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Tomas Liljemark betrat den Reichstag durch den öffentlichen Eingang. Er war zu Fuß hergekommen, und der lange Marsch von Kungsholmen nach Norrmalm hatte seine Entschlossenheit mit jedem Schritt gesteigert. Er trat an die Rezeption.
„Guten Abend. Tomas Liljemark. Ist der Staatsminister schon eingetroffen?“
Die Frau musterte den Riesen alarmiert.
„Ich bin der Chef der schwedischen Polizei. Ich muss dringend zum Staatsminister. Er ist doch hier, oder?“
„Moment bitte.“ Die Empfangsdame griff zum Hörer und telefonierte mit der Sicherheitsabteilung. „Der Staatsminister ist bereits eingetroffen.“
Sie öffnete eine Schublade im Tresen und nahm einen Bogen mit grünen runden Aufklebern heraus. Dann reckte sie sich zu dem um drei Köpfe größeren Mann hinauf, zog das Revers seiner Jacke zu sich und klebte den Aufkleber darauf.
„Willkommen im Reichstag! Harald bringt dich durch die Schleuse.“
„Das ist sehr nett. Vielen Dank.“
Noch ein wenig elektrisiert von der zärtlichen Rezeptionistin ging Tomas zur Sicherheitstür und folgte dem Wächter hinauf zur alten Schalterhalle, die daran erinnerte, dass das Gebäude vor langer Zeit die Reichsbank gewesen war. Als Tomas in den Sechzigern als Jurist begonnen hatte, kamen die Abgeordneten noch her, um sich bei der Telefonistin ein Gespräch vermitteln zu lassen, doch heute wirkte die Halle wie ausgestorben. Nur der Postschalter war den Abgeordneten geblieben.
Tomas behagte es nicht, sich als Chef der schwedischen Polizei von einem unwachsamen Wachmann von Securitas bewachen zu lassen. Deswegen legte er ihm für einen Augenblick die Hand auf die Schulter und sagte Adieu, bevor er die Rolltreppe allein betrat. Sie lag ein wenig versteckt und führte hinauf zu den Sitzungssälen. Oben folgte er einfach dem Gedränge und fand den Staatsminister im Korridor zwischen den alten Plenarsälen aus der Zeit, als Schweden noch ein Zweikammersystem gehabt hatte. Damals diente der Korridor als Ort der Begegnung zwischen den Abgeordneten des Ober- und Unterhauses und war wie ein Herrenclub eingerichtet. Und nichts anderes war das schwedische Parlament vor einem Jahrhundert ja gewesen.
Er wagte einen Blick durch die Tür in den alten Plenarsaal, wo heute nur noch die Fraktionen tagten. Was Barbro ihm in der Kantine erzählt hatte, stimmte tatsächlich. Frauen mit breiten Röcken passten auf keinen Fall durch diese Tür.
Deswegen trugen die weiblichen Abgeordneten, die Tomas auf seinem Weg zum Staatsminister sporadisch begrüßten, allesamt enge Hosenanzüge. Der gesamte Reichstag war zum Empfang am Vorabend des Nationalfeiertags versammelt. Einige der älteren Herren trugen sogar Frack. Soweit Tomas die Gespräche mitbekam, erwartete man das Eintreffen des Königshauses durch den Osteingang. Den Staatsminister zu finden, war im Reichstag nicht schwer. Tomas vermutete ihn im Zentrum der größten Menschentraube und drängelte sich durch die Reihen. Der Staatsminister fuhr mit kaltem Unbehagen herum, als er Tomas’ Hand auf seiner Schulter spürte.
Die Geste genügte. Er nickte knapp und löste sich mit Tomas aus der Menge. Im Verbindungsgang zum Westflügel fanden sie ein ruhiges Plätzchen.
„Fredrik, du musst das Ermittlungsverbot zurückziehen. Es gibt von allen Seiten neue Erkenntnisse.“
„Können wir nicht bis übermorgen warten?“
Tomas verstand. Die Regierung wollte verhindern, dass es morgen während des Nationalfeiertags zu Komplikationen kommen konnte. Oder wollte die Sache einfach aussitzen.
„Bist du über die Reaktion aus Rom informiert? Das kann sehr heikel für dich werden. Du verhinderst die Komplikationen nicht, du schürst sie.“
Wie immer, fügte Tomas in Gedanken hinzu. Der Staatsminister dachte bestimmt dasselbe. Er war ja nicht dumm.
Der Staatsminister nickte zaghaft. Tomas wartete auf Anzeichen von Einsicht.
„Wenn herauskommt, dass du eine Polizeiermittlung unterbunden hast, und keine sehr zwingenden Gründe für das Wohl unseres Landes vorbringen kannst, dann gerätst du in Bedrängnis.“
In heftige Bedrängnis, hätte man wohl sagen sollen. Aber Tomas wollte die Regierung ja nicht unter Druck setzen.
„Wie ist denn so der Stand?“
„Die Reichsmord hat das Video vom Centralbahnhof ausgewertet und hat einen Tatverdächtigen. Die Italiener kennen seine Fingerabdrücke aus Neapel. Er gehört zu einem Mafiaclan. Alles weist jetzt in Richtung organisierte Kriminalität. Wir müssen ihn dringend fassen, um herauszufinden, worum es bei der Geschichte überhaupt geht.“
„Ihr habt also noch keine Ahnung, worin das Motiv liegt?“
„Wir müssen bedenken, dass die Ereignisse in Stockholm stattfanden. Vielleicht sind sogar schwedische Interessen betroffen. Die Reichsmord glaubt an einen Gegenstand oder brisante Informationen.“
Der Staatsminister sah ihn entsetzt an.
Tomas zog seine Trumpfkarte. „Ich habe mit Hansson gesprochen. Der KSI hat keine Hinweise darauf, dass wir es mit Agenten zu tun haben.“
„Wie schätzt Hansson die Lage ein?“
„Ich spreche sozusagen für uns beide.“ Hansson, der Leiter der innersten Sicherheitsabteilung des schwedischen Militärs kam ungern selbst aus seiner Deckung. „An der Sache stimmt irgendetwas nicht. Sie ist mir ein wenig zu professionell für organisierte Kriminalität. Die Vorgehensweise ist eher geheimdienstlich, das vermuten auch Hansson und Kullgren von der Säpo. Deshalb müssen wir schnell herausfinden, worum es überhaupt geht.“
„Ihr geht also von einer Transaktion zwischen Italien und Schweden aus?“
„Der Internermittler aus Rom hat in der Botschaft und in Maeros Wohnung nichts gefunden, aber die Spuren deuten darauf hin.“
Eine Frau trat heran an den Staatsminister und informierte ihn über die baldige Ankunft des Königs. Er laufe mit strammen Schritten auf den Osteingang zu.
Der Staatsminister hob sein Kinn, das zuvor immer weiter zur Brust gesunken war. „Dann los.“