gladys Wycomb. Habe ich dir meine Freundin Gladys schon vorgestellt?«
Ich nickte.
»Sie war die achte Frau im Staat Wisconsin, die einen Abschluss in Medizin gemacht hat, wirklich ein brillantes Mädchen. Aber wenn ich sie besuchte, dauerte es nur ein paar Tage, bis wir beim Abendessen beide in unseren Büchern blätterten. Das hat mich nicht im Mindesten gestört. Gibt es ein größeres Privileg, als sich miteinander langweilen zu dürfen?«
»Da gebe ich dir recht, aber ich bin mir nicht so sicher, dass Charlie das auch tun würde.«
»Weiß er, dass du an ihm zweifelst?«
»Es ist nicht so, dass ich an ihm zweifle, sondern er hat Zweifel, ob sein Beruf und der Weg, den er eingeschlagen hat …« Ich stockte. War das nicht gelogen, wenn auch unbeabsichtigt? Ich war diejenige, die an ihm zweifelte. Ich starrte auf den Fußboden aus weißem Linoleum. Dann hob ich den Blick wieder und fragte: »Ich weiß, dass du von Charlie beeindruckt warst, als du ihn zum ersten Mal gesehen hattest, aber bist du es immer noch?« Wie kam ich dazu, meiner von Medikamenten benebelten Großmutter diese Frage zu stellen, als sei sie eine Art Medium ehelicher Weisheit? Oder fand ich überhaupt nur deshalb den Mut dazu, weil sie so sediert war? Selbst Jadey gegenüber war ich nicht so offen wie jetzt.
»Ich war von ihm beeindruckt, weil ich sah, wie er dich anbetete, und du verdienst es, angebetet zu werden«, sagte meine Großmutter. »Ehrlich gesagt, klingt das, was du beschreibst, nach viel Lärm um nichts. Fahr nach Hause, zieh dir ein hübsches Kleid an, elegante Schuhe und Lippenstift, flirte mit ihm, schmeichle ihm ein bisschen und vergiss nie, wie unsicher Männer sind. Das liegt daran, dass sie sich selbst viel zu ernst nehmen.«
In diesem Moment kamen mir ihre Ratschläge wie ein Rettungsring vor – so einfach und so problemlos anwendbar. Was für eine immense Erleichterung es war, jemanden zu haben, der mir sagte, was ich zu tun hatte! Dann sagte sie: »Würdest du mir etwas Wasser holen? Sie haben mir scharf gewürztes Hühnchen zu essen gegeben, und der Nachgeschmack ist mir unangenehm.«
»Hier ist dein Becher.« Ich half ihr wieder zu trinken, und als sie damit fertig war, hielt ich das Buch hoch, das ich in meiner Handtasche dabeihatte. »Ich habe dir Anna Karenina mitgebracht. Soll ich dir daraus vorlesen?«
»Das wäre wunderbar.«
»Die Stelle, wo sie und Wronski einander begegnen, oder den Anfang?«
»Wo sie einander begegnen.«
Während ich das Buch öffnete, sagte ich: »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht schlecht von Charlie. Du hast bestimmt recht damit, dass ich diese Dinge überbewerte.«
Sie hatte die Augen schon geschlossen und schüttelte nur den Kopf. »Kapitel achtzehn«, begann ich und räusperte mich. »Wronski folgte dem Zugführer in den Wagen und blieb an der Tür zum Abteil stehen, um einer heraustretenden Dame Platz zu machen …« Als meine Mutter ein paar Minuten danach mit dem Luftballon das Zimmer betrat, war meine Großmutter wieder eingeschlafen.
Auf dem Rückweg nach Milwaukee hielt ich an einer Tankstelle. Ich hatte schon bezahlt und hängte gerade den Zapfhahn wieder an die Säule, als eine männliche Stimme sagte: »Alice, was für ein Zufall!«
Ich blickte auf, und da stand nur wenige Meter entfernt, auf der anderen Seite der Betoninsel, Joe Thayer neben seinem Auto und hob die Hand zum Gruß. Er trug ein gelbes Polohemd, das er in seine karierten Shorts gesteckt hatte, und war so gutaussehend wie immer, aber man sah ihm auch an, dass er in letzter Zeit mehr abgenommen hatte, als ihm guttat: Seine Wangenknochen traten stärker hervor als sonst, und obwohl er fast zwei Meter groß war, wirkten seine Schultern merkwürdig schmal. Nicht dass ich selbst besonders beeindruckend ausgesehen hätte, wie meine Großmutter richtig bemerkt hatte. Ich war noch fünfzehn Autominuten von Maronee entfernt und hatte nicht damit gerechnet, jemandem zu begegnen, den ich kannte.
»Joe, wie geht’s dir?« Ich warf einen Blick in sein Auto und dachte einen Moment lang, ich hätte auf der Rückbank seinen Sohn entdeckt: »Und ist Ben … du meine Güte, das ist ja Pancake!« Pancake war eine schwarze Labradorhündin, die in Halcyon für ihre Fähigkeit berühmt war, mit dem zweiundsiebzigjährigen Walt Thayer einen Engtanz aufzuführen. Mir kam diese Übung nie ganz freiwillig vor, daher fiel es mir schwer, so viel Enthusiasmus dafür aufzubringen wie alle anderen. »Bestimmt bereitest du dich schon auf Princeton vor«, sagte ich. »Erzähl schon, was für eine alberne Uniform werden sie dir verpassen?« Joe hatte seinen Abschluss in Princeton 1963 gemacht, fünf Jahre vor Charlie, so dass sie ihre bedeutenderen Jahrgangstreffen immer gleichzeitig begingen.
Joe schüttelte den Kopf. »Diesmal werde ich aussetzen. Ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Man wird dich bestimmt vermissen.«
»Eins kann ich dir sagen, Alice, ich hätte nie gedacht, jemals zu den Menschen zu gehören, die sich scheiden lassen.«
»Oh …« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Etwas lahm sagte ich: »Nun ja, so was kommt eben vor.«
»Darf ich offen sein?«, fragte er.
»Natürlich.«
»Ich möchte doch gern wissen, was von unseren Problemen nach außen gedrungen ist. Es wäre mir nicht recht, wenn die Leute denken … Es scheint ja in solchen Situationen meistens der Mann zu sein, der die Frau verlässt, aber so war es bei uns nicht. Ich will nicht behaupten, Carolyn und ich hätten nicht unsere Probleme gehabt, aber das hat mich wirklich wie aus heiterem Himmel getroffen.«
Ich tat, als hätte ich seine Frage nicht verstanden. »Joe, es tut mir so leid. Das muss sehr schwer für dich sein.«
Wir sahen einander an, und einen Moment lang dachte ich, er könnte losheulen. Es waren keine Tränen in seinen Augen, aber ich hatte den Eindruck, dass er das Kinn besonders gerade hielt und vielleicht die Zähne zusammenbiss. Er und ich hatten bisher nie auch nur annähernd so persönlich miteinander gesprochen. Begegnet waren wir einander in Milwaukee und Halcyon vielleicht hundertmal – nach unserer Hochzeit hatten Harold und Priscilla im Country Club für alle, die zur Trauung nicht eingeladen worden waren, eine riesige Cocktailparty ausgerichtet, und ich war ziemlich sicher, dass Joe dort gewesen war –, aber in den elf Jahren hatten wir nie über etwas Verfänglicheres gesprochen als den neuen Kreisverkehr in der Solveson Avenue oder die Wassertemperatur des Lake Michigan.
Ich sagte: »Joe, ich hoffe, dass du weißt, dass es in jeder Familie Probleme gibt, selbst in Maronee. Ihr seid nicht die Einzigen. Und ich glaube, dass jedem klar ist, dass wir selbst in Bezug auf unser eigenes Leben nie alles unter Kontrolle haben.« Vermutlich lag es weniger an dem, was ich sagte, als daran, dass ich überhaupt weitersprach, aber Joe fing sich wieder.
»Danke, das weiß ich zu schätzen.« Sein Zapfhahn klickte, und er zog ihn aus dem Tank. Mit einem Blick auf sein Auto sagte er: »Ich bin auf dem Weg nach Madison, um den Tag mit Martha zu verbringen.« Martha war seine jüngere Schwester, die ich ebenfalls aus Halcyon kannte. »Ich habe mich immer so nach Freizeit gesehnt«, fuhr er fort, »und jetzt habe ich mehr davon, als ich mir je hätte träumen lassen. Die Wochenenden sind einfach grausam. Man sollte sich gut überlegen, was man sich wünscht, schätze ich.«
»Bei uns bist du jederzeit willkommen. Wenn du mal vorbeikommen und mit Charlie ein Spiel ansehen möchtest, würde uns das sehr freuen.« Vielleicht war es unklug, ihn einzuladen – würde Charlie nicht noch mürrischer werden, wenn Joe uns besuchte? –, aber er wirkte so mutlos, und ich wusste einfach nicht, was ich sonst sagen sollte. Außerdem kannten Joe und Charlie einander tatsächlich schon ihr Leben lang; sie waren mehr wie Cousins als Freunde miteinander aufgewachsen.
Joe wies zum Tankstellenshop und sagte: »Ich sollte jetzt besser bezahlen. War gut, dich zu sehen, Alice. Danke, dass du einem alten Trauerkloß zugehört hast.«
»Vielleicht solltest du doch zu dem Treffen gehen«, sagte ich, »als Tapetenwechsel.«
»Ich denk drüber nach.« Er winkte zum Abschied. »Viele Grüße an Chas!«
Als Charlie, Ella und ich zum Abendessen bei Priscilla und Harold eintrafen, summte das ganze Haus von der überschäumenden Energie der Blackwells. Unsere Neffen Geoff und Drew spielten Ringewerfen auf dem Rasen vor dem Haus, und Charlie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich ihnen anzuschließen, also gingen Ella und ich ohne ihn hinein. Es fiel mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Ella die letzte Blackwell dieser Generation war; die nächsten Babys, die auf die Welt kamen, würden die Kinder ihrer Cousins und Cousinen sein. Harry, der älteste Sohn von Ed und Ginger, war inzwischen einundzwanzig und sollte einige Tage nach Charlies Jahrgangstreffen seinen Abschluss in Princeton machen; Liza, die ältere Tochter von John und Nan, beendete dort gerade ihr vorletztes Studienjahr und plante, den Sommer über ein Praktikum in einem Modemagazin in Manhattan zu machen, und Tommy, der mittlere Sohn von Ed und Ginger, stand am Ende seines zweiten Studienjahrs, aber in Dartmouth, nicht in Princeton, was gleich zum Anlass genommen wurde, über die Zweitklassigkeit von Dartmouth im Allgemeinen und den langweiligen College-Standort Hanover – »Hangover« – in New Hampshire im Besonderen herzuziehen.
In der Eingangshalle umarmte Ella ihre Großeltern und verschwand dann sofort mit ihrer Cousine Winnie, vermutlich in den Keller, wo sich die Cousins und Cousinen, die noch zu Hause lebten, wie immer um einen Billardtisch versammelt hatten. Die Älteren tauschten beliebte Schauergeschichten aus – nach einem solchen Abendessen war Ella eine Zeitlang wie elektrisiert gewesen von der Idee der spontanen Selbstentzündung menschlicher Körper – oder brachten den Jüngeren Schimpfwörter bei. Nach Thanksgiving hatte Ella auf der Rückfahrt im Auto stolz verkündet: »Ich weiß, was Peniseier sind.«
Neben dem Treppenaufgang, wo Charlie und ich geheiratet hatten, küsste ich meinen Schwiegervater zur Begrüßung auf die Wange. »Alice, es tut mir sehr leid, das von deiner Großmutter zu hören«, sagte er, und ich antwortete: »Glücklicherweise geht es ihr heute schon viel besser.« Ich beugte mich nach vorn, um Priscilla zu begrüßen, die weniger in die Luft küsste als vielmehr gar nicht; sie reckte nur ihr Kinn vor und neigte den Kopf etwas, wobei sie nicht einmal die Lippen schürzte. Allerdings durfte ich das nicht persönlich nehmen, weil sie es mit jedem so hielt. Diesmal jedoch packte sie mein Handgelenk, zog mich zu sich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Ich muss mit dir reden.«
Harold entfernte sich, um sich um die Getränke zu kümmern, und im selben Moment kam Jadey mit einem marmornen Tablett aus dem Wohnzimmer. »Maj, wenn ich ein Käsemesser wäre, wo wäre ich wohl zu finden?«, sagte sie. »Oh, der Schal steht dir phantastisch, Alice. Wie geht es deiner Großmutter?« Jadey hatte den Schal bei einer Shoppingtour vor ein paar Wochen für mich ausgesucht; wir hatten ihn bei Marshall Field’s gefunden, und er war türkisfarben mit goldenem Paisleymuster.
»Jadey, du hast doch wohl nicht vor, den ganzen Käse auf einmal rauszustellen«, sagte Priscilla. »Du wirst allen den Appetit verderben.«
Jadey antwortete leichthin: »Was nicht gegessen wird, können wir ja wieder einpacken, und die Sirloin-Steaks sehen superb aus, also keine Sorge, sie werden in Sekundenschnelle verspeist sein.« Im Laufe der Jahre hatte sich Jadey zu einem echten Vorbild entwickelt, was den Umgang mit Priscilla anging: Sie gab sich immer heiter und blieb vage, ging Fragen aus dem Weg und vermied es, ihr geradeheraus zu widersprechen.
»Meiner Großmutter geht es sehr viel besser«, sagte ich, »sie ist schon fast wieder die Alte.«
»Na, Gott sei Dank«, sagte Jadey. »Chas und Ella sind uns natürlich mehr als willkommen – schließlich benehmen wir uns ein kleines bisschen besser, wenn Leute zu Besuch sind –, aber für dich muss es eine Riesenerleichterung sein. Also, Maj, die Käsemesser …«
»Zweite Schublade rechts neben dem Ofen«, sagte Priscilla, und ich staunte, wie schnell sie nachgegeben hatte. Dann fügte sie hinzu: »Jadey, ich dachte, du achtest in letzter Zeit auf deine Figur.« Sie lächelte. »Da müssen solche Vorspeisen doch eine große Versuchung sein.« Inzwischen waren Nan und Ginger aus dem Wohnzimmer herübergekommen und lenkten ein wenig von Priscillas unangenehmer Bemerkung ab. »Oh, Alice, wir beten alle für deine Großmutter«, sagte Nan, und Jadey antwortete: »Es geht schon wieder bergauf.« Dann bemerkte Ginger: »Dein Schal ist wundervoll, Alice. Maj, was können wir tun, um zu helfen?«
»Du könntest deine barbarischen Söhne davon abbringen, meinen Rasen umzupflügen.« Priscilla brach in ein kehliges Gelächter aus. »Wenn das so weitergeht, werden meine Fingerhüte und Schwertlilien den Juni nicht erleben.«
Einen Moment lang schwiegen alle, bis Ginger sagte: »Ich vermute, die Jungs werden jetzt sowieso reinkommen wollen.« Sie beeilte sich, zur Vordertür zu kommen, und Jadey verdrehte verschwörerisch die Augen, bevor sie Richtung Küche verschwand.
Priscilla wandte sich an Nan: »Ich werde Alice einen Moment entführen, wenn du erlaubst.«
Ich folgte meiner Schwiegermutter in eine Wandnische hinter dem Badezimmer, das unterhalb der Treppe lag. Von der Eingangshalle aus hatte ich Charlies Brüder als kleine Gruppe im Wohnzimmer stehen sehen und gedacht, dass so ein turbulentes Familientreffen Charlie und mir guttun würde, allen Spannungen zum Trotz.
In der Nische sagte Priscilla zu mir: »Du hattest kein Recht, Ruby ins Marcus Center mitzunehmen.«
Ich blinzelte. Was hatte ich denn gedacht, worüber sie mit mir würde sprechen wollen? Vielleicht über die Konflikte zwischen ihren Söhnen? Oder etwas viel Banaleres: dass sie mich bitten wollte, die Vogelhäuschen nachzufüllen, solange sie mit Harold in Washington war?
»Das war ganz und gar inakzeptabel«, fuhr sie fort, und ihre Stimme klang weder laut noch aufgebracht, sondern kühl. »Meine Haushaltshilfe geht allein mich etwas an.«
»Ich habe nicht …« Ich zögerte. »Ich habe nicht gewusst, dass es dich stören würde. Das war ganz sicher nicht meine Absicht.« Ich hatte nicht vor, mich bei ihr zu entschuldigen, denn ich war mir keiner Schuld bewusst. Miss Ruby war eine erwachsene Person, ebenso wie ich – wir hatten beide das Recht, ins Theater zu gehen, mit wem wir wollten.
