Nachdem Paulus und seine Gefährten die christliche
Gemeinde im Glauben bestärkt und in den Synagogen gepredigt hatten, reisten sie – entweder zu Fuß oder auf dem Maultier – an der Südküste der Insel entlang nach Paphos.
Hier war das Kultzentrum der Aphrodite/Venus. Es lag auf einem Hügel bei der alten Stadt, ein paar Kilometer oberhalb vom Hafen. Eine Freude muß es gewesen sein, durch den zypriotischen Frühling zu wandern oder zu reiten. Im Norden und Osten umrahmten Paphos die Troodos-Berge
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mit ihren schneeigen Gipfeln. Auf den Hängen dichte Pi-nienwälder, im ganzen Land der Blütenflor von Wildblumen und drunten das schimmernde Mittelmeer. Das weltberühmte Heiligtum von Paphos wurde, Herodot zufolge, von den Phöniziern begründet. Allerdings ist es gut möglich, daß dort schon lange zuvor eine lokale Fruchtbarkeitsgöttin verehrt wurde. Das Götterbild der heiligen Aphrodite war nicht von griechischer Raffinesse, sondern von phallischer Deutlichkeit. Ähnlich geformte Steine sind an zahlreichen anderen Kultstätten in Syrien, Pamphylien und weiter westlich auf Malta und in Eryx auf Sizilien gefunden worden. Die Aphrodite von Paphos war, wie wahrscheinlich alle Aphroditen der damaligen Zeit, in Frauengewänder gekleidet. Kein rituelles Gemetzel verdunkelte den Kult der Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin – aber es floß das Blut von Deflorationen. Denn hier wie an vielen Orten der Ve-nusverehrung war es üblich, daß junge Frauen sich vor der Heirat im Tempelbezirk Fremden hingaben. (Ein ähnlicher Brauch existierte in manchen Teilen Altägyptens. Die Theorie dahinter scheint die gewesen zu sein, daß der De-florationsschmerz nicht mit dem Gatten, sondern mit einem Fremden assoziiert werden sollte.) In Paphos betrachtete man die Tempelprostitution als heiligen Tribut an das göttliche Fruchtbarkeitsprinzip. Das Geld, das aus dieser Quelle stammte, diente zur Erhaltung der Kultstätte.
Neben zukünftigen Bräuten wimmelte es im heiligen Bezirk von offiziellen Prostituierten, den Mägden der Göttin, die wie im Daphne-Hain einen Teil ihrer Einkünfte an die Tempelkasse abführten. Da Paphos ein belebter Hafen war und Aphrodite als Schutzpatronin der Seeleute galt, wur-175
den die Kunden nie knapp. Flotte Geschäfte machte man auch mit silbernen Amuletten – Miniatur-Aphroditen, die Glück bringen und die Matrosen vor Schiffbruch und Er-trinken bewahren sollten. Auf ähnliche Weise werden bis zum heutigen Tage in manchen sizilianischen und italienischen Häfen (auch auf Capri) zu Phalli zurechtgeschnitzte Korallen als Talismane verkauft. Kaum jemand, der sie er-wirbt, hat einen Begriff davon, wie uralt der Kult ist, dem sie Ausdruck verleihen. Selbst wenn die drei Missionare die Höhe mit dem schimmernden Tempel, von heiligen Tauben umflogen und von Weihrauch umwölkt, mieden wie die Pest, kann ihnen nicht entgangen sein, daß der Kult im Hafen allgegenwärtig war. Die Matrosen trugen Venus-Amulette, und am Kai standen die Prostituierten und warteten auf einlaufende Schiffe. Während die Missionsreisenden in Paphos weilten, erreichte sie ein unerwarteter Ruf. Der Prokonsul Sergius Paulus wollte die Besucher sehen, die, wie er gehört hatte, eine neue Religion verkündeten. Also war er wohl neugierig, begierig auf ein Zeichen, begierig zu erpro-ben, ob sich diese Juden an Klugheit und Kraft mit seinem Zauberer Bar-Jesus messen konnten. Sie nahmen bereitwillig an – der Ruf war immerhin einem kaiserlichen Befehl gleichwertig – und begaben sich zum Palast, der sich auf einem Hügel über der Stadt erhob. Die Auseinandersetzung, die sich dann entspann, ist etwas ausführlicher in der Apostelgeschichte aufgezeichnet, bildete sie doch den Höhepunkt der Zypernreise.
Bar-Jesus hieß auf Griechisch Elymas oder »Zauberer«.
Aus dem, was wir bereits gehört haben, können wir schlie-
ßen, daß er typisch für seine Zeit war. Wahrscheinlich wußte 176
er einigermaßen geschickt die Sterne zu deuten, wahrscheinlich beherrschte er magische Kunststücke und Zauber-
tricks. Vielleicht gehörte er zum Hofstaat und verschaffte sich ein einträgliches Auskommen, indem er an Ortsansässige, die auf offizielle Informationen oder auf Begünstigun-gen brannten, kleine Tips und Winke verkaufte. Sicher war er höchst unzufrieden, als er sehen mußte, daß Sergius Paulus aufmerksam, anscheinend auch noch anerkennend, auf all das lauschte, was ihm der bärtige, von Wind und Wetter gegerbte Jude erzählte. An dieser Stelle verdient es festgehalten zu werden, daß Paulus – nicht Barnabas und nicht Johannes Markus – dazu ausersehen wurde, diesem maßgeblichen römischen Beamten die frohe Botschaft vom Messias nahezubringen. Die andern standen dabei, bereit, mit Hin-weisen auf Verse und Kapitel aus der Schrift einzuspringen oder weitere Beweise für Christi Leben und Auferstehung zu liefern. Doch sie wurden nicht gebraucht.
Bar-Jesus ließ das Ganze über sich ergehen, solange er es ertragen konnte. Doch dann meldete auch er sich zu Wort.
Vielleicht bangte er um seine lukrative Stellung als Freund und Ratgeber des Prokonsuls. »Da widerstand ihnen Elymas … und trachtete, daß er den Landvogt vom Glauben abwendete.« Paulus machte aus seinem Herzen keine Mör-dergrube – er hatte immer eine niedrige Toleranzschwelle. Da stand dieser Renegat, dieser Entwurzelte, der nicht einmal praktizierender orthodoxer Jude war wie die vielen, mit denen er Streitgespräche geführt hatte. Da stand er, ein Lügner und Schurke, der es wagte, wider die Wahrheit Gottes und des Heilands zu sprechen. Paulus war au-
ßer sich. Er blickte Bar-Jesus geradewegs in die Augen und 177
sagte: »O du Kind des Teufels, voll aller List und aller Bos-heit, Feind aller Gerechtigkeit, hörst du nicht auf, krumm zu machen die geraden Wege des Herrn? Und nun siehe, die Hand des Herrn kommt über dich, und sollst blind sein und die Sonne eine Zeitlang nicht sehen!« »Und von Stund an fiel auf ihn Dunkelheit und Finsternis, und er ging umher und suchte jemand, der ihn bei der Hand leite.« Bei diesem Kampf zweier Willenskräfte hatte Paulus seine völlige Überlegenheit bewiesen. Sergius Paulus war sprachlos. Die Rede des Juden hatte ihn schon tief beeindruckt, aber nun, nach einer solchen außerordentlichen Demonstration von Kraft, glaubte er. Wer sich jedoch nicht mit der Erklärung zufriedengeben will, es habe sich eben um ein Wunder gehandelt, muß sofort fragen – was geschah denn nun wirklich? Es ist äußerst wahrscheinlich, daß Bar-Jesus als orientalischer Magier tatsächlich auch an magische Kräfte glaubte
– an die seinen und an die anderer Menschen. Überwältigt von der Dynamik von Paulus’ Persönlichkeit, zerbrochen, ins Innerste getroffen von den durchdringenden Augen, die mit der Gewalt eines Blitzstrahls die Leidenschaft des Glaubens übertrugen, war er vollständig davon überzeugt, daß die Worte seines Widersachers in Erfüllung gegangen waren. Möglicherweise schloß auch er sich später dem neuen Glauben an – denn von wem sollte der Chronist sonst Auskunft darüber erhalten haben, was Bar-Jesus empfand, als er mit Blindheit geschlagen wurde? Die Begebenheit ist nicht so ungewöhnlich, wie es einem Städtebewohner des 20. Jahrhunderts scheinen mag. Von Anthropologen, Eth-nologen und anderen Wissenschaftlern, die in abgelegenen Weltteilen, etwa in Neuguinea, arbeiteten, haben wir zahl-178
reiche Beweise für regelrechte Wettkämpfe zwischen »Me-dizinmännern« oder wie immer man solche Wunderheiler oder Gesundbeter nennen will, die der Auseinandersetzung zwischen Bar-Jesus und Paulus gar nicht einmal unähnlich sind. Bar-Jesus tritt von der Szene ab, ebenso der Prokonsul Sergius Paulus. Nichtsdestoweniger betrachtete man diesen Vorfall als äußerst bedeutsam, was daraus erhellt, daß der Verfasser der Apostelgeschichte ihn uns so detailliert und lebendig überliefert hat. Und es gibt noch einen springen-den Punkt. Bis dahin ist in der Apostelgeschichte immer von Saul die Rede. Von nun an wird er Paulus genannt. Der Grund dafür ist ohne große Mühe zu finden. Sir William Ramsay formulierte es vor einigen Jahren folgendermaßen:
»Er hatte strikt jüdische Jahre hinter sich, war erfüllt vom Gedankengut einer Religion, die Juden hervorgebracht hatten und die in seiner Vorstellung die vollkommenste Form der jüdischen Religion war – kann er da geantwortet haben (der Prokonsul stellte ihm wohl die Standardfragen der damaligen Zeit: ›Wie heißest du? Und woher kommst du?‹):
›Ich heiße Saul und bin ein Jude aus Tarsus‹? Betrachten wir erst einmal, was er selbst über die Methoden sagt, mit denen er Menschen ansprach (1. Kor. 1, 20f.): ›Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden wie einer unter dem Gesetz – wiewohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, auf daß ich die, so unter dem Gesetz sind, gewinne … Ich bin allen alles geworden … Alles aber tue ich um des Evangeliums willen …‹ Wir können nicht daran zweifeln, daß der Mann, der so an die Korinther schrieb, auf die Fragen des Sergius Paulus antwortete, er sei ein aus Tarsus 179
gebürtiger Römer namens Paulus. Mit einem Meisterstreich historischer Knappheit scheidet der Verfasser (der Apostelgeschichte) Vergangenheit und Gegenwart voneinander: ›Saulus aber, der auch Paulus heißt, … sah ihn an und sprach …‹« Bemerkenswerterweise wird Paulus, der bis dahin in der christlichen Hierarchie immer unter Barnabas gestanden zu haben scheint, nach dieser berühmten Episode fast immer an erster Stelle genannt. Obwohl er nur der drei-zehnte Apostel war und als letzter in den Schoß der Kirche gefunden hatte, reihte er sich nun durch seinen Intellekt, seinen Glauben und seinen Ehrgeiz unter die Ersten ein. Jakobus, der Bruder Jesu, stand nach wie vor an der Spitze der Jerusalemer Kirche, doch jetzt war völlig klar, daß in allen Ländern, die außerhalb von diesem vergleichsweise kleinen Bereich lagen, niemand anders als Paulus die beherrschende Gestalt sein würde.
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19
D E K
In Paphos fanden die drei Reisenden ein Kauffahrtei-
schiff nach Pamphylien, einer Landschaft in Kleinasien, die etwa 150 Meilen übers Meer entfernt war. Es wird zwar nirgendwo erwähnt, wie lange sie auf Zypern blieben, aber man darf annehmen, daß sie im Frühling dort eintrafen, einige Zeit in Salamis verbrachten, dann an der Südküste entlang den Weg nach Paphos machten, wo sie ebenfalls eine Weile blieben. Mittlerweile dürfte es Frühsommer gewesen sein. Eine gute Zeit für angenehmes Reisen – die Winde wehten vor allem von Westen, strichen an Rhodos vorbei und auf die Provinz Lycien zu; und so hatten die Schiffe Wind von achtern bis in die Bucht, an der Attalia, der wichtigste Hafen dieser Provinz, lag. Sie blieben aber nicht dort, sondern fuhren weiter nach Osten, den Cestrus flußaufwärts bis zu dem zwölf Kilometer entfernten kleinen Hafen Perge. Heute ist der Fluß versandet, der Ort ein Ruinen-feld, damals aber war Perge ein Hauptumschlagsplatz für den Handel zwischen den Griechen und den Einwohnern
aus dem Landesinnern. Soviel man weiß, kam Paulus jetzt zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Kultur in Be-rührung, die nicht in erster Linie von den Griechen geprägt war. Die Pamphylier waren ein Mischvolk aus Ureinwohnern, Ciliciern und griechischen Kolonisten. Ihre Sprache, die möglicherweise griechische Wurzeln hatte, war von bar-barischen Elementen verfälscht und entstellt. Keine guten Voraussetzungen für die Verkündigung des Evangeliums, möchte man meinen … Außerdem lastete die Sommerhitze 181
drückend über der pamphylischen Ebene, und die gesamte Region, vom Taurusgebirge eingeschlossen, glich einer riesigen Bratpfanne. Zudem war das Flachland, in dem noch überall Brackwassertümpel von der Frühjahrsüberschwem-mung standen, eine Brutstätte für die Anophelesmücke, die die Malaria überträgt.
Paulus war nun Mitte oder Ende Vierzig, heute nichts Außergewöhnliches, im 1. Jahrhundert jedoch – und zumal für einen Mann, der ein so hartes Leben führte – fast schon der Beginn des Alters. Und trotzdem wollte er mit einer Karawane durchs Taurusgebirge ziehen. Sein Ziel war Antiochien in Pisidien. Selbst für einen gesunden jungen Mann wäre diese Reise nicht eben verlockend gewesen, und Paulus wurde obendrein während des Aufenthalts in Perge krank. Berge von Papier sind aufgebraucht worden, wahre Ströme von Tinte geflossen, um die Frage zu klären, welcher Art das geheimnisvolle Gebrechen war, das Paulus selbst den »Pfahl (Stachel) ins Fleisch« nennt. Hatte er wie Julius Cäsar mit wachsendem Alter mehr epileptische An-fälle? Das ist recht wahrscheinlich, und die hochsommerliche Hitze und das entnervende Klima Pamphyliens dürften kaum zur Besserung seines Gesundheitszustandes beigetragen haben. Einige Experten, besonders Sir William Ramsay, plädieren dafür, daß periodisch wiederkehrende Malariaanfälle die Krankheit Paulus’ waren, die er selbst im zweiten Korintherbrief als »Satans Engel« bezeichnet, der ihn »mit Fäusten schlage«.
So kann man Malariaanfälle durchaus beschreiben. Sie strecken den Betroffenen völlig unerwartet und auf höchst unangenehme Weise aufs Krankenlager nieder. Doch fas-182
sen wir noch eine andere Möglichkeit ins Auge: den epileptischen Anfall. Er ist äußerst beängstigend; oft geht ihm ein lauter Schrei vor aus. Danach, so J. A. C. Brown, »verfällt die gesamte Muskulatur in krampfartige Zuckungen
… nach etwa einer halben Minute folgt auf diese ›tonische‹
Phase eine ›klonische‹ Phase, in der sich die Gliedmaßen rhythmisch zusammenziehen und wieder entspannen, in
der es zur unwillentlichen Blasen- oder Darmentleerung kommen und der Patient sich auf die Zunge beißen kann, bis die Kontraktionen allmählich nachlassen und der Patient eine Zeitlang – die Dauer variiert – schweratmend und bewußtlos liegenbleibt«. Wie wir bereits erwähnten, sehen christliche Historiker sowie Kleriker Paulus meist höchst ungern als Epileptiker an, vielleicht weil sie finden, diese Krankheit sei etwas Schmachvolles und entwerte gewissermaßen sein Leben, seine Arbeit und seine Schriften. Das ist einfach nicht wahr – und wo könnte man eine bessere Beschreibung von Paulus finden als die bereits zitierte Charakterisierung des epileptischen Charakters mit den Merkmalen Gewalttätigkeit, Mystizismus, Impulsivität und Verfolgungsideen? Gewiß geschah etwas Seltsames in Perge, das Johannes Markus dazu brachte, Paulus und seinen Vetter Barnabas zu verlassen, ein Schiff nach Cäsarea zu nehmen und nach Jerusalem zurückzukehren. Heim-weh; Verärgerung darüber, daß sie nun plötzlich ins Landesinnere, nach Antiochien in Pisidien, reisen sollten; Res-sentiments, weil Paulus jetzt die Führung übernahm, die vorher Barnabas innegehabt hatte; Krankheit – man hat viele Theorien darüber aufgestellt. Die Apostelgeschichte sagt lediglich: »Johannes aber wich von ihnen und zog wie-183
der nach Jerusalem.« War er vielleicht Zeuge eines epileptischen Anfalls geworden? Selbst heute, da wir diese Krankheit (wenn auch dürftig) kennen, ist das ein erschreckender Anblick, damals aber war es etwas Entsetzliches und obendrein völlig Unerklärliches. Johannes Markus’ Fahnenflucht
– so sah es zumindest Paulus – wurde nicht vergessen. Bei der nächsten Missionsreise weigerte er sich, den jungen Mann mitzunehmen, was zu einer geharnischten Auseinandersetzung zwischen ihm und Barnabas führte. Über den weiteren Verlauf der Reise berichtet der Verfasser der Apostelgeschichte in seiner üblichen lakonischen Art: »Sie aber zogen weiter von Perge und kamen nach Antiochien im
Lande Pisidien …« Gleichgültig, ob Lukas oder ein anderer Verfasser die Apostelgeschichte schrieb, er würde heutzutage einen brillanten Journalisten abgeben – niemals aber einen ausschmückenden Erzähler oder einen Feuilletoni-sten. Ihm ist es ausschließlich um das Ziel seiner Geschichte zu tun, um die Ausbreitung des Evangeliums, und er läßt radikal alles weg, was nicht unmittelbar dazugehört. Man muß sich vergegenwärtigen, daß ein Autor in jenen Tagen der Papyrusrollen, der simplen Federkiele und der selbst-bereiteten Tinte es sich nicht leisten konnte, Zeit oder Raum für unwesentliche Nebenereignisse zu verschwen-den. Die wichtigsten Fakten genügten. Hätte es sich um einen modernen Historiker oder Reiseschriftsteller gehandelt, so kann man sich vorstellen, wie monoton ein Band nach dem anderen auf dem Schreibtisch des Lesers gelan-det wäre. Natürlich würden wir gerne sehr viel mehr wissen – aber vielleicht haben wir letzten Endes sogar Glück.
Keine Wortschwälle, keine Weitschweifigkeit, keine Land-184
schaftsschilderungen oder sonstigen Impressionen trüben die schlichte Klarheit der Apostelgeschichte.
Die Reise muß beschwerlich gewesen sein. Es ging durch die glühendheiße Ebene, dann durch Schluchten und über Pässe ins Taurusgebirge hinauf, und nachts war es möglicherweise so kalt, daß man Feuer brauchte, um sich einigermaßen warm zu halten. Ständig begleitete sie die Furcht vor Räubern. Obwohl der Kaiser beträchtliche Anstren-gungen unternommen hatte, um den Banditen in Kleina-
sien das Handwerk zu legen, ließ sich diese wilde Bergge-gend nicht vollends kontrollieren (das wäre selbst heute schwierig). Nachts werden sich die Reisenden bei der Wache abgelöst haben, Schwert oder Knüttel griffbereit neben sich, immer wieder über die Hänge spähend, besorgt, bis der Morgen dämmerte. Beim ersten Lichtstrahl aßen sie ein paar Oliven, einen Bissen Brot oder Zwieback, tranken einen Schluck kaltes Gebirgswasser und scheuchten die äch-zenden Kamele, die schnaubenden Pferde und brüllenden Esel auf die Beine. Außer Paulus und Barnabas dürften etliche Kaufleute mitgereist sein, die Erzeugnisse aus dem Kü-
stengebiet und Überseeimporte nach Antiochien in Pisidien brachten. In Erinnerung an diese und viele andere Reisen schrieb Paulus später im zweiten Korintherbrief, was er um der Ausbreitung des Glaubens willen auf sich genommen hatte: »Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch die Flüsse, in Gefahr unter den Räubern … in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße …«
Nach den rauhen Tagen im Gebirge gelangte die Kara-
wane in die anatolische Hochebene. Klare Luft, überall la-185
gen Siedlungen verstreut, gutes Ackerland dehnte sich endlos, aufgelockert von schönen Seen – etwa der Limnai (der heutige Egerdir-See), wie er bläulich schimmernd und fun-kelnd wie Lapislazuli im Wind seine Wellen schlug –, all das ließ einen aufatmen. Nach der erdrückenden Hitze im Flachland, nach den rauhen Böen in den Bergen, erwartete sie die herrliche Hochebene. Und dort drüben, ein wenig nordöstlich vom See, auf einem Hügel über dem Gefil-de von Anthius, lag die Stadt. Colonia Caesarea Antiochaea lautete ihr voller Name oder auch Antiochia ad Pisidiam, wörtlich »Antiochien nach Pisidien zu«. Es war eine griechische Gründung und geriet zur Zeit des Augustus unter römische Herrschaft. In Pisidien hatte er Veteranen angesiedelt, die eine römische Kolonie bilden sollten, sozusagen das Kernholz dieser seltsamen Mischung von Griechen, Nomaden, Ureinwohnern und Juden, aus denen sich die Be-völkerung in der Hauptsache zusammensetzte. Antiochien war eine Frontstadt. Von hier aus unternahmen römische Reitertruppen immer wieder Attacken gegen die Banditen, von hier aus wurden systematisch Patrouillen eingesetzt, die die Bergpässe zu schützen hatten. Antiochien war mit weiteren Militärstützpunkten durch eine große Straße, die Via Sebastu, verbunden. Sie führte westwärts nach Apollonia und ostwärts nach Misthia. Von dort zweigte eine kleinere Straße nach Ikonion ab (diesen Weg nahm später Paulus). Selbst im’ abgelegenen Hochland von Kleinasien waren die Legionäre mit ihren kräftigen Armen, mit ihren Schwer-tern und derben Stiefeln lebendiger Beweis jener Macht, die vom marmornen Palast in Rom ausging, wo der Kaiser Botschaften aus allen Teilen der damals bekannten Welt emp-186
fing. Paulus arbeitete in Antiochien am Aufbau einer noch unbekannten Welt. Er sorgte dafür, daß trotz aller kaiserlichen Macht ein Häuflein von Juden, im Glauben vom größ-
ten Teil ihres eigenen Volkes getrennt, auf eine allseitige Veränderung brannte. Als Besucher der jüdischen Gemeinde, als Gäste, die von vornherein sagten, sie hätten eine besondere Botschaft zu übermitteln, bat man sie, in der Synagoge zu sprechen. Es ist bemerkenswert, daß es in dieser etwas hinterwäldlerischen Provinzstadt eine Reihe von Proselyten oder »Gottesfürchtigen« gab – Hiesige, ehemalige Heiden. Paulus begann seine berühmte Ansprache mit den Worten: »Ihr Männer von Israel und die ihr Gott fürchtet, höret zu!« Und tatsächlich hörte man ihm aufmerksam zu. Nach einem kurzen Abriß der Ursprünge des Judentums, der vielleicht der Nichtjuden wegen eingefügt wurde, traf Paulus die folgenschwere Feststellung, der Messias, den die Propheten verkündet hätten, sei bereits gekommen, aber von den führenden Persönlichkeiten Jerusalems und dem jüdischen Volk abgelehnt worden, und auf ihr Betreiben hin hätten ihn die Römer gekreuzigt. Das war hart für die Juden und hochinteressant für die Nichtjuden – vielleicht ärgerte es sie schon seit langem, daß sie sozusagen als zweitklassige Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft behandelt wurden. Und dann ging Paulus noch einen Schritt weiter. Er behauptete, dieser Messias sei von den Toten auferstanden. Und er sagte: »So sei es nun euch kund, liebe Brüder, daß euch verkündigt wird Vergebung der Sünden durch diesen; und von dem allem, wodurch ihr durch das Gesetz des Mose nicht konntet freigesprochen werden, ist der gerechtfertigt, der an ihn glaubt.« Das war völlig re-187
volutionär. Dieser Prediger meinte, es sei ein neues Gesetz geschaffen worden, das das alte übertreffe und, mehr noch, auch die Nichtjuden in sich einschlösse, denn hatte er sie nicht als »liebe Brüder« angeredet? Es ist ein schlagender Beweis für Paulus’ Wortgewalt und Überzeugungskraft, daß die orthodoxen Juden ihn bis zum Ende anhörten und ihn und Barnabas sogar einluden, am nächsten Sabbat wieder in die Synagoge zu kommen. Sie wollten mehr von diesem Er-löser erfahren.
