Und als ich eines Abends vom Einkaufen zurückkam und direkt auf mein Zimmer huschen wollte, um dort meine letzte kostbare Anschaffung abzulegen – einen schwarzen Seidenslip, für den ich mindestens zwei, drei Nächte an meinem Klavier gesessen hatte –, fing mich Edith auf dem Flur ab. Sie hatte keinen besonders günstigen Zeitpunkt gewählt, denn ich hatte das Päckchen unter mein Hemd geschoben und traute mich nicht, aus dem Schatten hervorzutreten.

»Mein Gott! Komm mal her!« sagte sie.

Ich fragte mich, was in sie gefahren war.

»Was gibt’s?«

»Komm rein!«

Es war lange her, daß ich ihr Zimmer zuletzt betreten hatte. Ich wußte nicht einmal mehr, wo ich mich hinsetzen sollte. Vor ihrem Schreibtisch stand ein Stuhl. Und am anderen Ende das Bett. Ich fühlte mich außerstande, mich auf einem von beiden niederzulassen. Aber ich hatte auch nicht vor zu bleiben.

»Henri-John, tu mir einen Gefallen …«

»Na schön. Einverstanden …«

Irgend etwas sagte mir, daß sie es nicht auf mich abgesehen hatte. Sie sprang mir nicht ins Gesicht. Und da war auch kein leises Knistern in der Luft.

»Was ist das denn?«

»Nichts. Ein Päckchen … Also, was kann ich für dich tun?«

Ich holte das Ding aus meinem Hemd hervor und preßte es unter den Arm. Die Neugier entlockte ihr fast ein Lächeln. Um ein Haar hätte sie vergessen, was sie von mir wollte.

»Mmm … Paß auf, sag ihnen, daß ich nicht zum Essen komme, mir sei nicht gut.«

»Bist du krank?«

Wir schauten uns eine Sekunde lang in die Augen.

»Wir müßten uns über die Platten einigen, wenn du einen Augenblick Zeit hast …«

Ich wollte ihr sagen, das habe keine Eile, doch sie ging bereits auf ihr Bett zu, setzte sich darauf, beugte sich vor, schnappte sich einen Stapel Singles und legte ihn auf ihren Schoß.

»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich die hier gern behalten …«

Das war das erste Mal, seit wir diesen Handel betrieben, daß sie sich darum sorgte, ob mich ihre Auswahl störte. Es drehte sich um ›Peter, Paul and Mary‹, eine neue Gruppe, bei der man im Stehen einschlief, und das am hellichten Tag. Ich weiß nicht, welches Wunder, welche unerklärliche Ahnung mich bewogen hatte, meine Zunge im Zaum zu halten.

»Wie findest du die?«

»Ich hab sie mir nicht genau angehört. Ich vertraue deinem Urteil …«

Ohne Zeit zu vergeuden, fing sie an, den ganzen Stapel durchzugehen. Ich wußte nicht, wie ich mich eigentlich verhalten sollte. Vielleicht war sie wirklich krank und verwechselte mich mit jemand anderem?

Sie hob den Kopf und schaute mich überrascht an, als fragte sie sich, wieso ich da im Zimmer rumstand, wo doch ihr Tun meine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Ich trat also näher, hatte nicht vor, mich neben sie zu setzen, kauerte mich auf die Fersen.

Das war keine tolle Ware, die wir da vor uns hatten. Es waren ein paar lustige Sachen darunter wie die ›Beach Boys‹, ›Dionne Warwick‹ oder ›The Four Seasons‹, aber nichts Umwerfendes. Sie wollte auch die Neuste von Paul Anka behalten. Ohne große Überzeugung legte ich Dream Baby von Roy Orbison auf die Seite. Ich vermochte unserer Beschäftigung kein großes Interesse abzugewinnen.