»Vermutlich wolltest du ihr kulturelle Erbauung angedeihen lassen, oder?«
»Priscilla, die Einladung war eine spontane Idee. Ich hatte keinerlei Hintergedanken.«
»Ruby ist seit fünfundvierzig Jahren bei uns angestellt, und wir haben uns immer tadellos um sie gekümmert. Glaubst du, sie wäre sonst Jahrzehnt für Jahrzehnt bei uns geblieben? Es gibt da einiges, was du vermutlich nicht von ihr weißt, zum Beispiel, dass Harold und ich ihr geholfen haben, von einem skrupellosen Ehemann loszukommen. War dir das vielleicht bewusst?« Priscilla war fast einen Meter achtzig groß, aber während sie jetzt sprach, beugte sie sich so zu mir herunter, dass unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich registrierte die Fältchen um ihren Mund, ihren hellvioletten Lippenstift, ihre Zähne, die aus der Nähe etwas kleiner und dunkler wirkten, als ich sie im Gedächtnis hatte; außerdem stand ihr oberer linker Eckzahn ein wenig vor.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber einfach nicht, wie ich darauf antworten sollte.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du von jetzt an auf solche Einmischungen verzichten würdest«, sagte Priscilla. »Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Ich hoffe, du machst Miss Ruby keine Vorhaltungen«, sagte ich. »Der Ausflug war allein meine Idee, nicht ihre.« Und dann – ich konnte nicht anders – fügte ich noch hinzu: »Aber bei allem Respekt ist mir noch immer nicht klar, woran du eigentlich Anstoß genommen hast.«
»Oh, Alice.« Priscilla trat einen Schritt zurück und lachte leise auf. »Ich schäme mich für dich, dass du danach fragen musst.«
Vor dem Essen trank ich ein Glas Wein und fand zu Beginn der Mahlzeit einen Platz zwischen Harold, der gutmütig wie immer Konversation betrieb, und John, der trotz der Spannungen zwischen ihm und Charlie nie ein unfreundliches Wort gegen mich gerichtet hatte. Priscilla hatte wie üblich eine Sitzordnung ausgearbeitet, hatte mich aber seit unserem Gespräch hinter dem Treppenaufgang im Großen und Ganzen ignoriert. Bis wir beim Nachtisch angekommen waren, hatte sich meine Überraschung über unseren Wortwechsel gelegt, und ich gab mich entspannt dem allgemeinen Geplauder hin. Gleich zu Beginn hatte Priscilla über jegliche Diskussionen zum Thema Blackwell Meats ein Moratorium verhängt, was sich jetzt als klug erwies. Wir verzehrten gerade die letzten Reste unserer Butterhörnchen mit Vanilleeis, als Arthur, der offenbar wie alle Anwesenden schon einiges getrunken hatte, Ed dafür kritisierte, dass er ausgerechnet mit Judith Pigliozzi zusammen eine Gesetzesvorlage unterstützt hatte. Sie war eine demokratische Abgeordnete aus dem nördlichen Kalifornien und der Öffentlichkeit vor allem durch ihren fehlgeschlagenen Versuch bekannt, einen Gesetzesentwurf zur medizinischen Nutzung von Cannabis durchzubringen. »Und als Nächstes rauchen Eddie und Judith Gras im Capitol!«, krähte Arthur, und Ginger, Eds Frau, entgegnete: »Weißt du, es gibt tatsächlich Studien, die darauf hindeuten, dass Cannabis zum Beispiel Migränepatienten helfen könnte.« – Das sagte die lammfromme, freudlose Ginger, die selbst an Migräneattacken litt, und es war derart untypisch für sie, dass alle in schallendes Gelächter ausbrachen. »Also so hältst du es aus, mit Ed verheiratet zu sein!«, rief Charlie. »Wir haben uns schon immer gefragt, wie du das machst!« Gleichzeitig sagte John: »Geht doch nichts über ein bisschen Dope am Nachmittag, oder, Ging?« Ginger protestierte: »Ich meinte doch nicht, dass ich es ausprobiert hätte, ich habe nur etwas darüber gelesen …«, und Arthur und Charlie taten, als würden sie an Joints ziehen. »Wirklich, ich habe nie Marihuana geraucht«, sagte Ginger, die ziemlich aufgebracht wirkte, »es war ein Zeitungsartikel.«
»Alice, hast du schon mal einen durchgezogen?«, fragte Arthur, und Jadey sagte: »Bring sie nicht in Verlegenheit«, und Arthur: »Gut, dann fragen wir einmal um den Tisch herum. Dad, kann man davon ausgehen, dass deine Antwort nein lautet?«
Harold lächelte müde und schüttelte den Kopf. Zu dem Zeitpunkt waren alle Kinder wieder im Keller verschwunden, und ich war dankbar, dass Ella nicht da war; ich fühlte mich gar nicht danach, ihr THC zu erklären.
»Ginger hat gerade schon ihre Unschuld beteuert«, sagte Arthur. »Und ich? Ja, und wie! Nan?«
Nan rümpfte die Nase. »Ich glaube nicht, dass mir dieses Spielchen besonders gefällt«, sagte sie, und Arthur meinte: »Das zähle ich als noch ein Ja. Ed?«
»Ich war zu alt dafür«, sagte Ed. »Vergiss nicht, im Sommer der Liebe war ich schon Teilhaber bei Holubash & Whistler.«
Arthur setzte die Fragerunde fort. »Maj, ich würde denken, nein, aber du bist ziemlich durchtrieben, würdest du es also bestätigen oder abstreiten?«
»Ganz sicher nicht«, sagte Priscilla.
Arthur zeigte mit dem Finger auf Charlie. »Chas, bei dir ist doch die einzige offene Frage, ob du mehr geraucht oder mehr verkauft hast.«
Charlie grinste. »Hey, wir haben eben alle so unsere besonderen Fähigkeiten.«
»Du hast doch keine Drogen verkauft, oder?«, fragte ich, und John sagte: »Alice, stell lieber keine Fragen, deren Antwort du nicht wissen willst.«
»Jadey, ich weiß, dass deine Antwort ja heißt, weil ich dabei war«, fuhr Arthur fort, und Jadey protestierte: »Da war ich noch minderjährig! Das zählt nicht!«
»Wenn du da noch minderjährig warst, musst du inzwischen ja fast fünfundzwanzig sein«, grinste Arthur süffisant. (Hatten die beiden wirklich keinen Sex? Wenn man sah, wie sie einander neckten … Oder hatte in ihrem Wortwechsel doch etwas Feindseliges gelegen, das mir entgangen war?)
»John?«, fragte Arthur.
»Hab’s mal probiert, klar, aber es hat mich nicht gerade vom Hocker gerissen.«
»Und nun zurück zu unserer holden Alice.« Arthur saß mir gegenüber, zwischen Ginger und Nan. »Du bist hier sozusagen die große Unbekannte. Chas, willst du einen Tipp abgeben, wie es mit deiner besseren Hälfte steht?«
Charlie kniff die Augen zusammen und sah mich prüfend an. Schließlich sagte er: »Ich setze auf Ja. Lindy hat einen größeren Sinn für Abenteuer, als man denkt.«
Ich errötete, weil seine Bemerkung einen sexuellen Unterton zu haben schien, und Arthur sagte: »Der Augenblick der Wahrheit, Alice.«
»Nur ein Mal«, sagte ich. »Ich glaube, ich gehöre zu derselben Kategorie wie John, weil es mich auch nicht besonders begeistert hat.« Ich dachte daran zurück, wie ich im Sommer 1968 im Zimmer meiner Großmutter mit ihr und Dena Janaszewski zusammengesessen hatte, und dann dachte ich an meine Großmutter im Krankenhaus und drückte innerlich die Daumen, dass sich ihr Zustand weiter besserte.
»Alice, du hast dem Ganzen eindeutig keine Chance gegeben«, sagte Arthur. »Wo bleibt dein Durchhaltevermögen?« Er grinste wie ein echter Blackwell und wandte sich an Charlie: »Seit wann neigt deine Frau so zu Rückziehern?«
»Ist es sehr verwerflich, wenn ich bei dieser Diskussion Heißhunger auf einen Joint bekomme?«, sagte Jadey. »Dabei ist es zwei Jahrzehnte her, ich schwör’s!«
Arthur blickte zu Charlie und zog die Augenbrauen hoch. »Chas, denkst du auch, was ich denke? Aber wen kennen wir denn, der …«
Charlie nickte mit dem Kopf nach rechts zu der Schwingtür hinüber, die in die Küche führte. »Wie wäre es mit Leroy?«, sagte er. Mich packte die Angst. Leroy war Miss Rubys Sohn, Yvonnes älterer Bruder. Ich hatte ihn nie kennengelernt, aber ich wusste, dass er bereits einige Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.
»Brillante Idee!« Arthur angelte über den Tisch und hob die weiße Porzellanglocke an, mit der Priscilla immer läutete, um Miss Ruby hereinzurufen. Aber sofort nahm Priscilla sie ihm wieder aus der Hand, und ich war sehr erleichtert. »Ihr sollt Miss Ruby aus euren Kindereien heraushalten«, sagte sie.
»Jetzt sag mir nicht, dass Big Leroy Sutton nicht wüsste, wo man in dieser Stadt gutes Gras auftreiben kann«, sagte Arthur, und John ergänzte: »Oh, darüber ist er bestimmt hinaus. Für einen wie ihn ist Gras doch Kleinkram.« (War ihnen nicht bewusst, dass Miss Ruby möglicherweise jedes einzelne Wort mithören konnte?)
»Nun, ich denke, damit ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Ginger und ich uns verabschieden müssen«, sagte Ed, lächelte aber, während er seinen Stuhl zurückschob. »Maj, Dad, wir danken euch für dieses großartige Essen wie immer.«
»Langweiler! Langweiler!«, rief Arthur.
»O ja, schließlich wäre es für den Abgeordneten des neunten Distrikts höchst unpassend, fünf Monate vor seiner Wiederwahl beim Haschrauchen erwischt zu werden«, sagte Charlie. »Umso mehr im Haus des ehemaligen Gouverneurs. Ruf mal einer bei der Washington Post an!«
Ed wandte sich trocken an Ginger: »Komm, meine Liebe, lass uns Geoff holen.«
Ginger erhob sich, und Nan sagte: »Ich sollte mich auch langsam auf den Weg machen.« Ich sah, wie sie John einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, dann standen beide auf und folgten Ed und Ginger.
Als die vier gegangen waren, räusperte sich Harold, und alle wandten sich ihm zu. »Lasst mich euch einen ungefragten Rat geben«, sagte er. »Bei allem Sinn für Nostalgie – das ist eine scheußliche Idee.« Er erhob sich. »Möchte irgendjemand im Wohnzimmer einen Kaffee mit mir trinken?«
Daraufhin löste sich die Runde auf, und die Idee, Marihuana zu kaufen, ob mit Hilfe von Leroy Sutton oder auf anderen Wegen, verlor an Anziehungskraft – sehr zu meiner Erleichterung. Als die Männer mit Harold ins Wohnzimmer hinübergingen und die Frauen den Tisch abdeckten, wisperte Jadey mir zu: »Jetzt hält mich Maj bestimmt für gefräßig und drogenabhängig.« Sie wirkte nicht besonders beunruhigt darüber.
Sobald wir uns alle erhoben hatten, erschien wie von Zauberhand Miss Ruby, zusammen mit Bruce, der ihr beim Auftragen und Abräumen half und bei größeren Festen für die Blackwells die Getränke ausschenkte. Obwohl ich sie im Laufe des Abends schon mehrmals gesehen hatte, hatte ich Miss Ruby bisher nur kurz grüßen können: Sie war mit dem Kochen beschäftigt gewesen, und immer waren andere Gäste in der Nähe. Erst als der Kaffee serviert worden war und Priscilla sich ins Wohnzimmer begeben hatte, fand ich die Gelegenheit, mit ihr allein zu sprechen. Sie räumte gerade das Besteck in den Geschirrspüler. »Hat Mrs. Blackwell mit Ihnen über unseren Theaterbesuch gesprochen?«
Sie sah mich kaum an und sagte: »Ist schon in Ordnung.«
»Ich möchte mich entschuldigen, falls ich Ihnen Schwierigkeiten bereitet habe.«
Wir schwiegen eine Weile, während vom heißen Wasserstrahl, der in das Waschbecken rauschte, Dampf aufstieg.
»Es ist doch offensichtlich, dass Sie nichts Falsches getan haben«, fügte ich noch hinzu. »Ich hoffe, Sie haben weiterhin vor, uns mit Ihrer Familie Montag in einer Woche zu besuchen. Wir freuen uns schon sehr, Yvonnes Baby zu sehen.«
Miss Ruby hob die Augenbrauen. »Haben Sie es Mrs. gesagt?«
»Nein, und wenn es schwierig für Sie ist zu kommen, dann habe ich dafür vollstes Verständnis. Ich möchte nur, dass Sie wissen, wie sehr wir uns freuen würden, Sie zu Gast zu haben. Es wären nur Charlie, Ella und ich da.« Ich zögerte kurz. »Ich gehe davon aus, dass Sie vorbeischauen, aber wenn etwas dazwischenkommt, rufen Sie mich einfach an.« Machte ich alles nur noch komplizierter, brachte ich Miss Ruby in Gefahr, ihre Anstellung zu verlieren? Aber es erschien mir anständiger, mich über Priscillas Launen hinwegzusetzen, als mich ihnen zu beugen. Außerdem würde sie mit Harold in einigen Tagen nach Washington zurückkehren. Es war schlimm genug, dass sie versuchte, unser Verhalten zu kontrollieren, wenn sie hier war, aber dasselbe aus der Entfernung zu tun wäre einfach absurd gewesen.
Bevor ich die Küche verließ, sagte ich noch: »Danke für das Abendessen. Es hat alles wunderbar geschmeckt.«
Auf der Fahrt nach Hause – es war schon nach zehn, als wir aufbrachen, und ich saß am Steuer – sagte Charlie zu mir: »Es gibt da Gerüchte, du hättest mit einer Negerin angebandelt.«
»Charlie, du weißt, dass ich nicht gern streite, aber wenn deine Mutter meint, es sei inakzeptabel, dass …«
»Das musst du mir nicht erzählen.« Er klang amüsiert. »Von mir aus könnt ihr euch in die Finger pieksen und Blutsschwesternschaft schließen. Ich hoffe nur, dass ich für den großen Showdown Lindy gegen Maj gute Platzkarten bekomme.« Er ahmte den Tonfall eines Sportreporters nach. »In dieser Ecke, mit einem Gewicht von gut einem Zentner und in einem rosa Tennisröckchen …« Da ich nicht darüber lachte, sagte er: »Nun komm schon, das ist doch eine großartige Geschichte. Dann bist du also ganz allein ins Herz der Finsternis gefahren? Du bist wirklich eine tapfere Lady.«
Das Herz der Finsternis war ein abfälliger Spitzname für Milwaukees Innenstadt, den ich selbst nie benutzte. Ich ignorierte Charlie, und von der Rückbank meldete sich Ella zu Wort: »Mommy, wie viele Tage sind es noch, bis wir nach Princeton fahren?«
Ella freute sich unbändig auf das Jahrgangstreffen. Charlie hatte ihr die vielen Kampfgesänge und Sprechchöre der Hochschule beigebracht, und ich hatte mich bemüht, ihr die schwarz-orangefarbenen Kostüme, die abendlichen Konzerte in den Zelten und die Schönheit des Campus zu beschreiben – sie war zwar schon 1983 mit uns dort gewesen, konnte sich aber, da sie noch so klein gewesen war, kaum an etwas erinnern. Außerdem war der Ausflug für Ella eine willkommene Gelegenheit, Harry und Liza zu treffen, ihren Cousin und ihre Cousine. Ich sagte: »Wenn heute der einundzwanzigste Mai ist und wir am dritten Juni losfahren, wie viele Tage sind es dann? Weißt du noch, wie viele Tage der Mai hat?«
»Januar, Februar …«, begann Ella. Sie zählte die Monate an ihren Fingerknöcheln ab und rechnete dann. »Vierzehn Tage?«
»Fast«, sagte ich. »Es sind dreizehn.«
»Und meine Abschlussfeier ist dann in zwölf Tagen?«
»Ganz genau.«
»Daddy?«, sagte Ella.
Charlie drehte sich zu ihr um.
»Deine Epidermis guckt raus«, sagte sie.
»Ach ja?«, antwortete Charlie. »Und du solltest dringend mal deinen verlängerten Rücken untersuchen lassen.«
Ella kicherte. »Und was macht eine Blondine beim Hirnchirurgen? Lässt sich einen Teil ihres Gehirns rausnehmen und kommt als Mann wieder nach Hause.«
»Habe ich dir schon von meinem letzten Besuch beim Hirnchirurgen erzählt?«, sagte Charlie. »Deine Mutter hielt mich vorher für nicht besonders intelligent, aber danach hatte ich sogar verlernt, in der Nase zu bohren.« Dann fuhr er fort: »Die weltberühmte Operndiva Ella Blackwell wird auf die Bühne gebeten. Das Publikum ist außer Rand und Band. Wird sie ihre Fans enttäuschen, oder wird sie die Herausforderung annehmen? Drei, zwei, eins, dein Auftritt, Ella!« Zuerst begann er selbst zu singen: »Oh, Princeton war Princeton, da lagst du noch in der Wiege …«
Ella antwortete mit ihrer hohen, lieblichen Stimme: »… und Princeton bleibt Princeton, wenn ich unterm Rasen liege …«
Dann sangen sie gemeinsam, mit zunehmender Lautstärke, die letzten beiden Zeilen, die ich allerdings für eine Neunjährige wenig geeignet fand: »Drum passt gut auf da drüben in Yale, wir blasen euch den Marsch / Kniet euch schön hin und spitzt den Mund und küsst uns unsren Arsch!«
Das war nur ein kleiner Teil der Princeton-Propaganda, die mein Mann unserer Tochter beigebracht hatte. Dann gab es noch das Kostüm, das er zur Vorbereitung auf das Treffen zugeschickt bekommen hatte und das alle Absolventen seines Jahrgangs bei der Campusparade tragen sollten. Bisher war Ella die Einzige, die es anprobiert hatte: Zu einem orangefarbenen Trainingsanzug mit schwarzen Streifen an den Außenseiten der Hosenbeine und am Reißverschluss der Jacke entlang gehörte ein baumwollener weißer Sonnenhut, über dessen Krempe ein Kreis mit einer schwarz-orangefarbenen »68« aufgedruckt war. Und dann war da noch Ellas Lieblingssprechchor, die Princeton-Lokomotive, die man gemächlich beginnen musste, um dann immer schneller zu werden. Jeden Augenblick, ob beim Abendessen oder kurz vor dem Zubettgehen, konnte es Charlie einfallen, ihr zuzurufen: »Lokomotive achtundsechzig!«, und dann skandierten sie: »Hip, hip, rah, rah, rah! Tiger, Tiger, Tiger! Sis, sis, sis, boom, boom, boom, bah! Achtundsechzig, achtundsechzig, achtundsechzig!« Sie johlten und klatschten und tanzten dazu; mal fand ich dieses Ritual herzerwärmend und mal nervtötend. Die Jahrgangstreffen in Princeton kamen mir wie eine akademische, institutionelle Version der Blackwell-Familie vor: Sie waren eindrucksvoll und narzisstisch, mitreißend und berauschend, großartig und abstoßend zugleich. Diesmal war ich besonders besorgt darum, wie viel Charlie trinken würde: Bei seinem fünfzehnten Jahrgangstreffen hatte er zum ersten Mal so viel Bier hinuntergestürzt, dass er sich hatte übergeben müssen, und das war zu einer Zeit passiert, da er viel weniger getrunken hatte als jetzt.