Juden und Nichtjuden (die letzteren wohl mehr) waren gespannt darauf, die nächste Darlegung dieser Botschaft zu hören, die zu schön schien, um wahr zu sein: alle Menschen konnten durch den bis dahin unbekannten Mann, der von den Toten auferstanden war, gerettet werden! Es ist nicht erstaunlich, daß die Synagoge bei der nächsten Predigt des Paulus überfüllt war. Zum großen Verdruß der Orthodoxen saßen unter den Zuhörern mehr Nichtjuden als Juden. Dergleichen kannte man nicht, dergleichen war in der Tat wider das Gesetz. Proselyten konnten sie verkraften, aber daß regelrechte Heiden in dies heilige Haus kamen, um ketzerische, ja blasphemische Lehren zu hören – das war fast unerträglich.
»Am folgenden Sabbat aber kam zusammen fast die
ganze Stadt, das Wort Gottes zu hören. Da aber die Juden das Volk sahen, wurden sie voll Neid …« Das nimmt nicht wunder, denn der Judaismus war und ist eine exklusive Religion, bei der – was immer man dagegen sagen muß – eine gewisse Betonung auf der Überlegenheit des Volkes Israel liegt. Die Einzigartigkeit des Christentums, zumindest des von Paulus entwickelten Christentums, bestand darin, daß 188
es alle aufnahm: Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Arme und Reiche, Edelleute und Bauern und jedes Volk unter der Sonne. Ohne Paulus wäre es durchaus möglich gewesen, daß Leben und Lehre dieses jüdischen Messias keine Frucht getragen hätten – vielleicht wäre nicht mehr daraus gewachsen als eine winzige, auf Palästina und den Nahen Osten beschränkte jüdische Sekte. Paulus veränderte die Welt.
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»I G …«
Wie lange Paulus und Barnabas in Antiochien blie-
ben, steht nirgendwo verzeichnet. Wahrscheinlich
Wochen und Monate. Es ist nicht auszuschließen, daß Paulus in dieser Zeit eine Weile über krank war. Zweifellos gelang es ihnen, den neuen Glauben zu fördern – den Glauben an den wiederauferstandenen Heiland, der für alle Menschen da war. Paulus zitierte die Worte des Jesaja: »Ich habe dich den Heiden zum Licht gesetzt, daß du das Heil seiest bis an das Ende der Erde.« Eine solche Einstellung zog na-türlich die Nichtjuden an, die ihm lauschten, für die Orthodoxen dagegen war es ein Ärgernis. Lästig auch, daß Paulus aufgrund seiner hervorragenden Ausbildung bei Gamaliel, gepaart mit der ihm eigenen Geistesschärfe und Klugheit, die Juden mit ihren Waffen schlagen, sie mit Zitaten widerlegen und ihre Argumente schnell entkräften konnte.
Die leicht entflammbaren und disputationsfreudigen Juden schätzten das natürlich nicht. Am anziehendsten an Paulus’
froher Botschaft war, daß alle Menschen freundlich aufgenommen wurden, wenn sie glaubten. Der Heiland war den schimpflichsten Verbrechertod gestorben, zusammen mit zwei Schachern gekreuzigt worden, aber er hatte gesagt, er, das Lamm Gottes, werde die Menschen von ihren Gebrechen und Sünden erlösen – und wer bedurfte dessen nicht?
Bis heute ein Versprechen, das man kaum zu fassen vermag.
Ohne die Hürde des Unglaubens zu nehmen, kann sich freilich niemand auf dieses besondere Gebiet begeben, wo Fakten, Wirklichkeit und scheinbare Unwirklichkeit eins wer-190
den. Paulus konnte es. Er überzeugte in seinen Reise- und Leidensjahren Tausende von Zuhörern davon, daß es hinter den Peitschen der Sklavenhändler, hinter dem Wucher der Geldverleiher, hinter den habsüchtigen und sinnlichen Begierden des Menschentiers und hinter der unbedeutenden Existenz auf dieser Erde wirklich und wahrhaftig ein anderes Leben gab. Was immer er darstellte, wie immer seine physische Verfassung gewesen sein mag – Paulus war ein einzigartiges Genie.
Die Botschaft, die Paulus und Barnabas nach Antiochien gebracht hatten, blieb nicht allein auf die Stadt beschränkt, sondern »ward ausgebreitet durch die ganze Gegend«. Antiochien war nicht nur militärischer, sondern auch admini-strativer Mittelpunkt jener Region, die Phrygien hieß und der Westteil der Provinz Galatien war. Man kann nur dar-
über spekulieren, ob Paulus die Bedeutung der Stadt in dieser Hinsicht gekannt hat, bevor er sie als Ziel wählte, zweifellos hatte er aber auf früheren Reisen von Antiochien gehört und war zu dem Schluß gekommen, hier sei eine ideale Operationsbasis für die Ausbreitung des Glaubens. Sein Optimismus war gerechtfertigt. Doch die orthodoxen Juden waren wie üblich nicht gewillt, eine Lehre hinzunehmen, die offenbar einen ketzerischen Nebensproß ihrer Religion darstellte und insofern gegen das Gesetz verstieß, als sie auch Nichtjuden und Heiden als Gläubige akzeptierte. Die römische Verwaltung dagegen scherte sich nicht viel um Glau-bensstreitigkeiten unter den Juden. Zu diesem Zeitpunkt, da die neue Lehre noch nicht weit verbreitet war, muß sie den Römern als eine mehr oder weniger unbedeutende
Spielart des Judentums erschienen sein. Jedem seinen Lieb-191
lingsgott – sollten sie ihre religiösen Auseinandersetzungen doch unter sich abmachen.
Die Juden arbeiteten hart, waren gute Kaufleute und
Händler und im allgemeinen auch anständige Bürger. Nur einen Fehler hatten sie: In alles mußten sie die Religion mit hineinziehen, anstatt sich das für die notwendigen Feste und Feiern aufzuheben. Die Juden konnten auf eigene Faust nichts gegen die beiden Anderen aus ihrem Volk unternehmen, und so blieb ihnen nur eins: sie bei den Römern an-zuschwärzen – als Unruhestifter, die eine revolutionäre Idee verbreiteten, die den Frieden in der Stadt gefährden würde.
Zum Judentum übergetretene »gottesfürchtige angesehe-ne Frauen« brachten ihren römischen Gatten die Aktivitä-
ten von Paulus und Barnabas zu Ohren. Wie in jeder Kolonie war die erste Regung der herrschenden Klasse, das, was den Frieden zu gefährden schien, im Keim zu ersticken; und dies war und ist besonders dann der Fall, wenn die Kolonie aus einem bunten Völkergemisch besteht und die Machthaber einwandfrei in der Minderheit sind.
Paulus und Barnabas wurden nicht nur der Stadt ver-
wiesen, sondern durften auch die gesamte Region nicht mehr betreten. Gut möglich, daß römische Liktoren sie bei dieser Gelegenheit nach erfolgtem öffentlichem Prozeß mit Ruten auspeitschten. Paulus war römischer Bürger – zweifellos hatte er ein Dokument bei sich, das ihn als solchen auswies – und durfte deshalb nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren geschlagen werden. Barnabas genoß diesen Schutz nicht. Getreu dem Gebot, das Christus seinen Jüngern gab: »Und wo man euch nicht aufnimmt noch hören will, aus dem Ort gehet hinaus und schüttelt den Staub von 192
euren Füßen ihnen zum Zeugnis« – zogen die beiden Männer ihre Konsequenzen aus der Behandlung, die sie erfahren hatten. Sie waren lang genug in der Stadt gewesen und hatten genug Menschen von ihrem Glauben überzeugt – schon bestand zu Antiochien in Pisidien eine kleine, aufblühende Gemeinde. Im Herbst des Jahres 47 machten sich die beiden Männer vermutlich auf den Weg. Sie nahmen die römische Straße, die nach Lystra führte. Lystra lag etwa 210 Kilometer weiter südöstlich. Diesmal zogen sie wohl nicht mit einer Karawane mit. Sie waren entehrt, zwei Unerwünschte, trugen von der Sonne ausgeblichene Gewänder, hatten Wan-derstäbe in der Hand und über der Schulter ein Felleisen mit ihren Habseligkeiten, an den Füßen feste Ledersanda-len. Der Verfasser der Apostelgeschichte ist zwar ein durchaus praktischer Mann, aber oft läßt er etwas sehr Wichtiges außer acht: nämlich die ökonomische Seite. Paulus, Barnabas und Johannes Markus hatten sich nach Zypern eingeschifft, einige Wochen dort gelebt, waren nach Perge in Pamphylien gesegelt (wo sie Markus dann verließ), ein gutes Stück landeinwärts nach Antiochien in Pisidien gereist, dort mehrere Monate geblieben, und jetzt waren sie wieder unterwegs. Selbst wenn man annimmt, daß sie ebenso bescheiden lebten, wie es viele Bauern am östlichen Mittelmeer heute noch tun – etwas Geld müssen sie doch gebraucht haben. Gewiß hatte sie ihre Heimatkirche im syrischen Antiochien mit dem ausgestattet, was für die Reise als notwendig erachtet wurde, aber man konnte ja nicht voraussehen, daß die beiden Männer so lange fortbleiben würden. An vielen Orten werden sie bei Sympathisanten umsonst gewohnt haben. Außerdem darf man vermuten, daß die Neubekehrten 193
genug Geld gaben, um ihnen eine halbwegs angenehme Reise von einer Provinzmetropole zur anderen zu ermöglichen.
Ikonion, ihr nächstes wichtigeres Ziel, war die Hauptstadt von Lykaonien, der Zentralregion Kleinasiens. Sicher erreichte die Nachricht von dem, was in Antiochien geschehen war, Ikonion recht schnell, auch wenn sie nicht vor den Reisenden eintraf. Ihr Zielort lag immer noch innerhalb des Gebietes um Antiochien, und daher dürften sie damit gerechnet haben, daß sie Ärger bekommen würden, wenn sie abermals predigten – was man ihnen ebenfalls untersagt hatte. Und sie täuschten sich keineswegs.
Sie wurden ähnlich empfangen wie zuvor – man lud sie ein, in der Synagoge zu sprechen, und man lauschte ihnen voll Interesse. Die Orthodoxen verhielten sich feindselig, die Proselyten und Heiden waren aufmerksam, ja hingerissen.
Und bald war die Lage genauso wie in Antiochien. Die Gesetzestreuen spalteten sich von denen ab, die, ob Juden oder nicht, in diesem neuen Glauben eine Hoffnung sahen, nach der sich die Welt bis dahin vergeblich gesehnt hatte. Wahrscheinlich wohnte Paulus den Winter über in Ikonion. Die Apostel »blieben … daselbst eine lange Zeit …«
Man konnte im Frühling, Sommer und Herbst durchs
kleinasiatische Hochland reisen, wenn aber der Winter kam, wurde es schwierig. Wahrscheinlich fiel der Schlag erst im darauffolgenden Jahr. Vernünftig wäre es gewesen, nur einigen wenigen die revolutionäre Lehre zu predigen und bei jenen jede Entrüstung zu vermeiden, denen sie bestimmt nicht gefiel und die alles tun würden, um das missionarische Werk zu vereiteln. Doch das entsprach Paulus nicht. Und es entsprach Barnabas nicht – wir dürfen nie vergessen, daß 194
dieser tapfere und zuverlässige Gefährte ebensoviel litt wie Paulus und im Gegensatz zu ihm nicht unter dem Schutz des römischen Gesetzes stand. Sie gewannen zahlreiche Neubekehrte, und von ihnen wurden sie gewarnt. Man habe sich gegen sie verschworen und wolle sie steinigen. Die Obrigkeit werde sich vermutlich blind stellen. Man hatte beiden Männern befohlen, die Aufwiegelei in der Region Antiochien zu unterlassen, und sie waren immer noch da. Paulus und Barnabas sahen, daß ihre Lehre schon in der Stadt zu wirken begann – wie Sauerteig gewissermaßen –, und daher beschlossen sie weiterzuziehen. Jetzt sollte es nach Lystra gehen, einer weiteren Stadt in der Kette, die Augustus zusammengeschmiedet hatte, um die Pax Romana, den rö-
mischen Frieden, in Kleinasien aufrechtzuerhalten.
Die Einwohner von Lystra sprachen lykaonischen Dia-
lekt, doch die Verkehrs- und Gebildetensprache dürfte das demotische Griechisch jener Tage gewesen sein. Paulus war von Jugend auf damit vertraut. In der Stadt gab es nur wenige Juden und keine Synagoge. Die einzigen Juden, die den Ort regelmäßig besuchten, waren möglicherweise Kaufleute, die im Herbst nach Lystra kamen, um Getreide für Ikonion und Antiochien zu beschaffen. Paulus und Barnabas wohnten entweder in einer Herberge oder bei Juden, an die sie durch Bekannte empfohlen worden waren. Sie sprachen privat mit den Menschen und benutzten wahrscheinlich au-
ßerdem das Forum, den Marktplatz, dazu, um jene Stadtbe-wohner zu erreichen, die Griechisch verstanden und bereit waren, der außergewöhnlichen Botschaft dieser beiden Reisenden zu lauschen (die offenbar außer reden nichts zu tun hatten). Und wie die Juden reden konnten! Verblüffend, daß 195
sie jemals eine Arbeit zu Ende brachten – und dieses seltsame Paar, so schien’s, sorgte in gar keiner Weise für seinen Lebensunterhalt. Doch im Osten war man vertraut mit in-spirierten Irren, die allen möglichen und unmöglichen Ideen anhingen. Jedenfalls schienen das wenigstens ganze Männer zu sein, keine Leute vom Schlag der Kybele – und Attisprie-ster – obwohl einem der Glaube an einen Gottmenschen, der im Frühling gestorben und nach drei Tagen wiederauferstanden war, nicht ganz unbekannt vorkommen wollte.
Was in Lystra wie der Blitz einschlug, war ein äußerst ungewöhnliches Ereignis. Eines Tages sprach Paulus zu einer vermutlich zumeist skeptischen Menge. Da bemerkte er zufällig, daß unter ihnen ein Mann saß, der als Krüppel zur Welt gekommen war. Vielleicht hatte er schon vorher gesehen, wie dieser Lahme von Freunden oder Verwandten durch die Stadt getragen wurde. Kraft durchströmte Paulus, die gleiche Kraft, die den Zauberer auf Zypern so verwirrt hatte, nur war es diesmal heilende Kraft. Dieser Mann glaubte an ihn, das erkannte er, dieser Mann glaubte an das, was er sagte, und ohne Glauben auf beiden Seiten konnte die Kraft nicht wirken. Paulus sah ihn an, mit demselben festen Blick wie damals bei Elymas, und rief: »Stelle dich aufrecht auf deine Füße!« Die Wirkung war faszinierend: »Und er sprang auf und wandelte.«
Der Lahme war genesen. Die Einwohner von Lystra
waren überwältigt. Sie kannten den Mann von Kindesbeinen an, sie konnten bezeugen, daß er nicht zu gehen vermocht hatte – und nun kam dieser seltsame Reisende, der immer diesen Heiland im Munde führte, und heilte ihn.
Unbegreiflich. Es nimmt nicht wunder, daß ihnen schlag-196
artig eine Sage einfiel (die das einzige war, womit Lystra einen gewissen Anspruch auf Ruhm begründen konnte). Vor langer, langer Zeit, als die Götter die Erde noch öfter besuchten als jetzt, waren Zeus und sein Bote Hermes vom Himmel herabgestiegen und in ihre Gegend gekommen,
um die Menschen auszuforschen. Sie hatten sich als mit-tellose Wanderer verkleidet und wurden alles andere als gastlich aufgenommen. Man lachte sie aus und schmähte sie. Besitzlose und Reiche wiesen ihnen die Schwelle. Doch schließlich gelangten sie zu einer bescheidenen Hütte, in der zwei arme alte Leute wohnten – Philemon und seine Gattin Baucis. Sie erbarmten sich über die Wanderer und bewirteten sie, so gut sie’s konnten – mit einfachem Brot, einem Ei vielleicht und mit herbem Landwein. Bevor die Götter zum Olymp zurückkehrten, verwandelten sie alle Lykaonier, die ihnen die Gastfreundschaft verweigert hatten, in Frösche und jagten sie in einen See. Philemon und Baucis aber wurden reich belohnt. Die Götter machten aus ihrer Hütte einen herrlichen Tempel aus weißem Marmor und Gold. Philemon und Baucis wurden als edle Bäume re-inkarniert, die den Eingang zum Tempel bewachten. Wie alle Zeustempel stand auch dieser unmittelbar vor dem Stadttor. Er war Lystras ganzer Stolz, ein Bau, der in der Zeit der Kolonisierung durch die Griechen entstanden sein muß. Für die Hiesigen – schlichten Gemüts – war er sichtbarer Beweis dafür, daß die Geschichte von Philemon und Baucis stimmte. Sie blickten den hochgewachsenen Barnabas an, der Kraft und Würde ausstrahlte, aber das Reden meist dem faszinierenden kleinen Mann an seiner Seite überließ, und es schien ihnen, als stünden da Zeus, der 197
Göttervater, und Hermes, der Götterbote. Ja! Das war es!
»Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herniedergekommen!« riefen sie. In Frösche wollten sie sich nicht verwandeln lassen, nein, diesmal wollten sie die Versäumnisse der Lykaonier von einst wiedergutmachen und den Göttern alle Ehre erweisen. Die Neuigkeit machte die Runde und kam bald auch dem Oberpriester des Zeustempels zu Ohren. Ochsen wurden herangeschafft, Opfertiere mit vergoldeten und bekränzten Hörnern, und man improvisierte eine Prozession. Flötenspieler schritten voraus, dann folgten der Priester und seine Gehilfen und hinter ihnen die Ochsen und das Volk. Auf nach Lystra, um Zeus und Hermes zu opfern!
Barnabas und Paulus hatten sich in ihre Behausung zu-rückgezogen und ahnten nicht, was ihnen zu Ehren vorbereitet wurde. Doch als die Prozession draußen haltmachte, müssen sie oder ihre Gastgeber plötzlich begriffen haben, was das Ganze bedeutete. Nichts hätte sie mehr entsetzen und betrüben können – das war genau jener abergläubische Unsinn, den sie auszumerzen versuchten. Angewidert von dieser Gotteslästerung zerrissen Paulus und Barnabas ihre Kleider und stürzten aus dem Haus. Hermes rief laut:
»Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen gleichwie ihr und predigen euch das Evangelium, daß ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott, welcher gemacht hat Himmel und Erde und das Meer und alles, was darinnen ist.« Die Menge verstummte vor dieser leidenschaftlichen Rede, schwieg, als Paulus zu sprechen fortfuhr und sagte, Gott habe vormals alle Völker ihren eigenen Weg gehen lassen, aber sich be-198
zeugt und ihnen Regen vom Himmel und fruchtbare Zei-
ten und Nahrung und Glück gegeben.
Der Priester und das Volk, die gekommen waren, um
den Männern, die sie für Götter hielten, die größte Ehre zu erweisen, die sie zu bieten hatten, standen wie vom Donner gerührt. Die Zurückweisung des Opfers war schlimm genug, aber daß sie auch noch angeschrien und ausgeschol-ten wurden, das konnten sie nicht ertragen. Sie hatten ihre Hochachtung bezeigen und opfern wollen, und dann sollte der große, fröhliche Tag mit Essen und Trinken, mit Fleisch und Wein, mit Gesang und Tanz gefeiert werden. Und nun beleidigte sie dieser Mann, von dem sie geglaubt hatten, er sei Hermes. Dabei war er nichts weiter als ein kleiner, bärtiger und kahlköpfiger Jude. Also keine Götter. Und was nun?
Jüdische Getreidehändler aus Ikonion und Antiochien, die sich zufällig unter die Menge gemischt hatten, nutzten flink ihre Chance. Sie sagten allen, diese Männer seien berüchtigte Unruhestifter. Man habe sie schon aus Antiochien und Ikonion vertrieben. Das beste, was die Leute von Lystra tun könnten, sei, sie mit Schimpf und Schande davonzujagen.
Und bald flogen die Steine gegen sie.
Bemerkenswerterweise wird Barnabas von der Apostel-
geschichte im Zusammenhang mit der Steinigung nicht
erwähnt. Vielleicht stieß man ihn verächtlich beiseite, vielleicht richteten sich Enttäuschung, Haß und Wut ausschließlich gegen Paulus. Nun befand er sich, wenn auch aus anderem Grunde, in einer ähnlichen Lage wie damals Stephanus. Später schrieb er im zweiten Korintherbrief: »Ich bin … einmal gesteinigt …« Verwundet und blutend kauerte sich Paulus auf dem Boden zusammen. Steine trafen ihn.
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Haß schlug ihm entgegen. In der Annahme, er sei schon tot, schleiften ihn Leute aus dem Mob aus der Stadt hinaus, um innerhalb der Mauern keinen Toten liegen zu haben. Sie waren einem furchtbaren Irrtum aufgesessen. Zu glauben, daß dieses Häufchen Elend, dieser zerschundene Leichnam ein Gott sei! Vor ihnen, im Tempel aus Marmor und Gold, befand sich der wahre Gott – Zeus, König des Himmels und des Olymps. Ihm kam das Opfer zu, ihm zu Ehren sollte der Wein fließen, ihm zu Ehren sollten die Flöten in der Dämmerung klingen, und die Menschen würden das echte Glück erkennen. Dieser Mann hatte ihnen vorgelogen, sein falscher Gott vermöchte es ihnen zu bringen.