»Weißt du«, sagte sie zu mir, »ich seh ihn momentan den ganzen Tag … Abends brauch ich ein wenig Ruhe.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil du es ihm sagen sollst. Ich weiß nicht, denk dir was aus.«

»Verdammt, du hast Nerven!«

»Hör zu, ich hab keine Lust, mit ihm Krach zu bekommen. Bitte …«

»Na gut, ich mach’s.«

»Laß dein Päckchen hier. Komm noch mal vorbei, und sag mir, wie’s gelaufen ist …«

Ich brachte es in mein Zimmer, schob es unter die Matratze, dann ging ich runter. Ausgerechnet da mußte ich Spaak begegnen, der unvermutet vorbeigekommen war und in die Küche eilte, um noch einen Stuhl zu holen. Ich küßte ihn rasch auf die Wange – ich hatte mich letztlich damit abgefunden, daß er von Zeit zu Zeit mit meiner Mutter bumste – und teilte ihm mit, daß er sich seine Mühe sparen könne, da Edith nicht mitesse.

»Fehlt ihr etwas?«

Ich steckte in der Klemme. Wenn ich ihm gegenüber nur die kleinste Unpäßlichkeit erfand, würde er gucken gehen, was los war.

»Nein. Das liegt daran, daß Faulkner gestorben ist. Er war ihr Lieblingsschriftsteller.«

»Ah, Die Freistatt!«

»Ja, obwohl das nicht besonders gut war. Ich glaube eher, sie liest noch einmal Schall und Wahn oder Als ich im Sterben lag.«.

Jetzt konnte ich David nicht mehr erzählen, sie fühle sich nicht wohl und habe sich ins Bett gelegt und mich beauftragt, ihn zu beruhigen und davon abzuhalten, an ihrer Tür zu klopfen. Ich flüsterte ihm also ins Ohr, sie sei durchs Fenster abgehauen.

»Großer Gott! Und aus welchem Anlaß?!«

»Da fragst du mich zuviel …«, antwortete ich ihm.

Danach ging ich zu Edith zurück und erklärte ihr, es sei alles geregelt. Sie konnte es sich nicht verkneifen, ein wenig zu motzen. Sie fragte mich, wie sie sich jetzt rauswinden sollte, und wunderte sich, auf was für alberne Ideen ich käme.

»Du weißt, daß ich nicht gern lüge, ich lüge übrigens nie.«

»Du brauchst ihm bloß zu sagen, das sei bildlich gemeint gewesen. He, ich wollt dir ’nen Gefallen tun.«

»Na gut, ich werd schon zurechtkommen … Weißt du, mir wird allmählich klar, daß es schwierig sein muß, mit jemandem zusammenzuleben, ihn jeden Tag zu sehen.«

»Jaja, zu dem Schluß bin ich auch schon gekommen.«

»Oder, ich weiß nicht … Vielleicht klappt das in einem von einer Million Fällen. Das ist bestimmt ziemlich selten.«

»Mmm, ich glaub da nicht dran … Wenn man ’ne Chance von eins zu einer Million hat, sollte man sich besser nach was anderem umschauen, finde ich zumindest.«

»Ich kapier das nicht. Ich verstehe mich doch prima mit ihm. Ich meine, ich komm gut mit ihm aus …«

»Ja, das muß ein komisches Gefühl sein.«

»Ich weiß nicht, ob das an mir liegt. Hör mal, setz dich doch irgendwohin, mir tut bald der Hals weh, wenn ich immer zu dir hochgucke … Was meinst du, findest du, ich bin nicht normal?«

»Jemanden vierundzwanzig Stunden am Tag zu ertragen scheint mir nicht normal.«

»Na schön, aber so einfach ist die Sache nicht. Außerdem, so tödlich, wie du behauptest, ist das auch nicht …«

»›Tödlich‹ sage ich ja gar nicht, es ist mir egal. Trotzdem, das nimmt immer ein böses Ende, behaupte bloß nicht das Gegenteil. Wenn ich ihm schon irgendeinen Quatsch erzählen muß, weil du ihn abends nicht mehr sehen kannst. He, ich sag ja nichts, ich wundere mich aber auch nicht …«

»Schon gut, was weiß ich. Du mußt immer übertreiben.«

»Abwarten, wir werden’s ja sehen. Na ja, ich mein das eher allgemein, weißt du, ich möchte dich nicht beeinflussen, das ist auch nicht mein Bier. Aber wenn du mich fragst, was ich davon halte …«