Im Auto ging Charlie zu einem anderen Stück über: »Wenn jedes Herz und jede Hand / sich eint in uns’rer Schar …« Dieses Lied mochte ich, auch wenn es mit einer Geste endete, die dem Hitlergruß unangenehm ähnlich war. Aber wir saßen zusammen im Auto, unsere kleine Familie, und ich fiel mit ein: »Ein jeder singt, solang er lebt / ein Hoch auf Old Nassau.« Und dann sangen wir es noch einmal, weil wir eine Familie waren und weil Familien alles immer wieder und wieder tun, und dann sangen wir es ein drittes und ein viertes Mal, und als wir zum fünften Mal am Ende des letzten Refrains angekommen waren, waren wir zu Hause.
Am Sonntag darauf spielten die Brewers gegen die Toronto Blue Jays. Das Spiel begann um viertel nach eins, und ursprünglich waren Charlie und Ella dort mit Arthur und seinem Sohn Drew verabredet gewesen, aber Arthur rief morgens an, um abzusagen. Er sagte, er hielte es nicht für klug, wenn Charlie und er so kurz nach dem Fleischskandal im Fernsehen dabei zu sehen waren, wie sie sich im Stadion amüsierten (die Sitzplätze der Blackwells lagen acht Reihen oberhalb der Spielerbank der Brewers, zwischen der Third Base und der Home Plate). »Wir sind doch rehabilitiert worden!«, protestierte Charlie, aber Arthur ließ sich offenbar nicht umstimmen. Sobald er aufgelegt hatte, sagte Charlie: »Da hat doch John seine Finger im Spiel!«
Ich hatte mir vorgenommen, den Nachmittag mit Vorbereitungen für die kommende Woche zu verbringen – ich wollte am nächsten Tag zu meiner Mutter nach Riley fahren, um ihr dabei zu helfen, meine Großmutter wieder nach Hause zu holen, und am Dienstag sollte ich für ein Mittagessen des Garden Club bei Sally Gilman einen Kartoffelsalat für dreißig Personen mitbringen. Trotzdem stimmte ich gleich zu, an Arthurs statt mitzukommen. Wir riefen auch Harold an, um zu fragen, ob er uns begleiten wolle, aber sein Flug nach Washington ging um vier Uhr.
Es machte mir nichts aus, meine Pläne umzuwerfen. Schon vor Ellas Geburt hatte es zu unseren schönsten gemeinsamen Unternehmungen gehört, uns Baseballspiele anzusehen. Es gefiel mir, Teil einer großen, aber wohlgeordneten Menschenmenge zu sein – dank der Aufteilung in Sitze und Reihen und Blöcke wirkte das Stadion auch mit Zehntausenden Besuchern nie chaotisch, und wenn ein Zuschauer sich betrank und gegen die Regeln verstieß, wurde er von den Ordnern nach draußen begleitet. Es gefiel mir, wie man sich im Stadion unterhalten konnte, aber nicht musste, und ich beobachtete gern die Leute (die Familien mit Kindern wie wir, die jugendlichen oder mittelalten Pärchen, die Gruppen von Endzwanzigern oder Anfangdreißigern, die Männer, die allein hierherkamen und deren Anblick ich immer rührend gefunden hatte, zumindest bevor Charlie einer von ihnen geworden war, auf Ellas und meine Kosten, wie ich fand). Mir gefielen der gemeinsame Jubel und die uralten Rituale, die vertrauten Lieder und die einfachen Freuden wie ein Hotdog mit Bier an einem sonnigen Nachmittag. Das Einzige, das mir an Baseballspielen nicht gefiel, war die Situation, wenn ein ins Aus geschlagener Ball oder ein Home Run auf der Tribüne landete und eine Rangelei ausbrach – wenn nur einer bekam, was so viele wollten. Aber im Allgemeinen waren Baseballspiele für Charlie aufregend genug, dass er sich nicht langweilte, und zugleich entspannend genug für mich. Ella wiederum hatte ihre ganz eigenen Gründe, gern hinzugehen – ihre japanische Brieffreundin war ein leidenschaftlicher Fan dieser Sportart, was auch ihr eigenes Interesse daran gesteigert hatte, und sie liebte die kleinen Brewers-Mützen aus Plastik, in denen im Stadion das Eis serviert wurde und die man mit nach Hause nehmen durfte –, aber die Hauptsache war, dass sie Spaß daran hatte, dass wir alle Spaß daran hatten.
Zu Beginn des vierten Innings stand es 4:1 für die Brewers, und Charlie schien die Zwistigkeiten mit seinen Brüdern vollkommen vergessen zu haben. In dem Moment tauchte Zeke Langenbacher auf. Zeke war ungefähr zwanzig Jahre älter als Charlie und ich und stand in dem Ruf, der reichste Mensch in Milwaukee zu sein, vielleicht sogar in ganz Wisconsin. Er hatte die Highschool abgebrochen und seine Laufbahn als Milchausträger begonnen, hatte mit fünfundzwanzig seine erste eigene Meierei besessen und dann seine Geschäfte auf Autoversicherungen, Radiosender und Motels ausgeweitet. Ich war ihm einige Male begegnet und immer davon ausgegangen, dass er sich anschließend nicht an meinen Namen erinnern würde; umso angenehmer überrascht war ich, wenn er es dann doch tat. Charlie und er spielten gelegentlich zusammen Tennis – Zeke war als exzellenter und ziemlich aggressiver Spieler bekannt –, und ich glaube, diese Partien erfüllten Charlie mit großem Stolz, auch wenn er sie verlor. »Zeke ist eine verdammt große Nummer«, sagte er danach einmal zu mir, »ein richtiger Industriekapitän.«
Nachdem er mich begrüßt hatte und Ella vorgestellt worden war, wies Zeke auf den leeren Platz neben Charlie. »Sitzt hier schon jemand?«
Charlie klopfte mit der flachen Hand darauf. »Wir haben ihn für dich frei gehalten.« Zeke hatte selbst Dauerkarten für Plätze, die ein paar Reihen vor unseren lagen – das Country Stadium hatte keine VIP-Kabinen, was für mich einen Teil seines Charmes ausmachte –, und ich hatte ihn zu Beginn des Spiels mit zwei anderen Männern dort unten sitzen sehen.
Ella saß zwischen Charlie und mir, und Zeke hatte sich auf Charlies andere Seite gesetzt, so dass ich nicht mitbekam, worüber sie sprachen. Es überraschte mich, dass er bis in das siebte Inning hinein blieb; die Brewers hatten inzwischen drei weitere Runs geschafft. Ich ging mit Ella zu den Toiletten, und wir stellten uns in die Warteschlange vor einem Imbissstand, um Pommes frites zu kaufen, und als wir uns gerade auf den Weg zurück zu unseren Plätzen gemacht hatten, stieß Ella mit einem Jungen ungefähr in ihrem Alter zusammen. Fast die Hälfte ihrer Pommes frites kippten aus dem Pappbecher und landeten auf dem Boden. Ella schimpfte: »Jetzt sieh dir mal an, was du gemacht hast!«
Der Junge blickte erschrocken drein, und ich sagte: »Ella, Liebling, das war ein Unfall. Er konnte genauso wenig etwas dafür wie du.« Ich sah zu dem Mann auf, der den Jungen begleitete, und rechnete nur damit, ein entschuldigendes Lächeln auszutauschen, bis ich erkannte, dass dieser Mann Simon Törnkvist war. Ich glaube, wir dachten beide einen Moment lang darüber nach, so zu tun, als hätten wir einander nicht erkannt – er trug jetzt eine andere Brille, mit größeren Gläsern, und keinen Bart mehr, aber sein strähniges blondes Haar und sein linkes Auge mit dem Hängelid verrieten ihn –, und dann sagte ich: »Meine Güte, wie klein die Welt ist!« Ich legte Ella eine Hand auf die Schulter. »Das ist meine Tochter Ella.«
»Kyle, mein Sohn.«
»Ist das nicht ein perfekter Tag für ein Baseballspiel?«, sagte ich.
»Wir leben jetzt in Oshkosh, aber wir besuchen gerade Freunde.« Sein Tonfall klang wärmer, als ich es erwartet hätte.
»Ist Oshkosh nicht dein Geburtsort?«, sagte ich, und er antwortete: »Du hast aber ein gutes Gedächtnis!«
Ein gutes Gedächtnis?, dachte ich. Wir waren ein Jahr lang ein Paar!
»Es wird dich vielleicht überraschen, aber ich bin auch im pädagogischen Bereich gelandet«, sagte er. »Ich bin Geschichtslehrer an der Highschool.«
»Das ist ja großartig«, sagte ich. Er schien auf eine ähnliche Information von mir zu warten – ich mühe mich immer noch in der Schulbücherei ab –, und mir wurde bewusst, dass ich Simon nicht erzählen wollte, dass ich meinen Beruf aufgegeben hatte. Ich hatte mich schon gefragt, ob er wusste, mit wem ich verheiratet war, oder zumindest, dass es einer der Söhne des ehemaligen Gouverneurs war, und war froh darüber, dass er nichts dergleichen zu ahnen schien. Wie wenig ihm mein neuer Lebensstil zugesagt hätte, wie hoffnungslos bourgeois er ihm vorgekommen wäre. »Dann wollen wir euch beide nicht weiter vom Spiel abhalten«, sagte ich. »Hat mich gefreut, dich zu sehen.«
»Vielleicht könnten sich unsere Familien kennenlernen, wenn wir nächstes Mal in der Gegend sind«, sagte er, und ich lächelte, weil ich wusste, dass er mich ohnehin nicht ausfindig machen würde.
»Unbedingt.«
Als wir wieder zu unseren Plätzen zurückkamen, war Zeke Langenbacher nicht mehr da, und ich sagte zu Charlie: »Du glaubst gar nicht, wem Ella und ich eben über den Weg gelaufen sind – Simon Törnkvist.«
»Du meinst Simon Garfunkel?« Diesen Spitznamen hatte Charlie ihm vor Jahren aufgrund meiner kurzen Beschreibung verpasst. Die beiden waren einander nie begegnet, aber Charlie hatte irgendwie den Eindruck gewonnen, Simon sei ein langhaariger, Gitarre spielender Friedensaktivist; eigentlich sagte das weniger über seine Vorstellung von Simon aus als über seine Vorstellung von mir. »Er hatte seinen Sohn dabei«, sagte ich, und Ella fiel ein: »Seinetwegen habe ich meine Pommes ausgekippt!«
»Aber nicht alle, wie es aussieht«, sagte Charlie und langte in den Becher in Ellas Hand. Entrüstet gab sie ihm einen Klaps auf den Arm.
»Ich dachte, der gute Garfunkel wollte keine Kinder«, sagte Charlie. »Habt ihr euch nicht deswegen getrennt?«
Jetzt war es an mir, über jemandes gutes Gedächtnis zu staunen. »Menschen ändern sich eben.« Mir war durchaus bewusst, dass ich Kyles bloße Existenz als Beleidigung auffassen musste, und wer konnte schon wissen, ob Simon nicht noch mehr Kinder hatte? Aber was ich tatsächlich empfand, war eine beinahe schwindelerregende Freude darüber, dass ich mit Charlie verheiratet war und nicht mit Simon. Wie steif und lieblos Simon damals gewesen war, wie langweilig, und ich hatte es erst im Nachhinein bemerkt. Charlie mochte noch so viele Schwächen haben, er war doch unvergleichlich viel attraktiver. Ich streckte eine Hand über Ella hinweg, um ihm den Nacken zu kraulen. »Was hat Zeke Langenbacher denn erzählt?«
Charlie zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes.«
Die Brewers gewannen 7: 1, und wir fuhren zufrieden, sonnensatt und müde heim. Sobald wir in die Einfahrt einbogen, sagte ich zu Ella: »Liebes, ich möchte, dass du bis zum Abendessen dein Spielzeug aufräumst.«
»Falls du dich fragst, wo Barbie ist – die liegt splitternackt und durchgewalkt auf dem Fußboden im Fernsehzimmer«, sagte Charlie. »Sie hat alle viere von sich gestreckt. Scheint eine wilde Nacht hinter sich zu haben.«
»Charlie.« Ich runzelte die Brauen.
»Was heißt denn ›durchgewalkt‹?«, fragte Ella.
»Ich sage doch nur die Wahrheit«, verteidigte sich Charlie.
»Das heißt ›müde‹«, sagte ich zu Ella. »Wie wäre es, wenn du ihr etwas anziehen würdest, damit sie nicht friert?«
Das Telefon klingelte, als wir das Haus betraten, und ich wollte erst den Anrufbeantworter angehen lassen, entschied mich dann aber doch dafür, den Hörer abzunehmen, falls es Jadey war, die mit mir spazieren gehen wollte.
»Hallo?«, sagte ich. Es kam nicht gleich eine Antwort, und dann hörte ich ein leises Schluchzen, das ich sofort erkannte, und meine Mutter sagte: »O Alice, es fällt mir so schwer, dir das zu sagen, aber Granny ist von uns gegangen.«
Ich hatte Ella noch nie schwarze Kleidung gekauft. Genau genommen hatte ich ihr sogar eingeschärft, dass Schwarz für Mädchen in ihrem Alter nicht passend sei, woran sie mich jetzt vorwurfsvoll erinnerte, während ich in einer Umkleidekabine im Miss n’ Master, der überteuerten Kinderboutique von Maronee, auf dem Bänkchen saß und sie sich in ein schimmerndes schwarzes Kleid mit Puffärmeln und einer Schärpe hineinzwängte. Sie begutachtete sich im Spiegel und war mit dem Ergebnis überraschend zufrieden: »Ich sehe aus wie das Mädchen aus der Addams Family. Machst du mir für Grannys Beerdigung Zöpfe?«
»Probier mal das hier an.« Ich nahm ein dunkelblaues Kleid mit weißem Peter-Pan-Kragen von einem Bügel. Ella zog es über und betrachtete missbilligend ihr Spiegelbild. »Das sieht hinreißend aus«, sagte ich. »Warum gefällt es dir nicht?«
»Mir gefällt das andere.«
Es war vier Uhr am Donnerstagnachmittag, seit dem Anruf von meiner Mutter waren vier Tage vergangen, und die Beerdigung sollte am nächsten Morgen um elf Uhr stattfinden. Ich seufzte. »Gut, nehmen wir das schwarze.«
»Kann ich es auch an Weihnachten anziehen?«
»Weihnachten ist erst in sieben Monaten, Liebling.«
»Und in Princeton?«
»Lass uns später darüber reden. Dreh dich bitte um, damit ich den Reißverschluss aufmachen kann.«
An der Kasse erklärte Ella der Dame, die das Kleid einpackte: »Es ist für die Beerdigung meiner Urgroßmutter. Sie ist gestorben, weil sie Blut im Kopf hatte.«
Die Frau war sichtlich schockiert. »Es tut mir leid, das zu hören«, sagte sie.
Es war eigenartig, ohne meine Großmutter in Riley zu sein. Auch früher war es vorgekommen, dass ich zu Besuch kam, wenn sie bei Gladys Wycomb in Chicago war, oder dass sie bei meiner Ankunft gerade schlief, aber dann war sie mir trotz ihrer Abwesenheit präsent gewesen, und jetzt war sie einfach nicht mehr da. Andererseits – was wusste ich schon von den Mysterien des Jenseits? Vielleicht saß sie direkt neben mir und sah mir dabei zu, wie ich mich umdrehte und die Leute begrüßte, die hinter der ersten Bankreihe in der Calvary Lutheran Church saßen. Die Trauer schnürte mir die Brust ein wie ein zu enger Gurt, aber zugleich spürte ich den Drang, höfliche Konversation zu betreiben, der mich auf Beerdigungen immer wieder überraschte: Die konzentrierten Augenblicke der Trauer waren meist die Ausnahme, die Augenblicke, in denen man wirklich an die Verstorbenen dachte, statt sich nur vage seiner selbst bewusst zu sein, in der Kirche, als Teil einer Gruppe, im gemeinsamen Gebet oder im Gespräch mit anderen. Ungefähr sechzig Menschen waren zu dem Trauergottesdienst gekommen, hauptsächlich unsere Nachbarn, aber auch Ernie LeClef, der inzwischen die Zweigstelle der Wisconsin State Bank & Trust leitete. Das waren weit mehr, als ich erwartet hatte, da meine Großmutter nur wenige enge Freunde gehabt hatte. Viele ihrer Altersgenossen hatte sie überlebt, aber auch nicht wenige aus der nächsten Generation, nicht zuletzt natürlich meinen Vater.
Der Pastor, ein Mann namens Gordon Kluting, den ich kaum kannte, eröffnete den Gottesdienst mit den Worten: »Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes.« Nach diesem Kanzelgruß sangen wir »Jesu, geh voran«, dann folgten die Litanei und der Psalm 23. Meine Mutter las aus der Offenbarung (sie war kaum zu verstehen), und dann war ich an der Reihe und las aus den Seligpreisungen im Matthäusevangelium: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden … Ich war froh, dass man mir diesen Text zugewiesen hatte und nicht den meiner Mutter, weil er eher Mitgefühl als Glauben ausdrückte. Auch nach so vielen Jahren hatte sich mein Glaube nicht wieder gefestigt. Es war mir dennoch wichtig, Ella im Schoß der Kirche aufwachsen zu lassen, wenn auch nur, damit sie in Zukunft, sollte sie Trost im Glauben suchen wollen, eine Grundlage dafür hätte. Daher lag eine gewisse Ironie darin, dass an den meisten Wochenenden ich diejenige war, die dafür sorgte, dass wir Christ the Redeemer aufsuchten. Zu Beginn unserer Zeit in Milwaukee war Charlie ein eifriger Kirchgänger gewesen, aber ich vermute, dass das mehr mit seinem Wunsch zu tun hatte, uns als frischverheiratetes Ehepaar in der Gemeinde zu etablieren, als mit seinem Glauben, der eher durchschnittlich ausgeprägt war: Natürlich gab es für Charlie einen Gott; natürlich musste man zu Ihm beten, besonders an Weihnachten und Ostern und in unruhigen Zeiten; und nein, es war nichts dagegen einzuwenden, Ihm auch unsere kleinsten Sorgen und Wünsche anzuvertrauen (dazu war Er schließlich da – wie der Concierge eines noblen Hotels). In den letzten Jahren war es Charlie weniger wichtig geworden, jeden Sonntag unsere Kirche zu besuchen, und manchmal gingen Ella und ich allein.
