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Während Henning in allen Büros der Ermittlungsgruppe das Licht einschaltete und sich dann um den Kaffee kümmerte, stellten sich Barbro und Kjell vor die Wandtafel im Besprechungsraum. Barbro heftete eine räumliche Skizze vom Gelände um die Bibliothek und den Observatoriumsberg an die Tafel.

„Per hat Theresa Julander zum Fotografieren auf den Hügel geschickt“, sagte Barbro. „Sie stand da oben neben der Statue, als das Gewitter losbrach.“

„Ist ihr etwas passiert?“, erkundigte sich Kjell.

„Nein nein, sie ist jetzt zum Krankenhaus gefahren, um sich nach dem Zustand des Mädchens zu erkundigen. Lovisa Sjölin heißt sie.“

„Vielleicht sollten wir Theresa für die nächsten Tage anfordern. Sie war von Anfang an am Tatort und kennt die Details.“

„Ich habe dem Leiter von Norrmalm schon Bescheid gesagt, dass wir sie brauchen.“

Henning gesellte sich mit dem fertigen Kaffee zu ihnen und hörte schweigend zu.

Barbro begann, die Stationen des Geschehens in die Skizze einzutragen. „Der Wagen hat auf der anderen Seite der Kreuzung auf derselben Fahrspur gelauert. Hier ganz rechts.“

„Gelauert?“, fragte Henning belustigt.

Barbro nickte. „Ich habe mit einem Zeugen namens Patrik Paulsson gesprochen. Er kam gerade zu Fuß auf der Odengatan zur Kreuzung und ist sich sicher, dass der Wagen noch einige Sekunden stillstand, nachdem die Ampel auf grün gesprungen war. Dann fuhr er mit quietschenden Reifen los. Dieses Quietschen haben viele gehört, unter anderem eine Bibliothekarin, die hinter Lovisa in der Schlange im 7-Eleven stand und den Aufprall gesehen hat. Der Wagen ist auf die Frau zugerast und hat sie hier erfasst.“

Barbro zeichnete die Stelle des Zusammenpralls ein.

„Wieso stand sie auf der Fahrbahn?“, wollte Henning wissen.

„Das Mädchen und die Frau haben sich an der Bordsteinkante getroffen. Offenbar wollte das Mädchen die Straße überqueren.“

„Die beiden kannten sich also vorher nicht?“

„Davon können wir nach der Aussage aller Zeugen im Laden sicher ausgehen. Das Mädchen verlor zwischen den geparkten Autos das Gleichgewicht. Die Frau hat sie auf die Kühlerhaube gehievt, aber von da rutschte sie wieder nach unten. Weil der Platz zwischen den Autos so eng war, musste die Frau zur Seite treten und stand damit auf der Fahrbahn.“

„Allerdings dicht am Auto, ja?“, fragte Kjell. „Der Unfall war also nicht unausweichlich.“

Barbro nickte. „Genau das ist es. Der Wagen ist direkt auf sie zugesteuert und hat erst noch den Kotflügel gerammt, bevor er sie erfasste. Die Frau hatte sich den Arm des Mädchens um den Hals gelegt, deshalb wurde Lovisa Sjölin so schwer am Arm verletzt und gegen das geparkte Auto geschleudert. Die Frau hat er allerdings voll getroffen. Sie stand mit dem Rücken zum Wagen und ist am Ende hier auf dem Sveavägen aufgeschlagen.“

Barbro zeichnete die Stelle ein.

„Verdammte Scheiße“, rief Henning. „Wie schnell war der, dass sie bis dorthin fliegt?“

„Fünfzig. Das hat Lasse von der Technik ausgerechnet. Wenn er auf der anderen Seite der Kreuzung noch gestanden ist, kann er bis zum Zusammenstoß nur bis zu dieser Geschwindigkeit beschleunigt haben, wenn man seine Masse berücksichtigt. Es war ja ein Jeep oder ein Van, da gehen die Zeugenaussagen auseinander, aber der sehr hohe Kühler hat dafür gesorgt, dass beim Zusammenprall mit der Frau alle Kraftvektoren gebündelt nach vorne zeigten. Deshalb ist sie so weit geflogen.“

„War sie sofort tot?“, fragte Kjell. „Gibt es da Aussagen?“

„Im Moment des Zusammenstoßes war sie schon tot, daran gibt es keinen Zweifel. Der Wagen hat weiter beschleunigt, ohne zu bremsen, und ist auf dem Sveavägen verschwunden, direkt zu euch in die Olof Palmes Gatan. Ganz schöner Zufall, dass der Wagen ausgerechnet an euch vorbeifährt. Wenn man mal überlegt.“

Henning schlürfte laut an seinem Kaffee. „Dass wir an dieser Kreuzung waren, ja, das war Zufall.“

„Aber dass der Wagen dort entlangkam, erstaunt dich nicht?“

„Nein. Die Route ist beinahe zwingend.“ Henning schlürfte erneut.