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A
Erstaunlich genug – Paulus lebte noch. Doch die Nar-
ben blieben ihm für immer. Ob man die Hypothe-
sen über Epilepsie oder Malaria verwirft oder nicht – es ist gut möglich, daß seine späteren körperlichen Beschwer-den zu einem Großteil noch von der Steinigung in Lystra herrührten. Barnabas, Freunde und Bekehrte, sammelten sich um den blutüberströmten Paulus, hoben ihn vom Boden auf und brachten ihn in die Stadt zurück. Auf den ersten Blick sieht das gefährlich aus, aber man darf annehmen, daß der Mob sich mittlerweile zerstreut hatte. Sie gingen schnell nach Hause, um keine Schwierigkeiten mit der Obrigkeit zu bekommen, die, ungeachtet dessen, was sie heimlich wünschen mochte, einen Mordversuch nicht einfach übersehen konnte. Man hätte dem schwerverletzten Mann einen Monat oder wenigstens ein paar Tage Ruhe gönnen müssen, aber in Lystra war er nicht mehr sicher. Und schon am nächsten Tag standen Barnabas und Paulus wieder auf der Straße. Man kann vermuten, daß Sympathisanten ihnen einen Esel schenkten oder liehen, denn nach der qual-vollen Steinigung war Paulus natürlich nicht imstande, zu Fuß zu gehen. Sie zogen nach Derbe, einer kleinen Stadt, die wohl mit dem heutigen Daevre Sehri identisch ist. Derbe lag gleich hinter der Grenze der römischen Provinz und gehörte zu einem Gebiet, das König Antiochus von Kommagene regierte, ein Vasall des Kaisers. Derbe war vermutlich nie etwas anderes als eine verschlafene Grenzstadt, aber gerade darum recht gut als Erholungsort für einen Kran-201
ken geeignet. Es dauerte wahrscheinlich sehr lange, bis Paulus von seinen schlimmen Wunden genas. Entweder wohn-te er in einer Herberge – die in manchen Teilen Kleinasiens selbst heute noch reichlich primitiv sind – oder in einem Haus, das einem Freund oder Verwandten von Neubekehrten aus Lystra gehörte. Später schrieb er an die Gemeinden in dieser Gegend, er sei gebrandmarkt worden (wie ein ent-wichener Sklave) zum Zeichen dafür, daß er der Knecht Gottes sei. Beim Kampf um die Gesundheit zeigte er dieselben Qualitäten wie auf allen anderen Gebieten. Weder Schläge noch Steinigung, weder Gefängnis noch Fährnisse, noch Härten konnten ihn davon abhalten, diese Revolution des menschlichen Lebens voranzutreiben. Er predigte den Juden, vor allem aber den Nichtjuden, im römischen Reich, sie alle könnten ein Leben jenseits des zeitlich begrenzten Seins gewinnen, sie alle könnten den Klauen des Todes entrissen werden.
Paulus besaß die Gabe des Verstehens. Er machte sich keine Illusionen über die Schwierigkeit, ein rechtschaffenes Leben zu führen. Ihm war bewußt, daß ein Leben nach den Gesetzen Gottes – jenen Gesetzen, die er während seiner pharisäischen Erziehung gelernt hatte und die nun durch seinen Glauben an den Messias bekräftigt und erhellt wurden – daß ein solches Leben das Allerschwierigste auf Erden ist. Es erforderte eine Disziplin, die weit über das hinausging, was den römischen Soldaten abverlangt wurde, die in entlegenen Gebieten die Grenzen gegen die Parther, die asiatischen Reitervölker oder die wilden teutonischen Stämme verteidigten. Auch andere vor ihm – vor allem Sokrates – hatten begriffen, wie schwer das tugendhafte Leben 202
ist, und Sokrates war ein ebenso ungewöhnlicher Mann wie Paulus, wenn auch auf ganz andere Weise. Platon berichtet uns, daß Sokrates sich während eines rauhen Winters als Soldat im Feld befand. Alle hatten sich wegen der Kälte in dicke Schafspelze gehüllt, er aber trug nichts weiter als seinen Mantel und ging barfuß durch Eis und Schnee. Er war von Natur aus genügsam, konnte aber, wenn er sich danach fühlte, andere unter den Tisch trinken.
Man hätte wohl erwartet, daß Paulus und Barnabas nach der Schneeschmelze im Frühling nach Süden, über die Päs-se des Taurusgebirges nach Taurus und weiter nach Antiochien in Syrien gezogen wären. Weit gefehlt – sie nahmen denselben Weg, den sie gekommen waren: Lystra, wo Paulus gesteinigt worden war, und die anderen Städte, aus denen man sie vertrieben hatte. Sie wollten zusehen, daß das kleine Häuflein von Gläubigen, das sie zurückgelassen hatten, nicht wieder den Irrlehren verfiel, oder sie, falls es schon soweit war, auf den rechten Weg zurückführen. Es kann fast als sicher gelten, daß sie überall, wo sie sich längere Zeit aufhielten, beim Zuverlässigsten von den Konvertiten Dokumente über Leben und Worte des Heilands hinterlegten.
Im Gegensatz zu den Judenchristen waren die Heidenchristen nicht so geübt in der mündlichen Überlieferung – einige konnten vielleicht längere Passagen aus dem Homer auswendig, aber das war auch schon alles. Vielleicht riskier-ten sie den gefährlichen Weg deshalb noch einmal, weil sie wußten, daß die Beamten in den jeweiligen Städten zu Beginn des neuen Jahres (48 n. Chr.) abgelöst wurden. Doch das hatte nicht viel zu sagen. Sie waren immer noch amtlich vermerkt, und die Menschen, die sie haßten, wohnten im-203
mer noch am selben Ort. Der Mut der beiden Männer ist erstaunlich, ja draufgängerisch zu nennen, wären sie nicht davon überzeugt gewesen, daß sie unter göttlichem Schutz standen.
Die Apostelgeschichte vermerkt lakonisch: »(Sie) stärkten die Seelen der Jünger und ermahnten sie, daß sie im Glauben blieben, und daß wir durch viel Trübsal müssen in das Reich Gottes gehen.« Sie sprachen mit denen, die sie für die Verläßlichsten und Bestunterrichteten hielten. Später wurden diese Menschen, gewiß nicht ohne Barnabas’ und Paulus’ Einflußnahme, dem jüdischen Brauch gemäß zu Ältesten oder Presbytern der jeweiligen Gemeinde ernannt.
Als sie ankamen, hatten die beiden Männer in diesen abgelegenen Teil des römischen Reiches eine völlig neue Botschaft gebracht, die Juden wie Heiden betraf. Als sie nach ihrem zweiten Besuch Abschied nahmen, ließen sie festge-gründete Glaubensgemeinschaften zurück, die sich ständig vergrößerten. Es war eine unglaubliche Leistung. Zwei Männer hatten ganz allein, trotz vieler anerkannter Kulte und mancher Feindseligkeiten in einem beträchtlichen Teil des römischen Reiches den Keim zur religiösen Revolution gesät.
Im Frühling verließen sie Pisidien und begaben sich wieder nach Perge. Zweifellos bestärkten sie auch hier die Neubekehrten im Glauben, sorgten dafür, daß das Evangelium recht gepredigt wurde, und ernannten vertrauenswürdige Menschen zu Gemeindeältesten. Es verdient festgehalten zu werden, daß Paulus – wie viele Kirchenheilige – unbeschadet seiner Träume und mystischen Erfahrungen eminent praktisch war und ein großes Organisationstalent besaß. In 204
mancher Hinsicht ähnelte er einem Geschäftsmann. Möglicherweise fanden sie in Perge kein Schiff nach Seleucia, möglicherweise entschlossen sie sich auch dazu, nach Attalia zu gehen, um dort weitere Gläubige zu gewinnen, bevor sie von Kleinasien Abschied nahmen. Das letztere ist wahrscheinlicher. Attalia war eine bedeutende Stadt mit einem großen Handelshafen – von hier aus konnte die frohe Botschaft durch Matrosen, Kaufleute und Reisende weitergetragen werden. Im Sommer des Jahres 48 gingen sie schließ-
lich an Bord eines Schiffes, das nach Syrien fuhr. Zwei Jahre lang waren sie fort gewesen. Es war ihre dritte Seereise, vermutlich eine recht unbequeme, aber das war nichts, verglichen mit den Widrigkeiten des ersten Sommers in Pisidien; den Gefahren, die in den Bergen lauerten, und den Drohun-gen und Gewalttätigkeiten, denen sie in den Städten begegnet waren. Sie hatten auf Zypern und in Kleinasien mindestens 1600 Kilometer zurückgelegt, hauptsächlich zu Fuß.
Selbst für einen modernen Reisenden, der eine Reisebe-schreibung oder einen Dokumentarbericht mit heimbringen will, wäre das eine beachtliche Leistung. Aber selbst wenn er den schwierigsten Weg wählen würde, wäre es nicht mit den Bedingungen zu vergleichen, unter denen Paulus und Barnabas reisen mußten. Auch taten sie es nicht zu ihrer Unterhaltung, sondern um die Welt zu missionieren. Haß und Verachtung der Römer schlugen ihnen entgegen, dazu die noch bösere Feindseligkeit der Juden und die Ignoranz der Heiden.
Es ist zweifelhaft, ob sie je dem bäurischen Niveau der Bevölkerung gerecht wurden. Zu viele Dialekt- und Sprach-probleme stellten sich. Ihre Botschaft mußte ins Griechi-205
sche übersetzt werden: in die Sprache, die Gebildete und Halbgebildete allerorten für Geschäft und Unterhaltung ge-brauchten. Viele von den Juden, die schon seit längerer Zeit in Kleinasien ansässig waren, hatten wahrscheinlich ihre Muttersprache verlernt und das Griechische als Lingua franca übernommen. Paulus und Barnabas kehrten nun übers sommerliche Meer zurück, um denen, die sie entsandt hatten, über ihre Arbeit, ihre Mißerfolge und ihre Erfolge zu berichten. Doch der Erfolg war größer als erwartet – ein Anfang, der Gutes verhieß.
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S S
Abgezehrt, von Entbehrungen gezeichnet, betraten an
einem Sommertag des Jahres 48 zwei Juden in zer-
schlissenen Reisegewändern Antiochien, die Schöne, Antiochien, die »Krone des Ostens«. Die Stadt hatte damals fast eine halbe Million Einwohner – eine ungeheure Zahl für die Antike. Unter so vielen Menschen aus so vielen Völkern und Religionsgemeinschaften wird kaum jemand einen Blick auf diese schäbigen Wanderer geworfen haben, und wer sie trotzdem sah, dachte vielleicht, dies müßten Kaufleute sein, denen irgendein Unternehmen gründlich miß-
glückt war – vielleicht hatten sie Schiffbruch erlitten. Der Kleinere, ein Glatzkopf, wußte anscheinend eine Menge zu sagen, und seinem Äußeren nach zu schließen, mußte er harte Zeiten hinter sich haben.
Nachdem Paulus und Barnabas sich in einem christ-
lichen Haus gewaschen und umgezogen hatten, gingen sie gleich zu einer Gemeindeversammlung. In Windeseile hatte sich die Nachricht von ihrer Rückkehr herumgesprochen.
Fast unglaublich nach der langen Zeit – viele dürften gedacht haben, sie seien nach der Abreise von Zypern irgendwo im wilden Hochland von Kleinasien zugrunde gegangen.
Und jetzt hörten sie die herrliche Nachricht, die wahrlich von Gottes Segen zeugte: Segen für ihr Vorhaben, die beiden Botschafter des Glaubens zu den Heiden und Juden zu schicken, die den auferstandenen Messias noch nicht kannten. Tröstlich auch, daß sie sich jetzt nicht mehr so allein zu fühlen brauchten wie früher. Hunderte von Meilen ent-207
fernt, in Städten von Zypern bis Pamphylien, ja selbst im entlegenen Lykaonien lebten Männer und Frauen, die dasselbe glaubten wie sie! Die Bewegung verbreitete sich immer mehr! Vor allem aber dürfte ihnen die verblüffende Nachricht Mut gemacht haben, daß Sergius Paulus, der Prokonsul von Zypern, Christ geworden war. Wenn ein derart bedeutender Mann, ein Römer obendrein, ihrem Kreis beitrat, dann schien nichts mehr unmöglich.
Alles war nun erzählt – und die Geschichten mach-
ten später in der ganzen Stadt die Runde und warben weitere Neubekehrte. Paulus und Barnabas »blieben aber allda eine nicht geringe Zeit bei den Jüngern«. Wieder wird nicht erwähnt, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritten.
Entweder versah die Gemeinde sie für ihre Dienste mit Essen und Kleidung, oder sie nahmen, der Tradition der jüdischen Rabbiner folgend, ihren alten Beruf wieder auf. Was Barnabas gelernt hat, wissen wir nicht. Er war Levit und stammte aus Zypern. Vielleicht hatte er dort etwas Landbe-sitz oder war Kaufmann beziehungsweise Handwerker wie so viele jüdische Zyprioten. Dem Verfasser der Apostelgeschichte sind solche Fragen unwichtig. Ihm ist es nur darum zu tun, welchen Beitrag diese Männer zum Aufbau der Kirche leisteten. Es kann nicht lange gedauert haben, bis die Nachricht, was in Antiochien geschah und erreicht worden war, nach Jerusalem zur Mutterkirche drang. Man war zwar vor der Abreise von Paulus, Barnabas und Johannes Markus übereingekommen, daß sie Nichtjuden bekehren durften, aber anscheinend hatte so mancher in Jerusalem noch nicht recht begriffen, was das bedeutete: man nahm Männer und Frauen in die Kirche auf, die nicht im Gesetz unter-208
wiesen waren – die Männer hatten sich nicht einmal jenem schlichten Stammesritual, der Beschneidung, unterzogen.
Die orthodoxen Juden waren im allgemeinen ohnehin gegen Paulus und Barnabas eingestellt – das hatten sie auf ihrer Reise am eigenen Leibe erfahren – und wollten die Christen überhaupt nicht gelten lassen, aber es gab auch Juden, die sich für diesen Nebensproß ihres angestammten Glaubens entschieden hatten. Doch duldeten sie keinesfalls, daß auch Nichtjuden, die sich nicht einmal dem Gesetz unterworfen hatten, aufgenommen wurden. Man muß sich wirklich fragen, ob Johannes Markus’ überstürzte Abreise vielleicht erfolgte, weil Paulus und Barnabas bereit waren, Römer, Griechen und Kleinasier zu akzeptieren, die nicht die mindeste Gesetzeskenntnis besaßen. Für viele jüdische Mitglieder der Urkirche stellte das Christentum wohl nur eine gereinigte Form des Judentums dar. Veränderungen nahm es lediglich insofern vor, als es lehrte, daß der Messias bereits gekommen sei und allen gläubigen Juden die Erlösung verheißen habe – aber dieser Messias war der Messias der Juden. Daß die beiden Missionare bei heidnischen Zyprioten und asiatischen Barbaren gewirkt und sie in die Kirche aufgenommen hatten, ohne strikte Treue zum Überlieferten zu fordern, war eine unerfreuliche Enthüllung. Anscheinend behauptete Paulus – einstmals glühender Pharisäer und Christenverfolger – nunmehr, die ganze Welt könne in ihre Kirche kommen; und das nicht nur, ohne jüdisch zu sein, sondern auch ohne die Thora anerkannt zu haben. Das war undenkbar und alles andere als erstrebenswert. Sie glaubten an Jesus als den wahren Messias, aber sie hatten sich nicht vor-gestellt, daß er auch der Messias der Heiden werden könne 209
– es sei denn, die Heiden taten dasselbe wie die Proselyten. Man kann ihre Auffassung leicht verstehen. Ihr Land stand unter römischer Herrschaft, sie zahlten ihre Steuern an Rom, sie waren bereit zu glauben, daß das verheiße-ne Reich nicht von dieser Welt sei, aber schließlich war der Messias als Jude geboren und hatte Israel die Erlösung verkündet. Sollten sie also wirklich ja dazu sagen, daß ihre Unterdrücker in das Reich Gottes kommen könnten, ohne sich der Zucht des Gesetzes zu beugen, ohne das Kastenzeichen der Beschneidung zu tragen?
All das scheint heute etwas trivial, viel Lärm um einen relativ unbedeutenden operativen Eingriff am Penis, aber damals war es tatsächlich eine Frage von erheblicher Bedeutung.
Das Judentum erkannte unbeschnittene Proselyten nicht an.
Und darum mußten sich auch diejenigen, die jetzt bereit waren, an einen jüdischen Messias zu glauben, erst einmal diesem entscheidenden Gesetz unterwerfen. So unwichtig es auf den ersten Blick auch wirken mag – davon hing sehr viel ab. An diesem Punkt klärte es sich, ob das Christentum eine verbesserte Form des Judentums war oder etwas völlig anderes. Nach dem zu urteilen, was Paulus über seine Predigten in Galatien berichtete, war er sehr viel weitergegangen als erwartet – und gewünscht. Ein Beigeschmack von orienta-lischem Mystizismus, ein Rüchlein von heidnischer Mysterienreligion haftete seiner ausdrücklichen Betonung des Gekreuzigten und des Kreuzes überhaupt an, besonders aber der Behauptung, dem Menschen sei sofort vergeben, wenn er sich zum Glauben an Christus, den Erlöser, bekenne. Man mußte etwas tun. Man mußte genau untersuchen, was den Fremden, weit weg von der Mutterkirche in Jerusalem, über-210
mittelt worden war. Petrus hatte seine Position beim Traum vom leinenen Tuch, das vom Himmel herabgelassen wurde, bereits dargelegt. Außerdem war er ins Haus des Hauptmanns (= Zenturios) Kornelius gekommen und hatte bei dieser Gelegenheit gesagt, obwohl die Juden nicht mit Nichtjuden verkehren und auch nicht mit ihnen zu Tisch sitzen dürften, habe Gott ihm offenbart, kein Mensch solle gemein oder unrein geheißen werden. Petrus suchte Paulus und Barnabas in Antiochien auf. Er machte kein Geheimnis aus seiner Überzeugung. In dieser Stadt, der einzigen im Osten, wo Heiden- und Judenchristen gleichgestellt waren, gesellte er sich wie die anderen zu ehemaligen Heiden. Dann trafen Christen aus Jerusalem ein, frühere Pharisäer. Sie waren jene Abordnung, die untersuchen sollte, ob auf das, was in Antiochien gepredigt wurde, der Vorwurf der Laxheit oder gar der heidnischen Ketzerei zutraf. In einer solchen Stadt muß-
te jeder rechtgläubige Jude oder Christ – sofern er überhaupt gezwungen war, sein Brot hier zu verdienen – sich eng an seinen kleinen Kreis von Gleichgesinnten halten. Dann fanden sie heraus, daß die Heidenchristen tatsächlich nicht beschnitten worden waren. Genauso schlimm – die Judenchristen speisten und tranken zusammen mit diesen ehemaligen Heiden! Vielleicht aßen sie gar »das Andere«? Petrus bekam ihre Argumente in aller Härte zu spüren und ließ vom gesellschaftlichen Umgang mit unbeschnittenen Konvertiten ab.
Das hinterließ bei Barnabas und vielen anderen Judenchristen einen nachhaltigen Eindruck.* Paulus sah, wohin das
* Sie taten es ihm nach. Die Vorgänge in Antiochien werden beschrieben in Gal.
2,11-14. (A. d. Ü.)
211
führen würde – zur Spaltung der Kirche. Wenn man nicht rasch handelte, gab es bald zwei Zweige des Christentums, einen jüdischen und einen nichtjüdischen. Wollte man das in Jerusalem? Wollte das Jakobus, der Bruder Jesu? Sie hatten sich im Einverständnis die Hände gereicht, bevor er und Barnabas zur ersten Missionsreise aufgebrochen waren. Es war ausgemacht, daß er den Heiden die frohe Botschaft bringen sollte, aber es hatte nie geheißen, zuerst müsse er sozusagen Pseudojuden aus ihnen machen. Die »Prüfungskommission« brauchte er nicht zu berücksichtigen, mit ihren Argumenten wurde er allemal fertig, aber er konnte den Abfall des Petrus nicht außer acht lassen, denn sein Verhalten beeinflußte die anderen natürlich ganz besonders.
Petrus war kein Intellektueller, vermochte auch nicht zu erkennen, daß die gegenwärtige Auseinandersetzung die junge Kirche zerstören konnte. Er war ein großer und gü-
tiger Mann von ergreifender Schlichtheit – deswegen hatte ihn Christus berufen. Paulus fegte die Argumente der Prüfungskommission vom Tisch. Mit Petrus’ Verhalten be-faßte er sich kurz und scharf, vielleicht vor einer Gemeindeversammlung. Er sagte: »Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du denn die Heiden, jüdisch zu leben?« Darauf konnte Petrus nichts erwidern, wenn er an sein Betragen und seine wirkliche Überzeugung dachte. Er beugte sich Paulus’ logischer Be-weisführung und äußerte auch danach niemals irgendwelchen Groll über diesen Vorfall, der fast einer öffentlichen Demütigung gleichkam. Seine menschliche Größe ließ ihn keinen Haß empfinden, und er konnte stets das Rechte anerkennen, auch wenn er es selbst nicht immer zu tun ver-212
mochte. Außerdem sah er jetzt Paulus’ mißliche Lage. In Antiochien war die Angelegenheit zwar so gut wie geregelt, Paulus hatte die Kirche vor der Spaltung bewahrt, aber noch mußte Jerusalem einwilligen. Jakobus der Gerechte, jene geheimnisvolle Gestalt, die machtvoll, aber schattenhaft, hinter der Geschichte der Urkirche steht, sollte sich äußern.
Eine endgültige Entscheidung war vonnöten.
Paulus, Barnabas und eine Reihe namentlich nicht be-
kannter Gemeindemitglieder wurden nach Jerusalem ge-
sandt, um genaue Verhaltensmaßregeln für diese peinliche, aber überaus wichtige Sache zu erfragen. Petrus war ihnen anscheinend schon nach Jerusalem vorausgeeilt. Wahrscheinlich suchte er sofort Jakobus auf. Zwar war Petrus der erste Jünger und auch der wichtigste in allen vier Evangelien (bei Markus wird er 23mal, bei Matthäus 24mal, bei Lukas 27mal und bei Johannes 39mal erwähnt), doch als Haupt der Kirche anerkannte man wohl den Bruder Jesu. Kurz hinter Petrus kam die Abordnung aus Antiochien und versetzte alle Christengemeinden am Wege mit den Geschichten aus Kleinasien in Staunen – Staunen über die Kirchen-gründungen in so entlegenen Orten wie Lystra oder Derbe.