»Manchmal würde ich gern wissen, was dir durch den Kopf geht. Das heißt, ich meine nicht unbedingt dich … nein, weißt du … Ich frage mich halt von Zeit zu Zeit, was ein Typ in meinem Alter denkt, was für Fragen er sich stellt, wie er die Dinge sieht. Also versuche ich zu erfahren, was du willst, das interessiert mich …«

»Mmm … Mag sein, aber ich glaube nicht, daß ich anderer Ansicht wäre, wenn ich eine Frau wäre. Zusammenleben oder nicht, da ändert sich nichts, ob du nun auf der einen oder der anderen Seite stehst. Wenn’s darum geht, sich selbst zu kasteien, dann bringt dich nicht dein Hormonhaushalt dazu, lieber zweimal hinzuschauen, sondern dein Verstand.«

»Ja … Vielleicht hast du im Grunde recht, vielleicht nutzt sich alles am Ende ab. Hast du ’ne Zigarette? Ja, vielleicht ist das viel einfacher so.«

»Das garantier ich dir. Du ödest niemanden an, und niemand ödet dich an. Weißt du, ich sage mir, besser jetzt, als wenn mir das in zehn oder zwanzig Jahren aufgegangen wäre.«

»Andererseits muß es doch beschissen sein, ständig Bäumchen wechsle dich zu spielen.«

»Es gibt keine Vollkommenheit. Aber wenn es einen Weg gibt, die Scherereien und die Enttäuschungen zu vermeiden, die man letztlich erntet, dann bin ich gern bereit, ein paar Nachteile in Kauf zu nehmen … Außerdem, so fürchterlich sind die auch nicht.«

»Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, warum du nicht mit einem Mädchen zusammen bist, ich fand das komisch …«

»Ach du Schande. Ich will gar nicht wissen, was du dir alles vorgestellt hast.«

»Ach was, keine Bange … Das mit Olga, davon wußte ich, und ich sehe auch, was du mit Chantal ausklamüserst, ich bin nicht blind.«

»Das ist nicht wahr, wie schafft man es bloß, in diesem Haus ein Geheimnis für sich zu behalten?!«

»Na, warum soll das denn ein Geheimnis sein?«

»Darum geht’s nicht. Aber das ist trotzdem unglaublich. Demnächst tratschen wir noch bei Tisch darüber. Pah, was soll’s, mir kann’s egal sein …«

»Wofür hältst du mich? Stell dir vor, ich hab mit niemandem darüber geredet. Weißt du, damit scherze ich nicht. Ich erzähle niemanden irgendwas über dich oder über Oli, und ich werde es niemals tun. Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es nicht.«

»Da gibt es auch nichts zu erzählen. Nein, das stimmt sogar … Kannst du dir vorstellen, wie das mit Olga war? Herrgott, ich dachte, die macht mich wahnsinnig … Ha, ha! Wenn ich daran denke! Das war eher komisch mit uns … Aber wir sind ohne Schaden rausgekommen. Das bestätigt nur, was ich vorhin sagte.«

»Ja, aber gib zu, wenn’s nur ums Bumsen geht, darf man kein Wunder erwarten.«

»Was für ein Wunder denn?! Ich beklage mich nicht, ich verlange nichts. Ich gebe zu, daß es mit Olga nicht toll geklappt hat, aber habe ich behauptet, daß ich es bereue? Paß auf, ich will dir eins sagen, ich finde, um den Sex und um alles, was damit zusammenhängt, sollte man sich nur in seiner Freizeit kümmern, nur dann, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Ist dir aufgefallen, daß Alice ihren Zucker erst nimmt, wenn sie ihren Kaffee getrunken hat? Das ist so ähnlich …«

»Mmm … Ich glaub, ich versteh, was du meinst. Warum auch nicht … Da läuft man zumindest nicht Gefahr, tief zu fallen.«

»Weißt du, irgendwann fragst du dich, ob du auch noch die andere Wange hinhalten willst. Ich habe beschlossen, einmal reicht. Und ich fühle mich seitdem erheblich besser. Weißt du, ganz gleich, ob meine Abenteuer komisch oder jämmerlich sind, sie hindern mich nicht mehr daran, einzuschlafen. Wenn ich schon fallen soll, dann bitte nicht allzu tief …«