„Wenn er es überhaupt war.“

„Da kannst du sicher sein. Die grobe Beschreibung stimmt und die Route auch.“

Leider hatte Henning beim Abbiegen mit dem Rücken zum herannahenden Wagen auf dem Trittbrett gestanden und nicht mehr als die Hintertür und den Kofferraum gesehen. Als der Wagen davonbrauste, hatte ihm das Führerhaus die Sicht auf das Nummernschild verdeckt.

Kjell selbst hatte ein ganzes Stück die Straße hinauf vor dem Antiquariat gestanden und seiner Tochter beim Abbiegen mit einem Lkw zugeschaut. Er hatte nicht mehr als einen schwarzen Fleck vorbeirasen sehen.

Vielleicht hatte Linda etwas gesehen. Sie war ja am Steuer des Lkws gesessen. Kjell griff zum Telefon, gab aber nach dem zehnten Läuten auf.

„Aber warum unbedingt die Olaf Palmes Gatan?“, fragte Barbro. „Es gibt doch Dutzende von Abzweigungen vom Sveavägen.“

„Nein“, erwiderte Henning und Kjell nickte bestärkend. „Die Olaf Palmes ist zwingend. Um diese Zeit gab es noch viel Gegenverkehr auf dem Sveavägen. Das Linksabbiegen mit einem Fluchtwagen war schwierig. Obwohl die Olof Palmes ein ganzes Stück südlich der Bibliothek liegt, einen Kilometer vielleicht, ist sie die erste Querstraße, die einigermaßen breit ist. Bei einer solchen Geschwindigkeit spielt das die entscheidende Rolle. Deshalb ist er nicht früher abgebogen. Aber hier tat er es, weil die breite Kreuzung mit der Kungsgatan bereits in Sicht war. Wir kamen ja kurz zuvor dort vorbei. Zwischen Hötorget und Stureplan bummeln doch um diese Zeit viele Menschen auf der Kungsgatan. Und noch weiter südlich kommt schon der Sergels Torg. Da würde ich bei einer Flucht nie vorbeifahren. Zuviel Polizei und zu viele Kameras.“

„Apropos Kameras!“, sagte Barbro und wählte die Nummer der Verkehrsüberwachung. „Die müssten inzwischen soweit sein.“

Während sie dem ersten Bericht der Verkehrsüberwachung zuhörte, griff sie nach einer Fotokopie des Stadtplans, von denen immer ein Stapel bereitlag. Sie zeichnete fünf Kreuze ein, gab neue Anwesungen und legte auf.

„Ausgehend von eurer Aussage haben sie die Kameras in der Torsgatan, der Kungsbron, der Vasagatan, dem Klarastrandsleden und der Klarabergsgatan überprüft. Ohne Erfolg, leider.“

„Der Wagen hat keine dieser Strecken genommen?“, fragte Henning und kratzte sich am Kopf. „Interessant.“

„Jedenfalls ist dort kein schwarzer Wagen mit hoher Geschwindigkeit gefahren. Er kann sich in den Fließverkehr eingereiht haben.“

„Also merkwürdig ist das schon“, fand Kjell. „Da bleibt ja dann nicht mehr viel. Wie machen sie weiter?“

„Jetzt prüfen sie alle Hauptkreuzungen, die einen weiteren Ring um die Stelle bilden, wo ihr dem Wagen begegnet seid. Wenn er nur Nebenstraßen genommen hat, dann kann er doch irgendwann an so eine Kreuzung gekommen sein.“

Kjell griff nach dem Straßenplan. „Henning kann recht haben. Ich glaube allerdings nicht an eine wilde Flucht. Man muss gut planen, wenn man allen Kameras ausweichen will. Wie hieß dieser Mann, der den Wagen an der Kreuzung gesehen hat?“