Die Abordnung aus Antiochien wurde in Jerusalem von der Versammlung der Apostel und Ältesten empfangen. Mit
wachsender Aufmerksamkeit lauschte man dem Bericht,
den Paulus und Barnabas über ihre missionarische Tätigkeit in der Fremde abgaben. Gewiß nahm ihre Schilderung von der Ausbreitung des Evangeliums einen Großteil der Zuhö-
rer für sie ein, denn es erhob sich eine Gruppe von pharisä-
ischen Juden – vielleicht dieselben, die in Antiochien gewesen waren – und unterbrach. Sie postulierten: »Man muß sie 213
(die Heiden) beschneiden und ihnen gebieten, zu halten das Gesetz des Mose.« Und dann ging alles drunter und drüber, man stritt über diesen und jenen Punkt; die einen wiesen darauf hin, auch Christus habe manches Mal das Gesetz gebrochen, vor allem, was den Sabbat betraf, die anderen ver-neinten es. Paulus hatte sich wohl schon mit Petrus unterhalten, um vorzufühlen, ob von dieser Seite Unterstützung zu erwarten sei. Höchstwahrscheinlich hatte er auch Jakobus bereits um seine Meinung gebeten. Und nun stand mitten in diesem Tumult Petrus auf und sprach: »Ihr Männer, liebe Brüder, ihr wisset, daß Gott mich lange vor dieser Zeit unter euch erwählt hat, daß durch meinen Mund die Heiden das Wort des Evangeliums hörten …« Und dann wies er darauf hin, Gott habe den Juden und den Heiden den heiligen Geist gegeben und keinen Unterschied zwischen ihnen gemacht. »Was versucht ihr denn nun Gott dadurch, daß ihr ein Joch auf der Jünger Hälse legt, welches weder unsre Väter noch wir haben tragen können? Vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn Jesus selig zu werden, gleicherweise wie auch sie.«
Petrus’ Eingreifen hatte die erwünschte Wirkung. Die Versammlung beruhigte sich und ließ Paulus und Barnabas mit ihrem Bericht fortfahren. Es ärgerte Paulus vielleicht, daß Petrus von sich behauptete, er sei der allererste Heidenmissionar, denn bei dem Gespräch mit Jakobus vor der Abreise nach Zypern war ja vereinbart worden, Paulus solle die Heiden bekehren und Petrus die Juden. Sei dem wie auch immer – Petrus’ kurze, aber eindrucksvolle Rede wirkte. Stundenlang und vermutlich nicht nur auf einer Gemeindeversammlung beschrieben Paulus und Barnabas ihre 214
missionarische Arbeit. Und am Schluß erhob sich niemand zur Gegenrede. Nur Jakobus – klarer Beweis seiner überragenden Stellung in der Kirche – stand auf und bestimmte nun, wie man sich den Nichtjuden gegenüber verhalten sollte. Er zitierte Arnos: »Danach will ich mich wieder zu ihnen wenden und will wieder bauen die Hütte Davids, die zerfal-len ist, und ihre Trümmer will ich wieder bauen und will sie aufrichten, auf daß, was übrig ist von Menschen, nach dem Herrn frage, dazu alle Heiden, über welche mein Name genannt ist, spricht der Herr, der solches kundtut von alters her.« Man konnte weder dem Propheten noch Jakobus widersprechen, der, wie wir wissen, nicht nur der Bruder Jesu war und ihn nach der Auferstehung gesehen hatte, sondern auch ein derart gottgefälliges Leben führte, daß man ihn überall »den Gerechten« nannte. Die Nichtjuden, die in die Kirche aufgenommen wurden, mußten nur einige wenige Gebote des mosaischen Gesetzes befolgen – und die Beschneidung gehörte nicht dazu. Was Eßgewohnheiten und Sexualverhalten betraf, so hatten sie sich ans Gesetz zu halten. Sie durften nicht vom Fleisch essen, das heidnischen Göttern zum Opfer dargebracht wurde. (Eine nie versiegen-de Geldquelle war für die Tempel der Verkauf geschlachteter Tiere, von denen nur ausgewählte Teile vor den lächelnden Gesichtern im Dunkeln verbrannt wurden.) Sie durften kein Blut trinken, denn Blut war nach dem mosaischen Gesetz das Leben selbst. Sie durften keine erwürgten Tiere essen. Das mag seltsam klingen, beruhte aber auf einer durchaus humanen Haltung. Man wollte die Tiere nicht unnötig quälen, indem man sie auf diese Weise umbrachte – Genie-
ßer behaupteten übrigens, das Fleisch gewinne dadurch an 215
Wohlgeschmack. Das letzte Gebot, sich der Unmoral – in biblischer Sprache, der Unzucht – zu enthalten, war deutlich genug. Es hieß, daß sie sich fernhalten sollten von Orten wie dem Hain der Daphne, den Höhen von Paphos, den Hainen der Astaroth, die jahrhundertelang eine Versuchung für die Kinder Israels dargestellt hatten. Weg vom Weihrauch im Laub der Bäume, weg von der Hurerei mit Frauen und Männern, und kein Geld mehr zur Unterstützung der Kulte, Götzenbilder, Tempel und Priester!
Jakobus’ Entscheidung wurde von der Versammlung be-
stätigt. Man setzte einen Brief an die antiochenische Kirche sowie an die syrischen und cilicischen Gemeinden auf, der alle von dieser Grundsatzentscheidung unterrichten sollte.
Es war ein glänzender Sieg für Paulus. Doch darf man nicht vergessen, welch bedeutende Rolle Petrus und Jakobus bei dieser Auseinandersetzung spielten. Ohne sie hätte wohl die Partei der Pharisäer gesiegt. Nachdem Paulus und Barnabas die nötigen Anweisungen und Sanktionen vom Oberhaupt der Kirche und vom Ältestenrat zu Jerusalem entgegenge-nommen hatten, zogen sie wieder nach Antiochien und
übergaben den Brief. Mit ihnen kamen zwei Emissäre aus Jerusalem, die vielleicht dafür sorgen sollten, daß die Anweisungen recht verstanden wurden. Außerdem hatten sie wohl einen Bericht vorzubereiten, der genaue Auskunft darüber erteilte, wie die Dinge in Antiochien und den Nachbarge-meinden standen. Diese beiden Männer waren Judas Barsabas und Silas Silvanus, letzterer römischer Bürger wie Paulus. Eine kluge Wahl – Judas war Jude (vielleicht der Bruder jenes Joseph Barsabas, der sich erfolglos darum beworben hatte, den verwaisten Platz des Judas Ischarioth einzuneh-216
men), Silas war römischer Bürger und konnte somit nicht nur mit den lokalen Obrigkeiten verhandeln, sondern sich auch der speziellen Probleme der griechischen und römischen Konvertiten annehmen. Die Botschaft wurde verlesen. Alle waren erleichtert: sie brauchten sich nicht mit den haarspalterischen Sophistereien des jüdischen Gesetzes zu belasten. Sie waren frei. So empfanden sie es vielleicht. In Wirklichkeit trugen sie eine weit größere Bürde als diejenigen, die sich unter den dunkelgrünen Lorbeerbäumen im Hain vor der Stadt umarmten.
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Die antiochenische Kirche vereinbarte mit Paulus und Barnabas, sie sollten noch einmal die Stätten ihrer ersten Missionsreise besuchen, die Gemeinden festigen und vor allem dafür sorgen, daß es nirgendwo zum Abfall vom Glauben kommen konnte. Wie uns die flammende Kritik
vieler Propheten beweist, neigten die Kinder Israel immer wieder dazu, fremde Götter anzubeten, Unzucht zu treiben, die Ehe zu brechen, übermäßig dem Wein zuzusprechen –
kurz, gegen alle Gebote zu verstoßen. Wenn es schon Juden, die im Gesetz unterwiesen und mit dem Gesetz vertraut waren, kaum vermochten, auf dem schmalen Pfad der Tugend zu bleiben, so kann man sich leicht vorstellen, um wieviel mehr man sich in Antiochien wegen der Nichtjuden sorgte.
Diese Männer und Frauen hatten sich zwar zum Christentum bekehrt, aber sie waren als Heiden geboren, hatten den Götzen geopfert und womöglich alle Arten von Unmoral kennengelernt und ausgeübt. Die neuen Anordnungen der Mutterkirche zu Jerusalem mußten noch aus einem anderen Grunde an die Gläubigen in der Ferne übermittelt werden.
Man munkelte nämlich, es seien bereits einige Leute von der Gruppe der Pharisäer tätig – angeblich versuchten sie zu erzwingen, daß die Heidenchristen sich in allen Punkten dem Gesetz unterwarfen. Was den Juden schon fast unmöglich war, konnte den Heiden auf gar keinen Fall gelingen. Vielleicht wurden sie sogar derartig abgeschreckt, daß sie in ihre frühere Lebensweise zurückfielen und ihren alten Glauben wieder annahmen. Paulus und Barnabas mußten zu ihnen 218
eilen und ihnen von der neuen Grundsatzentscheidung er-zählen. Im Frühling des Jahres 50 sollten sie von Antiochien aus aufbrechen. Doch dann entbrannte ein heftiger Streit zwischen Paulus und Barnabas. Barnabas wollte wieder Johannes Markus mitnehmen. Warum Markus sie in Pam-
phylien verlassen hatte, wissen wir nicht, doch es besteht kein Zweifel daran, daß Paulus das als Verrat, als unverzeih-liches Im-Stich-Lassen wertete. Markus mag gute Gründe gehabt haben, doch bei Paulus verfing das nicht. Möglicherweise mochte Markus Paulus nicht (er war nicht eben der einfachste Charakter), möglicherweise schätzte er die Paulinische Interpretation des Lebens und Wirkens von Jesus nicht. Vielleicht hätte man erwartet, daß Barnabas sich Paulus fügte und Markus entließ, aber er wollte unbedingt seine Heimat Zypern besuchen. Und so trennten sie sich. Barnabas und Markus fuhren nach Zypern, Paulus machte sich mit Silas auf den Weg – durch Syrien und Cilicien nach Lykaonien. Es war ein großer Vorteil, daß auch Silas römischer Bürger war. Wenn sie in Schwierigkeiten mit der Obrigkeit gerieten, konnten sie sich auf ihr Recht berufen und daher mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren rechnen. Der Streit erwies sich als fruchtbar insofern, als nicht nur eine Gruppe im selben Arbeitsfeld tätig wurde. Jetzt gab es zwei Gruppen, und das hieß, daß man noch mehr in die Tiefe wirken konnte. Trotzdem war diese Trennung im Zorn unerfreulich, wenn man bedenkt, wie lange Paulus und Barnabas Reisegefährten gewesen waren und wie viel sie gemeinsam durchgestanden hatten. Paulus mochte mit seiner schroffen Haltung im Recht sein, aber gleichzeitig mangelte es ihm doch ein wenig an jener Liebe, die das Haupt-219
stück seiner Botschaft bildete. Nach dem Besuch der am Weg liegenden syrischen und cilicischen Gemeinden machten Paulus und Silas wahrscheinlich einen Abstecher nach Tarsus. Paulus wollte bestimmt sehen, wie es um die Gläubigen in seiner Heimatstadt stand. Außerdem bot sich Tarsus sowieso an, denn der Weg ins Hochland von Kleinasien führte durch die cilicische Pforte. Sie lag auf dem höchsten Punkt eines Passes, der zu den längsten und schwierigsten der Welt gehörte, und war an manchen Stellen kaum mehr als zehn Meter breit. Viele Armeen hatten sie passiert, viele Männer, die weitaus berühmter waren als die beiden unbekannten Wanderer. Alexander der Große war mit seinem Heer durch die cilicische Pforte zur Eroberung des Ostens ausgezogen. Paulus wollte im Westen Eroberungen machen, wenn auch ganz anderer Art. Selbst wenn es mitten im Frühling war und der Schnee schon schmolz, als sie das wilde Bergland durchquerten, müssen sie durchnäßt gewesen sein und gefroren haben. Die Feuchtigkeit im kalten Schatten der hochaufragenden Felsen kroch durch die Kleider bis unter die Haut. Mit einem Seufzer der Erleichterung werden sie die Hochebene betreten haben, die römische Straße, die in Richtung Westen nach Derbe führte. Sie besuchten die Konvertiten, verlasen die Anweisungen der Jerusalemer Kirche (die gewiß mit Genugtuung aufgenommen wurden) und zogen weiter nach Lystra. Hier, wo er gesteinigt und für tot liegengelassen worden war, fand Paulus eine blü-
hende Gemeinde vor. Silas und er wohnten im Haus einer Witwe. Sie hatte einen Sohn, einen jungen Mann namens Timotheus. Beide waren bei Paulus’ erstem Aufenthalt bekehrt worden.
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Timotheus’ Mutter war Jüdin, sein Vater Grieche. Solche Mischehen dürften im Osten nicht ungewöhnlich gewesen sein, aber Timotheus wurde anscheinend eher als Jude betrachtet. Er wollte nicht nur Christ sein, sondern auch als vollwertiges Mitglied in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden. Paulus richtete es ein, daß er beschnitten wurde. Damit handelte er keineswegs den Satzungen von Jerusalem zuwider. Sie besagten lediglich, daß Heiden nicht beschnitten werden müßten; wenn sie es aber selbst wünschten – um so besser. Timotheus wurde später Paulus’ vertrautester Gefährte und Mitarbeiter. Er wollte sich als würdig erweisen, als eifriger Christ, Paulus und Silas begleiten, mithelfen bei der Gründung neuer Gemeinden und andere besuchen, die in der Zwischenzeit entstanden waren. Paulus zog es ganz offensichtlich nach Ephesus. Die alte ionische Stadt lag an der Küste, ein Stück weit nördlich von der schönen Insel Samos. Sie war ein bedeutender Handelsplatz, was sie der günstigen Lage an der Mündung des Kaystros verdankte. In der Nähe befanden sich zwei weitere Flüsse. Ephesus war der ideale Ort für eine neue Gemeinde, denn es hatte Verbindungen zum gesamten Hinterland und nach Griechenland. Ehrgeizige Zie-le schwebten Paulus vor: Griechenland, dann Italien und schließlich Rom. Jahrelang hatte er sozusagen an der Peri-pherie gelebt, doch die Erfahrungen der ersten Missionsreise ließen in ihm die Überzeugung reifen, daß er imstande sei, die Welt zu verändern. Griechenland war das Zentrum des Geistes, Rom das Zentrum der Macht. Sein ganzes Leben lang erwies sich Paulus als scharfsinniger Mann, der die Welt und ihre Ränke kannte. Er wußte die Macht auf-221
zuspüren – etwas Macht, wenn auch kaum politischer Art, in Jerusalem, etwas Macht im syrischen Antiochien, weniger in Antiochien in Pisidien, noch weniger in seiner Heimatstadt Tarsus und ganz wenig in abgelegenen Orten wie Derbe und Lystra. Doch galt sein Ehrgeiz nicht der eigenen Person (und gewiß nicht materiellen Gütern), sondern ausschließlich seiner Sache – dem Glauben. In allen Entbehrungen, Nöten und körperlichen Schmerzen konnte er sich doch den Erfolg vorstellen. Daran zweifelte er nicht, und mit seiner glühenden Entschlossenheit vermochte er die Unsicherheit der anderen zu zerstreuen. Die meisten Menschen, damals wie heute, wissen nicht, was sie wirklich wollen – ein ungestörtes, ruhiges Leben vielleicht, eine gewisse Sicherheit für sich und die Ihren, einen friedlichen Tod
– aber nicht viel mehr. Die großen Träumer sind völlig anders. Seltsam, daß bestimmte Charaktere sogar Ähnlichkeiten in der Erscheinung aufweisen: »Sein Äußeres zeichnete sich durch Schlichtheit und Kraft aus. Er war nicht ganz mittelgroß, und er hatte die plebejischen Gesichtszü-
ge des slawischen Typus, überstrahlt von durchdringenden Augen; seine mächtige Stirn und sein noch mächtigerer Schädel gaben ihm eine ausgeprägte Individualität. Bei der Arbeit war er unermüdlich in einem Maße, das jeden Vergleich übersteigt. Ob Vorträge vor einem kleinen Arbeiter-verein in Zürich oder der Aufbau des ersten sozialistischen Staates der Welt – an alles wandte er dasselbe exemplari-sche Bewußtsein … Die Einfachheit seiner täglichen Gewohnheiten rührte daher, daß seine geistige Arbeit und der angespannte Kampf nicht nur seine Interessen und Gefüh-le ganz in Anspruch nahmen, sondern ihm auch tiefe Be-222
friedigung verschafften. Seine Gedanken ließen nie von der einen Aufgabe ab: die Arbeiter zu befreien.«
Diese Beschreibung Lenins stammt von seinem gro-
ßen Landsmann Trotzki. Setzt man für »Zürich« »Derbe«
ein und für »den ersten sozialistischen Staat« »die christliche Kirche«, so ergeben sich beträchtliche Ähnlichkeiten.
Doch es bleibt ein großer Unterschied. Lenin war es darum zu tun, die Arbeiter von den Ketten einer bestimmten Gesellschaftsordnung zu befreien und statt dessen eine Gesellschaft zu schaffen, die er für ungleich besser und effizi-enter hielt. Gewiß wollte Lenin auch die Welt verändern, doch dies, so könnte man sagen, in relativ beschränktem Umfang. Und notwendigerweise hatte er dabei in erster Linie seine Heimat im Sinn – Rußland. Paulus wollte die ganze Welt verändern. Ihm war stets daran gelegen, daß die Anhänger seines Glaubens für die Armen und Kranken sorgten und ihren Mann im Beruf standen. Aber sie sollten nicht nur redlich lebende Arbeiter in einer sozialen Gemeinschaft sein. Er forderte mehr. Sie sollten Mitglieder einer zeitlosen Gemeinschaft werden, einer Gemeinschaft, in der weder Beruf noch Volkszugehörigkeit ins Gewicht fielen, sondern nur Liebe und Mitgefühl für den nächsten.
Paulus hatte niemals den Tod eines anderen zu verantworten – abgesehen von seiner Einwilligung in die Steinigung des Stephanus. Kann man das auch von Lenin behaupten?
Paulus schrieb viel, aber nie war eine Schrift darunter, die Verteidigung des Terrorismus (Trotzki) hieß. Er war bereit, für seinen Glauben zu sterben. Er war nicht bereit, für seinen Glauben zu töten oder andere zum Töten aufzufor-
dern.
223
Und dieser Mann trug sich nun droben im Hochland
von Kleinasien, mitten im Sommer, mit dem Gedanken,
nach Ephesus zu gehen. Wie so oft, trug schließlich sein gesunder Menschenverstand den Sieg davon. Ephesus lag in einem Malariagebiet, und seine Gesundheit, unbeschadet dessen, ob er zuvor schon einmal Malaria gehabt hatte oder nicht, war keineswegs so gut, daß er es hätte wagen können, sich in dieser Jahreszeit im heißen Küstenstrich aufzuhalten.
Es ist bemerkenswert, daß ihnen dies Vorhaben jetzt und bei anderen Gelegenheiten »vom heiligen Geist gewehrt ward«.
Bithynien bot sich an – es lag weiter nördlich, im Osten das Schwarze Meer, im Westen Byzanz und Propontis (Marmarameer). Aber »der Geist Jesu ließ es ihnen nicht zu«.
Sehr folgerichtig, denn abgesehen von Byzanz war das Gebiet primitiv, zwar waldreich und fruchtbar, aber fast ganz ohne bedeutende Städte – also für ihre Zwecke wenig geeignet. Paulus’ Interesse konzentrierte sich auf den Westen, auf Griechenland und Italien. Hier würde seine Botschaft verstanden werden und auf fruchtbaren Boden fallen. Und so reisten sie denn nach Westen, durch Mysien, den nord-westlichen Teil Kleinasiens, und erreichten schließlich den Hafen Alexandrien-Troas.
Diesen Namen trug die Stadt Alexander dem Großen
zu Ehren. Der Nachsatz Troas unterschied sie vom ägyptischen Alexandrien. Sie war nicht nur Alexanders wegen be-rühmt, sondern auch wegen ihrer Lage. Ganz in der Nähe hatte sich das alte Troja befunden. Strabo berichtet, daß Rö-
mer, die ganz Griechenland bereisten, stets auch hierherka-men, um die Schlachtfelder des Trojanischen Krieges zu besuchen – vielleicht rezitierten sie dabei Homer, um sich das 224
Kampfgeschehen lebendig vor Augen zu führen. Unweit lag der Berg Ida, dessen Nordwestflanke praktisch die Küste be-rührte. Paulus hat gewiß von Homer gehört, aber ihn wohl kaum gelesen – all diese ehebrecherischen Götter mit ihren liederlichen Frauen und Geliebten! Verzweifelt oder ver-
ächtlich wird er die Touristen und Fremdenführer betrachtet haben, die aus der Stadt hinauszogen, um einen Tag in Troja oder eine Nacht auf dem heiligen Berg zu verbringen.
Auf dem Gipfel des Ida – hier hatte Zeus gesessen, um das schwankende Schlachtenglück zu beobachten, hier hatte er einmal, von einer goldenen Wolke bedeckt, in Heras Armen gelegen –, auf diesem Gipfel wuchs eine riesige Pinie. Laut Strabo war sie fast siebzig Meter hoch. In ihre Rinde schnitten Römer und Griechen ihre Namen, um an ihre ephemere Gegenwart zu erinnern – nicht anders als es zu allen Zeiten Menschen getan haben, die berühmte Stätten besichtigten.
Nordwestlich von Troas lag Mazedonien, die Heimat Alexanders, die Heimat jenes abgehärteten Bergvolks, das Griechenland, später auch Kleinasien und den Osten erobert hat. Auf den Straßen der Stadt dürfte man viele Mazedonier gesehen haben. Sie waren ganz anders als die Griechen, die Paulus kannte, sprachen einen breiten Dialekt, trugen Hüte mit großen Krempen und schwere Wollkleider und blickten so drein, als würden sie sich in Raufereien – sei’s in Schänken, sei’s am Kai – ausgezeichnet bewähren. Es überrascht nicht sonderlich, daß Paulus eines Nachts ein Gesicht hatte: Ein Mazedonier stand vor ihm und sprach: »Komm her-
über nach Mazedonien und hilf uns!« Mazedonien war der richtige Ausgangspunkt für Griechenland, und von Troas aus konnte man direkt hinübersegeln.
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Es war Hochsommer, und die Etesien wehten, jene Win-
de, die sich fast als einzige im Mittelmeer annähernd mit den Passaten der großen Ozeane vergleichen lassen. Sie sind immer aus Nordwest bis Nord zu erwarten, erreichen Windstärke 6 bis 7 und flauen im allgemeinen gegen Abend ab, manchmal aber wehen sie unvermindert die ganze Nacht über. Versucht ein Schiff, bei einem solch starken Wind luv-wärts zu steuern, so wird es beträchtlich vom Kurs abgetrieben – und die Segelschiffe der Antike waren dem schlecht gewachsen. Der Zielort des Schiffes, das sie nehmen wollten, war Neapolis, ein mazedonischer Hafen, über 160 Kilometer weiter nordwestlich und somit genau in der Richtung gelegen, aus der der Wind wehte. Wahrscheinlich konnten sie ihn nicht direkt ansteuern, was die Strecke auf etwa 240
Kilometer vergrößerte. Und ebenso wahrscheinlich muß-
ten sie in Troas einige Tage warten, bis der Wind abflaute oder sich so weit nach Norden drehte, daß die Fahrt möglich war.