Als ich meine Passage gelesen hatte und mich umblickte, entdeckte ich Harold Blackwell in der zweithintersten der gefüllten Reihen. Das war der Moment, in dem mir zum ersten Mal Tränen in die Augen stiegen. Nicht einmal Jadey war gekommen – ich hatte ihr versichert, dass das nicht nötig sei, und sie hatte erleichtert gewirkt. Harold musste extra für das Begräbnis angereist sein, und auch wenn meine Großmutter gegen seine politischen Überzeugungen Vorbehalte gehabt hatte, war ich tief bewegt. Ich ging zu meinem Platz in der vordersten Bank zurück, an meiner Mutter und Lars vorbei, und setzte mich wieder zwischen Ella und Charlie, der meine Hand nahm und sagte: »Gut gemacht.«
Nach der Predigt hielt Pastor Kluting eine Grabrede, die nach meinem Empfinden wenig zu meiner Großmutter passte: Unter anderem bezeichnete er sie als einen tragenden Pfeiler der Gemeinschaft in Riley. Als letztes Lied sangen wir nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, dem Vaterunser und der Kommendatio »Hoch rühmt das Kreuz«. Wieder spürte ich einen Kloß im Hals. Das Lied erinnerte mich zwar nicht an meine Großmutter, aber es war ein Stück, das ich schon als Kind gesungen hatte, und als die Orgel einsetzte, füllte sich die Kirche, zumindest teilweise, mit den Stimmen von Menschen, die meine Familie kannten, und eine überwältigende Trauer stieg in mir hoch. Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich nicht mit meiner Großmutter in einem Haus aufgewachsen wäre, wie beengt und farblos! Ihr war es zu verdanken, dass ich Bücher las, und das Lesen hatte mich vor allem anderen zu dem gemacht, was ich war. Es hatte meine Neugier und mein Mitgefühl geweckt, hatte mir die Augen dafür geöffnet, wie unbegreiflich, unbeständig und widersprüchlich die Welt war, und mich gelehrt, die Unbegreiflichkeiten, die Sprunghaftigkeit und die Widersprüche der Welt nicht zu fürchten. Und hätte ich Charlie geheiratet, wenn meine Großmutter nicht gewesen wäre? Ganz sicher nicht, und zwar weniger wegen ihrer hohen Meinung von ihm nach ihrer ersten Begegnung als wegen der Charakterzüge, die ihnen beiden gemeinsam waren, die ich an ihm schätzte, weil ich sie an ihr geschätzt hatte: Schalkhaftigkeit, Humor und Respektlosigkeit und eine hellwache Intelligenz, die eher spürbar als offensichtlich war. Jetzt stand er neben mir; ich sah aus dem Augenwinkel seinen grauen Anzug, und ich dachte: Hatte meine Großmutter nicht in allem anderen recht behalten? Hatte sie nicht, ob es um Kleidung ging, um meine Ausbildung oder die ungewollte Schwangerschaft, die zu beenden sie mir geholfen hatte, immer für mich gesorgt, und worin hatte sie sich je geirrt? Und musste sie dann nicht auch recht behalten, was Charlie anging?
Ihr Sarg stand auf Rollen, und die Sargträger waren Angestellte des Beerdigungsinstituts. Während der letzten Strophe gingen sie als Erste den Gang hinunter, dann der Pastor und dann die Familienmitglieder. Ich sah, dass meine Mutter den Trauergästen ein Dauerlächeln entgegenhielt, während ihr zugleich die Tränen hinunterliefen. Auf dem Weg zum Friedhof, im Auto, beugte sich Ella zu mir vor; Charlie fuhr, und ich saß auf dem Beifahrersitz. Ich wandte mich ihr zu, und sie sagte sehr ernst, als hätte sie lange über dieses Thema nachgedacht: »Ich glaube, Granny hätte mein Kleid gefallen.«
Später, beim Empfang in unserem Haus in der Amity Lane, hatte ich gerade eine Schüssel mit Salat auf den Tisch im Esszimmer gestellt, als Charlie neben mir auftauchte. »Was meinst du«, fragte er, »willst du noch ein bisschen bleiben, oder sollten wir uns auf den Weg machen?« Er kaute noch auf irgendetwas, vielleicht auf den Kartoffelchips mit einem Dip aus Speck und Käse, die ich nur von Beerdigungen kannte, schluckte den Rest hinunter und wischte sich die Hände an einer Serviette ab.
»Hast du es eilig?«, fragte ich zurück.
»Ich möchte dich nicht hetzen, wenn du also noch zu tun hast, könnten Ella und ich vielleicht mit Dad zurückfahren, habe ich gedacht.«
Fast alle Trauergäste hatten sich über das Wohnzimmer und das Esszimmer verteilt. Die Grablegung war eine kurze Zeremonie gewesen, und wir waren erst eine Viertelstunde zuvor zu Hause angekommen. Harold gesellte sich zu uns, stellte sich zwischen Charlie und mich und legte jedem von uns eine Hand auf den Rücken. (Mir war aufgefallen, dass die anderen Gäste, seit wir das Haus betreten hatten, Harolds Gegenwart bemerkten; sie stießen einander an und flüsterten: Ich glaube, das ist Blackwell, der Gouverneur. Aber Harold bemerkte es entweder gar nicht oder war so sehr daran gewöhnt, dass es ihn nicht störte.) »Alice«, sagte er, »im Namen der ganzen Familie möchte ich dir sagen, dass wir heute alle an dich und deine Großmutter denken.«
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich.
»Was könnte an so einem Tag wichtiger sein? Es tut mir nur leid, dass ich jetzt gehen muss. Ich soll heute Abend in San Diego eine Rede halten. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sehr Priscilla bedauert, dass sie nicht herkommen konnte.«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Du ahnst gar nicht, wie sehr du uns ans Herz gewachsen bist«, sagte er, und als wir uns umarmten, wurde mir bewusst, dass ich nichts anrührender fand als Harolds sentimentale Ader. Ich fragte mich sogar, ob es noch mehr Politiker gab, über die ich mich so getäuscht hatte wie über ihn. Gab es Männer (denn um Männer ging es ja meistens), die, statt bei öffentlichen Auftritten Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit zu heucheln, im Gegenteil vorgaben, grausam und gefühllos zu sein? Männer, bei denen die verzerrte Darstellung in den Medien und der Druck, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, ihren Anstand und ihre Freundlichkeit verdeckten?
Wir lösten uns aus der Umarmung, und Harold klopfte Charlie auf die Schultern. »Pass gut auf sie auf, mein Sohn«, sagte er, und Charlie sagte: »Hast du in deinem Batmobil vielleicht noch zwei Plätze frei?«
»Liebling, du kannst gern bleiben«, sagte ich. »Du bist hier bestimmt nicht im Weg.«
Charlie wich meinem Blick aus, als er antwortete: »Ja, weißt du, da hat sich was ergeben, das mit der Arbeit zu tun hat. Etwas ziemlich Wichtiges sogar, sonst würde ich es verschieben, das weißt du doch.«
»Deine Brüder haben sicher Verständnis dafür, dass du heute hier bei Alice sein musst«, sagte Harold, und ich fragte: »Worum geht es denn?«
Charlie zögerte. »Ich kann jetzt noch nichts Genaueres sagen. Aber ich gebe euch Bescheid, sobald ich kann, Ehrenwort. Lindy, wann wirst du zu Hause sein, vielleicht so gegen fünf, halb sechs?«
»Bist du sicher, dass du mir nicht sagen kannst, worum es geht?«
Er verzog den Mund zu einer entschuldigenden Grimasse. »Gib mir noch ein paar Tage Zeit, okay? Es hat sich ganz plötzlich ergeben, und ich will nicht zu viel drüber reden, bevor es unter Dach und Fach ist.« Zu seinem Vater sagte er: »Kann ich Ella holen, und dann treffen wir uns vorm Haus?« Er beugte sich vor, um mir einen Kuss zu geben. »Und wir sehen uns beim Abendessen?«
Als Charlie gegangen war, spürte ich, dass Harold genauso peinlich berührt war wie ich. Ich bemühte mich, unbeschwert zu klingen, und sagte zu ihm: »Ich verlasse mich darauf, dass du es auf dem Rückweg aus ihm herausbringst und mir vollständigen Bericht erstattest!« Natürlich erwartete ich nichts dergleichen.
»Das klingt ja wirklich sehr gemeinisvoll.« Harold schüttelte den Kopf. »Lass uns bitte wissen, wenn wir irgendetwas für dich tun können.«
Eine der Letzten, die sich nach dem Empfang von uns verabschiedeten, war Lilian Janaszewski, Denas Mutter. Ich hatte schon begonnen, Teller und Gläser in die Küche zu tragen, als sie plötzlich vor mir stand. »Alice, du hast dir den ganzen Nachmittag über keine ruhige Minute gegönnt. Du bist genau wie Dorothy.«
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich, »es ist schön, dich zu sehen.« Diese Worte hatte ich, mit kleineren Variationen, den Tag über so oft wiederholt, dass sie mir automatisch über die Lippen kamen, genauso wie eine Kurzzusammenfassung meiner aktuellen Lebenssituation und die flüchtigen Gedanken an meine Großmutter: Ja, Charlie und ich leben immer noch in Milwaukee. Ella ist jetzt neun, sie ist in der dritten Klasse. Da drüben ist sie, ja, genau, mit den langen Haaren. Oder: Sie ist gerade losgefahren – ich weiß, schade, dass ihr euch verpasst habt. Charlie und ich können uns wirklich glücklich schätzen. Oder: Ich weiß, meine Großmutter war ein wundervoller Mensch. Auch dieser Teil der Beerdigung schien mir viel weniger mit meiner Großmutter als Person zu tun zu haben als mit den üblichen Vorstellungen von Anstand und Sitte, sogar so sehr, dass ich das Gefühl hatte, meine Großmutter zu verraten, wenn ich mich selbst so plaudern hörte. Aber was war die Alternative? Hätte ich es überhaupt ertragen, mich in der Gegenwart von allen anderen lebhaft und ehrlich an sie zu erinnern? Sie fand Riley ziemlich öde. Sie spielte hervorragend Bridge. Sie machte nie einen Finger krumm, um zu kochen oder zu putzen, selbst als sie noch jünger und agiler war und es leicht gekonnt hätte, und sie rauchte ständig, auch in Gegenwart ihrer Enkelin. Sie mochte Anna Karenina, weil ihr die Charaktere gefielen, aber Krieg und Frieden langweilte sie, weil es so politisch war, und sie war noch mit neunzig modisch auf dem neuesten Stand, und der heutige Trend, den ganzen Tag über Sportbekleidung zu tragen, brachte sie zur Verzweiflung; außerdem fand sie, dass die Kleider von Laura Ashley so aussahen, als seien sie für Bäuerinnen entworfen worden. Sie hatte jahrelang eine Liebesbeziehung zu einer anderen Frau, worüber bei uns nicht gesprochen wurde, und dann trennten sie sich, und auch darüber wurde geschwiegen. In gewisser Weise ging das wahre Wesen meiner Großmutter keinen der Trauergäste etwas an, genauso wie es bei allen anderen nur sehr wenige Familienmitglieder und enge Freunde etwas anging. Außerdem, so sagte ich mir, konnten oberflächliche Bemerkungen die Toten ebenso wenig beleidigen, wie der Abschiedsschmerz sie zurückbringen konnte.
Mrs. Janaszewski nahm meine Hand und hielt sie fest. Ihre Haut war überraschend kühl für einen warmen Nachmittag im Mai. »Das mit Dena und dir bricht mir einfach das Herz«, sagte sie. »Sie wohnt inzwischen wieder hier, weißt du.«
»Betreibt sie das D’s gar nicht mehr?«
»Textilien sind ein schwieriges Geschäft, Alice. Die Kundschaft ist so flatterhaft, und in Madison kommt noch der ganze Durchsatz wegen der Studenten dazu.«
Das überraschte mich, denn D’s war immer brechend voll gewesen, wenn ich dort vorbeigeschaut hatte. Dann fiel mir ein, dass mein letzter Besuch in dem Laden über ein Jahrzehnt her war – auch wenn ich dann und wann nach Madison fuhr, um mit meiner alten Freundin Rita Alwin zu Mittag zu essen oder eine Ausstellung im Elvehjem Museum anzusehen, vermied ich es, auf die State Street zu gehen, weil es mich nur deprimiert hätte.
»Dena arbeitet jetzt als Kellnerin im Steakhaus des neuen Einkaufszentrums, aber die eigentliche Neuigkeit ist, dass sie einen festen Freund hat«, sagte Mrs. Janaszewski. »Du kennst ihn wahrscheinlich, Pete Imhof.« Ich musste erschrocken ausgesehen haben, denn Mrs. Janaszewski schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh, Alice, er ist der Bruder von … Ich hatte ganz vergessen, dass … verzeih mir.«
»Nein, schon gut, das ist ja schon so lange her«, sagte ich. Ich hätte Andrew gegenüber dasselbe schlechte Gewissen haben können wie meiner Großmutter gegenüber – Ich verdränge meine Trauer aus Höflichkeit; dieser Smalltalk ist wichtiger als unsere Geschichte, als die Erinnerung an dich –, aber was ich gerade von Mrs. Janaszewski erfahren hatte, wühlte mich viel zu sehr auf. Dena hatte eine Beziehung mit Pete? Aber Pete war abstoßend! Dena war witzig, hübsch und ehrgeizig und Pete ein hinterhältiger Nichtsnutz, ein Versager. Ich fragte mich sogar, ob sie ihn finanziell versorgte. Wie hatten sie zueinander gefunden? War es möglich, dass er sich verändert hatte, seit er meine Mutter betrogen hatte? Ich hoffte es für Dena. Und dann fiel mir ein: Wenn Dena und Pete ein Paar waren, musste sie ihm doch von meinem Schwangerschaftsabbruch erzählt haben. Mein Gott, und wenn er nach all den Jahren erfuhr, dass ich schwanger gewesen war, wäre er dann wütend auf mich? Angewidert, enttäuscht oder einfach nur erleichtert, dass ich die Sache erledigt hatte? Ich fragte Mrs. Janaszewski: »Wie lange sind die beiden denn schon zusammen?«
»Oh, fast ein Jahr. Sie sagt immer zu mir: ›Ma, hör auf, mich zu fragen, wann wir heiraten. Wenn es was zu erzählen gibt, werden wir es dir schon sagen.‹«
Wenn Pete also vorgehabt hätte, mich ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen, hätte er es dann nicht schon längst getan? Vielleicht hatte Dena ihm nichts gesagt, konnte es vielleicht sogar sein, dass sie es selbst vergessen hatte? Das schien mir nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Nach all den Jahren waren Dena und Charlie immer noch die Einzigen, denen ich davon erzählt hatte; mich Jadey anzuvertrauen erschien mir zu riskant.
Ich sagte: »Es muss schön sein, Dena so nah zu haben.«
»Sie lebt in der Colway Avenue«, sagte Mrs. Janaszewski. »Also, ich weiß ja nicht genau, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber wie ich Dena kenne, würde sie sich bestimmt riesig freuen, wenn du dich melden würdest. Ich kann dir ihre Telefonnummer geben, und sie geht nicht vor fünf zur Arbeit – ich wette, sie ist jetzt zu Hause.«
»Leider muss ich gleich wieder nach Milwaukee zurück.« Ich verzog kummervoll das Gesicht, als ob ich mich nicht danach sehnte, in mein Alltagsleben zurückzukehren, in mein eigenes Haus, meine Küche, mein Bett und meine gewohnten Abläufe. »Ella und Charlie sind schon losgefahren. Aber es freut mich zu hören, dass es Dena gut geht.«
»Wir wissen beide, dass sie sehr stur sein kann, aber ihr beiden wart so gut befreundet. Ich dachte immer, Alice ist wie eine vierte Schwester, wenn nur meine anderen Töchter auch so gute Manieren hätten!«
Es überraschte mich, dass Dena ihrer Mutter nicht erzählt hatte, woran unsere Freundschaft zerbrochen war. Aber wenn sie es getan hätte, wäre Mrs. Janaszewski dann so freundlich zu mir gewesen? Ich hatte mir nie so wie Dena die volle Verantwortung für unser Zerwürfnis zugesprochen, aber für ganz unschuldig hielt ich mich auch nicht. Dass meine Beziehung zu Charlie sich auf Kosten der Freundschaft zu Dena entwickelt hatte, war kein Thema, über das ich gern nachdachte. Jetzt, da sie mit Pete Imhof zusammen war, versuchte ich, nicht darüber nachzudenken, ob sie sich, von der Abtreibung einmal abgesehen, über mich unterhalten hatten.
Ich bemühte mich um einen bedauernden Tonfall, als ich sagte: »Vielleicht beim nächsten Mal.«
Nachdem alle gegangen waren, saßen Lars, meine Mutter und ich im Wohnzimmer. Meine Mutter hatte sich seitwärts auf die Couch gesetzt und ihre Beine in der schwarzen Stoffhose vor sich ausgestreckt. Ihre Füße, die noch in schwarz-transparenten Kniestrümpfen steckten, hatte sie Lars in den Schoß gelegt, der sie geistesabwesend streichelte. Die Intimität dieser Szene verunsicherte mich, aber ich fand sie auch schön – jedenfalls hatte ich Lars’ Anwesenheit noch nie als so beruhigend empfunden wie jetzt, da ich wusste, dass er dableiben würde, wenn ich nach Milwaukee zurückfuhr.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber habt ihr den Nacho-Auflauf gesehen, den Helen Martin mitgebracht hat?«, sagte meine Mutter. »Von so was habe ich ja noch nie gehört!« Sie schien überraschend guter Laune zu sein, wahrscheinlich war sie erleichtert, dass die Gäste gegangen waren.
»Aber er hat gut geschmeckt«, sagte Lars. »Er hatte so was Spezielles, aber auch nicht zu viel davon.«
»Es klingt nur so komisch.« Meine Mutter sah quer durch das Zimmer zu mir herüber. Ich saß in einem Fernsehsessel, einem der wenigen Möbelstücke, die Lars bei seinem Einzug mitgebracht hatte. »Hast du davon probiert, Liebling?«, fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich habe mehr als genug von Mrs. Noffkes Schokoladenkeksen gegessen.« Das Telefon klingelte – meine Mutter hatte endlich die alten Apparate mit den Wählscheiben gegen neue, beigefarbene mit Tastatur ausgetauscht –, und während ich in die Küche ging, um dranzugehen, sagte ich: »Ich glaube, da waren Walnüsse drin. Hallo?«
»Du bist immer noch da?«, fragte Charlie.