»Ich weiß nicht, ob du wirklich alles glaubst, was du da sagst. Wir sind achtzehn, keine vierzig oder fünfzig. In unserem Alter fällt man immer tief, egal was man macht. Ich finde es normal, daß man sich absichern möchte, aber ich glaube, das ist nicht möglich. Und wenn du’s wissen willst, ich glaube, es ist besser so. Das hindert einen unter anderem daran, wie ein Muffkopf zu wirken …«

»Sicher, ich verstehe sehr gut, daß du das nicht lustig findest. Ich zwinge dich nicht, mit mir einer Meinung zu sein, ich sehe ja, daß dich das abschreckt. Aber wo steht denn, daß man mit achtzehn den Blödmann spielen muß? Muß ich denn mit schwachsinnig verklärtem Gesicht rumlaufen und gegen jede Mauer rennen, die mir im Weg steht, nur weil ich noch nicht alt genug bin?! Nein, keine Lust. Ich sag dir, das Leben ist nun mal so, ich brauche nicht hundert Jahre lang einen Sack von Illusionen mit mir rumzuschleppen, da sehe ich lieber klar. Und du irrst dich, das macht mich weder unglücklich noch verbittert, ich finde, das ist alles ganz gut so. Und vielen Dank, daß du mich aufgeklärt hast, daß ich wie ein Muffkopf wirke.«

»Was ich dir erklären will … Das heißt, nein, ich will dir gar nichts erklären. Wenn du dir lieber ein Bein abhackst, um keine Steine mehr im Schuh zu haben, dann wüßte ich nicht, worüber wir uns noch unterhalten können. Nun gut, ich hab die Wahrheit nicht gepachtet. Sicher ist nur, daß einer von uns beiden über kurz oder lang seine Meinung ändern wird. Ich bin gespannt, wer das sein wird …«

»Tja … Es gab Zeiten, da haben wir uns weniger den Kopf zerbrochen. Weißt du, als ich mit Olga zusammen war, mußte ich manchmal daran denken. Ich lag auf ihrem Bett und war kurz davor, den Verstand zu verlieren, und dann fiel mir die Zeit wieder ein, wo ich in ihren Armen eingeschlafen bin. Gott, ich wußte nicht, ob ich dem nachtrauere oder nicht …«

»Ja … Ich hoffe, bei Chantal hast du mehr Glück …«

»Mmm … Keine Ahnung … Das nimmt merkwürdige Formen an. Außerdem wird mir das langsam lieb …«

»Ich bin halbwegs im Bilde.«

»Ach du je, du machst mir angst …«

»Ich weiß nicht, ob du’s bemerkt hast, aber das gibt einiges her auf einer Wäscheleine. Ein bißchen zuviel Spitze, wenn du mich fragst. Aber es geht nichts über Seide, da stimme ich dir zu …«

»Du findest das albern, was? Aber ich kann dir sagen, was wirklich albern gewesen wäre. Wirklich albern wäre der ganze Schmus gewesen, den ich hätte verzapfen können, all die schönen Reden, die ich geschwungen hätte. So ist die Sache wenigstens klar und deutlich. Ich werde nicht vor ihrer Tür schnurren. Sie macht mir auf, und ich stecke ihr mein Geschenk zu. Und dann sage ich ihr, daß ich das nicht aus eigener Tasche bezahle, sondern mit den Typen kungele, die mich abends spielen hören. So hat sie ein ruhiges Gewissen, und ich brauche mir nicht den Mund fusselig zu reden. Ich bin lieber albern, als daß ich mir ein Bett aus Nägeln mache, weißt du, mit den Spitzen nach oben. Ich fühle mich nicht wohl in der Rolle eines Fakirs. Ich will abends einschlafen können, ohne mir Gedanken machen zu müssen, was zwischen mir und einer Idiotin meines Kalibers nicht stimmt!«

»Verdammt noch mal, Henri-John! Ich schwöre dir, es ist so tröstend, mit dir zu quatschen, es ist eine wahre Freude! Ich merke, daß mir das gefehlt hat …«

 

Ich packte die Krankenschwester am Handgelenk. Ich spürte, daß ich ihr sämtliche Knochen einzeln brechen würde, wenn ich mich nicht zusammenriß.