Paulus und seine beiden Gefährten begegneten wohl
während dieser Wartezeit Lukas zum erstenmal. Paulus nannte ihn später den »geliebten Arzt«. Lukas war Grieche und stammte der Überlieferung nach aus Antiochien in Syrien. Selbst wenn das wahr ist, muß die Begegnung rein zu-fällig gewesen sein, denn Paulus hatte ursprünglich nicht die Absicht, nach Troas zu reisen. Vielleicht war Lukas aber auch ein Mazedonier, der in Troas zum christlichen Glauben übertrat und sich der kleinen Gruppe auf ihrer Reise in sein Heimatland anschloß. Jahrhundertelang hat man immer wieder darüber spekuliert, wer der Verfasser der Apostelgeschichte ist. Zweifellos war Lukas Arzt, und da Julius 226
Cäsar allen Ärzten in Rom das römische Bürgerrecht verlie-hen hatte, könnte es Lukas durchaus geerbt haben. Sicher ist er der einzige wirkliche Homme de lettres unter den Evangelisten, ein gelehrter Mann mit prüfendem und forschendem Geist, was vielleicht von seiner Ausbildung als Arzt herrührte. Dr. Bartlet schreibt über Lukas: »Sein Glaube war in der Tat eine religio medici, voll Mitleid für die schwache, leidende Menschheit. Er konnte den Gedanken vom Sieg der göttlichen ›Heilkunst‹ über Leib und Seele des Menschen gut nachfühlen.« Ernest Renan nannte das Lukasevangeli-um »das schönste Buch, das je geschrieben wurde«. Gewiß gehört Lukas zu den bedeutendsten Männern aller Zeiten.
Außerdem war er, ungeachtet seiner Herkunft und seines Hintergrundes, der ideale Gefährte für einen Menschen, der anscheinend so oft krank war. Paulus’ leidenschaftlichem Temperament setzte er einen kühlen, logischen Verstand entgegen, dazu einen gewissen Humor und des gebo-renen Historikers Forderung nach Genauigkeit. Mit Lukas bestand das Grüppchen nun aus vier Leuten – recht wenig, möchte man meinen, um einen Angriff auf den Glauben der gebildeten Griechen und der weniger gebildeten, aber weitaus mächtigeren Römer zu unternehmen.
Schließlich kam der Tag, da der Kapitän des Kauffahrteischiffes fand, der Wind sei jetzt günstig, man könne die Überfahrt nach Neapolis wagen. Man sagte den Reisenden in den Herbergen, sie sollten ihr Bündel schnüren. Wer in der Taverne saß, nahm noch einen letzten Schluck vom tro-janischen Wein. Dann ging es an Bord. Die Matrosen machten die Leinen los. Da der Wind noch von Norden wehte, brauchte die Schaluppe das Schiff nicht aus dem Hafen zu 227
ziehen. Die Rah mit dem Hauptsegel wurde gedreht, bis sie parallel zu Bug und Heck stand, und das Schiff lief in Richtung Nordwesten aus. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß die Invasion Europas begonnen hatte.
*
24
N E
Die Überfahrt wird wohl nicht angenehm gewesen sein
– der Wind pfiff, Gischt sprühte, die Passagiere an
Deck zogen eng ihre Mäntel um sich. Der Kapitän hielt erst auf die kleine Insel Tenedos zu, die man schon beim Aus-laufen im klaren Licht der Ägäis deutlich erkennen konnte. Vor Jahrhunderten hatte die griechische Flotte sich im Windschatten von Tenedos versteckt; die Trojaner dachten, die Feinde seien abgezogen – doch da wurde gerade das riesige hölzerne Pferd langsam in ihre Stadt gerollt …
Der Kapitän hielt sich an die in der Ägäis verbreitete Praxis, hüpfte sozusagen von Insel zu Insel und war bemüht, möglichst immer schon die nächste in Sicht zu haben. Dann erblickten sie vor sich das waldige, hügelige Imbros. Hier gab es zwei natürliche Häfen, in die sich das Schiff flüchten konnte, falls der Nordwind zu stark auffrischte. Aber sie hatten anscheinend Glück, denn in der Apostelgeschichte heißt es: »und geradeswegs kamen wir nach Samothra-ke«. Gut möglich, daß sie hier einen kurzen Zwischenauf-enthalt machten, damit Passagiere von Bord gehen konnten
– jetzt war Hochsommer, und im August fand das Fest der geheimnisvollen samothrakischen Gottheiten, der Kabeiri, statt. Paulus und seine Begleiter müssen, selbst wenn sie es nicht wollten, schon auf dem Schiff Gerede über die Kabeiri gehört haben, das sich noch gesteigert haben dürf-te, als sie sich dem Bergmassiv der Insel näherten, das über 1300 Meter hoch ist und die gesamte nördliche Ägäis beherrscht. Die Kabeiri waren Fruchtbarkeitsgötter und wur-229
den auf Samothrake schon in vorgriechischer Zeit verehrt.
Ihr Name leitet sich vielleicht vom phönizischen Quabirim (die Mächtigen) ab. Der Ritus wurde strikt geheimgehalten.
Zugang hatten nur Eingeweihte. Die Kabeiri waren vor allem den Seeleuten wohlgesinnt. Christen und Juden, die auf dem Schiff mitfuhren, wandten die Augen ab, als die Griechen und anderen Heiden zum Gebet niederknieten und
auf dem Altar, der normalerweise immer am Heck stand, Weihrauch verbrannten. Einige Matrosen trugen wohl far-benprächtige Amulette oder purpurne Schärpen – Zeichen dafür, daß sie Eingeweihte waren und unter dem Schutz der Kabeiri standen, die sie vor Schiffbruch und Tod durch Er-trinken bewahrten. Das Schiff drehte nach Backbord, um-rundete die Nordspitze von Samothrake und passierte die Inselhauptstadt. Dahinter lag in einem tiefen, engen Tal das Heiligtum, wo die Kabeiri lebten, wo der Weihrauch vor ihren Symbolen, steinernen Phalli, aufstieg.
Tags darauf fuhren sie nach Thasos hinüber, der nördlichsten Insel in der Ägäis, berühmt für Marmor, Wein und Nüsse. Die Hänge waren dicht mit Kastanien bewachsen, und drunten bewegten sich leicht und silbern schimmernd die Blätter der Ölbäume. Eine gesegnete, schöne Insel! Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, ob Paulus und seine Gefährten ihr viel Aufmerksamkeit schenkten, denn die Apostelgeschichte handelt nicht von szenischen Schönheiten, aber selbst ein Mann, der von seiner Aufgabe besessen ist, kann wohl nicht an einem hellen Sommertag an Thasos vorbeifahren, ohne daß ihm das Herz höherschlägt.
Bald glitten sie an der mazedonischen Küste vorbei. Die Matrosen trimmten die Segel oder standen bereit, sie zu ref-230
fen, falls Böen von den Hügeln herunterfegen sollten. Schon sahen sie vor sich in der Tiefe einer Bucht den Hafen Neapolis. Im Süden ragte der mächtige Bergkegel des Acte über 2000 Meter hoch in den Himmel auf – eines Tages würde er Athos heißen, und Dutzende von Klöstern würden von dem Glauben künden, der jetzt zum erstenmal diese Küsten erreichte.
Von Neapolis aus führte eine römische Straße zu ihrem Zielort Philippi. Sie stiegen die Paßhöhe des Berges Simbo-lon hinauf, sahen hinter sich Neapolis und das stets bewegte Meer liegen und vor sich die Ebene und Philippi unter der gleißenden Sonne. Philippi ist heute eine tote Stadt, damals aber war es eine wichtige Garnison. Auf dem Gelände der Akropolis stand eine große befestige Kaserne, steinerne Umwallungen umgaben die Stadt, und über der Via Egnatia, die weiter nach Rom führte, wölbte sich ein massiver Triumphbogen. Benannt nach Philipp von Mazedonien, dem Vater Alexanders des Großen, rühmte sich Philippi gern, »die erste Stadt in Mazedonien« zu sein, obwohl ihr diesen Rang Amphipolis, das Zentrum des östlichen Landesteils, streitig machte. Philippi war zu einem Symbol des Imperium Romanum geworden. Bei Philippi, behauptete die Geschichtsschreibung, hatte Augustus über die Mörder von Julius Cä-
sar gesiegt – über Brutus und Cassius. Zwei Schlachten wurden geschlagen. In der ersten fiel Cassius, in der zweiten wurden die restlichen Truppen unter Brutus völlig auf-gerieben. Brutus, den Shakespeare fälschlicherweise als den
»edelsten der Römer« bezeichnete (er war möglicherweise ein Sohn Cäsars, ganz sicher aber ein Verräter), überlebte die zweite Schlacht und wurde von einem Freund gedrängt, 231
die Walstatt eiligst zu verlassen. Und jetzt kam sein Augenblick von Größe. »Fliehen?« sagte er. »Ja, aber dazu müssen uns die Hände dienen, nicht die Füße.« Und damit stürz-te er sich in sein Schwert. Die Legende, würdig ausgedrückt im großen Triumphbogen von Philippi, schrieb Augustus den Sieg zu. So stellte man es zumindest dar, als Augustus über Antonius und Kleopatra triumphiert und die ganze rö-
mische Welt an sich gerissen hatte. In Wirklichkeit war der Sieg über die abtrünnigen Republikaner fast ausschließlich Antonius zu verdanken, der ein glänzender Feldherr war
– im Privatleben allerdings der typische Römer, den Paulus so sehr verabscheute. Trotzdem gebührt ihm der Ruhm, alles andere ist pure Erfindung. Oktavian (den Beinamen Augustus nahm er erst später an) war damals zu krank gewesen, um sich wirklich am Gefecht oder an der Schlach-tenlenkung beteiligen zu können. All das wird Paulus und seinen Gefährten wenig oder nichts bedeutet haben, als sie auf der schönen gepflasterten Straße bergab gingen und den Triumphbogen erblickten, der nichts weiter als eine Lüge verewigte.
Philippi war eine Kolonialstadt, ein kleines Rom in Mazedonien sozusagen, ein lokales Verwaltungs- und Herr-schaftszentrum. Die jüdische Gemeinde war so winzig, daß es nicht einmal eine Synagoge gab, sondern nur einen kleinen Versammlungsplatz außerhalb der Stadtmauern, nahe beim Flüßchen Gangites. Hier trafen am Sabbat Juden und Proselyten zusammen, nahmen die rituellen Handwaschun-gen vor, beteten dann und lauschten einer Lesung aus dem Gesetz und den Propheten. Paulus, Silas, Timotheus und Lukas, die wahrscheinlich in einem Gasthaus wohnten, wie 232
man es in vielen römischen Städten fand – gewöhnlich eine Mischung aus Taverne, Bordell und Herberge –, hatten sich bald nach der jüdischen Gemeinde durchgefragt. Paulus nahm die erste Gelegenheit wahr, die sich bot, um das Evangelium zu verkündigen. Er predigte vom Messias, von der Auferstehung und von der Verheißung, die für alle Menschen unter der Sonne galt, wenn sie nur glaubten.
In Anbetracht dessen, was später in Philippi und an-
derswo geschah, müssen wir uns einmal überlegen, warum die Paulinische Botschaft, die politisch nicht relevanter zu sein schien als der Isis- oder Attiskult, überhaupt mißverstanden werden konnte. Paulus und alle anderen griechisch-sprechenden Christen sagten für »Auferstehung Christi«
Anastasis Christou. Anastasis hatte aber auch die Bedeutung Aufstand. Die Christen waren ständig der Feindseligkeit der orthodoxen Juden ausgesetzt, weil sie behaupteten, der Messias sei bereits gekommen. Unter den Römern mußten sie einiger Mißverständnisse wegen leiden. Aufstand Christi – das ließ an eine messianische Revolte denken, und dergleichen fürchteten die Römer natürlich, ebenso die orthodoxen Juden, die sich mit den Römern arrangiert hatten und unter dem Schutz des römischen Gesetzes lebten.
Die Christen waren demnach also Revolutionäre. Aus der Wendung Christus, der König, schlossen sie außerdem, hier werde ein zweiter Herrscher auf Erden ausgerufen – aber es konnte nur einen geben: den Kaiser in Rom. Dazu kamen weitere Faktoren, die R. H. Barrow in seinem Werk The Romans beschreibt: »Erstens war das Christentum besonders anfällig für Fehlinterpretationen, zweitens schienen die Christen das Menschengeschlecht geradezu zu hassen.
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Sie erwarteten die baldige Wiederkehr Christi – alle außer ihnen würden dann durchs Feuer umkommen; und auf diesen Zusammenbruch des ›Ewigen Rom‹, diese Katastrophe für alle Hoffnungen der Menschheit, schienen sie sich auch noch zu freuen. Im zweiten Jahrhundert und später drückte sich diese geistige Einstellung anders aus: die Christen traten ans Licht der Öffentlichkeit und provozierten Haß, um die Märtyrerkrone zu gewinnen. Die Christen kamen aus den unteren Gesellschaftsschichten, und es sah so aus, als zielte ihre Lehre auf eine soziale Revolution ab.« Als spä-
ter die Kirche, die Paulus mitbegründet hatte, weitverbreitet und wohlorganisiert war, ergaben sich neue Probleme. Die Christen hielten ihre Gebetsversammlungen nicht in der Öffentlichkeit ab wie die Anhänger anderer Götter (ausgenommen bestimmte Mysterienreligionen). Und das brachte sie leicht in den Verdacht, sie hätten merkwürdige unmoralische Praktiken oder seien gar dem Kannibalismus verfallen. Was zum Beispiel sollte sich ein Römer bei den folgenden Worten des Johannes denken, des geistigen Nachfolgers von Paulus? »Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.«
All das lag in weiter Zukunft, aber im Keim waren die Mißverständnisse schon vorhanden. Es gab bereits einen Märtyrer, den von den Juden gesteinigten Stephanus; und Paulus söhnte sich weder mit seinen Gegnern aus, noch paßte er sich Anhängern anderer Religionen an – er ging 234
unbeirrbar seinen Weg. Anfangs ließ sich in der kleinen Gemeinde von Philippi alles gut an. Der erste Mensch auf eu-ropäischem Boden, der zum Christentum übertrat, war eine Frau – Lydia aus Thyatira, einer Stadt in Lydien (Kleinasien). Wie damals üblich, benannte sie sich mit diesem Namen, den sie auch im Geschäft gebrauchte, vermutlich nach ihrem Heimatland. Sie war eine »Purpurkrämerin«, Aus-landsvertreterin der berühmten lydischen Färbemittel, die neben den phönizischen in der Antike sehr begehrt waren.
Lydia hatte sich bereits zum Judentum bekehrt und galt damit als »Gottesfürchtige« – so bezeichnete man die Proselyten –, aber in der Paulinischen Botschaft fand sie etwas, was sie weit mehr ansprach als Jahwe und die strengen Gebote des jüdischen Gesetzes. Das Christentum hat immer ein Element enthalten, das besonders auf Frauen anziehend wirkte, eine Freundlichkeit, ja Zärtlichkeit, die man in anderen Religionen vergeblich sucht.
Lydia war zweifellos eine recht wohlhabende Frau. Sie lud Paulus und seine Freunde ein, bei ihr zu wohnen. Doch vorher ließ sie sich »mit ihrem Hause« im Gangites taufen.
Später half die kleine Kirche von Philippi Paulus mehrmals mit Geld aus, zum Beispiel als er in Rom gefangensaß. Das meiste davon, möchte man annehmen, kam von Lydia und damit indirekt von der lydischen Färbeindustrie. Das ist nicht ohne Ironie, denn Lydien war als Land des Luxus und des Reichtums bekannt. Hier hatte man das Würfelspiel und die Kunst des Münzenschlagens erfunden. Die lydische Musik war berühmt für ihre einschmeichelnden, sinnlichen Weisen. Doch an der Echtheit von Lydias Bekehrung gibt es keinen Zweifel, und Paulus und seine Gefährten, froh dar-235
über, daß sie das Wirtshaus mit seiner schwülen Atmosphä-
re verlassen konnten, nahmen dankbar die Gastfreundschaft der Konvertitin aus Lydien an.
Paulus hatte den Grundstein zu einer Gemeinde in
Philippi gelegt, was in Anbetracht der Tatsache, daß es so wenig Juden gab, die sozusagen das Rückgrat der Gemeinde zu bilden vermochten, keine geringe Leistung war – aber es verlief wie üblich nicht reibungslos. Diesmal waren die Schwierigkeiten recht ungewöhnlicher Art. Eines Tages, als Paulus und die anderen zum Beten an den Fluß gingen, folgte ihnen eine junge Sklavin, die offenbar schon öfter ihren Gesprächen und Predigten gelauscht hatte. Sie war keine gewöhnliche Sklavin, sondern »hatte einen Wahrsagegeist«.
Kartenleger, Medien, Wahrsager – all das gibt es heute noch und war, wie wir bereits gesehen haben, im 1. Jahrhundert durchaus nichts Ungewöhnliches. In Griechenland konnten sie auf eine uralte und hochgeachtete Ahnenreihe zurück-blicken, etwa auf die Priesterinnen von Delphi, die mit ihren Orakeln jahrhundertelang griechische Schicksale beeinfluß-
ten. Im Urtext heißt es, das Mädchen sei von einem python besessen gewesen, wörtlich von einem Geist, doch python stand auch in einem gewissen Zusammenhang mit der riesigen Schlange, die Apollo in Delphi getötet haben soll (daher auch die Bezeichnung »der pythische Gott«). Wie die delphischen Priesterinnen scheint das Mädchen hin und wieder in kataleptische Trancezustände versunken zu sein, während deren sie mit veränderter Stimme vor sich hin phantasierte. Ihre Äußerungen wurden von ihren Herren ausgelegt – sie gehörte sozusagen einem Syndikat. Gewiß kannten die Herren sich in Philippi aus und konnten daher, 236
handle es sich nun um Geschäftsangelegenheiten, Liebes-geschichten oder andere Fragen, die Schreie des Mädchens interpretieren, wie es ihnen am besten behagte, und außerdem ein stattliches Sümmchen einstreichen. Die junge Sklavin besuchte ständig die Zusammenkünfte von Paulus und seinen Freunden, folgte ihnen beharrlich und rief: »Diese Menschen sind Knechte des allerhöchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkündigen.« Natürlich hatte sie gehört, wie Paulus und andere am Fluß zu der kleinen Gemeinde predigten, denn bezeichnenderweise gebrauchte sie eine typisch Paulinische Wendung: »Knecht Gottes« (oder
»Knecht Jesu«). Der Name Jesus dürfte dem Mädchen gar nichts gesagt haben, Theos dagegen, Gott, klang ihr sehr vertraut. Anscheinend wurde sie Paulus durch das ständige Hinterdreinlaufen und Ausschreien dieser Worte so lästig, daß er nach einigen Tagen – wir wissen ja, seine Toleranz-schwelle war sehr niedrig – die Geduld verlor. ( Jeder, dem sich einmal im Osten ein Bettler so beharrlich an die Fer-sen geheftet hat, als wollte er sich nie wieder von ihm trennen, wird diese Reaktion verstehen.) Er drehte sich um und sagte zu ihr (und zu dem Geist:): »Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, daß du von ihr ausfahrest.« Wie bei Bar-Jesus auf Zypern, wie beim Lahmen von Lystra wirkten seine Worte blitzartig: »Und er fuhr aus zu derselben Stunde.« Ganz offensichtlich gibt es bei diesen drei Ereignissen einen Faktor, der konstant bleibt. Bar-Jesus, der Wahrsager, glaubte an Zauberei; der Lahme glaubte an Paulus; und die Sklavin glaubte vielleicht nicht an Paulus, aber sicher an magische Kräfte. Bei allen drei immateriellen Ereignissen ist der Glaube die gemeinsame Verbindung. Man begreift die 237
Betroffenheit der Herren des Mädchens recht gut. Aus ihrer wertvollen Kapitalhilfe war eine gewöhnliche Sklavin geworden, wie es sie zu Millionen gab. Wie jeder, der sich einer profitablen Einkommensquelle beraubt sieht, waren sie aufs höchste erbost. Anscheinend konnten sie nur Hand an Paulus und Silas legen. »(Sie) griffen … Paulus und Silas, zogen sie auf den Markt vor die Obersten und führten sie vor die Stadtrichter …« Die Prätoren saßen auf dem Forum und entschieden über die Rechtsangelegenheiten, die ihnen im Laufe des Tages vorgetragen wurden. Als aber plötzlich ein Haufen Volks daherkam und vor sich zwei Fremde her-stieß und trat, mußten sie den gewohnten Gang der Dinge unterbrechen und sich dieser Sache zuwenden, die offenbar recht dringlich war. Das Sklavenmädchen taucht übrigens nach der obigen Episode nicht mehr auf – und man kann gewiß nicht behaupten, Paulus hätte ihr mit der Aus-treibung des Wahrsagegeistes einen guten Dienst erwiesen. Jetzt war sie kein wichtiger und wohlgenährter Besitz mehr, sondern wahrscheinlich nur noch »Holzhauerin und Wasserträgerin«, Arbeitssklavin also. Paulus und Silas wurden verklagt. Sie seien Fremde, Eindringlinge, Juden, Unruhestifter, sie hätten versucht, die römischen Gesetze umzu-stoßen. Jetzt hätten die beiden Männer auf ihr römisches Bürgerrecht pochen und das ordentliche Gerichtsverfahren fordern müssen, das ihnen voll zustand. Aber die Macht des Pöbels überwog; falls Paulus und Silas überhaupt etwas sagen konnten, gingen ihre Stimmen im Geschrei ihrer Feinde und im Geheul jenes Packs unter, das allem hinterherläuft, solange es ein Spektakel ist, das die Langeweile des Lebens würzt. Vielleicht versuchten die beiden Männer, den 238
Mob zu überbrüllen und ihre römischen Bürgerrechte geltend zu machen, aber selbst wenn die Prätoren ihnen einen fairen Prozeß gegönnt hätten – wenn man den Frieden auf dem Marktplatz wahren wollte, war es das einfachste, sie an Ort und Stelle zu verurteilen und abzustrafen. Die Kleider wurden Paulus und Silas vom Leib gerissen, und die Liktoren gingen ans Werk. Liktoren waren jene Beamte, die den römischen Würdenträgern beigestellt wurden. Sie schritten ihnen voraus, trugen ein Rutenbündel mit einer Axt (für die Todesstrafe) und führten den Urteilsspruch des Gerichts aus.