Ich sah auf meine Uhr. »Es ist noch nicht mal halb sechs.«
»Wolltest du gerade aufbrechen, oder denkst du, es wird noch dauern?«
»Charlie, ich habe doch gesagt, dass ich zum Abendessen zurück sein werde.«
»Hast du zufällig Shannons Telefonnummer dabei? Ich werde sie anrufen und sie fragen, ob sie auf Ella aufpassen kann.«
»Ich glaube kaum, dass sie so kurzfristig Zeit haben wird.«
Meine Mutter tauchte im Durchgang zur Küche auf und runzelte fragend die Stirn. Ich legte eine Hand über den Hörer und schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung, das ist nur Charlie.«
»Nur Charlie, ja?«, sagte er, als meine Mutter den Raum wieder verlassen hatte.
»Du weißt, wie das gemeint war.« Einen Moment lang blieb es still, dann sagte ich: »Ich wünschte wirklich, du könntest mir sagen, was das für ein mysteriöser Termin ist.«
Charlie seufzte. »Weißt du noch, wie ich am Sonntag im Stadion mit Zeke Langenbacher geredet habe? Also, Zeke hat mich auf einen Drink eingeladen. Das könnte eine einmalige Chance sein. Mehr kann ich jetzt wirklich nicht sagen, aber glaub mir, das ist eine ziemlich große Sache.«
»Wirst du in seiner Firma arbeiten?«
»Nein, das nicht. Hast du Shannons Nummer? Ich verspreche, dir alles zu erklären.«
»Sie hängt am Kühlschrank. Aber warte, ruf sie nicht an. Ich steige jetzt sofort ins Auto. Wann triffst du dich mit Zeke?« Ich warf noch einen Blick auf die Uhr; es war zwanzig nach fünf, und ich würde fünfzig Minuten bis Maronee brauchen.
»Um halb sieben«, sagte Charlie.
»Dann passt es ja …«
»Nein, wir treffen uns nicht im Country Club, sondern in Langenbachers Büro in der Innenstadt.«
»Gut, aber lass Ella bitte nicht allein zu Hause. Wenn du los musst und ich noch nicht zurück bin, bring sie bei Jadey und Arthur vorbei.«
»Ich schulde dir was«, sagte Charlie. »Hey, und wie sieht es bei euch aus?«
»Hier ist alles in Ordnung.«
»Bist du sauer?«
»Ich muss jetzt los.«
»Beeil dich, okay?«, sagte er. »Ich will mich nicht aufführen wie das letzte Charakterschwein, aber es ist wirklich wichtig.«
»Ich komme, so schnell ich kann.« Ich hörte selbst die Anspannung in meiner Stimme, einen fast sarkastischen Ton, aber diesmal sagte Charlie nichts dazu.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer nahm ich meine Handtasche aus der Küche mit, wo ich sie auf einen der Stühle gelegt hatte. »Ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte ich, und Lars fragte: »Ist an der Heimatfront alles klar?«
»Charlie wollte wissen, ob ich den Rest des Nacho-Auflaufs aus dem Haus schmuggeln und nach Milwaukee mitbringen könnte«, sagte ich. »Er war überzeugt, dass ihr beiden es nicht merken würdet.« Lars lachte, aber meine Mutter blickte nur ernst vor sich hin. Die Atmosphäre im Raum hatte sich geändert, während ich in der Küche gewesen war. »Mom, ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie legte den Kopf schief. »Ich habe immer noch das Gefühl, sie sei nur kurz nach oben verschwunden, um zu lesen.«
Das verstand ich sehr gut: Jetzt war es mit der Ablenkung vorbei, die die Vorbereitungen für das Begräbnis und die Anspannung der letzten Stunden mit sich gebracht hatten, und es blieb nur noch die lange Zukunft ohne meine Großmutter. Würde es wirklich reichen, wenn Lars das Haus mit Leben erfüllte und meiner Mutter Gesellschaft leistete?
Mit mehr Zuversicht und Optimismus, als ich empfand, sagte ich: »Vielleicht ist sie das ja.«
Unser Haus in Maronee war ein georgianischer Bau von 1922 mit blassgelber Holzverkleidung. Sie war weiß gewesen, als wir es gekauft hatten, aber wir hatten vor fünf Jahren die Fassade renoviert, und ich fand das Gelb weicher. Zwei ionische Säulen zu beiden Seiten der Tür stützten einen hoch aufragenden Ziergiebel. Meistens kam mir das Gebäude ganz normal vor, wenn ich in die Einfahrt einbog, es war einfach unser Haus, aber manchmal, wenn ich eine Zeitlang unterwegs gewesen war, und besonders wenn ich wie heute aus Riley zurückkam, fiel mir wieder auf, wie groß es eigentlich war, und das für nur drei Personen. Das Haus war von einem halben Hektar Rasenfläche umgeben, den die Gartenbaufirma Glienke & Söhne wöchentlich mähte, und darauf verteilten sich in unregelmäßigen Abständen hohe Eichen, Ulmen und Pappeln, die uns Schatten spendeten und unser Grundstück etwas von der Straße abschirmten. Die Einfahrt war asphaltiert und führte zu einer freistehenden, ebenfalls gelben Garage mit drei Stellplätzen; wir hatten zwar nur zwei Autos, hatten aber den dritten Stellplatz längst mit Fahrrädern, Rechen, einer Trittleiter und allem möglichen Hausrat gefüllt. An diesem Abend sah ich, als ich mich dem Grundstück näherte, Charlie und Ella vor dem Haus Frisbee spielen. Ella war barfuß, trug aber noch immer ihr schwarzes Kleid. Sobald ich in die Einfahrt einbog, hob Charlie den Arm in einer Geste, die halb wie ein Gruß und halb wie ein Haltesignal aussah, und Ella führte einen kleinen Tanz auf, den sie sich vermutlich soeben selbst ausgedacht hatte: Sie setzte sich die Hände auf den Kopf und streckte die Zeigefinger hoch wie Antennen, dann trippelte sie ein paar Schritte seitwärts. Das abendliche Sonnenlicht fiel in goldenen Strahlen durch die Bäume, und trotz meines Ärgers auf Charlie wurde mir bewusst, wie gut wir es hatten – so sehr, dass ich mich fragte, ob wir es verdienten, so glücklich zu sein.
Ich bremste und kurbelte das Fenster runter, und Ella rief mir zu: »Daddy hat einen Airbounce geworfen, und ich habe ihn gefangen!«
»Liebes, du wirst viel länger Freude an deinem Kleid haben, wenn du es nicht zum Spielen anziehst«, sagte ich. »Lass uns gleich reingehen und dir was anderes anziehen.«
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Charlie. »Du bist mein Held, Lindy.«
»Du bist mein Sahnebonbon, Lindy«, sagte Ella, und Charlie lachte und versetzte ihr einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Kann ich dein Auto nehmen?«, wandte er sich an mich. Er öffnete die Fahrertür, bot mir mit einer übertriebenen Geste den Arm und sagte: »Madame …« Ich wollte gerade den Motor abstellen, als er mich unterbrach: »Lass den Schlüssel einfach stecken.«
Sobald ich ausgestiegen war, gab er mir einen sehr eiligen Kuss auf den Mund und schlüpfte an mir vorbei auf den Fahrersitz. »Adios, Amiga«, sagte er zu Ella, und zu mir: »Ich schätze, ich bin gegen zehn wieder da.« Er war schon auf dem Weg die Einfahrt entlang, als ich ihm noch nachrief: »Meine Handtasche!« Schnell streckte er den Arm danach aus und warf sie aus dem Fenster. Unerklärlicherweise fing ich sie tatsächlich, und er schnalzte mit der Zunge: »Hey, nicht schlecht, Johnny Bench!« Dann verschwand er um die nächste Kurve.
»Tu so etwas nie, Ella«, sagte ich.
»So schnell fahren?«
»Das auch nicht, aber ich meinte, wirf nie mit Mommys Handtasche.«
Wir gingen ins Haus, um ihr kurze Hosen anzuziehen, und kamen dann noch einmal in den Garten zurück, weil Ella weiter Frisbee spielen wollte. Nach ein paar Würfen bemerkte sie sachlich: »Du kannst das nicht so gut wie Daddy.«
»Ich habe auch nicht so viel geübt«, antwortete ich.
Als sie müde wurde, gingen wir wieder ins Haus, und ich ließ ihr ein Bad ein. Sie rief mich, sobald es Zeit wurde, ihr die Haare zu waschen. Trotz aller Vorbehalte, die ich früher gegen lange Haare gehegt hatte, war dies doch eins meiner liebsten Rituale mit ihr. Ich benutzte für sie immer noch Johnson’s Baby-Shampoo mit dem Tropfen auf dem Etikett, auf dem stand »keine Tränen mehr«. Irgendwann, dachte ich, würde sie sich dieses Etikett genauer ansehen und sich an dem Wort »Baby« stören, aber bisher hatte sie nichts gesagt. Sie setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken zum Wannenrand und beugte den Kopf vor, und in einvernehmlichem Schweigen massierte ich das Shampoo ein. Ab und zu schnipste sie mit Daumen und Mittelfinger kleine Wirbel in die Wasseroberfläche. Dann spülte ich mit dem Duschkopf den Schaum aus ihren Haaren, und als sie aus der Wanne stieg, saß ich mit einem ausgebreiteten Handtuch auf dem Toilettendeckel; sie kam zu mir, um sich darin einwickeln zu lassen, und ich nahm sie fest in die Arme. »Mommy«, sagte sie.
»Ja?«
»Ich kann einen Bleistift mit den Zehen hochheben.«
Ich hielt sie noch immer fest. »Seit wann?«
»Hat Christine mir gezeigt. Willst du mal sehen?«
»Du kannst es mir zeigen, sobald du deinen Schlafanzug anhast.«
Das Buch, das ich ihr an dem Abend vorlas, las ich nicht zum ersten Mal, Der freundliche Baum. Wir waren gerade an der Stelle, wo der Junge die Äpfel aufsammelt, um sie zu verkaufen, als ich spürte, dass Ella eingeschlafen war – wir saßen beide an das Kopfteil ihres Bettes gelehnt –, und nach einigen weiteren Seiten drehte ich mich vorsichtig ein Stück, um ihre Augen sehen zu können. Sie waren tatsächlich geschlossen. In dem Moment hätte ich das Buch zuklappen und das Licht ausschalten können, aber ich las weiter; ich las bis zur letzten Seite.
Es war, wie ich auf dem Digitalwecker erkennen konnte, nach ein Uhr, als Charlie sich zu mir ins Bett legte. Etwas benommen murmelte ich: »Hattest du eine Panne?«
»Psst«, flüsterte er. »Schlaf weiter.«
Wir lagen in der Dunkelheit nebeneinander, aber statt wieder einzudösen, wurde ich immer wacher. Allmählich wurde mein Kopf klarer, und ich fragte mich: Wo um alles in der Welt kann Charlie gewesen sein? Ich hatte ganz sicher den längsten Tag meines Lebens hinter mir.
Als ich dann sprach, tat ich das in normaler Lautstärke: »Du musst es mir jetzt sagen.«
Sofort drehte er sich auf die Seite und legte seine Arme um mich, und sein Atem berührte warm mein Gesicht. Ich spürte, wie aufgeregt er war. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Alles ist großartig!« Sein Glücksgefühl erfüllte den ganzen dunklen Raum. »Ich kaufe die Brewers«, sagte er.
Am Samstag darauf, dem Wochenende vor dem Memorial Day, wurde das Schwimmbecken des Country Club wiedereröffnet, und Ella bestand darauf, pünktlich um neun Uhr dort zu sein. Vorher mussten wir allerdings noch Jadey und Winnie abholen. Als die beiden aus ihrem riesigen, im Tudorstil erbauten Haus traten, fiel mir auf, dass Winnie einen roten Bikini trug, dessen Oberteil der Zwölfjährigen flach auf der Brust auflag. Von der Rückbank aus sagte Ella zu mir: »Du hast doch gesagt, dass Bikinis für Mädchen unter sechzehn unpassend sind!«
»Jede Familie hat ihre eigenen Regeln.«
»Aber Winnie gehört doch zu unserer Familie!«
»Lass uns später darüber reden«, sagte ich, weil Jadey und Winnie schon fast bei unserem Auto waren. Jadey trug trotz all ihrer Versicherungen, dringend abnehmen zu müssen, auch einen Bikini, wie durch ihren durchscheinenden weißen Leinenüberwurf zu erkennen war – gut so, dachte ich. Sie hatte sich eine Sonnenbrille in ihr blondes Haar gesteckt und trug eine große Sporttasche mit marineblauen Streifen und einem marineblauen Monogramm über der Schulter. Beim Einsteigen bemerkte ich, dass sie und Winnie ihre Zehennägel in genau demselben Rotton lackiert hatten.
Gleich begannen die beiden Mädchen auf der Rückbank ein lebhaftes Gespräch – Winnie war immer sehr nett zu Ella und gab ihr das Gefühl, dazuzugehören, und das war eins der Anzeichen, die mich davon überzeugten, dass Jadey und Arthur gute Eltern waren. Vorn im Auto wandte sich Jadey an mich: »Wie war die Beerdigung? Für eine Beerdigung, meine ich.«
»Sie war okay.«
»Deine Großmutter scheint so eine besondere Lady gewesen zu sein.« Jadey kramte eine Dose Diet Coke aus ihrer Sporttasche und öffnete sie. »Ich wünschte, ich hätte sie näher kennengelernt.« Als ich aus ihrer Einfahrt in den Maronee Drive einbog, kurbelte Jadey das Beifahrerfenster runter und wandte sich dann zur Rückbank um. »Ella, ich habe gehört, du wirst dieses Jahr im Schwimmteam sein? Du wirst eure Trainerin lieben! Ihr Mädchen werdet den besten Sommer eures Lebens haben.« Wir würden zwar den Juli und einen Teil des Augusts in Halcyon verbringen, aber im Country Club galt es als akzeptabel, die halbe Schwimmsaison zu verpassen, weil so viele der Familien, die dort Mitglied waren, Sommerhäuser besaßen.
Wir waren nicht die Einzigen, die sich vorgenommen hatten, pünktlich zur Pooleröffnung da zu sein: Der untere Parkplatz war ein einziges Chaos aus Kindern, Müttern, vereinzelten Vätern und Teenagern. Der Maronee Country Club war wie ein eigenständiger Staat, wie eins dieser kleinen, etwas lächerlichen Königreiche, Liechtenstein vielleicht. Er erstreckte sich über fünfundzwanzig Hektar, wovon den größten Teil ein Golfplatz einnahm. Das Clubhaus war ein sehr langgestrecktes Gebäude mit einer weißen Stuckfassade – es erinnerte mich immer an eine Hochzeitstorte – mit großen weißen Schaukelstühlen auf der Terrasse am Eingang und einer Kuppel, von der die amerikanische Flagge wehte. Wenn man dort vorfuhr, übergab man das Auto einem Angestellten, was ich immer ein bisschen übertrieben fand; ich hätte mir auch ohne weiteres selbst einen Parkplatz gesucht. Im Erdgeschoss war der große Speisesaal untergebracht, in dem auch Hochzeitsempfänge und Debütantinnenbälle stattfanden und wo im Herbst und Winter jeden zweiten Freitag die Stühle und Tische weggeräumt wurden, um für den Tanzunterricht der Sechst- und Siebtklässler Platz zu machen. Dazu gab es im Untergeschoss noch einen zweiten, weniger formellen Speisesaal, in dem Harold und Ella und ich manchmal Sandwiches zum Mittag gegessen hatten, bevor meine Schwiegereltern nach Washington umgezogen waren. Ein kleineres Gebäude neben dem Clubhaus enthielt den Kraftraum, die Squashhallen und die Lounge zwischen den beiden Umkleiden, in der man genauso gut vier siebzigjährigen Matronen beim Bridge begegnen konnte wie zwei männlichen College-Studenten, die in verschwitzten weißen Sportsachen an der Bar standen (im Königreich des Maronee Country Club gab es keine Altersbegrenzung für den Alkoholkonsum). Die Tennisplätze lagen zwischen dem Clubhaus und der Straße. Es waren mehr als ein Dutzend, und in der Mitte des Areals gab es einen Laden, in dem der Tennistrainer sein Büro hatte und wo man seinen Schläger neu bespannen lassen, Ausrüstung kaufen oder darüber diskutieren konnte, ob Björn Borg der beste Spieler aller Zeiten sei. Neben dem Golfplatz gab es einen vergleichbaren Laden, und ein Teil des Parkplatzes war ausschließlich für die Golfcarts reserviert. Mit ihren meterhohen Maschendrahtzäunen wirkten die Tennisplätze wie eine Barriere zwischen der Straße und dem Clubhaus, und beim Näherkommen hörte man immer das hohle Ploppen der Bälle, die über das Netz geschlagen wurden.
An diesem Morgen war die Hauptattraktion natürlich der Pool, das riesige, majestätisch blau glitzernde Schwimmbecken, das zwischen dem Memorial Day im Mai und dem Labor Day im September auf Kinder wie Erwachsene eine magische Anziehungskraft ausübte. Es lag hinter dem Clubhaus, und als ich einmal vor sechs Jahren, bei dem Hochzeitsempfang von Polly Blackwell, einer Cousine von Charlie, an einem Juniabend aus dem Fenster des Speisesaals geschaut hatte, war es mir in der Dämmerung wie ein verwunschener Märchensee vorgekommen. Das Becken war fünfzig Meter lang und hatte neben den mit dunkelblauen Schwimmerketten abgegrenzten Bahnen in seiner nordwestlichen Ecke einen besonders tiefen Bereich mit Sprungturm und einen flacheren Einstieg in der südöstlichen Ecke. Man betrat den Schwimmbadbereich durch ein schwarzes Metalltor im Südosten des Beckens. An seiner Nordseite gab es ein größeres Rasenstück, auf dem sich die Schwimmmannschaften für Besprechungen versammelten und wo sich in der übrigen Zeit die jungen Mädchen sonnten. Gegenüber, im Süden, lagen das Kinderbecken, der Anmeldetresen, an dem man sich auch Handtücher holen konnte, die Betontreppe zu den Frauen- und Männerumkleiden und der Imbiss. Weder in dem Imbiss noch in einem der Speisesäle des Clubhauses, noch im Golf- oder Tennisplatzladen, noch irgendwo sonst auf dem Clubgelände wurde mit Bargeld bezahlt. Stattdessen bekam jedes Mitglied einen tannengrünen Bleistift mit der Aufschrift MARONEE COUNTRY CLUB, mit dem man jeweils einen Bon mit Durchschlagpapier unterschrieb. Meine Unterschrift lautete Mrs. Charles V. Blackwell. Am Ende jedes Monats wurde dann eine detaillierte Rechnung per Post zugeschickt.