„Paul, nein, Patrik Paulsson.“

„Wenn es stimmt, was er sagt, hat der Wagen dort gewartet. Gehen wir mal davon aus, dass der Fahrer alles geplant hat und dass sein Plan aufgegangen ist. Er wartet auf die Frau und fährt erst los, als sie aus dem Laden kommt. Er fährt sie über den Haufen. Dann flieht er auf einer Route, die er vorher ausgearbeitet hat.“

„Es ist nicht ganz unwahrscheinlich“, gestand Henning. „Aber nur wegen des Kuverts. Das macht die Frau interessant. Sonst würde ich es für einen Trunkenheitsfahrt mit Unfallflucht halten.“

„Dieser Plan ergibt nur Sinn, wenn er an ein fixes Ereignis, einen Termin gekoppelt ist. Der Fahrer muss ja gewusst haben, dass die Frau dort sein wird. Er wusste sogar die Uhrzeit recht genau, denn er musste höchstens einige Minuten lang auf sie warten.“

Henning nickte. „Was für eine Veranstaltung fand denn eigentlich in der Bibliothek statt?“

Barbro schlug ihren Notizblock auf. „Die war in der Tat das einzige Ereignis in der Umgebung, das an eine feste Uhrzeit gekoppelt ist und vorher beworben wurde. Es ging um den neuen Erweiterungsbau der Bibliothek. Da beginnen ja demnächst die ersten Bauarbeiten. Die alten Nebengebäude werden abgerissen und der Nordhang des Hügels umstrukturiert. Im Lesesaal in der Rotunde gab es eine Lasersimulation des fertigen Umbaus. Man konnte dort stehen oder auf den Galerien herumlaufen. In den kleinen Sälen fanden Lesungen über die Stadtgeschichte statt.“

Barbro reichte einen Prospekt herum, den sie einem Zeugen abgenommen hatte. Darin zeigten montierte Bilder, wie der geplante Anbau nach seiner Fertigstellung in einigen Jahren aussehen würde. Bisher bestand das alte Gebäude der Bibliothek aus einem quadratischen Sockel, in dem die kleinen Lesesäle und das Bücherlager untergebracht waren. Auf diesem Sockel stand die Rotunde, ein riesiger Zylinder mit dem Lesesaal darin. Die runde Innenwand war mit Buchregalen verkleidet, die sich über drei Stockwerke erstreckten. Die oberen Regale erreichte man über Galerien. Der Architekt Asplund hatte das Gebäude in den Zwanzigern entworfen und dabei einfache Formen und die Antike im Sinn gehabt.

Doch der Lesesaal und das ganze Gebäude waren nun zu klein geworden. Deshalb sollte hinter dem Bau eine Erweiterung entstehen, die in den Observatoriumsberg integriert war.

„Der Platz vor dem Neubau wird zu einer Stätte der Begegnung“, rezitierte Henning leidenschaftlich aus dem Prospekt. „Das haben sie damals bei Fittja auch behauptet und recht behalten. Es ist heute eine Begegnungsstätte zwischen Kleinkriminellen und ihren Opfern.“

Barbro nahm Henning den Prospekt wieder ab. „Es spricht einiges dafür, dass sie dort war. Im 7-Eleven und im Hamburgerladen hat sie niemand vorbeigehen sehen. Also ist sie über die Treppe gekommen. Auch ihre Kleidung passt zu diesem Anlass. Außerdem hatte sie keine Jacke und keine Tasche. Sie kann also nicht von weit hergekommen sein. Die nächsten Lokale liegen aber schon am Odenplan.“

„Gab es drinnen eine Garderobe?“, fragte Kjell. „Vielleicht sind ihre Sachen noch dort.“

„Nein, das haben wir überprüft. Der Haken an der Sache ist, dass die Veranstaltung heute Abend bereits um neun Uhr begann. Das ist als Fixpunkt viel zu früh. Wenn sie drin war, dann muss der Fahrer einen Komplizen gehabt haben, der ihn von innen informierte, als die Frau die Bibliothek verließ.“

„Aber vor dem Unfall war sie erst noch im 7-Eleven“, sagte Henning. „Das hat etwa so lange gedauert, wie der Fahrer an der Kreuzung warten musste. Eigentlich genauso lang, wenn man recht überlegt.“

Barbro blätterte in ihren Notizen und las ein bisschen. „Die Sache mit dem Mann hat Theresa bereits früh durchgegeben. Deshalb habe ich einen Undercoverfotografen mit zum Tatort genommen und die Straßensperre aufgelöst. Die Bilder dauern noch. Aber wir haben die Zeugen hier im Haus.“

03 - Der kopflose Engel
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