Ausgepeitscht oder mit Ruten geschlagen werden ist eine qualvolle Erfahrung, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingräbt. Richard Wurmbrand, der über sein Leben in kom-munistischen Gefängnissen schrieb (New York 1968), sagt:
»Die Schläge brannten wie Feuer … Es war, als würde der Rücken auf einem glühendheißen Rost gebraten, gleichzeitig kam es zu einem schweren Schock für das Nervensystem.«
Im grausamen 1. Jahrhundert war die Pein der Körperstrafen gewiß ebenso schlimm, wie es ein anonymer Matrose beschreibt, der Anfang des 19. Jahrhunderts bei der britischen Marine diente: »Man schlägt mit der neunschwänzigen Katze auf den entblößten Rücken … (der) bald aussieht wie verfaulte Leber. Jeder Peitschenhieb reißt die dünnen Krusten von geronnenem Blut wieder auf …« All das muß-
ten Paulus und Silas erleiden, nirgendwo steht verzeichnet, ob sie schrien. Für Paulus war es gewiß eine Buße für seine Schuld an der Ermordung des Stephanus, und beide taten es ihrem Heiland nach und erduldeten Schmerzen für ihren Glauben. Die Standhaftigkeit des Menschen grenzt manch-239
mal ans Unfaßliche, was uns auch Aufzeichnungen aus den Kriegen unseres Jahrhunderts beweisen. Man mag eine noch so materialistische Gesinnung haben – wenn man sich die Mühe macht, gründlich die Geschichte zu studieren, wird man feststellen, daß Männer und Frauen fast unerträgliche Qualen und Entbehrungen um eines Glaubens willen auf sich genommen haben. Das Tier, das nicht aus seinen ein-facheren Reaktionen auf die Umwelt ausbrechen kann, gibt schneller nach und stirbt gewiß nicht für etwas Abstraktes. Wer (wie Dr. Morris in Der nackte Affe) den Menschen mit seinen biologischen Vorfahren gleichsetzt, begeht einen Fehler. Es handelt sich nicht um quantitative, sondern um qualitative Unterschiede. Blutüberströmt und halb bewußtlos wurden Paulus und Silas vom Forum geschleift und ins Gefängnis geworfen.
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E
Paulus und Silas kamen ins »innerste Gefängnis«. Ihre Füße wurden in den Stock gelegt. Die anderen Gefangenen hatten beobachtet, wie man sie vorwärtsstieß –
ganz klar, die Liktoren hatten sie ausgepeitscht! Nun, es gab Schlimmeres. Eine Zeitlang lagen Paulus und Silas und empfanden nichts als Schmerz, spürten nur ihren zer-schundenen Rücken. Sie waren noch zu schwach, um Einspruch zu erheben, auf ihr römisches Bürgerrecht hinzu-weisen und auf das Unrecht, das sie erlitten hatten. Doch nach einer Weile lebten sie wieder auf. Sie wehrten sich, so gut sie es vermochten – aber es war mehr als das. »Um die Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott.
Und es hörten sie die Gefangenen.« Man kann sich vorstellen, was die Gefangenen dazu sagten – ein stadtbekannter Trunkenbold etwa, dem der Schädel brummte und der sie anraunzte, sie sollten gefälligst den Mund halten, denn bei dem Lärm könne kein Mensch schlafen. Und dann geschah es. Philippi lag wie ein großer Teil dieser Gegend in einem Erdbebengebiet, und mindestens drei Monate im Jahr muß man hier jeden Augenblick mit Erdbeben rechnen. In dem solid gebauten Gefängnis wird man die ersten leichten Stö-
ße wohl gar nicht gemerkt haben. Aber die Tiere, Hun-de, Katzen und Vögel vor allem, spürten das herannahende Erdbeben, und drückendes, drohendes Schweigen senkte sich über Philippi herab. Dann das unverkennbare dumpfe Grollen, und die Erdbebenwelle traf die Stadt. Im Abstand von ein bis zwei Sekunden erzitterte der Boden. Die Zel-241
le wankte, das ganze Gefängnis wankte, der Riegel vor der Tür flog auf. Die im äußeren Gefängnis lagen – vermutlich alle an eine Kette gefesselt, die in die Wand eingelassen war
– sahen verdutzt, daß die Schließhaken sich von der gro-
ßen Kette gelöst hatten. Sie waren frei! Die Einlaßtür drehte sich kreischend in den Angeln, Nachtluft strich herein. Der Kerkermeister fuhr aus tiefem Schlaf hoch und sah, daß alle Türen offenstanden. Er kannte die römischen Gesetze –
wenn ihm ein Gefangener entwich, war er des Todes schuldig. Erst vermutete er, es sei zu einem Massenausbruch gekommen. Er wußte nicht, was ihn geweckt hatte. Vielleicht der Lärm, als die Gefangenen die Türen aufbrachen, flohen.
Doch sie waren zu verwirrt und erschreckt, um den Sprung in die Freiheit zu wagen. Flach lagen sie auf dem Boden.
Der Kerkermeister zog sein Schwert und schrie, er werde sich töten. Paulus griff ein. So laut er konnte, rief er: »Tu dir nichts Übles; denn wir sind alle hier!«
Befremdet steckte der Kerkermeister sein Schwert in die Scheide, rief nach einem Sklaven, sagte, er solle ein Licht bringen, eilte ins Gefängnis und »fiel Paulus und Silas zu Füßen«. Erdbeben sind entsetzlich; sie gemahnen daran, daß es Naturgewalten gibt, die der Mensch nicht in der Hand hat – und damals waren sie noch etwas Mysteriöses und Gegenstand des Aberglaubens. Man kannte Poseidon, den Gott des Meeres, auch als »Erderschütterer«. Sein Palast war nicht allzuweit von Mazedonien entfernt, er lag tief drunten im Meer bei Ägä in Euböa. Wenn er ausritt – wie jetzt eben –, schlug er manchmal mit seinem Dreizack gegen Felsen oder ließ zum Beweis seiner Macht die Erde beben. Der Kerkermeister glaubte wohl, die beiden Männer im 242
innersten Gefängnis hätten auf geheimnisvolle Weise mit dem zu tun, was gerade geschehen war. Auch jetzt noch besuchten die Götter, als Sterbliche verkleidet, hin und wieder die Erde, um Tun und Trachten der Menschen zu beobachten. Und das Verhalten der beiden Gefangenen war uner-klärlich. Warum hatten sie sich nicht in die Freiheit geflüchtet, als ihre Tür so zauberisch aufsprang? Er führte sie in den Haupttrakt des Gefängnisses. Mittlerweile hatten seine Sklaven wohl Öllämpchen entzündet und Fackeln neben dem Haupteingang festgesteckt. Die anderen Gefangenen wurden wieder fest verwahrt. Aufgeregtes Stimmengewirr, alles redete über das große Glück, daß das steinerne Dach nicht eingestürzt war und sie zerschmettert hatte.
Die ungewöhnliche Ruhe dieser beiden Männer schien
zu beweisen, daß sie nichts mit anderen Menschen gemein hatten. Der Kerkermeister erfuhr, kurz bevor der Gott vor-beizog und die Mauern bebten, seien sie in Gesang und Gebet vertieft gewesen. Er zitterte noch vor Angst und fragte: »Liebe Herren, was soll ich tun, daß ich gerettet werde?« Daß er zwei zerschundene und zerschlagene Män-
ner in blutbefleckten Gewändern so anredete, zeigt uns die Kraft und Persönlichkeit von Paulus und Silas. Ihre Antwort lautete: »Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!« Jetzt verstand er gar nichts mehr. Er hatte schon von vielen Göttern reden hören, aber von diesem noch nie. In den frühen Morgenstunden sammelten sich er, seine Familie und die zum Hause gehörenden Sklaven um Paulus und Silas, die ihnen das Wichtigste über Leben und Auferstehung des Heilands erzählten und ihnen die Verhei-
ßung predigten, die für alle Menschen galt. Immer noch von 243
Angst vor dem Unbekannten geschüttelt, immer noch verwirrt, lauschten der Kerkermeister und sein Haus der Botschaft vom Menschensohn, der gleichzeitig der eine und einzige Gott war. Es gab keine anderen Götter neben ihm. Als wolle er sich nachträglich entschuldigen, führte er Paulus und Silas zum Gefängnishof, wusch ihnen den zerfleischten Rücken und behandelte ihre Wunden. Sie hatten ihm gesagt, er müsse sich taufen lassen – offenbar ein Reinigungs-bad, wenn er’s recht verstanden hatte, das ihn vom Makel seines alten, falschen Glaubens befreien und ihn zu einem neuen Leben erwecken würde. Mit dieser Vorstellung dürfte der Kerkermeister nicht ganz unvertraut gewesen sein, denn den symbolischen Tod und die Läuterung durch Wasser gab es auch bei anderen östlichen Religionen, vor allem beim Isiskult. (Apuleius beschreibt, wie ein Adept der Isis sich einer Heiligungszeremonie unterzieht. Danach wird für sein Seelenheil gebetet.) Er und seine Familie ließen sich taufen, wahrscheinlich gleich am Brunnen. Zu dieser Stunde werden sie kaum zum Fluß gegangen sein, zumal in Philippi noch der Schock des Erdbebens nachwirkte und Paulus und Silas nach wie vor Gefangene waren. Hier erwies sich wieder ihr Sinn fürs Praktische. Paulus und Silas wurden ins Haus des Neubekehrten eingeladen und bewirtet, wahrscheinlich mit Oliven, Brot, Ziegenkäse und Wein. Als man sie nach dem Blitzurteil ins Gefängnis geworfen hatte, waren sie wohl noch zu schwach, um die magere Gefangenen-kost zu sich zu nehmen. Ihre Wunden waren jetzt versorgt (dem Stand des damals nicht allzu großen medizinischen Wissens entsprechend), sie hatten gegessen und Wein ge-trunken – den Paulus später dem nicht allzu robusten Ti-244
motheus empfahl, »um deines Magens willen« –, und damit schwebten die beiden Apostel nicht mehr in Lebensgefahr.
Ihre Leidenschaft und ihre Überzeugungen machten sie so stark, daß sie unter Bedingungen durchhielten, die bei anderen einen Zusammenbruch und mehrwöchiges Kranken-
lager zur Folge gehabt hätten. Es ist beachtlich, wie zäh die Menschen damals waren. Sie waren, wenn auch unabsichtlich, Produkte einer weitaus spezifischeren Selektion. Heute kann man Kranke und Mißgebildete am Leben erhalten und ihnen somit auch die Fortpflanzung ermöglichen. Im 1. Jahrhundert überstanden nur die Kräftigsten die Kindheit und erreichten die Pubertät. Noch weniger erlebten das Erwachsenenalter. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß die Gefühlshaltung und das technische Geschick, die in der westlichen Welt darauf verwandt werden, Kranke am Leben zu erhalten, zu einem Gutteil von dem Glauben herrühren, den Paulus verkündigte. Wäre er nicht ungeheuer robust gewesen, von Wind und Wetter gegerbt, abgehärtet gegen alle Widrigkeiten und Unbequemlichkeiten, so hätte seine Botschaft Europa kaum erreicht.
Wahrscheinlich führte der Kerkermeister seine Schütz-linge, wenn auch widerwillig, ins Gefängnis zurück und legte sie wieder in den Stock. Was immer sie gesagt haben, wie stark sie ihn überzeugt haben mögen, sie blieben römische Gefangene, und wenn er sie aus dem Gewahrsam entließ, war sein Leben verwirkt. Die Apostelgeschichte berichtet: »Und da es Tag ward, sandten die Stadtrichter die Amtsdiener und sprachen: Laß die Menschen gehen!« Sie hatten wohl erfahren, daß Paulus und Silas römische Bürger waren. Anders ist es kaum zu erklären. Vielleicht hat-245
te sie Lydia von Thyatira davon unterrichtet – sie dürfte es gewußt haben, außerdem gehörte sie zu den bedeutende-ren Bürgern von Philippi. Aber vielleicht stammte die Information auch von dem ungenannten Kerkermeister. Die beiden Männer haben ihm sicher mitgeteilt, daß sie römische Bürger waren. Er muß entsetzt gewesen sein. Sie waren ohne Gerichtsverhandlung geschlagen worden, und er hatte sie obendrein noch ins innerste Gefängnis gebracht und ihre Füße in den Stock gelegt. Es ist kaum anzunehmen, daß dieser Mann aus einem niederen Berufsstand römischer Bürger war. Möglicherweise stammte er aus Mazedonien. Und was half ’s, wenn er sagte, er sei in der Region Philippi geboren? Aber römischer Bürger! Sie gehörten zu der erlauchten Minderheit, die bei der Regierung des Reiches ein Wört-chen mitzureden hatten …
Die Liktoren kamen zum Gefängnis und sagten dem
Kerkermeister, die beiden Juden sollten freigelassen werden.
Er überbrachte den Gefangenen die Nachricht. »Die Stadtrichter haben hergesandt, daß ihr frei sein sollt. Nun ziehet aus und gehet hin mit Frieden!« Welch eine Nacht hatte er hinter sich! Erdbeben, Bekehrung, die Entdeckung, daß die beiden Männer gesellschaftlich weit höher standen als er, und jetzt die frohe Nachricht, daß die Oberen ihren Fehler eingesehen hatten und sie auf freien Fuß setzen ließen.
Aber wenn er dachte, damit sei die ganze Wirrnis beendet, hatte er sich geirrt. Der ältere von den Männern, Paulus aus Tarsus, wollte keineswegs gehen. Er würde das Gefängnis erst dann verlassen, sagte er, wenn die Oberen sich bei ihnen entschuldigt hätten. Paulus und Silas wurden den Liktoren vorgeführt – fast mit Sicherheit denselben, die sie am Tag 246
zuvor geschlagen hatten –, und die Liktoren wiederholten den Befehl der Prätoren. Sie könnten gehen, müßten jedoch die Stadt verlassen. Aber trotz seiner Verletzungen, trotz des überstandenen Erdbebens und einer bewegten Nacht, in der er neue Gläubige für die Kirche von Mazedonien gewonnen hatte, war Paulus nicht willens, sich auf einen so be-quemen Kompromiß einzulassen. Zweifellos zeigten er und Silas jetzt den Liktoren die Dokumente, die sie als römische Bürger auswiesen. Und dann sagte er: »Sie haben uns ohne Recht und Urteil öffentlich geschlagen, die wir doch römische Bürger sind, und in das Gefängnis geworfen, und sollten uns nun heimlich fortschicken? Nicht also; sondern lasset sie selbst kommen und uns hinausführen!« Es gibt wenige Ereignisse, die auf so charakteristische Weise das Feuer und die Leidenschaft dieses Mannes beleuchten, der, wäre er nicht einer der größten religiösen Lehrer der Welt gewesen, gewiß einen ausgezeichneten Staatsmann abgegeben hätte. Die Prätoren der Provinzstadt Philippi saßen wie auf Kohlen – und Paulus wußte das. Was für ein peinlicher Irrtum! Sie hatten zwei römische Bürger öffentlich schlagen lassen! (Das untersagten mindestens drei Gesetze. Eine Körperstrafe durfte öffentlich nur dann vollzogen werden, wenn man den Rechtsweg einhielt – also korrekte Gerichtsverhandlung, formelle Überführung –, und dann konn-
ten die Angeklagten immer noch in die Berufung gehen.) Die Liktoren begaben sich zum Forum zurück. Silas meinte vielleicht zu Paulus, es sei besser, Philippi schweigend zu verlassen und keine weiteren Umstände zu machen. Doch Paulus blieb unerbittlich. Sein Blut war in Wallung geraten
– er drang darauf, daß die Mitglieder der Kirche Gottes Ge-247
setze einhielten, und ebenso drang er darauf, daß die Richter Roms Gesetze einhielten. Was war Philippi denn? Eine Garnisonstadt in der Provinz – und er hatte das volle Bürgerrecht und kam aus Tarsus, einem Ort, den man schon kannte und schätzte, als Philippi noch gar nichts darstellte. Paulus besaß das jüdische Temperament; jenes Temperament, das die Juden bis zum Ende der Belagerung von Jerusalem {70 n. Chr.) aushalten ließ; jenes Temperament, das drei Jahre später die Zeloten von Masada dazu veranlaßte, lieber Selbstmord zu begehen, als ihre Festung dem Feind zu übergeben.
Sein Ultimatum – das Ultimatum eines von Schlägen
gezeichneten Mannes, der im Stadtgefängnis saß – wur-de den Prätoren überbracht. Sie erkannten sofort, in welche Gefahr sie nachlässigerweise geraten waren: die Sache könnte Vorgesetzten zu Ohren kommen, ja bis nach Rom dringen, und das bedeutete wohl den sicheren Ruin. Und sie hatten gedacht, sie würden lediglich zwei jüdische Vaga-bunden bestrafen! Klugerweise entschieden sie sich dafür, zu Kreuze zu kriechen und sich zu entschuldigen. Ärger von oben – das war das Letzte, was sie wollten, ebensowenig wie Unruhe in der Stadt. Je schneller sie diese beiden loswur-den, desto besser, mochte es auch noch so demütigend sein.
Und dann konnte Philippi wieder in die gewohnte provinzielle Schläfrigkeit versinken. Die Offiziere und ihre Frauen würden wieder zusammen tafeln und trinken, alle würden wieder die Rangunterschiede im Dienstgrad und in der gesellschaftlichen Stellung respektieren, alle würden wieder an den bescheidenen internen Wettstreit denken – wer 248
das schönste Atrium, den besten Koch, den reichhaltigsten Weinkeller hatte.
Paulus war der Sieger. Die Stadtrichter kamen ins Ge-fängnis, entschuldigten sich und baten sie, die Stadt zu verlassen, weil sie nicht für ihre Sicherheit garantieren könnten, wenn der Mob sich noch einmal zusammenrottete.
Paulus und Silas erklärten sich einverstanden – nicht ohne eine gewisse Herablassung –, aber zuvor mußten sie Lydia besuchen und zur Gemeinde sprechen. Es möchte scheinen, daß Lukas, der nicht in die Unruhen des Vortages verwik-kelt gewesen war, es vorzog, in Philippi zu bleiben. So konnte er der jungen Kirche als Stütze dienen und außerdem seinen Arztberuf ausüben. Er ist Paulus wohl erst sechs Jahre später wieder begegnet, als dieser abermals Schwierigkeiten mit der Obrigkeit hatte und nach Cäsarea ins Gefängnis überführt wurde. Bevor Silas und Paulus die Stadt verließen, hat er gewiß noch ihre Wunden behandelt und ihnen eine Kräuterheilsalbe mitgegeben. Lydia von Thyatira, Lukas und die anderen Mitglieder der kleinen Gemeinde ver-abschiedeten sie. Paulus, Silas und Timotheus zogen auf der Via Egnatia, die durchs heiße, sumpfige Flachland führte, weiter nach Westen.
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O L
Herbst. Viele Jahrhunderte später schrieb der franzö-
sische Dichter Arthur Rimbaud Worte nieder, die
auch Paulus durch den Sinn gegangen sein könnten, als er mit seinen beiden Gefährten nach Westen zog, auf Amphipolis zu: »Schon Herbst! – Aber warum mich sehnen nach einer ewigen Sonne, wenn ich schon auf die Entdek-kung der göttlichen Klarheit ausgegangen bin – fern von den Menschen, die in den Zeiten sterben. Herbst. Mein Kahn, aufgestiegen in die Regionen des unbeweglichen Ne-bels, wendet den Kiel zum Hafen des Elends, der gewaltigen Stadt mit dem von Feuer und Schlamm befleckten Himmel.« Und weiter: »Manchmal sehe ich am Himmel
einen endlos weiten Strand, bedeckt mit weißen, der Freude hingegebenen Völkern. Ein großes goldenes Schiff über mir läßt seine vielfarbigen Fahnen flattern in den Morgen-winden …«
Die drei Männer wanderten durch Amphipolis, bekannt
auch unter dem Namen »Neun Wege« – eine Stadt, die in einer Schleife des Flusses Strymon lag. Einst hatte sie zu den wichtigsten athenischen Besitzungen in Nordgriechen-land gehört. Im 5. Jahrhundert v. Chr. stritten sich Athen und Sparta um die Stadt. Schließlich fiel sie dem großartigen spartanischen Feldherrn Brasidias zu. Er starb in der Schlacht und wurde in Amphipolis beigesetzt. Ein paar Jahrhunderte später war Amphipolis zur Bedeutungslosig-keit herabgesunken, ein kleiner, völlig provinzieller Ort – so schnell vergeht der Ruhm der Welt.
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»Nachdem sie aber durch Amphipolis und Apollonia ge-
reist waren …« Auch Apollonia am Bolbe-See gelegen, wird in der Apostelgeschichte nicht weiter erwähnt. Ihr Ziel war die volkreiche, aufstrebende Stadt Thessalonich. Der mazedonische Feldherr Kassander hatte sie nach seiner Frau benannt, einer Halbschwester Alexanders des Großen. Frü-
her hieß die Stadt »Warmes Bad« – recht treffend, denn hier gab es heiße Quellen und ein ziemliches Treibhauskli-ma. Thessalonich, heute Saloniki, liegt windgeschützt am Golf gleichen Namens. Im Sommer und im Herbst herrscht meist drückende Hitze. Drüben überm Golf erhebt sich im Südwesten der ehrfurchtgebietende Olymp, mehr als 3000
Meter hoch, sein Gipfel bedeckt von ewigem Schnee. Dort wohnten die Götter. Dort hatten sie ihre Paläste, von dort aus beobachteten sie die Torheiten und Leidenschaften der Menschen. Paulus war 160 Kilometer weit gewandert, als er Thessalonich betrat. Die Stadt hatte einen bedeutenden Hafen, Umschlagplatz für mazedonische Exportgüter und Importe aus anderen Ländern. Außerdem war Thessalonich eine freie Stadt, Sitz des Statthalters von Mazedonien, Mittelpunkt der mazedonischen Produktions- und Handelsbetriebe. Deshalb hatten sich hier viele Juden niedergelassen, und Paulus wußte schon von vornherein, daß er eine Synagoge vorfinden würde. Die Schwierigkeiten, die ihm auch in Thessalonich bevorstanden, dürfte er geahnt haben –
Haß von seiten der orthodoxen Juden und Ärger mit der Obrigkeit, weil seine Botschaft Zwistigkeiten erregte. Nach den Erfahrungen, die sie jüngst in Philippi gemacht hatten, mußten er und seine Gefährten viel Mut aufbringen, um sich wieder in die Höhle des Löwen zu wagen.
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Zuallererst wollte Paulus natürlich in der Synagoge sprechen. Die Ältesten luden ihn höflich für den nächsten Sabbat ein. Wie üblich legte er anhand von Zitaten aus den prophetischen Schriften dar, daß Jesus in jeder Hinsicht dem Bild des Messias entsprach. Und wieder predigte er, was die Orthodoxen erbosen mußte: daß ihr Messias nicht der gro-
ße Kämpfer und König sei, der Israel die Weltherrschaft bringe, sondern daß er bereits gekommen, aber von den Rö-
mern auf Betreiben der Juden ans Kreuz geschlagen worden und von den Toten auferstanden sei. Er werde die ganze Welt erlösen, und in seinem Reich seien die Heiden ebenso willkommen wie die Juden. Wie wir aus den beiden Briefen an die Thessalonicher ersehen können, legte er zu dieser Zeit besonderes Gewicht auf die unmittelbar bevorstehen-de Wiederkehr Christi. Jedermann sollte so leben, als würde morgen schon das Jüngste Gericht hereinbrechen. Das war, wenn man einmal so sagen darf, starker Tobak für die Juden und Proselyten und selbst für die Heiden. Die Nichtjuden und Heiden – unter ihnen etliche Frauen, die in der Stadt eine gewisse Rollen spielten – konnten Paulus’ Lehre natürlich leichter akzeptieren als die Juden. Schließlich war man in Thessalonich vertraut mit auferstandenen Göttern, die Erlösung verhießen. In der ganzen Gegend fanden sich Anhänger des Dionysos- und Orpheuskults.