»Ich bitte Sie …« sagte ich und biß dabei die Zähne zusammen, um nicht laut zu werden. »Verfehlen Sie die Vene nicht zum drittenmal, passen Sie gut auf … Ich hatte sie zu lange unter meinen Fittichen. Stechen Sie mich ab, wenn Sie wollen, aber wenn Sie noch einen Tropfen ihres Bluts auf den Boden vergießen, hören Sie gut zu, was ich Ihnen sage, dann reiße ich Ihnen im nächsten Augenblick den Arm und den Kopf ab.«

Ich spürte, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Eléonores Tränen hatte ich kurz zuvor abgewischt. Sie hatte sich, während die andere laut seufzte, sie habe es wieder nicht hingekriegt, nach mir umgedreht, und ihr Gesicht hatte sich verzerrt, ihr Kiefer hatte sich zitternd geöffnet, und ihre sonst so strahlend schöne Haut war mir gelb und bläulichrot erschienen. Ihr Gesicht war sicher nicht nur vor Schmerz entstellt, aber alles, was in meiner Macht stand, war, diese dicke und blasse Krankenschwester durchzuschütteln, die hinter meinem Rücken maulte.

Zwei Typen packten mich an den Armen und schafften mich raus. Durch die Scheiben konnte ich einen letzten Blick auf Eléonore werfen, die gerade ihre Füße in die Laschen steckte. Man verfrachtete mich mehr oder weniger freundlich in den Wartesaal. Wahrscheinlich hatten sie mich nur nicht rausgeworfen, weil ich plötzlich sanft wie ein Lamm war. Was hatte ich eigentlich erwartet? Ich hatte mich geweigert, sie allein zu lassen. Oli hatte seine Beziehungen spielen lassen, und die Station hatte strikte Anweisungen vom Direktor persönlich erhalten. Aber hätte ich es überhaupt ausgehalten, wenn man mich nicht fortgeführt hätte? Hätte ich mich nicht wehren müssen, wenn ich mehr Mumm gehabt hätte?

Der Direktor war ein großer Blonder, lächelnd und selbstsicher.

»Kommen Sie in drei, vier Stunden wieder. Gehen Sie spazieren, bleiben sie nicht hier … Wenn alles gutgeht, kann sie das Krankenhaus sofort verlassen. Kommen Sie, alter Freund, tun Sie mir den Gefallen und genießen Sie ein wenig die Sonne.«

Der Himmel war von einem herzzerreißenden Blau, das Wetter fast zu schön. Halb benommen verließ ich das ›Brigham and Women’s Hospital‹ und schlenderte zum Charles River, wo sie alle im Gras lagen und in der Sonne dösten oder die Meeresluft atmeten oder eine Radtour machten oder, fern von Roxbury, wie die Irren das Ruder führten. Sie war noch ein Kind und bekam ihre erste Ausschabung. Und ausgerechnet mir mußte das passieren. Die Luft war widerlich mild, angereichert mit diesem ewigen Grillgeruch, der mir normalerweise nicht mißfiel. Ich war noch ein Junge gewesen, als ich so alt war wie sie jetzt. Das Leben glich einem Spiel, wir hatten nicht die geringste Ahnung, was uns erwartete. Heute mußte man schnell lernen. Die Jugend bedeutete nichts mehr. Kaum steckte man die Nase zur Tür hinaus, blieb einem nichts erspart. Die Regeln waren für alle gleich, Teenager hin, Teenager her. In der Schule brachte man ihnen das Wesentliche nicht bei. Man machte sich über sie lustig.

Ich hatte nicht vor, noch am gleichen Tag nach Cape Cod zurückzufahren. Da waren diese Sachen mit den Blutungen und dem Fieber, auf das man zu achten hatte, und ich wäre lieber in der Nähe der Stadt geblieben. Aber sie wollte nichts davon wissen. Ich fand nicht die richtigen Worte, um darauf zu bestehen. Ich wollte sie zum Wagen tragen oder wenigstens stützen. Sie gab mir zur Antwort, sie sei doch nicht krank.

Sie schlief fast auf der Stelle ein, eingelullt von was weiß ich. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern. Ich betete, daß sie sie mir nicht kaputtgemacht hatten.