Das Beste oder das Schlimmste am Country Club war, je nachdem, wie gesellig ich mich gerade fühlte, dass wir dort fast jeden kannten. Wenn wir zum Abendessen ins Clubhaus gingen, war es, als hätten wir ein Restaurant gefunden, in dem zufällig nur Bekannte saßen. Meistens fand ich es angenehm, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu erleben, als ich es selbst in meiner Kindheit in Riley gehabt hatte. Dann wieder gab es Tage, wenn ich in Eile war, an denen ich es vorgezogen hätte, einmal nicht sieben verschiedene Leute grüßen zu müssen, einmal nicht Joannie Sachs fragen zu müssen: »War es schön in Frankreich?«, oder von Sandra Mahlberg zu hören: »Deine Schwägerin hat gestern so eine fabelhafte Meerrettich-Forelle gemacht!« Und manchmal erlebte ich Momente, in denen mir der Inselcharakter des Clubs einfach unerträglich war. Dann schämte ich mich meiner selbst und für die anderen Clubmitglieder, schämte mich für unseren Reichtum und unseren gedankenlosen Anspruch auf ein Leben voller Privilegien. Im Sommer davor hatte ich einmal mit der gerade aktuellen Ausgabe des Milwaukee Sentinel neben Jadey auf der gefliesten Terrasse hinter dem Sprungturm gesessen, als mir ein bestimmter Artikel auffiel. Er handelte von einem Mann aus dem Stadtteil Walnut Hill, der an Hepatitis C und einer Leberzirrhose litt und sich keine Medikamente leisten konnte. Als ich davon aufblickte, sah ich die fünfzehnjährige Melissa Pagenkopf ihren Bauch mit Sonnenöl einreiben und hörte eine Frau in der Nähe sagen: »Wir fliegen nie mit United, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt«, und mich überkamen furchtbare Schuldgefühle. In diesem Fall konnte ich nicht einfach einen Scheck ausstellen, denn in dem Artikel wurde keine Hilfsorganisation erwähnt; er war nur eine Einzelperson und würde vermutlich noch jahrelang weitere Medikamente brauchen. Ihm zweihundert Dollar zukommen zu lassen wäre ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Ich wusste gleich, dass ich nicht den Mut haben würde, ihn ausfindig zu machen, ohne dass eine Organisation als Vermittler auftrat. Ich wollte ihm keinen Scheck ausstellen, auf dem mein Name stand, wollte ihm keine Möglichkeit geben, mich zu finden.
In solchen Momenten musste ich an die Menschen denken, die in Kalifornien in riesigen Villen am Rand der Steilküste lebten. So kam mir auch unser Leben vor: wunderschön, aber gefährdet, auf unsicherem Fundament aufgebaut. Andererseits fragte ich mich, ob es nicht pubertär war, sich Gedanken über anderer Leute Probleme zu machen und sich bei den Nachrichten in der Zeitung oder im Fernsehen zusammenreißen zu müssen, um nicht in Tränen auszubrechen. Für so viele Menschen war das Leben so hart, türmten sich so unüberwindliche Probleme auf. Andere Erwachsene schien diese Ungleichheit nicht weiter aufzuregen und schon gar nicht zu überraschen, aber für mich blieb sie immer unbegreiflich und hörte nie auf, mich aus der Fassung zu bringen.
Ich hatte mich zu Jadey umgedreht und auf die Szenerie vor uns gedeutet. »Macht das alles dir manchmal Schuldgefühle?«
»Was alles?«, fragte sie.
»Ich lese gerade diesen Artikel über einen Mann in Walnut Hill, der eine Hepatitis hat, und dabei wird mir klar, dass mein größtes Problem darin besteht, wie ich meine Tochter dazu bekomme, mehr Gemüse zu essen. Hast du jemals das Gefühl, du müsstest ein vollkommen anderes Leben führen?«
»Oh, na klar.« Jadey nickte verständnisvoll. »Ich wollte auch mal im Friedenscorps dienen. Stell dir nur mal vor, ich wäre zum Beispiel in Sambia gelandet. Wie hätte ich es wohl länger als zehn Minuten ohne meinen Föhn ausgehalten?«
Auch wenn ihre Antwort warm und freundlich klang, hütete ich mich, weiter auf meinem Anliegen zu bestehen – sie war ihm ausgewichen, wie sie sonst den Beleidigungen und Forderungen unserer Schwiegermutter auswich –, und fragte mich, ob ich schon jetzt gegen ungeschriebene Gesetze verstoßen und mich als schwerblütige und selbstgerechte Grüblerin ins Abseits gestellt hatte. Es war nicht richtig, bei einem Sonnenbad am Pool das Gespräch auf Armut und Leid zu bringen. Entweder musste man sich anderswo hinbegeben und etwas an den Zuständen ändern oder sich ganz dem Sonnenbad widmen, mit der dazugehörigen inneren Haltung. Im Garden Club gab es eine ältere Frau, Mary Schmidbauer, mit der zusammen ich drei oder vier Jahre zuvor ein Treffen ausgerichtet hatte. Als ich ihr vorschlug, es wie üblich im kleinen Speisesaal des Clubhauses abzuhalten, sagte sie: »Versteh mich bitte nicht falsch, meine Liebe, aber ich bin dort nicht mehr Mitglied, seit mein Mann von uns gegangen ist. Sie halten nicht viel davon, Frauen allein zuzulassen, und sie haben sich ohnehin immer geweigert, Juden oder Schwarze aufzunehmen. Als Kenneth starb, hatte ich einfach genug von alledem.« Ich war gründlich ernüchtert, und wir hatten schließlich das Treffen bei mir zu Hause abgehalten.
An jenem Samstag hatten Jadey, Ella, Winnie und ich, nachdem wir eingecheckt hatten – wir hatten vor dem Tresen Schlange stehen müssen, was sonst nie passierte –, im Südosten des Schwimmbeckens Liegestühle ergattert, hinter dem Hochsitz des Bademeisters, und Ella und Winnie hatten sich gehorsam von Jadey und mir den Rücken eincremen lassen. Kaum dass wir damit fertig waren, rannte Ella ihrer Cousine hinterher zum Beckenrand, und sie tauchten mit einem Kopfsprung ins Wasser. Beiden war an ihrer perfekten Haltung anzusehen, dass sie Unterricht in diesen Dingen gehabt hatten. Jadey verstellte die Lehne ihres Liegestuhls ein Stück nach hinten, machte es sich bequem und ließ ihren Blick über die Szenerie schweifen. »Ist das nun ein wunderschöner Tag, oder was?«
Das war es, unbestreitbar: Es war sonnig und windstill bei etwas über zwanzig Grad. Jadey beugte sich zu ihrer Tasche herab, die zwischen unseren Liegestühlen auf den Steinfliesen lag, holte zwei Zeitschriften heraus und hielt sie nebeneinander hoch: eine Ausgabe der Illustrierten People und eine Architectural Digest. »Welche willst du?«
Ich zeigte auf die Architectural Digest, und sie sagte: »Ich hatte gehofft, dass du die nehmen würdest, weil ich unbedingt wissen muss, was Lady Di gerade so treibt.«
Als wir so freundschaftlich nebeneinandersaßen, in unseren Illustrierten blätterten und hier und da ein paar Zeilen vorlasen oder einander Fotos zeigten, war die Versuchung groß, ihr zu erzählen, was Charlie mir über seine Pläne mit den Brewers gesagt hatte. Aber das durfte ich nicht; Charlie hatte mich ausdrücklich gebeten, es nicht zu tun, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Was ich Jadey anvertraute, würde sie bestimmt Arthur weitersagen, der es John und ihren Eltern erzählen würde, und bald schon wüsste es wahrscheinlich ganz Wisconsin, vielleicht auch halb Washington.
In der vorherigen Nacht, als Charlie es mir sagte, hatte ich geantwortet: »Das ist nicht dein Ernst.« – »Doch, ist es«, hatte er gesagt, »aber wir können morgen früh darüber reden.«
»Dafür haben wir nicht genug Geld«, sagte ich. Ich wusste nicht, was es kostete, eine Baseballmannschaft zu kaufen, aber es mussten mehrere Millionen Dollar sein.
»Großer Gott, doch nicht ich alleine«, sagte Charlie. »Es gibt eine Investorengruppe, und ich werde ihr geschäftsführender Teilhaber. Geschäftsführender Teilhaber der Brewers klingt doch nicht schlecht, oder? Ich muss nur sechs- oder siebenhunderttausend mitbringen, den Rest stellen die anderen. Zeke Langenbacher ist dabei und unser guter alter Cliff Hicken. Das ist eine einmalige Gelegenheit, Lindy, ich bin wie geschaffen für diesen Job. Meine Brüder werden platzen vor Neid.«
Nur sechs- oder siebenhunderttausend? Aber ich sagte nichts dazu. So überraschend es auch war, was er mir da auftischte – sobald ich wusste, dass ich mir wegen seiner Geheimniskrämerei keine Sorgen mehr zu machen brauchte, fielen mir wieder die Augen zu.
Beglückt fuhr er fort: »Stell dir mal vor, ich darf mir sämtliche Spiele ansehen, und es zählt auch noch als Arbeit!«
Noch kämpfte ich gegen den Schlaf an, aber er war stärker. Ich konnte Charlie hören, hatte aber schon Mühe, ihm zu antworten. »Du könntest herausfinden, was aus Bernie Brewer geworden ist«, murmelte ich. Bernie Brewer war das Clubmaskottchen, ein Kerl mit Schnurrbart und Lederhosen, und war seit einigen Jahren im Ruhestand. Bis dahin hatte er sich bei jedem Home run über eine Rutsche in ein mannshohes Bierfass gleiten lassen, sehr zu Ellas Begeisterung.
Charlie kicherte, und ich schlief auf der Stelle ein.
Um kurz nach sechs Uhr morgens erwachte ich, und Charlie lag auf der Seite, die Augen geschlossen, und atmete ruhig und gleichmäßig. »Bist du wach?«, fragte ich, eine kleine List, von der ich gelegentlich Gebrauch machte. Als keine Antwort kam, fragte ich noch einmal, und er schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. »Habe ich das geträumt«, fragte ich, »dass du mit Zeke Langenbacher die Brewers kaufen willst?«
Eine richtige Aussprache hatten wir erst einige Stunden später beim Frühstück gehabt. Ella war auch in der Küche, telefonierte aber mit ihrer Freundin Christine (dass sie einander kurz darauf am Pool treffen würden, war offenbar ein gewichtiger Grund für eine Telefonkonferenz, nicht dagegen), und Charlie erklärte mir die Situation: Da am Montag Memorial Day war, wollten sie am Dienstag ihr Angebot über 84 Millionen Dollar machen. Die Familie Reisman, die bisherigen Besitzer, wussten davon und waren bereit, dieses Angebot anzunehmen.
Charlie aß gerade ein Toast, und ich stand mit dem Rücken an die Spüle gelehnt. »Also dann, herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
»Das klang halbherzig.«
»Nein, gar nicht. Ich freue mich sehr für dich, ich verstehe nur nicht – wenn die Investorengruppe 84 Millionen bietet, wie viele Beteiligte gibt es denn dann? Ich meine ja nicht, dass du mehr Geld einbringen solltest, aber wie können sechshunderttausend ausreichen, wenn es nicht mehrere Dutzend Teilhaber sind?«
Dabei war es mir keineswegs gleichgültig, dass wir uns von einem erheblichen Teil unserer Ersparnisse trennen würden. Aber es war nicht wirklich mein Geld, das war es nie gewesen, und selbst wenn wir alles verlieren sollten, hätten wir immer noch ein gewisses Polster. Wir hatten nie eine Hypothek aufgenommen und zahlten keine Raten für unsere Autos, und es gab Jahre, in denen Ellas Schulgeld der größte Posten in unserem Haushalt war – wir würden zurechtkommen.
»Oh, sie haben mich nicht wegen meiner dicken Hose angeheuert«, sagte Charlie. »Im Vergleich zu einigen von denen gehören wir ins Armenhaus. Nein, worauf Langenbacher aus ist, wenn er mich mit ins Boot holt, sind hauptsächlich meine Beziehungen und die Glaubwürdigkeit, die der Name Blackwell ausstrahlt. Das ist mir vollkommen klar, und damit habe ich, ehrlich gesagt, auch überhaupt kein Problem. Es geht da um Synergien – die Mannschaft hat was davon, ich auch, und meine Familie auch. Sie wissen, auf welcher Uni ich war, und erkennen an, was ich ihnen zu bieten habe.«
»Und was wirst du als geschäftsführender Teilhaber zu tun haben?«
»Robin Yount zujubeln«, grinste Charlie. »Die White Sox ausbuhen. Und natürlich die Nationalhymne auswendig lernen. Nein, im Ernst, die Investorengruppe besteht aus sechs Leuten, Cliff mitgerechnet. Du kennst wahrscheinlich die meisten vom Namen her. Sie alle sind sehr erfolgreich, klar, aber Charisma ist nicht gerade ihre Stärke, wenn du verstehst, was ich meine. Sie brauchen jemand, der in der Öffentlichkeit als Kopf der Investorengruppe auftreten kann, wenn es um Marketing geht oder darum, Verbindungen zu anderen großen Tieren zu knüpfen. Das ist im Moment noch topsecret, aber eins ihrer wichtigsten Vorhaben ist, so bald wie möglich das neue Stadion zu bauen, und bei den Verhandlungen dazu wird eine Menge Fingerspitzengefühl gefragt sein.«
»Und du bist sicher, die Reismans wollen verkaufen?«
»Oh, Lloyd Reisman ist begeistert, dass es hiesige Investoren gibt, die für ihn in die Bresche springen wollen. Es wäre furchtbar für unsere Stadt, wenn die Brewers wieder umziehen müssten. Du machst dir doch keine Sorgen um unser Geld, oder? Die 84 Millionen sind nämlich ein Schnäppchen, das kannst du mir glauben. Wir können dabei gar nicht nicht reich werden.«
»Ich wusste einfach nicht, dass du solche Pläne hattest«, sagte ich. »Du bist so ein großer Fan, das ist klar, aber dass du professionell einsteigen würdest – ich bin einfach überrascht, das ist alles.«
»Jetzt weißt du also, worüber Langenbacher und ich im Stadion geredet haben. Bist du bereit für einundachtzig Spiele im Jahr? Mehr sogar, weil ich manchmal zu Auswärtsspielen reisen werde.«
Ich lächelte. »Sicher.« War das die Lösung, würde Charlie jetzt seinen Seelenfrieden wiederfinden? Geschäftsführender Teilhaber eines Baseballteams zu werden – noch dazu eines Teams, das bei aller Loyalität nicht besonders erfolgreich war –, erschien mir kaum dazu geeignet, sich ein Vermächtnis zu schaffen, aber da ich von vornherein nicht verstanden hatte, warum ein Vermächtnis so bedeutend sein sollte, war es vielleicht nur natürlich, dass ich nicht begriff, wie eins zustande kam. Wenn es Charlie genügte, war es auch für mich gut genug, mehr als genug sogar. Charlie saß am Küchentisch, und als ich zu ihm hinüberging, legte er die Arme um meine Taille und drückte mich an sich. Wir schwiegen beide, und Ella, die in einer Ecke des Raumes immer noch telefonierte, sagte gerade ziemlich aufgebracht: »Aber Bridget schummelt beim Marco Polo!«
Charlie sagte: »Was denkst du, was die meisten lieber tun würden: Baseballtrainer an der Highschool werden oder eine Mannschaft kaufen?«
»Du tust das doch nicht, um deine Kommilitonen aus Princeton zu beeindrucken, oder?«
Charlie lachte, sein Gesicht an meinen Bauch gepresst. »Jetzt glaub doch verdammt noch mal an mich!«
Um die Mittagszeit ging ich um das Schwimmbecken herum zum Imbiss, um uns etwas zu essen zu holen: Thunfisch-Sandwiches und Diet Coke für Jadey und mich, Grillkäse und Limonade für Ella und Winnie. Der Imbiss war in einem Schuppen untergebracht, der nur aus der kleinen Küche im hinteren Raum und einem nach vorne offenen Verkaufstresen bestand. Wenn die Badegäste von einem Unwetter überrascht wurden, liefen die meisten zu ihren Autos und fuhren nach Hause, aber es gab immer ein paar Optimisten, die sich in den überdachten vorderen Teil der Imbissbude zwängten und hofften, der Regen würde wieder aufhören.
Als ich mit dem Tablett zu unseren Liegestühlen zurückkam, hatten sich Ella und Winnie triefend nass nebeneinander auf meinen gekauert. »Tante Alice«, rief Winnie, als sie mich kommen sah, »mach schnell! Wir verhungern!«
Ich teilte das Essen aus, und Winnie fragte: »Mom, kriege ich danach ein Eis?«
»Nur wenn du mir auch eins mitbringst«, sagte Jadey.
Wir ermahnten unsere Töchter, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor sie wieder ins Wasser gingen, und sie zogen ab zu dem Rasenstück im Norden des Schwimmbeckens. Sobald sie außer Hörweite waren, flüsterte Jadey: »Als ich in ihrem Alter war, habe ich nie gewartet.« Jadey war, wie Charlie und Arthur, schon seit ihrer Kindheit Mitglied im Country Club und war mit genau diesem Pool aufgewachsen. Einmal hatte sie mir von ihrem Debütantinnenball erzählt, der im Juni 1968 im Clubhaus stattgefunden hatte. Der Abend stand unter dem Motto »Luau auf Hawaii«, und sie hatte zu einem trägerlosen, hawaiianisch bedruckten Kleid einen Orchideenkranz um den Hals getragen. Die Gäste tranken fruchtige Cocktails und aßen Ananas-Shrimp-Spießchen vom Grill und ein stundenlang im Erdofen gebackenes Schwein, und während im Speisesaal ein traditionelles zwölfköpfiges Tanzorchester aufspielte, saß draußen ein Mann ganz oben auf dem Sprungturm und klimperte auf einer Ukulele.