Die Orpheusverehrung weist zahlreiche mystische Züge auf, die wir genauer betrachten müssen, um zu verstehen, wie wohl ein Heide die Paulinische Lehre vom wiederauferstandenen Christus aufgenommen haben mag. Orpheus
war der sagenhafte Stifter jenes Kultes, der unter der Bezeichnung Orphik bekannt wurde. Es ist sehr wahrschein-252
lich, daß viele Jahrhunderte zuvor eine Reihe von thrakischen Priesterkönigen den Namen Orpheus getragen hatte.
Orpheus war jedenfalls der Sohn eines thrakischen Königs (oder der Sohn Appollos). Seine Mutter war die Muse Kal-liope. Nach seiner Rückkehr von der Fahrt der Argonauten heiratete Orpheus die Nymphe Eurydike, die an einem Schlangenbiß starb. Untröstlich stieg Orpheus mit der Leier, die ihm Apollo geschenkt hatte, in den Hades hinab und bezauberte die Götter der Unterwelt so sehr mit seinem Gesang und Spiel, daß sie Eurydike erlaubten, in die Oberwelt zurückzukehren. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: auf dem Weg dorthin durfte Orpheus sich nicht umdrehen. Aber im letzten Augenblick, kurz bevor sie dem Hades entronnen waren, wandte Orpheus sich doch noch um. Er war ungeduldig, er wollte sehen, ob Eurydike ihm tatsächlich folgte. Und sogleich wurde sie ihm entrissen und mußte ins Schattenreich zurück. Zum zweitenmal hatte Orpheus seine Frau verloren. Sein Schmerz war so groß, daß er alle anderen Frauen mit Kälte und Verachtung behandelte. Schließlich wurde er von thrakischen Bacchantin-nen in Stücke gerissen. Seinen Kopf warfen sie in den He-bros. Er schwamm ins Meer hinaus und trieb in Lesbos an (daher galt Lesbos als frühes Zentrum der Musik). Die anderen Körperteile wurden von den Musen aufgelesen und am Fuße des Olymps bestattet. Dieser Mythos ist geläufig genug, doch war er überdies eng mit dem Kult des Dionysos verbunden, jenes thrakisch-phrygischen Gottes, bei dessen orgiastischen Ritualen die Omophagie, das Verzehren von rohem Fleisch, eine bedeutende Rolle spielte. Dazu Walter Pater in seinem Werk Study of Dionysus: »Und nun sehen 253
wir auch, warum die Tradition des Menschenopfers in Griechenland im Zusammenhang mit dem Dionysoskult fort-
leben konnte, und zwar nicht als etwas Nebensächliches, sondern durchaus als aktuelle Wirklichkeit. Dionys von Ha-likarnassos rechnet dies zu den Schrecken der griechischen Religion. Daß die heiligen Frauen des Dionysos bei mystischen Zeremonien rohes Fleisch aßen und Blut tranken, ist eine oft erwähnte Tatsache. Wie es scheint, erinnert dieser Brauch an ein echtes Opfer, bei dem ein schöner Knabe in Stücke gerissen wurde. Daraus entstand mit der Zeit ein lediglich symbolisches Opfer.«
Zum Wesen der Orphik gehörte also das Opfer, dem
eine Erneuerung des Lebens folgte. Die ursprüngliche Mythe – vielleicht stand ganz am Anfang ein alljährliches Menschenopfer, das die Wiederkehr des Frühlings sichern sollte – wurde allmählich von intellektuellerem, ja spirituellem Gedankengut überlagert. Man sah den Menschen als teils gut und göttlich, teils böse und gottlos an. Wichtigstes Ziel war es, das Böse auszutreiben. Das geschah durch eine Reihe von Reinkarnationen. Schließlich wurde die völlig geläuterte Seele vom »Rad der Geburt« erlöst. Man kannte in der Orphik sehr wohl den Begriff der Sünde. Überdies glaubte man an die Notwendigkeit der Buße, an die Passion und den Tod eines Menschengottes und schließlich an die Unsterblichkeit der vom Übel befreiten, mit dem Göttlichen vereinten Seele. Die Orphik beeinflußte Philosophen wie Platon und Py-thagoras, fand in ganz Griechenland Verbreitung und drang auch nach Italien vor. Das ereignete sich, etwa fünfhundert Jahre bevor Paulus mazedonischen Boden betrat. Die Strenge seiner Religion dürfte die Griechen nicht überrascht ha-254
ben. Selbst die jüdischen Speise- und Hygienevorschriften werden für Menschen, die mit der Orphik vertraut waren, nichts Neues gewesen sein. Denn in der Orphik gab es ähnliche Gebote. Die Gläubigen durften das Fleisch aller möglichen Tiere nicht essen (ausgenommen vielleicht beim mystischen Mahl) und mußten alle Handlungen und Situationen meiden, die man als unrein betrachten konnte – so sollten sie weder der Geburt noch dem Tod eines Menschen bei-wohnen. Die Eingeweihten trugen weiße Kleider und lebten asketisch. Goldene Schrifttäfelchen, die man in Gräbern bei Rom, in Sybaris (Süditalien) und auf Kreta gefunden hat, geben uns weitere Aufschlüsse über den Kult. Sie enthalten Fragmente von Mysteriengesängen und wurden den Toten wohl beigegeben, damit sie unter göttlichem Schutz standen und in die göttliche Welt eingehen konnten. Hier tauchen Wendungen auf wie: »Ich sterbe vor Durst, gib (gebt) mir von den Wassern des Gedächtnisses zu trinken«, »Ich habe die Strafe für die Ungerechtigkeit abgebüßt«, »Aus der Reinheit komme ich« und »Ich bin dem mühseligen, un-glücklichen Kreis des Lebens entflohen«.
Als Belohnung wird dem Gläubigen, der in die orphi-
schen Mysterien eingeweiht ist, ein glücklicher Ausgang ver-sprochen: »Oh, du Seliger und Gesegneter, du hast deine Sterblichkeit abgelegt und du sollst göttlich werden.«
Was Paulus predigte, unterschied sich insofern erheblich von den orphischen Mysterien, als das Christentum kein exklusiver Zirkel war, der zur Erlösung einiger weniger Auserwählter und Eingeweihter diente. Das Christentum nahm alle auf. Selbstverständlich besaß es so manche Ähnlichkeit mit den Mysterienreligionen; in der späteren Entwicklung 255
ergeben sich sogar Parallelen (Geheimhaltung und Rückzug in die Katakomben zur Zeit der Christenverfolgungen). Doch keine Mysterienreligion gebot die Nächstenlie-be. Zwar verhießen sie die Erlösung, aber trotzdem – den letzten beißen die Hunde! Paulus, Silas und Timotheus erhoben sich und sagten, ihr Gott sei leibhaftig auf Erden gewandelt (also keine Sagengestalt wie Attis und Orpheus) und seine Gnade und Liebe schließe alle ein. Das war das Revolutionäre. Die ausdrückliche Betonung dessen, daß jeder angenommen werden konnte, stellte für die Juden einen Affront dar. Wer sich ihren Riten, ihren Sitten und Ge-bräuchen nicht fügte, gehörte auch nicht dazu, nicht einmal als Bürger zweiter Klasse im verheißenen Königreich. Das Ende von Paulus’ Aufenthalt in Thessalonich war abzuse-hen – und unvermeidlich.
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27
A
Kurz bevor Paulus, Silas und Timotheus aus Philip-
pi ausgewiesen wurden, hatte Kaiser Claudius einen
Beschluß gefaßt, der sich als folgenschwer auch für Paulus’ Zukunft erweisen sollte. Er vertrieb die Juden aus Rom.
Warum? Sie waren doch erfolgreich, arbeitsam und betrugen sich für gewöhnlich besser als die anderen Fremden?
Zwar beharrten sie hartnäckig auf ihrem Glauben an ihren ganz besonderen Gott, aber ansonsten waren sie gute Bürger. Den Grund können wir bei Sueton nachlesen: »Die Juden, welche, aufgehetzt von Chrestus, fortwährend Unruhen machten, vertrieb er aus Rom.« Das ist das erste Mal, daß ein lateinischer Autor Chrestus (= Christus) und seine explosive Lehre erwähnt. Paulus wollte gern als erster die frohe Botschaft ins Herz des Römischen Reiches bringen.
Aber irgend jemand war ihm zuvorgekommen.
Wie diese frühe römische Christengemeinde entstand,
ist ein Rätsel. Vielleicht waren aus den großen Handelshäfen des Ostens Christen gekommen – Kaufleute möglicherweise, landflüchtige Bauern oder gar Matrosen; obwohl sich die Juden in der Seefahrt nie besonders hervortaten.
Sei dem, wie ihm wolle, die Christen fielen in Rom unangenehm auf, und obwohl Sueton das nicht ausspricht, darf man vermuten, daß die »Unruhen« durch die Reaktion der orthodoxen Juden ausgelöst wurden. Wie bei Paulus em-pörten sie sich gegen das, was ihnen als falsche Auslegung der Propheten und blasphemische Behauptung erschien.
Immer dasselbe Problem. Wie sollten die Juden, ein stolzes 257
und empfindliches Volk, es hinnehmen, daß ihr Messias bereits gekommen und den Verbrechertod am Kreuz gestorben war? Was ihnen in den Zeiten der Verschleppungen, der Fremdherrschaft, der Okkupation ihres Landes durch die Römer Kraft gab, war der Glaube, daß der Tag anbre-chen werde, da der verheißene Messias sein Volk befreien und alle Feinde vernichten würde. Und das wollten die An-hänger des »Chrestus« untergraben – Leute, die mit Heiden verkehrten, das Gesetz brachen und Unbeschnitte-
ne in ihre Gemeinschaft aufnahmen. Wenn der siegreiche, der heldische Messias derart herabgewürdigt wurde, konnte man sich an nichts mehr halten, dann gab es keine Hoffnung mehr, keinen Grund, sich den Römern, Griechen und anderen Fremden überlegen zu fühlen. Und die Christen behaupteten, die Juden seien keine Elite, nicht das von Gott von jeher auserwählte Volk.
Die Unruhen müssen ernster Natur gewesen sein, denn
Claudius griff nicht einfach grundlos zu solchen Maßnahmen. Anschließend an das weiter oben angeführte Zitat schildert Sueton, wie Claudius die Angehörigen anderer fremder Völker behandelte: »Den Gesandten der Germanen erlaubte er, in der Orchestra (halbrunder Platz vor der Bühne, in römischer Zeit mit Sitzen für angesehene Thea-terbesucher) zu sitzen. Hierzu hatte ihn die naive Äußerung ihres Selbstgefühls vermocht, mit welchem sie, als man ihnen ihre Sitze in den dem gemeinen Volke bestimmten Ab-teilungen des Amphitheaters angewiesen hatte und sie der Parther und Armenier ansichtig wurden, die auf den Se-natsplätzen saßen, stolz erklärten, ihre Tapferkeit und ihr Rang seien um nichts geringer.«
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Er war also kein Fremdenhasser. Fremdenhaß fand man
überhaupt kaum bei den Römern. Trotz ihres Hanges zur Macht tolerierten sie andere Völker und Glaubensbekenntnisse in recht hohem Maße. Egal, welche Götter jemand anbetete, solange er sich römischen Gebräuchen fügte – wozu jetzt auch die Kaiserverehrung gehörte – und solange er na-türlich seine Steuern bezahlte. Die Juden waren im allgemeinen bereit gewesen, dem Cäsar rituellen Tribut zu zol-len. Man konnte sie also in der Hauptstadt dulden. Doch jetzt hatte sich eine Gruppe von ihnen abgespalten, die behauptete, ein König (höher als der Cäsar) sei auf Erden gewandelt, habe verheißen, er werde die bestehende Welt vernichten, Rom und das Reich zerstören und seine Anhänger zum Sieg führen. Schwer zu begreifen für einen Römer und außerdem unerträglich. Anscheinend waren die Juden selbst größtenteils gegen diesen neuen Glauben, und anscheinend führte der Konflikt zwischen der Mehrheit und der seltsamen Minderheit zu Unruhen in der Stadt. Am einfachsten, man vertrieb alle Juden – außer denen vielleicht, die zwei-felsfrei bewiesen hatten, daß sie sich den römischen Gesetzen und Gebräuchen unterwarfen. Schließlich war es äu-
ßerst schwierig, die Juden, die an ihren Jahwe oder Zeus oder jupitergleichen König der Götter glaubten, von jenen Juden zu unterscheiden, die den »Chrestus« anbeteten. Also fort mit ihnen aus Rom!
Daß Claudius die Juden vertrieb, war, wie wir bereits sahen, keineswegs charakteristisch für diesen besonnenen und gelehrten Mann. Selbst Sueton, eins der größten Klatsch-mäuler der Geschichtsschreibung (ein Titel, den man sich nicht leicht verdient), wußte wenig Nachteiliges über ihn zu 259
sagen. Gewiß, er war ein Vielfraß, und seine Frau Messalina machte ihn ständig zum Hahnrei. Doch dieses Mißgeschick ist schon vielen Männern zugestoßen, und Messalina war zudem eine Ausnahme – sie, die sich so gern verklei-dete, ins Bordell ging, dort als gewöhnliche Hure arbeitete und es »ungestillt verließ«. Viele Maßnahmen des Kaisers zeugen von Gutherzigkeit: »Als es vorkam, daß manche Herren ihre kranken und mit schweren Gebrechen behaf-teten Sklaven, um sich der Last ihrer weiteren Behandlung zu entziehen, auf der Insel des Äskulap (Tiberinsel mit einem Tempel des Heilgotts) aussetzten, verordnete er, daß alle, die so ausgesetzt würden, frei sein und im Falle der Genesung nicht wieder ihren Herren zu eigen werden sollten und daß, wenn sich jemand beikommen ließe, seinen Sklaven, statt ihn auszusetzen, lieber zu töten, als Mörder pro-zessiert werden sollte.« »Die Provinzen Achaja und Make-donien, welche Tiberius zu kaiserlichen gemacht hatte, gab er dem Senate zurück. Den Lyciern (kleinasiatisches Bergvolk; im lycischen Hafen Myra brach Paulus zu seiner letzten Reise nach Rom auf ), die fortwährend untereinander in der verderblichsten Weise haderten, nahm er die Freiheit, während er dieselbe den Rhodiern, die über ihre alten Ver-gehungen Reue bezeigten, wiedergab.«
Den Trojanern, den sagenhaften Stammvätern der Rö-
mer, erließ er für alle Zeiten die Steuern. Augustus hatte sich noch damit zufriedengegeben, den römischen Bürgern jegliche Teilnahme an den druidischen Kulten Galliens und Britanniens zu verbieten, Claudius schaffte sie ganz ab. Er verabscheute die grausamen Gepflogenheiten der Druiden.
So mordeten sie beispielsweise Gefangene zum Zwecke der 260
Zukunftsschau und verbrannten, wie uns Julius Cäsar überliefert hat, Menschen bei lebendigem Leibe in geflochtenen Käfigen. All das klingt nicht danach, als habe Claudius die Juden völlig grundlos aus Rom vertrieben.
Betrachten wir sein Regiment noch unter anderen As-
pekten. Das ist wichtig, denn zu seiner Zeit unternahm Paulus die Missionsreisen. Claudius war kein harter Herrscher. Gute Verbindungen und Verkehrswege standen zur Verfügung. Andernfalls hätten Paulus und seine Gefährten nicht so weit und so ungehindert reisen können – und das, obwohl sie in mehreren Städten wegen »schlechten Betragens« bestraft wurden. Sie legten weite Strecken in Gebieten zurück, die nicht einmal heute völlig sicher sind, und dabei wurden sie anscheinend weder überfallen noch beraubt.
Erst im 19. und 20. Jahrhundert waren die Reisemöglichkeiten im Mittelmeerraum wieder so gut wie im x. Jahrhundert. Zwar litt Claudius unglücklicherweise unter schwacher Gesundheit und unausrottbarer Ängstlichkeit (die freilich nicht wundernimmt bei jemand, der unter der Herrschaft von Tiberius und Caligula aufgewachsen ist), aber er zeigte sich in mancher Hinsicht als fähiger und aufgeklärter Kaiser. Er gab vielen Menschen in den Provinzen das römische Bürgerrecht, sorgte für Ruhe an den Ostgrenzen des Reiches, leitete erfolgreich die Eroberung von Britannien in die Wege und verwandte die öffentlichen Mittel sehr vernünftig, etwa zum Bau der Aqua Claudia, eines nach ihm benannten Aquädukts. Zu seiner Zeit wurde Mauretanien (das etwa dem heutigen Algerien entspricht) dem Reich einverleibt. Unbeeindruckt vom Widerstand des Senats führ-te er in Angelegenheiten, die die Provinzen betrafen, jene li-261
berale Politik weiter, mit der Julius Cäsar begonnen hatte.
Doch wandte er nicht nackte Gewalt an, richtete keine Blutbäder an wie Cäsar bei der Eroberung Galliens – vielleicht bedurfte er dessen nicht.
Claudius’ größter Fehler bestand darin, daß er sich immer mehr von talentierten und reichen Freigelassenen ab-hängig machte. Das empörte verständlicherweise die Rö-
mer von vornehmer Geburt, obwohl es fast zu einer solchen Entwicklung kommen mußte, weil der römische Adel erwie-senermaßen unzuverlässig und den Konzepten des Kaisers gegenüber feindlich eingestellt war. Zu der Zeit, da Paulus sich in Thessalonich aufhielt – Claudius hatte nur noch wenige Jahre zu leben –, war der Einfluß von Freigelassenen wie Pallas und Narcissus nahezu ins Unermeßliche gewachsen. Der Kaiser beschäftigte sich lieber mit seinen Studien, mit seinen historischen Werken und seiner Autobiographie. Leider ist nichts davon erhalten, man hätte aus diesen Schriften allerhand Aufschlüsse über die Zeit gewinnen können, in der Paulus lebte und wirkte. Die Freigelassenen (die eine ähnliche Rolle spielten wie später im Osmanischen Reich die Eunuchen) trieben zwar keine Mißwirtschaft, aber ihre Herrschaft verletzte die Menschen, die eigentlich hätten regieren sollen, tief in ihrem Stolz. Die Oberklasse war durch die Bürgerkriege sowie durch Tiberius und Caligula dezimiert worden und klammerte sich zwar nach wie vor an die machtvolle Selbstdarstellung, hielt aber in Wirklichkeit nie die Zügel in der Hand. Auf Claudius’ Aktivsei-te standen der Bau eines Hafens für Rom-Ostia, die Trok-kenlegung des Fuciner Sees und zwei neue Aquädukte. Auf der Debetseite verzeichnete man die immer stärker wer-262
dende Abhängigkeit von seinen Freigelassenen, die Stellung und Macht ausschließlich ihm verdankten, und seine kata-strophalen Mißgriffe bei der Wahl von Frauen, die sein einsames Leben mit ihm teilen sollten. Messalina ist zu Recht in die Geschichte und Literatur als Musterbeispiel einer verdorbenen und sexuell unersättlichen Frau eingegangen.
Claudius ließ sie schließlich hinrichten. Doch bei der nächsten Gattin hatte er auch keine glücklichere Hand. Agrippina war vor der Eheschließung mit Claudius bereits zweimal verheiratet gewesen. Von ihrem ersten Mann hatte sie einen Sohn – den späteren Kaiser Nero. Sie brachte den schwa-chen, auf seine Studien versessenen Claudius dazu, ihren Sohn zum Thronnachfolger zu bestimmen und Britannicus, seinen Sohn aus der Ehe mit Messalina, einfach zu übergehen. Ein Jahr nachdem Nero die Regierung angetreten hatte, ließ er Britannicus vergiften. Obendrein war Agrippina des Claudius Nichte, was etliche Römer gegen ihn auf-brachte, denn sie betrachteten die Beziehung als inzestu-
ös. Es ist zweifelhaft, ob Paulus diese Verwicklungen und die hochkomplexen Machtverhältnisse Roms kannte. Vielleicht wußte er einiges vom Hörensagen. In Korinth, wo er aus Rom vertriebenen Christen begegnete, müßte er eigentlich etwas davon erfahren haben. Und das konnte ihn nur in seinem Willen bestärken, die Welt anders zu ordnen. Trotz seiner Anfangserfolge in Thessalonich – vielleicht hoffte er, hier könne er sich für eine Weile niederlassen und eine griechische Kirche aufbauen – stieß Paulus auf die nun schon vertrauten Schwierigkeiten. Den gesetzestreuen Juden war seine Botschaft zuwider. Manchmal hat man das Gefühl, daß Paulus, obwohl stolz auf seine pharisäische Ausbildung 263
und sein Judentum, das eigene Volk nicht schätzte. Auch rö-
mischer Bürger zu sein bedeutete ihm eine Stütze. Schwierigkeiten bekam er fast ausschließlich mit den Juden. Die Heiden dagegen, auch wenn sie seine Botschaft nicht annahmen, verhielten sich im allgemeinen toleranter als seine eigenen Leute. In Rom hatte man schon entdeckt, was den Umgang mit den Juden so komplizierte: Sie waren das in-toleranteste Volk im ganzen Reich. Man konnte sie dulden, solange sie sich an ihresgleichen hielten, was sie früher auch immer getan hatten. Doch jetzt ergab sich eine völlig neue Lage. Die Anhänger dieses »Chrestus« schienen den Staat zu bedrohen. Crimen maiestatis, Majestätsverbrechen – das war es. Denn einen Gegenkönig auszurufen stellte ein Verbrechen gegen den Kaiser dar. Die orthodoxen Juden verkündeten einen anderen Gott, was man billigen konnte, denn man kannte ja viele Götter, und jedermann hatte das Recht, nach seiner Fasson selig zu werden. Doch die neue Sekte, die nicht nur aus Juden, sondern auch aus Angehö-
rigen anderer Völker bestand, predigte, Christus könne jederzeit wiederkommen, seine Herrschaft aufrichten und ein völlig anderes Reich schaffen. Kein Zweifel, Paulus und fast alle frühen Christen glaubten an die baldige Rückkehr des Messias. Paulus’ Worte, Worte aus dem ersten Thessa-lonicherbrief etwa, mußten die orthodoxen Juden erbosen.
Die Orthodoxen, sagte er, „… haben den Herrn Jesus getö-
tet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind«. Und so kann es nicht überraschen, was bald nach der Ankunft von Paulus und seinen Gefährten in Thessalonich geschah: »Aber die Juden wurden voll Neid und nahmen zu sich etliche 264
Männer aus dem Pöbel, rotteten sich zusammen und richteten einen Aufruhr in der Stadt an …« Sie stürmten das Haus eines Juden, der den griechischen Namen Jason trug.