Ein paar Tage später flogen wir nach Paris zurück, zusammen mit den letzten Urlaubern. Ich fand das nicht besonders gelungen, wenn man bedachte, was diese Reise für mich bedeutet hatte, aber das war nicht so schlimm, ich hatte mir nichts Bestimmtes ausgemalt, vielleicht sollte es nicht ganz so farbenfroh sein.

Ich hatte im Flugzeug kein Auge zugetan. Im Taxi schaute Eléonore mich an, und ich schaute nach draußen. Ich war ein wenig müde, meine Sachen waren zerknittert.

Als die Tür aufging, stand ich hinter Eléonore. Edith stand hinter Evelyne. Es kam zu einem leichten Durcheinander im Eingang, weil sich allerlei Sachen drängten und anstießen. Ich hob Evelyne in meine Arme, während sich Eléonore um ihre Mutter kümmerte. Danach hatte ich das Gefühl, etwas sagen zu müssen, wenn ich Edith schon nicht küssen konnte, denn wir schauten uns an, während unsere Töchter ihre Mienen spielen ließen.

»Ich würde gern einen Kaffee trinken …« erklärte ich.

Wir hatten sie vom Flughafen aus angerufen, und sie erwarteten uns zum Frühstück. Ich ließ meinen Koffer neben der Tür stehen.

Frühstück gab’s nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer, auf dem niedrigen Tisch, und es gab Blumen, Croissants, Marmelade und weichgekochte Eier in kleinen Warmhaltebeuteln. Ich bestellte einen Orangensaft und ließ mich auf einem Sessel nieder, den ich einst über alles geliebt und sozusagen mit meinem Körper ausgehöhlt hatte. Ich spürte, daß er während meiner Abwesenheit benutzt worden war, daß er eine Art Gehirnwäsche mitgemacht hatte. Ich stellte fest, daß die Gartenpflege zu wünschen übrigließ, daß mein Schreibtisch mit Hilfe eines Zierdeckchens zu einem Verkaufsständer für chinesische Porzellanvasen umgestaltet war und daß ein Porträt von mir im Anzug, ein Bild anläßlich meiner Teilnahme am Marguerite-Long-Preis, an der Wand fehlte. Ich hatte ohnehin keinen Hunger.

Edith saß wie auf heißen Kohlen. Ich fühlte mich auch einigermaßen befangen, doch die Mädchen übernahmen es, das Gespräch zu beleben. Ich sagte von Zeit zu Zeit ein paar Worte, über ein Restaurant in New York oder die Flora von Neuengland. Ich hatte Lust, Edith anzuschauen, aber anscheinend störte es sie, wenn ich meine Augen auf sie richtete, und die Blicke, die wir wechselten, waren eine einzige Folter.

Ich weiß nicht, wieso ich trotz meiner Anspannung und zudem inmitten all dieser hübschen Mädchen schließlich eingeschlafen bin. Jedenfalls wurde ich, tief in meinem Sessel versunken, am späten Nachmittag wieder wach. Edith saß mir gegenüber. Das war ein Traum, den ich in den letzten Monaten so oft gehabt hatte, daß ich mich nicht darüber wunderte.

»Verflixt, tut mir leid«, erklärte ich und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

Sie hatte wieder Kaffee gekocht. Sie war ein wenig angespannt. Ich richtete mich auf, während sie unsere Tassen vollschenkte. Es war nichts zu hören.

»Und … Was wirst du tun?« fragte sie mich halb murmelnd, dabei schlug sie die Beine übereinander und blickte von ihrer Tasse zu mir auf.

»Nichts. Ich denke, ich werde meine Kurse in Saint-Vincent weiterführen. Oli hat mir angeboten, mit ihm zusammenzuarbeiten, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen …«

»Hast du eine Wohnung gefunden oder etwas in der Art?«

Ich versuchte zu vergessen, daß ich in meinem Haus war. Es gab bestimmt noch andere Reflexe, die ich zu unterdrücken hatte, jetzt, da ich zurück war.

»Gott … Ich bin gerade erst eingetroffen. Ich werde wohl erst mal in ein Hotel gehen. Ich müßte mich vielleicht darum kümmern … Du hättest mich wecken sollen.«

Sie holte tief Luft. Das war ihre schriftstellerische Seite. Ein wenig theatralisch.