»Weißt du, als du unterwegs warst, um das Essen zu holen, ist hier Joe Thayer vorbeigekommen«, sagte Jadey. »Ich habe mir gedacht, vielleicht sollte ich mit ihm eine Affäre anfangen.«
»Jadey, er macht gerade eine Scheidung durch.«
»Oh, ich liebe verletzte Männer. Ich habe mir immer gewünscht, Arthur wäre etwas mehr vom Leben gezeichnet. Aber was ich mich bei Joe immer frage, ist, warum seine Tochter so verdammt unheimlich ist, ich meine, sie muss das doch irgendwo herhaben, oder?«
»Megan ist nicht unheimlich«, sagte ich. »Sie ist neun Jahre alt.«
»Ich kann dieses Mädchen nicht ausstehen.«
»Jadey!«
»Ich schwöre dir, letztes Jahr in Halcyon habe ich auf dem Weg zum Bootssteg runter ein riesiges Tablett mit Essen und Getränken fallen lassen. Alles war überall verstreut, und ich fluche also und sammle alles wieder auf, und als ich mich umsehe, steht sie da und hat mich die ganze Zeit beobachtet, ohne ein Wort. Sie hat nicht mal gelacht, sondern mich nur angestarrt.«
»Sie ist ein Kind«, protestierte ich.
»Sie ist eine Soziopathin. Außerdem hat Winnie erzählt, Megan hätte ihr ein Pups-Sandwich angeboten.«
Ich unterdrückte den Impuls, Ellas ähnlich lautenden Bericht zu wiederholen. Die arme Megan schien schon genug Probleme zu haben, ohne dass ich mich über sie ausließ, also sagte ich nur: »Du solltest mit Arthur reden. Ich bin mir sicher, er weiß, dass du wütend bist, und traut sich nur nicht an das Thema heran.«
Jadey verstellte wieder die Rückenlehne ihres Liegestuhls, diesmal in die Waagerechte, und drehte sich mit einem Grunzen auf den Bauch. Sie lag mir zugewandt mit der einen Gesichtshälfte auf den Plastikstreifen der Lehne und sagte: »Hättest du je gedacht, dass es so verdammt viel Arbeit macht, verheiratet zu sein? Herrgott noch mal.« Bevor sie sich hingelegt hatte, hatte sie ihre Sonnenbrille abgenommen, und jetzt fielen ihr die Augen zu. Schläfrig fragte sie mich: »Machst du dir immer noch Sorgen um Chas und seinen Whiskey?«
»Vielleicht habe ich überreagiert.«
»Ich habe vergessen, bei Maj und Pee-Paw auf ihn zu achten, wahrscheinlich weil ich so damit beschäftigt war, mir selbst einen hinter die Binde zu kippen. Hast du deren Merlot mal probiert?«
»Von dem Chardonnay habe ich ein Glas getrunken.«
Sie öffnete die Augen und stützte sich auf die Ellbogen. »Ein Glas?«, echote sie. »Meinst du damit genau eins?« Als ich nickte, sagte sie: »Schätzchen, vielleicht geht es gar nicht darum, dass Chas weniger trinken sollte. Vielleicht bist du es, die mehr braucht.«
Als ich Charlie am Montagmorgen daran erinnerte, dass die Suttons zu Besuch kommen würden – Miss Ruby hatte am Abend davor angerufen, um die Verabredung zu bestätigen, und hatte auf mein Angebot, sie abzuholen, geantwortet, dass Yvonne sie fahren würde –, stand er gerade am Waschbecken und rasierte sich, und ich stand in der Tür. »Nicht mit mir«, sagte er. »Ich habe um elf einen Termin mit Zeke und Cliff.«
»Charlie, ich habe dir vor über einer Woche von dieser Verabredung erzählt.«
»Lindy, morgen geht unser Angebot an die Reismans raus. Es geht um 84 Millionen, meinst du nicht, dass es da klug von uns wäre, noch ein paar Details durchzugehen?«
»Ist es das, was ihr auf dem Golfplatz vorhabt?« Ich verschränkte die Arme. »Zwing mich nicht, zur Nervensäge zu werden.«
Er ließ ein schnaubendes Lachen hören. »Ob du eine Nervensäge sein willst oder nicht, ist deine Sache, aber ich habe einen Termin um elf, und es wäre unprofessionell, ihn zu verpassen.«
Ich sah ihn den Mund nach links verziehen und mit dem Rasierer an seiner rechten Wange hinunterfahren und spürte eine sehr intime Form der Wut in mir aufsteigen. War es das, was eine Ehe ausmachte, ein anderes Individuum nach und nach viel besser kennenzulernen, als es ratsam war? Manchmal waren mir Charlies Gesten und sein Tonfall so gnadenlos vertraut, als wäre er eine Verlängerung meines eigenen Ichs, ein Teil meiner Persönlichkeit, über den ich wenig Kontrolle hatte.
Ich sagte: »Wenn du keine Lust hast, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen, dann lass es bleiben, aber es ist peinlich für mich und unhöflich anderen gegenüber, wenn du erst zusagst und dann wieder abspringst.«
Als er mich ansah, wurde mir klar, dass meine Bemerkung ihn überhaupt nicht berührt hatte. Meine Worte waren von ihm abgeperlt wie Regentropfen. Er sagte: »Und du willst also keine Nervensäge sein, hm?«
»Ich hätte gedacht, du würdest dir etwas mehr Mühe geben, dich Miss Ruby gegenüber respektvoll zu verhalten.«
Er hielt einige Sekunden lang die Klinge unter den Wasserhahn und fuhr dann mit der Rasur fort. »Wer hat ihr denn gesagt, dass ich dabei sein würde? Ich nicht, mein Herz. Wenn dir das so wichtig ist, dann mach einen neuen Termin, vielleicht können sie ja nächstes Wochenende kommen. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass ich morgen eine Baseballmannschaft kaufe.«
»Nächstes Wochenende sind wir in Princeton.« Ich trat einen Schritt zurück in unser Schlafzimmer. Ich würde in die Küche hinuntergehen und das Mittagessen vorbereiten, und ich würde die Suttons bei uns willkommen heißen, selbst wenn Charlie sich nicht dazu herabließ, dabei zu sein, und wenn seine Mutter dagegen war. Aber zuerst sagte ich so schnippisch, dass ich meine eigene Stimme kaum wiedererkannte: »Und lass bloß nicht deine Haare im Waschbecken liegen.«
Jessica Sutton schien einen ganzen Kopf größer geworden zu sein, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, und ich erkannte, als ich die Tür öffnete, um sie und ihre Familie zu begrüßen, dass sie, wenn auch noch nicht erwachsen, so doch kein Kind mehr war. Viele Sechstklässler, vor allem Jungen, sind noch sehr kindlich, aber einigen sieht man eine deutliche Veränderung an, eine neue, noch ungefestigte Wahrnehmung ihrer selbst und der Welt um sie herum. In den besten Fällen drückt sich diese Veränderung auch in Höflichkeit aus, und wenn man ein solches Kind fragt, wie es ihm ginge, stellt es sofort die Gegenfrage. Genau das tat Jessica, und dann sagte sie: »Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Blackwell.« Es versetzte mir einen Stich, wenn ich dabei an Ella dachte, die ganz eindeutig noch ein Kind war und, wie ich befürchtete, Schwierigkeiten haben würde, mit der reifen, selbstbewussten jungen Frau mitzuhalten, zu der Jessica geworden war. Mir wurde bewusst, dass das Bild, das ich meist im Kopf hatte, wenn ich an Jessica dachte, noch von einem gemeinsamen Ostereiersuchen bei Harold und Priscilla vor einigen Jahren herrührte (die Blackwells gaben sich also manchmal doch mit ihrer Angestellten ab, aber zu ihren eigenen Bedingungen, unter Umständen, die ihre Freigebigkeit und Wohltätigkeit erkennen ließen, ohne zu suggerieren, dass sie etwa Freude daran gehabt hätten). An jenem Osterfest hatte Jessica einen roten Rock mit violetten Sternen und ein dazu passendes violettes Oberteil mit roten Sternen getragen. Ihr Haar trug sie in viele kleine Strähnen geteilt, und jede dieser Strähnen war geflochten und am Ende von einer roten oder violetten Plastikhaarspange zusammengehalten worden. Während sie auf dem Grundstück umherlief und Eier in ihren Korb sammelte, klickten diese Spangen aufeinander. Jetzt war Jessica hoch aufgeschossen und ernst, sie war hübsch – über ihrem rosafarbenen Trägerhemd trug sie eine rosa-weiß gestreifte, offene Bluse und dazu eine weiße Stoffhose –, und mädchenhaft wirkte sie kaum noch.
Kaum dass sie, Miss Ruby, Yvonne, der kleine Antoine, Ella und ich es uns auf der Backsteinterrasse im Garten bequem gemacht hatten, fragte Ella: »Kann ich Jessica meine Colaflasche zeigen?«, und ich sagte: »Schatz, sie sind gerade erst angekommen.«
»Das macht doch nichts, ich würde sie mir gern ansehen«, sagte Jessica. Die Colaflasche, die Ella meinte, hatte sie im vergangenen Herbst beim Erntedankfest der Biddle Academy gewonnen. Es war eine Glasflasche, deren Hals erhitzt und in die Länge gezogen worden war und in die man statt des ursprünglichen Inhalts eine giftig blaue Flüssigkeit gefüllt hatte. Obwohl es schon ein halbes Jahr her war, dass Ella diesen Staubfänger bekommen hatte, war sie noch immer stolz darauf wie am ersten Tag – wenn sie jemandem imponieren wollte, betrachtete sie die Flasche offenbar als die stärkste Waffe in ihrem gesamten Arsenal.
»Kommt aber in zehn Minuten zum Essen runter«, rief ich den beiden noch hinterher, als sie ins Haus gingen, und sobald sie verschwunden waren, sagte ich: »Ich kann gar nicht fassen, wie groß Jessica geworden ist. Und Antoine …« – ich beugte mich über ihn, machte große Augen und öffnete den Mund – »… du bist wohl das süßeste Baby aller Zeiten.« Er steckte in einem blassblauen Schlafsack und hatte große braune Augen, lockiges braunes Haar und diese unvergleichlich weiche Haut, die nur Babys haben.
Yvonne klang amüsiert: »Alice, Sie dürfen ihn gern mal halten.«
»Vorsicht mit dem Kopf«, brummte Miss Ruby, als Yvonne ihn mir reichte.
Antoine fühlte sich unglaublich leicht an – mit seinen zwei Monaten wog er vielleicht fünf oder sechs Kilo –, und ich ertappte mich dabei, alle möglichen unkontrollierten Gurrlaute und Jauchzer von mir zu geben und Gesichter zu schneiden, sobald ich ihn im Arm hielt, als sei für sein winziges Lächeln kein Preis zu hoch.
»Vielleicht sollten Sie noch eins bekommen, schon mal darüber nachgedacht?«, fragte Yvonne.
Ich lachte. »Dafür bin ich zu alt.«
Sie machte ein skeptisches Gesicht. »Oh, ich wette, Sie und Charlie B. stehen noch gut im Saft.«
»Pass auf dein loses Mundwerk auf, Yvonne Patrice«, sagte Miss Ruby streng, und Yvonne und ich mussten beide lachen. Miss Ruby trug eine türkisfarbene Leinenhose, einen kurzärmeligen Pullover in derselben Farbe und flache Sandalen mit türkisfarbenen Riemen, und Yvonne hatte zu einem mit Blumen bedruckten T-Shirt einen langen Jeansrock angezogen. Sie war nicht hager wie Miss Ruby, sondern hatte breite Hüften und kräftige Oberarme, große Zähne und volle Lippen, kurze, vom Kopf abstehende Haare und, wie mir jetzt auffiel, volle Brüste vom Stillen.
»Es tut mir leid, dass Charlie nicht hier sein kann«, sagte ich. »Wir haben einander missverstanden, und dann hat er für heute einen Geschäftstermin angesetzt.«
Yvonne winkte ab. »Clyde arbeitet im Krankenhaus, also kenne ich das nur zu gut. Die Ärzte und Schwestern wollen auch am Memorial Day was essen.«
»Sie und Clyde haben letzten Sommer geheiratet?«, fragte ich.
»Er ist ein guter Kerl.« Yvonne beugte sich zu Antoine hinüber, den ich noch immer im Schoß hielt. »Nicht wahr, Baby A?«, gurrte sie. »Dein Papa ist ein Guter.« Dann wandte sie sich wieder mir zu: »Antoine sieht genauso aus wie sein Vater, so viel steht fest.«
»Das tun sie in dem Alter immer«, sagte Miss Ruby.
Ein paar Minuten später kamen Ella und Jessica zurück, und ich holte den kalten Nudelsalat mit Spargel und Huhn, den ich vorbereitet hatte. Mit vollem Mund sagte Ella zu uns allen: »Wollt ihr mal hören, was Jessica mir gezeigt hat?«
»Kau bitte erst zu Ende, Schatz«, sagte ich.
Ella hatte sich auf dem gusseisernen Gartenstuhl auf ihr untergeschlagenes Bein gesetzt. Jetzt stand sie auf, mit der Gabel in der Hand, schwang ihre Arme in die Luft und wackelte mit den Hüften:
»Cheerleader, steigt in den Ring,
Basketball ist unser Ding!
Eins – zwei – drei und vier,
Noch ein Korb, dann siegen wir!«
»Beeindruckend!« Ich klatschte kurz, und Yvonne und Jessica auch, nur nicht Miss Ruby. Ich wandte mich an Jessica: »Bist du Cheerleader?«
»Nein, ich kenne das einfach so. Vielleicht fange ich in der Junior High damit an.«
»Deine Großmutter sagte mir, du seist ziemlich gut in Englisch. Welche Bücher habt ihr dieses Jahr gelesen?«
Jessica schüttelte lächelnd den Kopf. »Grandma prahlt nur gern mit mir. Also, na ja, wir haben gar nicht so viele Bücher gelesen, nur Schulbücher. Das einzige richtige war Ruf der Wildnis – kennen Sie das?«
Ich nickte. »Natürlich, die Geschichte, in der Buck in den Yukon verkauft wird.« Zu Ella sagte ich: »Das Buch handelt von einem Hund, der von Goldsuchern als Schlittenhund benutzt wird.«
Plötzlich fing Antoine an zu weinen. In einem Singsang sagte Yvonne zu ihm: »Niemand verkauft dich in den Yukon, o nein. Wer wird denn da weinen, Baby A?«
»Gib ihn mal rüber«, sagte Miss Ruby. Yvonne verdrehte die Augen, tat aber, was ihre Mutter sagte, und Miss Ruby ging mit ihm auf der Terrasse auf und ab und streichelte ihm sanft den Rücken. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich beruhigt.
»Das meiste, was ich lese, ist nicht für die Schule, sondern nur, weil ich es mag«, sagte Jessica. »Am liebsten mag ich Agatha Christie, lesen Sie die auch manchmal?«
»Oh, natürlich, Miss Marple und Hercule Poirot. Ist schon lange her, aber ich habe sie geliebt, als ich ein bisschen älter war, als du es jetzt bist.«
»Mord im Orientexpress habe ich gerade zu Ende gelesen. Oh, das fand ich großartig! Kennen Sie V. C. Andrews?«
»Oh, Jessica!« Ich konnte nicht anders, als meine Missbilligung durchklingen zu lassen, musste aber zugleich auch lachen. »V. C. Andrews ist doch so gruselig!«
»Das stimmt, aber ich kann sie einfach nicht weglegen«, sagte Jessica. »Grandma, weißt du noch, wie du einmal nachts um drei reinkamst, und ich lag im Bett und konnte nicht aufhören zu lesen? Ich konnte einfach nicht! Okay, Mrs. Blackwell, ich wette, das wird Ihnen auch nicht gefallen, aber kennen Sie die Harlequin Romances? Einige von denen sind richtig gut, wirklich. Sturm über den Wolken ist mein Lieblingsband, weil die Frau darin nach Rom geht, nach Italien.«
»Du weißt hoffentlich, dass ich dich nicht kritisieren will, Jessica«, sagte ich. »Ich finde es toll, dass du so viel liest.«
»Dad und ich haben gerade Sophiechen und der Riese fertig gelesen, über den GuRie«, verkündete Ella, und Yvonne fragte geduldig: »Und wer oder was ist der GuRie?«
»Er isst immer nur Kotzgurken, aber die schmecken ihm überhaupt nicht«, sagte Ella, und ich sagte: »Ella, vielleicht solltest du ab und zu mal Dinge essen, die dir nicht schmecken.« Yvonne erklärte ich: »GuRie steht für guter Riese. Das Buch ist von Roald Dahl.«
»Mommy, kann Jessica mit uns zum Pool kommen?«, fragte Ella.
»Oh, aber das Wasser ist viel zu kalt«, sagte Jessica. »Ich habe nur einmal den kleinen Finger reingesteckt und ihn sofort wieder rausgezogen.«
»Kann sie mit?«, drängelte Ella, und ich hoffte inständig, dass niemand außer mir merkte, dass Jessica von dem Schwimmbecken bei Harold und Priscilla sprach – seit sie in Washington waren, blieb es das ganze Jahr über abgedeckt –, während Ella an den Maronee Country Club dachte. Es war, soweit ich wusste, nicht so, dass Schwarze offiziell von der Mitgliedschaft ausgeschlossen gewesen wären, aber selbst 1988 gab es im gesamten Club niemanden mit dunkler Hautfarbe. Die Mitglieder des Stiftungsrats hätten sicher behauptet, das läge daran, dass es so wenig Schwarze in Maronee gab und sie sich nicht um die Aufnahme bewarben. Selbst die Angestellten des Clubs, die Kellnerinnen und Barmänner, die Bademeister und die Trainer im Kraftraum, waren alle weiß, mit der einzigen Ausnahme einer Putzkraft, die dem Aussehen nach Latina war. Ungefähr zweimal pro Sommer kam es vor, dass jemand mit schwarzer Hautfarbe am Pool gesichtet wurde, meist ein Kind, das zusammen mit seiner Schulklasse zu einer Geburtstagsfeier eingeladen worden war, und sofort wurde bei den Schwimmern und den Sonnenhungrigen rund um das Becken eine gewisse Wachsamkeit spürbar, ein Unbehagen – ob dies eher der Scham geschuldet war, dass der Club so exklusiv war, oder der Entrüstung darüber, dass ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen wurde, hing von der jeweiligen Person ab.