Die drei »Unruhestifter« wohnten bei ihm. Doch zufälliger-weise oder aufgrund einer Warnung war keiner von den Gesuchten da. Dafür wurden Jason und einige andere Christen vor Gericht geschleift. Die Beschuldigung lautete: »Und diese alle handeln wider des Kaisers Gebote, sagen, ein anderer sei König, nämlich Jesus.«
Und das war nicht einmal falsch. Denn genau das pre-
digte Paulus. Schlichtere Gemüter faßten die Lehre von der baldigen Rückkehr wohl so auf, als käme in Kürze ein gro-
ßer König aus dem Osten, der das Römische Reich zer-
schlug. Anders als ihre Kollegen in Philippi waren die Richter von Thessalonich sehr vorsichtig. (Vielleicht wußten sie bereits, daß Paulus und Silas das römische Bürgerrecht be-saßen.) Wie fast alle Personen von der römischen Verwaltung, mit denen Paulus im Laufe seines Lebens in Konflikt geriet, wollten sie nichts weiter als Ruhe und Frieden. In ihrem Bereich sollte alles seinen gewohnten Gang gehen. Und wer könnte ihnen daraus einen Vorwurf machen? Zu diesem Zweck hatte man sie ja in ihr Amt eingesetzt. Und nun trat dieser jüdische Unruhestifter auf, erzählte wirre Geschichten von einem anderen Juden, der anscheinend gekreuzigt worden war und es überlebt hatte (ausgeschlossen!) und irgendwann in nächster Zeit die Weltherrschaft übernehmen würde. Jason war ein bekannter Mann. Andere angesehene Bürger und Frauen aus gutem Hause teilten seinen wahnwitzigen, aber auch gefährlichen Glauben. Am besten sollten sie alle eine Bürgschaft hinterlegen. Vielleicht 265
bewahrten sie dann endlich Ruhe. Und natürlich mußten die Rädelsführer dieses aufwieglerischen Unsinns die Stadt verlassen, und zwar so schnell wie möglich.
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28
A
Das Städtchen Beröa liegt am Fuße des Olymp, da-
mals wie heute bekannt für sein mildes und angeneh-
mes Sommerwetter – kühle Winde umfächeln die Hänge,
während drunten überm Flachland und dem Küstenstreifen drückende Hitze lastet. Beröa war etwa 30 Kilometer vom Meer entfernt, gehörte zu den ältesten Städten Mazedoniens und hatte, wie so viele Orte, auch jüdische Einwohner.
Jason und die Neubekehrten von Thessalonich dürften Paulus und Silas vorgeschlagen haben, sich nach Beröa zurückzuziehen, wo es friedlich zuging und wo es außerdem eine jüdische Gemeinde gab, die Neuem gegenüber aufgeschlos-sen war. Timotheus blieb anscheinend noch in Thessalonich und folgte erst später nach. Er und Lukas kamen offenbar nicht so oft in Schwierigkeiten wie Paulus und Silas. Allerdings kam Paulus sein ganzes Leben lang in Schwierigkeiten, unabhängig davon, wer bei ihm war. Er suchte die Auseinandersetzung, möchte man sagen, ähnlich wie der Pilot eines Wetterflugzeugs, der einen Wirbelsturm zu erforschen hat.
Barnabas, eine gesetzte Persönlichkeit, versuchte die Zuhö-
rer durch Vernunft oder freundliche Überredungskunst zu gewinnen, Lukas hielt sich zurück und beobachtete aus dem Hintergrund – nicht so Paulus. Wo immer er war, schlugen die Wellen hoch, herrschte Sturm. »Die Brüder aber ließen alsbald bei der Nacht Paulus und Silas nach Beröa ziehen.«
Es war schön dort – kühl strömte ein Bergfluß zu Tal, und die Menschen waren freundlich zu Reisenden aus fremden Ländern und ihnen wohlgesinnt. Ein kleiner Ort. Die Syn-267
agogenältesten lauschten mit Vergnügen und Aufmerksamkeit jenem Fremden, der eine seltsame Botschaft zu verkündigen hatte. Sie waren gastfreundlich und interessiert an Neuigkeiten aus der Außenwelt. Also war der Messias tatsächlich erschienen, und er würde wiederkommen, und alles würde sich von Grund auf ändern. Wahrhaftig eine frohe Botschaft! »Diese aber waren besser als die zu Thessalonich; die nahmen das Wort auf ganz willig … So glaubten nun viele von ihnen, auch nicht wenige von den angesehenen Frauen und Männern unter den Griechen.« Es ist bezeichnend, welchen Anklang Paulus’ Predigt bei den Griechen fand. Er formulierte die Geschichte vom jüdischen Heiland dergestalt, daß Menschen, die mit Dionysos, Demeter und Orpheus vertraut waren, sie annehmen und in das große Gedankengebäude von Wiederauferstehung und Wiedergeburt einordnen konnten. Selbst die Juden scheinen diese Ergänzung zur Geschichte ihres Volkes tolerant aufgenommen zu haben. Beröa war kein Ort der vehementen Leidenschaften, und ob man diesem Wanderprediger pharisäischer Herkunft nun Glauben schenkte oder nicht – jedenfalls gab es keinen Grund, ihn respektlos zu behandeln. Außerdem war er römischer Bürger und damit schon einiger Hochachtung wert. Überdies besaß er eine einwandfreie Bildung: er hatte bei Gamaliel studiert. Paulus wollte gewiß weiter, über die Via Egnatia an die Adria und nach Rom. Gewiß war Beröa eine bezaubernde Provinzstadt, aber ihn zog es zum Mittelpunkt der Macht und der Finsternis. Dort suchten Millionen nach einem Sinn, dort konnte er Millionen mit dem Feuer des Glaubens erfüllen. Er war wieder einmal vom Ziel abgelenkt worden, aber jetzt brannte er erst recht 268
darauf, nach Westen zu gehen. Doch bald wurde es selbst in Beröa zu gefährlich. Natürlich sprach es sich schnell herum, daß in der Stadt zwei Juden weilten, die eine völlig ausgefallene Lehre verkündeten. Ein Mann namens Jeschua oder Jesus habe die Schrift in allen Stücken erfüllt. Er sei der Messias und werde bald wiederkommen. Eine hochbrisan-te Lehre. Sie konnte das Leben aller Juden im Römischen Reich gefährden. Schließlich wußten die jüdischen Gemeinden (einige wenige in Provinzstädten wie Beröa vielleicht ausgenommen), daß Kaiser Claudius vor kurzem die Juden aus Rom vertrieben hatte, weil die Anhänger Christi das rö-
mische Staatswesen bedrohten. Vielleicht schaltete sich sogar der Sanhedrin ein. Er hielt mit starker Hand die Disziplin in den Synagogen aufrecht, und da auf den friedlichen Straßen des Reiches viele Juden reisten, konnte er ohne weiteres mit den Gemeinden außerhalb Judäas in Verbindung bleiben. Die Theorie von der Intervention des Sanhedrin, die oft erörtert wurde und den führenden Männern des Judentums die Schuld gibt, bedarf genauer Prüfung. Denn zu einem gewissen Teil ist das die Ursache für die spätere Ver-dammung der Juden durch die Christen – unlogisch und irrational wie Hitlers Judenverfolgungen, die ideologisch ge-wiß nicht im christlichen Glauben verwurzelt waren. Die Juden wirkten irritierend. Sie sagten, sie seien anders, sie seien das auserwählte Volk, als einzige für ein göttliches Reich bestimmt. Die übrige Menschheit dagegen verbliebe in Finsternis und Unwissenheit. Irritierend auch, daß sie aus irgendeinem Grund klüger, gewitzter zu sein schienen als die meisten anderen Völker. Kein Zweifel, im Geschäft waren die Juden besser als die Phönizier – ebenfalls Semiten 269
–, und sie lebten ruhiger und würdiger als viele andere Nationalitäten. Sie schienen tatsächlich etwas ganz Eigenes zu besitzen, und das machte sie bei ihren Nachbarn nicht eben beliebt. Und nun trat eine weitere, aber wieder völlig andere jüdische Sekte auf, die auch Fremde, Nichtjuden, aufnahm, jedoch behauptete, sie sei etwas ganz Besonderes, »besonderer« noch als die Juden selbst. Als in Thessalonich bekannt wurde, daß Paulus und Silas in Beröa waren, kam es zu einer prompten Reaktion. Es ist immer und in jeder Sozietät einfach gewesen, einen Pöbelhaufen von Taugenichtsen und Tunichtguten zu mobilisieren, denen die Sache selbst ganz gleichgültig ist, wenn nur Geld dabei herausspringt. Wieder gab es Gewalttätigkeiten, Ausschreitungen des Mobs, und wieder mußte Paulus fliehen, um sein Leben zu retten.
Bemerkenswerterweise blieben Silas und Timotheus (der mittlerweile aus Thessalonich nachgekommen war) in Be-röa. Die Obrigkeit hatte es in erster Linie immer auf Paulus abgesehen. Das spricht dafür, daß er der bedeutendste Prediger des Glaubens an »Chrestus« war, und beweist, daß man diesen Glauben für revolutionär hielt.
»Da ließen die Brüder Paulus alsbald ziehen, daß er ginge bis an das Meer« – mehr teilt uns der Verfasser der Apostelgeschichte nicht mit. Er sagt noch, daß Paulus dann in Athen eintraf, und wir dürfen fast mit Sicherheit annehmen, daß er auf dem Seeweg dorthin gelangte. Einige Autoren behaupten, er sei über Land gereist, aber das scheint reichlich unlogisch. Beröa lag etwa 30 Kilometer vom Meer entfernt, und von Methone aus fuhren Schiffe nach allen wichtigen Häfen der Ägäis. (Philipp, der Vater Alexanders des Großen, verlor bei der Belagerung dieser Stadt ein Auge.) 270
Paulus schiffte sich also höchstwahrscheinlich in Methone ein. Es ging an der Küste entlang. Dieser Landstrich gehört zu den schönsten in der ganzen Ägäis. Paulus war geradezu besessen von der Vision einer anderen Welt, aber es steht kaum zu vermuten, daß ihn die herrliche Szenerie unberührt ließ. Seine Briefe weisen ihn als Dichter aus, als einen der größten Dichter der Weltliteratur, und sein Geist besitzt gewisse Züge, die an die seltsame Helligkeit und Klarheit Griechenlands erinnern. Soweit wir wissen, war er jetzt zum ersten Mal allein auf einer Missionsreise. Während jener »fehlenden Jahre« dürfte er allerdings auch oft einsam gewesen sein. Es ist zweifelhaft, ob ihm das viel ausmach-te, denn wirklich einsam konnte man ihn nicht nennen. Das geheimnisvolle Ereignis auf der Straße nach Damaskus hatte sein Leben von Grund auf verändert und ihm ein Be-wußtsein von der Allgegenwart Gottes eingegeben, das ihn nie verließ.
Das Schiff hielt höchstwahrscheinlich Westkurs, um in den Windschatten von Euböa zu kommen, jener langge-streckten, fischförmigen Insel, die die Nordwinde der Ägäis abfängt. Paulus fuhr auf einem Küstenfahrzeug, das Segel und Ruder hatte, denn ein reines Segelschiff konnte die Durchfahrt zwischen Euböa und dem griechischen Festland gar nicht bewältigen. Im Kanal von Euböa dürfte er die gewaltige Strömung gesehen haben, die hier eine Geschwindigkeit von 7 bis 8 Knoten hat. Und er wird die rasenden Wellen bei Chalkis gesehen haben, wo der Abstand zwischen Euböa und Attika nicht mehr als 43 Meter beträgt.
Nichts deutet darauf hin, daß Paulus mit Homer vertraut war, von seinen Mitpassagieren aber darf man es vermuten.
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Sie passierten die Bucht von Aulis. Und vielleicht wurde jetzt darüber gesprochen, daß die griechische Flotte, bevor sie zur Belagerung von Troja auslief, hier auf einen günstigen Wind warten mußte. Hier hatte sich Agamemnons Tochter der Göttin Artemis geopfert, damit die Flotte eine gute Fahrt hatte und unversehrt Troja erreichte. (Wo sie gestorben sein soll, steht jetzt eine kleine Kapelle, die dem heiligen Nikolaus geweiht ist.) Rechter Hand lag Böotien, eine Landschaft, deren Bewohner als ungebildet, bäurisch und stumpfsinnig galten. Diesen Ruf hatten sie nur, weil die Athener die Literatur beherrschten. Die Böotier waren nicht dumm, sie waren schlau und durchtrieben. Hören wir Christopher Wordsworth: »Die Böotier ersannen einen besonders schlauen politischen Schachzug, indem sie sich Euböa ganz alleine vorbehielten … Damit war der athenische Handel draußen, sie hatten selbst den Schlüssel in der Hand.
Diesen Weg nahm das Gold von Thasus, dazu die thessalischen Pferde und das mazedonische Bauholz, von dort aus gelangten sie erst nach Piräus.« Doch das gehörte der Vergangenheit an, lag weit zurück – vor dem Aufstieg Roms, vor der Besetzung Griechenlands durch die römischen Legionen. Paulus lebte in einer Welt jenseits der Zeit. Seine Gedanken kreisten um die große Wende, um den Beginn einer neuen Ära, in der die Zeit stillstand oder nicht mehr ins Gewicht fiel. Alte Sagen dürften ihm wenig oder gar nichts bedeutet haben. Doch Athen, die grandiosen Gebäude auf dem Parthenon, die gewaltige Athene-Statue, an der sich die Seeleute orientierten – all das muß ihn doch beeindruckt haben. Die kleineren Städte, die er kannte – Beröa, Lystra, Tarsus und selbst Antiochien – können ihn nicht auf das 272
Wunder Athen vorbereitet haben, das Denkmal und Mahnmal aller Zeiten, die Heimat der erlauchtesten Geister des Mittelmeers. Selbst jetzt noch, fünfhundert Jahre nach der Hochblüte unter Perikles, schickte jeder Römer, der es sich leisten konnte, seinen Sohn nach Athen, damit ein wirklich kultivierter Mann aus ihm wurde. Sechzig Meter über der Ebene ragte die Akropolis auf, schimmernd in herrlichem Marmor, aus dem athenischer Genius eine der größten architektonischen Leistungen der Welt gebildet hat – Bauten, denen die Römer nacheiferten und denen man noch heute nacheifert. Die Stadt erfüllte den Betrachter mit Staunen und Verwirrung. Paulus war in seiner Zuversicht erschüttert. Bei den Begegnungen mit den Athenern trat er denn auch nicht so glänzend auf wie sonst. »Selbst ein Jude kann in Athen kein Geld verdienen«, so hieß es hier. Die Athener mit ihrem beweglichen Geist konnten von anderen Nationen eigentlich nichts lernen, schon gar nicht, was Kom-merzielles, handwerkliche Meisterschaft und Künstlertum betraf. Trotzdem gab es hier eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge. Paulus machte sich ans Werk. »Und er redete zu den Juden und Gottesfürchtigen in der Synagoge …«
Aus der Apostelgeschichte geht nicht hervor, daß er zu diesem frühen Zeitpunkt schon Neubekehrte gewinnen konn-te. Die lächelnde Gleichgültigkeit dieser Stadt erboste ihn.
Überall marmorne Götter und Göttinnen, viele in grellen Farben bemalt. Opfergaben verbrannten auf den Altären, Weihrauchschwaden drangen aus den Tempeln, an kleinen Schreinen brachten Menschen ihre eigenen Opfergaben dar, priapische Statuen mit stark betonten Phalli (die von denen, die vorübergingen, zärtlich und spaßhaft berührt wur-273
den) standen neben Statuen von nackten Frauen – Götzen, heidnisches Blendwerk! Überall die flimmernde Atmosphä-
re der Skepsis. Man glaubte eigentlich an gar nichts, ausgenommen das Leben selbst. Seltsam, daß Paulus, der in Tarsus aufgewachsen und von Kindheit an mit dem Heidentum vertraut war, so heftig auf diese Umgebung reagierte. Vielleicht wurde sogar seine Selbstgewißheit von der unerschüt-terlichen Sicherheit der Athener untergraben.
Wie viele andere, wie die Philosophen, Gelehrten, Studenten und Müßiggänger, »gerichtet auf nichts anderes, als etwas Neues zu sagen oder zu hören«, verwickelte sich Paulus auf der Agora, dem Marktplatz, in Streitgespräche. Auf der Agora fanden nicht nur kaufmännische, sondern auch geistige Transaktionen statt. Selbstverständlich traf Paulus hier auf Mitglieder der damals führenden philosophischen Richtungen, auf Stoiker und Epikuräer. Bis zum heutigen Tag lassen sich im menschlichen Denken stoische und epikuräische Züge finden. Zwar gab es bei den Stoikern, wie später bei den Christen auch, verschiedene Richtungen, doch sie alle behaupteten, der Mensch besäße eine unsichtbare Entität, die Seele. Sie hat ihre Heimat nicht auf der Erde, sondern im All – im Licht der Sonne oder im ewigen Schweigen der Sterne. Der Mensch braucht den Tod nicht zu fürchten. Denn entweder geht er ins Universum ein, in den Zustand der Bewußtlosigkeit, in dem er auch vor der Geburt schwebte, oder er wird neu geboren im Bewußtsein des Gottes, der alles geschaffen hat. E. H. Blakeney umreißt in seinem Classical Dictionary die Prinzipien der Stoiker wie folgt: »Ihr Name leitet sich von der ›Bunten Halle‹ in Athen ab, von der Stoa (wörtlich: Säulenhalle) … Der Stoi-274
zismus ist hauptsächlich ein großes ethisches System. In diesem tritt die Philosophie an die Stelle der Religion; und diese Philosophie besteht darin, Tugend zu üben und Weisheit als ein praktisches Interesse zu setzen. Den Stoikern zufolge besteht die Tugend aus (1) absolutem Urteil, (2) absoluter Beherrschung der Begierden, (3) absoluter Kontrolle der Seele über den Schmerz, (4) absoluter Gerechtigkeit. Der Hauptakzent des Systems liegt auf der Pflicht …« Nichts davon dürfte Paulus ungewohnt geklungen haben. Die Stoiker ihrerseits waren einigermaßen vertraut mit den paulini-schen, christlich-jüdischen Gedanken zur Ethik. Nur diesen Menschengott kannten sie gar nicht. So bewundernswert der Stoizismus auch war, er wies einen entscheidenden Unterschied zur Paulinischen Botschaft auf. Stoizismus bedeutete Annehmen, Sich-Fügen. Er hatte viel mit dem Kismet der Moslems gemeinsam – man anerkennt etwas Vorgege-benes, dem der Mensch nicht zu entrinnen suchen, sondern dem er mutig ins Auge blicken soll. Paulus sagte dagegen, daß man die Welt verändern könne, daß der Mensch durch den Glauben an Christus Gewalt über sein Schicksal habe.
Und eins vor allem: Gott liebte die Menschen. Der Stoizismus hatte geistigen Adel, aber, genau betrachtet, auch eine gewisse Leere.
Der Epikuräismus wiederum war keine so platte Sache, wie uns manche Autoren glauben machen wollen. Er baute vor allem auf der Idee auf, daß das wichtigste Lebensziel die Glückseligkeit sei. Viele Anhänger Epikurs verfälschten dies Prinzip, und in späteren Jahrhunderten wurde es gröblich mißverstanden. Die Lehre dieses höchst bemerkenswer-ten Mannes hatte nämlich so gut wie nichts mit der bloßen 275
Sinneslust zu tun. Epikur wurde 341 v. Chr. auf der Insel Samos geboren und eröffnete 306 v. Chr. seine Schule zu Athen. Das höchste Gut, die Glückseligkeit, läßt sich nur durch Ruhe der Seele erlangen. Und diese Ruhe der Seele kommt nur zustande durch Übung der Tugend. Die Stoiker sahen die Tugend als Selbstzweck, Epikur galt sie als Mittel zum Zweck. »Ruhe der Seele und unerschütterliches Vertrauen« empfahl er, und er ergänzte: »Eine richtige Vorstellung von der Lust führt zum richtigen Leben, denn man kann ohne ein weises, gutes und gerechtes Leben nicht glückselig werden.« Epikur starb 270 v. Chr. im Alter von 72 Jahren in Athen.
Mit Anhängern dieser beiden philosophischen Richtun-
gen kam Paulus also ins Gespräch. Er verkündete die Auferstehung Christi und wurde natürlich mißverstanden. Sie alle waren bereit, über die Natur des Menschen zu reden, über seine Stellung im Universum und über die Existenz eines allmächtigen Gottes. Sie waren gebildet, sie beteten keine Idole an – das mochte das Volk tun, die Bauern, die auf sichtbare und schlichte Weise an die Naturkräfte, welche die Welt formten, gemahnt werden mußten. Wovon sprach dieser merkwürdige, kurzgewachsene Jude nun eigentlich? Die Vorstellung von der fleischlichen Wiederauferstehung des Menschen war einfach lächerlich. Man hatte an Bestattun-gen teilgenommen, man wußte, daß der Leib zu Staub zer-fiel, ob man ihn nun begrub oder verbrannte, daß er sich in Atome auflöste, die Bausteine aller Dinge. Zur selben Zeit sagte in Rom der stoische Philosoph Seneca, jeder recht-denkende Mensch sei ein Pilger auf der Suche nach dem Guten. Diese Weisheit versuchte er einem Schüler zu ver-276
mitteln, der ihm leider nicht viel Ehre machte: dem späteren Kaiser Nero.
Daß Paulus seinen Glauben so leidenschaftlich verfocht, vermochte die gelehrten und kultivierten Athener nicht sonderlich zu beeindrucken. »Und etliche sprachen: Was will dieser Schwätzer sagen?« Die griechische Entsprechung für
»Schwätzer« heißt spermologos und bedeutet wörtlich: ein Mensch, der aus der Gosse Samenkörner aufliest, um sich am Leben zu erhalten, und im übertragenen Sinne: jemand, der die Ideen anderer Menschen übernimmt, ohne sie wirklich zu begreifen, und sie als seine eigenen feilbietet. Was fiel ihm nur ein? Er kam nach Athen, der Heimat der Philosophie, und erzählte wortreich von einer völlig obskuren Gestalt. Wie meinte er? »Es sieht aus«, sagten einige, »als wolle er fremde Götter verkündigen.« Sie waren neue Kulte und Mysterienreligionen aus dem Osten gewohnt, aber nur wenige davon konnten dem Blick eines prüfenden Geistes standhalten. Es spricht für Paulus’ außergewöhnliche Persönlichkeit, daß die Athener ihn immerhin ernst genug nahmen, um ihn zu einer Versammlung auf dem Hügel des Ares, dem Areopag, einzuladen. Früher hatte man auf dem Areopag Gericht gehalten. Hier trugen eines Mordes oder eines Verbrechens gegen den Staat Angeklagte ihre Verteidigung vor. Es ist zweifelhaft, ob das Gericht auch zu Paulus’ Zeit noch auf dem Areopag tagte, aber er galt den Athenern als Stätte des – zumindest symbolischen – Gerichts.