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Anna-Lena Sjölin hatte noch nie eine sanfte Landung in Arlanda erlebt. Sie vermutete, dass es an schwierigen Winden lag. Beim Anflug, wenn die Wipfel schon zum Greifen nah waren, kam ihr die Zeit bis zum Aufsetzen jedes Mal ewig vor. Immer hopste das Flugzeug minutenlang im Tiefflug auf und ab. Nachdem sie ihren Koffer vom Band gezogen hatte, öffnete sie ihn an Ort und Stelle, um zu prüfen, ob die Objektive unbeschadet waren. Sogar diesmal tat sie es, wenn auch fahrig, denn im Koffer mit seinen setzkastenartigen Stoffkammern lagen Objektive im Wert von einer halben Million Kronen. Das war ihr gesamtes Betriebsvermögen.

Alles schien heil zu sein. Sie schloss den Deckel und eilte zum Ausgang. Sie liebte das schäbige Arlanda, nur diesmal kam es ihr seltsam fremd vor, als hätte während ihrer Abwesenheit eine neue Ära in Schweden begonnen. Hinter dem Ausgang ließ sie ihren Blick nicht über die Wartenden schweifen, wie es andere Menschen getan hätten. Sie richtete ihn stur geradeaus auf ein stilles Zentrum und nahm alle Bewegungen drumherum auf. Diese Art der Wahrnehmung war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.

Es war die Schwarzhaarige. Anna-Lena Sjölin war sich sofort sicher. Die Frau wandte ihr das Profil zu. Nicht nur ihr Haar schluckte alles Licht, auch ihre Kleidung war schwarz. Anna-Lena glaubte es bereits ihrer Stimme angehört zu haben, oder besser der Art, wie sie sprach.

Auf dem Weg schräg durch den Korridor drückte Anna-Lena dreimal auf den Auslöser.

„Sofi Johansson?“

Die Frau fuhr herum und rümpfte die Brauen. Ihre Augen glänzten ebenso schwarz. Ihre Haut war nur um eine Nuance dunkler als die anderer Schweden, wirkte aber dennoch eingerahmt in all das Dunkle ein wenig blass.

Sofi Johansson nickte, ohne jedoch die Frage zu stellen, die sich ihr bestimmt aufdrängte. Sie stellte überhaupt keine Frage, sondern deutete einfach durch die Glaswand auf den grauen Volvo, der neben den Gepäckwagenständer parkte.

„Gibt es irgendeine Veränderung?“, erkundigte sich Anna-Lena, nachdem Sofi Johansson losgefahren war und durch die kurvige Ausfahrt steuerte.

„Nein. Sie muss einfach ruhen wegen der Gehirnerschütterung.“

„Hast du schon mit ihr gesprochen?“

„Eine Kollegin war neulich bei ihr, aber nur, um ihr zu sagen, dass du auf dem Weg bist. Wenn der Arzt es zulässt, müsste ich sie heute befragen. Sie wird bestimmt wissen wollen, was mit der Frau ist.“

„War sie sofort tot?“

„Ja. Augenblicklich.“

Ohne einen Gedanken gestorben, dachte Anna-Lena. Das war ihrem Vater auch so gegangen. Vielleicht wusste er gar nicht, dass er tot war, hatte sie damals immer gedacht.

„Ich habe mir das Leica-Magazin gekauft“, sagte Sofi auf einmal. Und dann schwieg sie für eine Weile, als gäbe es nicht mehr dazu zu sagen. „Im Internet stand, dass sie oft deine Bilder abdrucken.“

„Ja“, sagte Anna-Lena tonlos. „Manchmal machen sie das.“

„Das ist etwas Besonderes, oder?“

Anna-Lena nickte.

„Aber das Bild muss mit einer Leica fotografiert worden sein, wenn es dort abgedruckt wird.“

Anscheinend wollte sie über Fotografie reden.

„Hm. Mein Lieblingsfotograf benutzt eine alte Hasselblad. Die ist für ihn ideal. Er macht Nahporträts. Ich mache Momentaufnahmen, und das Leica-Magazin ist auf Reisereportage ausgerichtet. Das passt eben gut zusammen. Im Bekanntenkreis nennen mich alle Anna-Leica.“

Sofi Johansson lächelte, ohne den Blick von der Straße zu lösen.

„Ich arbeite nicht mit Spiegelreflexkameras, sondern nur mit Messsuchern. Da ist die Auswahl sehr begrenzt.“

Sofi Johansson schwieg eine Erklärung herbei.

Anna-Lena fuhr mit den Händen den Rahmen der Windschutzscheibe nach. „Wenn du bei einer Spiegelreflexkamera durch den Sucher schaust, siehst du genau das, was später auf dem Bild sein wird. Und die Objekte erscheinen dir so groß, als würdest du dir schon das entwickelte Foto vor Augen halten. Eine Messsucherkamera funktioniert anders. Du siehst viel mehr, als eigentlich auf die Mattscheibe kommt. Und mitten in diesem Suchbild siehst du ein kleines Rechteck. Das zeigt dir, was später auf dem Bild sein wird. Alles außerhalb des Rechtecks ist nicht darauf. Manchmal wird das Rechteck so klein, dass du kaum etwas erkennst. Du kannst auch beim Abdrücken nicht feststellen, ob Belichtung und Schärfe stimmen. Bei manchen Modellen steht das Bild sogar auf dem Kopf.“

Normalerweise fanden die Leute das komisch, und sie musste erklären, warum es für die Wahrnehmung und Abstraktion eher ein Vorteil als ein Nachteil war, wenn das Bild auf dem Kopf stand.

Sofi Johansson schwieg. Als würde sie das verstehen.

„Ich habe mich nämlich gewundert, wie du es nur schaffst, dass auf deinen Bildern alles passt“ sagte sie nach einiger Zeit. „Eine Frau sitzt vor dem Haus, ein Junge läuft vorbei und ein Vogel landet auf dem Fensterbrett. Und alle drei sehen sich in diesem Moment an. Das dauert ja nur einen Wimpernschlag lang. Erst dachte ich, das muss gestellt oder manipuliert sein.“

„Das ist der Vorteil des Messsuchers. Alles außerhalb des Rechtecks ist vor dem Abdrücken. Du sitzt stundenlang da und wartest. Von links siehst du einen Jungen auf das Rechteck zurasen. Von rechts oben kommt ein Vogel und sucht einen Platz zum Landen. Alles in dir spannt sich an, du machst dich bereit. Du wartest bis sich alle im Bild auf ihrer Position versammelt haben. Und da drückst du ab. Wenn man das lange geübt hat, dann kommt es dir vor, als wäre dieser Moment vorherbestimmt, als liefe alles darauf zu. Und wenn du noch länger übst, dann kannst du diese Momente vorausahnen. Diesen Vorteil hast du bei einer Spiegelreflexkamera nicht. Da siehst du nur das hier und jetzt. Du stellst scharf, drückst gerade ab, und dabei rast unerwartet ein Auto ins Bild und verwischt dir alles.“

03 - Der kopflose Engel
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