»Da gibt es auch Milchshakes«, sagte Ella, und Jessica fragte: »Grandma, hast du für Ella Blackwell Milchshakes gemacht und für mich nicht?«
»Nein, im Club meine ich«, sagte Ella, aber ich fiel ihr ins Wort: »Ich fürchte, heute wird niemand mehr schwimmen gehen, egal wo.« Als wir uns in den Garten gesetzt hatten, war es sonnig gewesen, aber inzwischen hatte sich der Himmel bezogen. »Wer kommt mit rein und will Rhabarberkuchen?«
Die Suttons hatten diesen Nachtisch selbst mitgebracht, und ich hatte wortreich mein Entzücken geäußert, als Jessica ihn mir überreichte, und mich dann beeilt, heimlich die Kekse wegzuräumen, die Ella und ich morgens gebacken hatten. Wir aßen den Kuchen im Esszimmer, und danach überreichte Ella die Geschenke, die wir am Tag zuvor gemeinsam ausgesucht hatten: Einen gelben Strampelanzug von Miss ’n Master für Antoine und dazu ein ziemlich albernes Paar Schuhe, winzige rote Lederstiefelchen mit einem Baseball auf den Zehen – ein eher unpraktisches Geschenk, auf dem Ella bestanden hatte. Für Jessica waren wir (unter dem Vorwand, dass sie bald die sechste Klassenstufe abschließen würde, in Wirklichkeit aber, weil ich nicht wollte, dass sie sich übergangen fühlte, wenn Antoine Geschenke bekam) in die Mayfair Mall zu Marshall Field’s gegangen und hatten eine Uhr mit transparentem rosafarbenen Armband und einer rosa Blüte auf dem Zifferblatt gekauft. Jessica band sie sich um und streckte gerade den Arm aus, damit wir sie alle bewundern konnten, als ich vom Flur her Charlies Stimme hörte.
»So, so, so«, sagte er, und als wir uns alle nach ihm umgedreht hatten, grinste er. »Ist es erlaubt, in euer Damenkränzchen reinzuplatzen?«
»Da sieh mal einer an«, sagte Yvonne. »Und wir dachten, du müsstest arbeiten, Charlie.«
»Wie hätte ich wegbleiben können?«, sagte er. Er trug eine blassblaue Hose – in einem ähnlichen Farbton wie Antoines Schlafsack –, ein weißes Polohemd und weiße Socken; seine Golfschuhe hatte er im Flur ausgezogen. Falls es noch Zweifel darüber gegeben haben sollte, wo er gerade gewesen war, trug er seine Golftasche über der Schulter und lehnte sie im Esszimmer an die Wand. Mir fiel auf, dass sein Haar und seine Schultern nass waren, und als ich zum Fenster hinaussah, stellte ich fest, dass es regnete. »Und hier haben wir bestimmt den Mann der Stunde«, fuhr Charlie fort. Er ging zu der Sitzschale auf dem Fußboden, in der Antoine eingeschlafen war, beugte sich darüber und sagte: »Das ist mal ein verdammt gutaussehendes Baby. Saubere Arbeit, Yvonne. Schlag ein!« Er hob die Hand, aber bevor Yvonne seiner Aufforderung nachkommen konnte, entdeckte er den Kuchen und rief: »Futter!« Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass er getrunken hatte. Er schnitt sich ein großes Stück davon ab und nahm es in die Hand. Schweigend reichte ich ihm meinen Teller und meine Gabel, die er auch annahm, ohne sie allerdings zu benutzen.
»Charlie Blackwell, Sie haben Manieren wie ein Bierkutscher«, sagte Miss Ruby, und Jessica und Ella kicherten.
Auch Charlie lächelte. »Yvonne, wenn ich nicht selbst so eine großartige Mutter hätte, hätte ich mir schon vor Jahren deine geschnappt.« Er wischte sich mit der nächstbesten Serviette die Hände ab und legte Miss Ruby eine Hand auf die Schulter. »Jessica, deine Großmutter ist ein Stück nationales Kulturgut«, sagte er, und ich fragte mich, ob Miss Ruby den Alkohol in seinem Atem riechen konnte.
»Daddy, schau mal!« Ella, die sich während der Geschenkzeremonie wie eine selbsternannte Aufsichtsperson neben Jessica postiert hatte, trat einen Schritt vom Tisch zurück, aber als alle sie ansahen, nahm sie abrupt eine andere Haltung ein: Sie zog die Schultern hoch, legte den Kopf schief und blinzelte unter gesenkten Lidern hervor. »Ach, schon gut«, sagte sie leise. Das war eine neue Angewohnheit von ihr – in ihrer Klasse gab es ein Mädchen namens Mindy Keppen, die jedes Mal erstarrte, wenn eine der Lehrerinnen sie aufrief, und seit ich Ella daraufhin erklärt hatte, was Schüchternheit sei, war sie fasziniert von diesem Konzept. (Ach, mein trunkener Ehemann und meine liebliche, heuchlerische Tochter.)
»Du willst ihm die Choreographie zeigen, oder?«, sagte Jessica. »Sollen wir sie zusammen vorführen?«
Ella blickte zu ihr hoch, lächelte und nickte eifrig. Jessica stand auf, und beide hoben mehr oder weniger gleichzeitig die Arme und schwangen die Hüften hin und her.
»Cheerleader, steigt in den Ring,
Basketball ist unser Ding!
Eins – zwei – drei und vier,
Noch ein Korb, dann siegen wir!«
Bei »eins« schüttelten sie imaginäre Pompons über ihren Köpfen, bei »zwei« auf der Höhe ihrer Knie, um bei »drei« die Hände vor der Brust zusammenzuführen und bei »vier« einen Korbwurf anzudeuten.
»Hervorragend«, sagte Charlie, als sie fertig waren. »Ganz großartig!« Mir schnürte sich die Kehle zu, als er den Tisch umrundete, sich zu den beiden Mädchen setzte und sagte: »Also, wie geht das noch mal? Cheerleader, steigt in den Ring …« Kichernd brachten sie ihm den Text bei. Ella war außer sich vor Glück – wahrscheinlich konnte sie sich einfach nichts Schöneres vorstellen, als mit einem bewunderungswürdigen älteren Mädchen zusammen ihrem Vater eine Cheerleaderchoreographie beizubringen, und das vor Publikum –, während Jessica gern mitmachte, aber gleichzeitig, so schien es mir, einzuschätzen versuchte, was Charlie eigentlich vorhatte. Jessica und Charlie kannten einander seit Jessicas Geburt und hatten wahrscheinlich noch kein einziges ernsthaftes Gespräch miteinander geführt.
Als er den Text auswendig konnte, sagten sie ihn zu dritt auf, und am Ende rief Charlie: »Go, Brewers!«
Ella lachte und klammerte sich an seinem Gürtel fest. »Nicht Baseball, Daddy, Basketball!«, rief sie. Charlie hob sie zu sich hoch, und die beiden strahlten einander an. Das war eindeutig der Höhepunkt des Nachmittags, und die Suttons schienen das zu spüren, denn kurz darauf erhoben sie sich und sammelten Antoines Wickeltasche, die Geschenke und die Kuchenform ein, um sich zu verabschieden. Ich zog eine Regenjacke über und begleitete sie zu ihrem Auto. Dort angekommen, fragte ich Jessica: »Hast du schon Pläne für die Sommerferien?«
Sie nickte zu Antoine herunter, den sie in der Sitzschale zum Auto trug, und sagte: »Das hier sind meine Pläne – Baby A und V. C. Andrews. Nein, das mit V. C. Andrews war nur Spaß, Mrs. Blackwell.«
»Also dann, es war wundervoll, dass ihr uns besucht habt«, sagte ich. Ich musste an Ellas Sommerferienprogramm denken: Schwimmen, das Kunstseminar, an dem sie in der letzten Juniwoche teilnehmen würde, und im Juli ging es dann nach Halcyon.
Als ich ins Haus zurückging und die Tür hinter mir schloss, war Charlie nicht mehr im Esszimmer. Ich brachte Teller und Gläser in die Küche und hörte aus dem hinteren Zimmer den Fernseher. Beim Einräumen der Spülmaschine merkte ich, dass mir der Kopf schmerzte. Wie groß und leer mir das Haus auf einmal vorkam!
Ich hatte gerade noch ein letztes Mal den Schwamm ausgewrungen und ihn auf seinen Platz neben der Seifenschale zurückgelegt, als Charlie hereinkam und sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte. »Das war ja mal ein niedliches Negerbaby.« Er grinste, und ich hätte nicht sagen können, ob er mich provozieren wollte oder einfach nur er selbst war.
Wir standen einander gegenüber, vielleicht zwei Meter voneinander entfernt, und ich dachte darüber nach, ihn zurechtzuweisen, konnte mich aber dann doch nicht dazu entschließen. Ich hatte vielleicht alle paar Monate die Kraft, mich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, aber nicht zweimal am Tag.
»Du bist ja so schweigsam«, sagte er.
»Ich habe Kopfschmerzen. Ich wollte gerade hochgehen und ein bisschen lesen.«
»Bist du gar nicht neugierig zu hören, wie das Golfspiel mit Cliff und Langenbacher gelaufen ist?«
»Ich bin davon ausgegangen, dass es wegen des schlechten Wetters ausgefallen ist.« Von draußen war der Regen zu hören, sanft, aber beharrlich.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich Langenbacher darüber ist, mich mit an Bord zu haben. Cliff war derjenige, der mich vorgeschlagen hat, ich bin ihm also zu ewigem Dank verpflichtet. Aber Langenbacher ist total begeistert von dem, was ich zu bieten habe – ich bin ein Fan, da muss ich niemandem was vormachen, aber ich verstehe auch was vom Geschäft.« Charlie hatte gerötete Wangen, sei es vor Freude oder vom Alkohol. »Du bist nicht sauer, weil ich das Mittagessen verpasst habe, oder?«, sagte er. »Alles in allem sind sie doch in den vollen Genuss des berühmten Chas-Blackwell-Charmes gekommen, würde ich sagen. Wenn ich’s mir recht überlege – vielleicht hast du ja mit den Wetterfröschen unter einer Decke gesteckt.«
»Genau genommen war es etwas unangenehm, dass du noch gekommen bist, weil ich ihnen erzählt hatte, du hättest einen geschäftlichen Termin.«
»Den hatte ich doch.«
»Einen richtigen Termin.«
»Aber den hatte ich! Herrgott, Lindy!«
»Dann überrascht es mich nur, dass Zeke Langenbacher gar nichts dagegen hat, wenn sich Leute während der Arbeitszeit betrinken.«
Charlie runzelte die Stirn, »Was ist eigentlich dein Problem? Für mich werden Träume wahr, und ich begreife nicht, warum du so gottverdammt mies drauf bist.«
»Natürlich freue ich mich für dich.« Als wollte ich seine erhöhte Lautstärke ausgleichen, sprach ich noch leiser als sonst. »Aber ich habe Kopfschmerzen, wie gesagt, und mir ist nicht nach Feiern zumute. Immerhin ist meine Großmutter gerade gestorben.«
Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, das zu erwähnen. Es mochte wahr sein, aber ihn damit zu konfrontieren kam mir billig vor, und ich wollte ihn nicht beschämen. Allerdings hätte ich mir darum keine Sorgen machen müssen. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass er mich in dem Moment wutentbrannt anstarrte. Dann sagte er: »Verdammt noch mal, Lindy, sie war neunzig Jahre alt. Was hast du denn erwartet?«
Wie wir es vereinbart hatten, ging ich am selben Abend vor dem Essen zu Jadey und Arthur, und sobald Jadey und ich in sicherer Entfernung auf dem Golfplatz waren, sagte sie: »Arthur ist heute Morgen um meine Festung herumgeschlichen, aber ich habe ihn abgewehrt.«
»Jadey, vielleicht solltest du ihm eine Chance geben.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Auf beiden«, sagte ich, aber ich fragte mich, ob ich stark genug war, diese Unterhaltung fortzuführen, oder ob ich den Spaziergang besser abgesagt hätte. Seit die Suttons einige Stunden zuvor unser Haus verlassen hatten, schwankte ich zwischen zwei Möglichkeiten: in Tränen auszubrechen oder – und ich begriff, dass diese Möglichkeit die schlimmere war – mich ganz in mich selbst zurückzuziehen. Es war das erste Mal seit mehr als zwanzig Jahren, das einzige Mal seit Andrew Imhofs Tod, dass ich mich zu dem emotionalen Nullpunkt hingezogen fühlte, und mir war klar, dass dieser Impuls jetzt viel gefährlicher war als damals: Ich hatte als erwachsene Person Verantwortung übernommen und musste vor allem für Ella da sein. Aber es wäre so tröstlich gewesen, einfach aufzugeben, nur noch zu schlafwandeln – mich nicht länger um Charlie zu bemühen und nicht mehr von ihm zu erwarten, dass er sich um mich bemühte.
»Vielleicht bist du da anderer Meinung«, sagte Jadey, »aber ich finde, dass mein Mann sich schon was einfallen lassen muss, wenn er mich zurückgewinnen will.«
Einen Moment lang schwiegen wir beide – die Wolken hatten sich längst verzogen, die Sonne schien durch die Baumkronen, die Grashalme glitzerten, und die Heuschrecken zirpten überlaut –, und dann sagte ich: »Macht es dir wirklich Spaß, mit ihm diese Spielchen zu spielen?«
»Weißt du, nicht jeder lebt in einer perfekten Ehe.«
»Meinst du das etwa ironisch?« Dieser Schlagabtausch hatte einen viel schärferen Ton angenommen, als es zwischen Jadey und mir üblich war, und ich glaube, wir waren beide überrascht davon, dass er eine immer größere Eigendynamik entwickelte.
Es war Jadey zu verdanken, dass der Ton dann doch wieder ruhiger wurde. Sie sagte behutsam: »Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich meinte nur, dass du es leichter hast als die meisten.«
Und dann tat ich es wirklich – ich brach in Tränen aus. Jadey sagte: »Grundgütiger, was habe ich denn bloß gesagt? O Herr Jesus.« Ich war stehen geblieben und hatte mein Gesicht in den Händen vergraben, und sie tätschelte mir den Rücken. »Alice, du weißt doch, dass ich dich wahnsinnig gern habe. Ist es wegen deiner armen Granny, oder wie?«
Ich wischte mir die Tränen ab. »Du glaubst, ich habe es leicht?«
»Dein Gatte küsst den Boden, auf dem du wandelst. Gut, Chas trinkt wirklich zu viel, aber man kann nicht alles haben. Wenigstens seid ihr immer noch hoffnungslos ineinander verliebt.«
»Jadey, ich … ich frage mich, ob ich ihn verlassen soll. Unsere Ehe ist alles andere als perfekt.«
»Meinst du, du willst dich scheiden lassen?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß doch nicht einmal, wie man so was macht. Würde ich aus dem Haus ausziehen oder er?« Der Moment, in dem ich diese Worte ihr gegenüber laut aussprach, war zugleich der erste Augenblick, in dem ich mich realistisch mit der Möglichkeit auseinandersetzte, meine Ehe mit Charlie zu beenden. Seit Monaten hatte ich Einflüsterungen gehört – Trennung, Scheidung –, und auch wenn es mir vorkam, als hätte der Wind sie mir zugetragen, waren es doch meine eigenen Gedanken gewesen. Aber es waren immer abstrakte Ideen geblieben, letzte Auswege für den Notfall. »Oder stell dir vor, ich müsste Maj gegenübertreten«, fügte ich hinzu. »Sie würde mich hassen. Ich glaube sogar, sie würde es gar nicht zulassen, weißt du, was ich meine?«
»Sie kann uns nicht kontrollieren«, sagte Jadey. »Ja, ich weiß genau, was du meinst, aber wenn man mal genau drüber nachdenkt, kann sie überhaupt nichts tun, außer uns aus ihrem Testament zu streichen.« War ich überhaupt in Priscillas Testament eingesetzt? Das bezweifelte ich, aber was Jadey gesagt hatte, brachte mich auf die Frage, wie sich meine Finanzen entwickeln würden. Würde ich Unterhalt bekommen? Würde ich mir in dieser Gegend ein Haus leisten können, wenn auch nur ein bescheidenes, und wie viele bescheidene Häuser gab es überhaupt in Maronee? Gab es hier irgendjemanden, der zur Miete wohnte? Natürlich würde ich arbeiten müssen, und das war in mancher Hinsicht vielleicht gar nicht so schlecht, aber mich und Ella zu ernähren (dass ich für sie nicht das volle Sorgerecht bekommen könnte, war schlichtweg undenkbar), wo wir so einen privilegierten Lebensstandard gewöhnt waren, war kaum damit vergleichbar, meinen Unterhalt als alleinstehende Frau in Madison zu verdienen.
»Okay, wie wäre es, wenn Chas sich behandeln lassen würde?«, sagte Jadey. »Wie heißt diese Entzugsklinik in Minnesota? Da könnte er doch hingehen.«
»Das wird er nicht tun.« Wäre es schlimmer, den Rest meines Lebens Charlies Launen auszuhalten, als sich von ihm zu trennen? Die Vorstellung, mich scheiden zu lassen, war grauenhaft, wenn ich so konkret darüber nachdachte, durchführbar, aber grauenhaft. »Wir fahren am Freitag nach Princeton«, sagte ich. »Vielleicht wird es uns guttun, ein paar Tage weg zu sein.«
»Großer Gott, ihr fahrt zu dem Treffen?« Jadey sah mich entsetzt an. »Alice, das wird ein einziges Saufgelage, das weißt du. Triff bloß keine Entscheidungen, solange du da bist.«
Ich wies auf den Weg vor uns. »Sollen wir noch ein Stück gehen?«
Wir gingen weiter den asphaltierten Weg entlang, und Jadey sagte: »Warte mal, es ist sein zwanzigstes Jubiläum, oder? Meine Güte, Arthurs kleiner Bruder hat schon seit zwanzig Jahren seinen College-Abschluss. Wo sind all die Jahre geblieben?« In ihrer Stimme lag die übliche Dosis Exaltiertheit, aber darunter war auch ein Anklang von traurigem Ernst herauszuhören. »Alice«, sagte sie, »ihr beiden dürft euch nicht scheiden lassen, das geht einfach nicht.« Als ich nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Ich glaube nämlich nicht, dass ich es ohne dich durchhalte, eine Blackwell zu sein.«