»Paß auf, ich wüßte für den Übergang vielleicht eine Lösung, wenn sie dir zusagt …«

Sie forderte mich auf, ihr zu folgen. Wir gingen durch den Garten, ohne ein Wort zu sagen, zu einer Stunde, wo die Milde des Septembers trotz all unserer Probleme wie eine kleine boshafte Fee an der Vollkommenheit der Abenddämmerung bastelt. Ich stand noch unter der Wirkung der Zeitverschiebung, mein Verstand arbeitete in Zeitlupe, und als wir auf den Werkzeugschuppen zugingen, fragte ich mich, ob sie mir etwa erst das Gerät zeigen wollte, bevor sie mir eine Stelle als Gärtner anbot.

»Ich brauche ihn einstweilen nicht«, erklärte sie mir, während sie die Tür öffnete.

Thoreau hatte zwei Jahre auf noch engerem Raum gelebt. (»I have thus a tight shingled and plastered house, ten feet wide by fifteen long, and eight-feed posts, with a garret and a closet, a large window on each side, two trapdoors, one door at the end, and a brick fireplace opposite.«) Es gab keinen Wald und keinen See, aber Strom, Telefon und fließendes Wasser.

»Ich brauchte etwas Ruhiges, um mein Buch zu beenden …«, fügte sie hinzu. »Ich habe ihn nach deiner Abreise ausbauen lassen.«

Ich hoffte, der Ort würde mich mehr inspirieren. Weißes Holz vom Boden bis zur Decke, ein Fenster, ein Sofa, ein Stuhl und ein Tisch. Das Ganze ergab einen Raum von leicht spartanischem Zuschnitt, eine karge Zelle mit einem Geruch nach Harz und kaltem Tabak.

»Irgendwo muß ein Kohleofen sein. Und du kannst das Bad im Erdgeschoß benutzen, das heißt, am besten vormittags …«

Das war ebenso unverhofft wie erniedrigend. Ich hätte ihr die Hände küssen oder sie fragen können, ob ich so aussähe.

»Nun, wie entscheidest du dich?«

Ich erlaubte mir, sie als Dank für ihre Mühe ein, zwei Sekunden lang anzustarren. Ich hätte ihr gern gesagt, daß sie ihre letzte Chance hatte verstreichen lassen, mich loszuwerden. Mag sein, daß das an der Müdigkeit lag, an dem Ortswechsel, an diesen zwanzig Quadratmetern festen Bodens, die sie mir hinten im Garten bewilligte, ich wußte jedenfalls nicht genau, was der Grund für dieses leise Wohlbehagen war, das mich in diesem Augenblick beschlich. Dazu kam – vielleicht beruhte auch das nur auf einer spontanen Illusion – dieses Gefühl, daß mein Fall ein Ende nahm. Daß ich bei meiner Strampelei im Dunkeln irgend etwas mit den Fingerspitzen erhascht hatte, kurz bevor ich am Boden zerschellt wäre.

»In der Tat … Ich glaube, das hilft mir erst mal weiter …« habe ich ihr geantwortet.

 

Ich bin ihr in den nächsten Tagen nicht oft begegnet. Ich habe es auch nicht darauf angelegt. Ich fand, es war besser, wenn ich ihr für den Anfang nicht zu sehr in die Quere kam. Sie hatte mich am ersten Tag, aber ausnahmsweise, zu ihrem Abendtisch eingeladen, aber ich hatte mich lieber zu meiner Mutter verzogen. Ramona und sie hatten mich verhätschelt wie in alten Zeiten, und das war genau, was ich brauchte. Später mußte ich Eléonore zur Vernunft bringen, sie drohte nämlich, ihre Mahlzeiten nicht mehr zu Hause einzunehmen, solange ich davon ausgeschlossen war. Ich mußte ihr erklären, daß ihre Haltung die Lage höchstens verschlimmern werde, und ihr schwören, daß ich sie mindestens einmal die Woche in meine Kammer einladen würde und daß sie, wann immer sie wollte, einen Kaffee bei mir trinken konnte.

Ich mietete ein anständiges Klavier. Als sie sah, wie es durch den Garten transportiert wurde, wurde Edith schwach. Sie kam rüber, um mir zu sagen, daß ich, wenn ich wollte, na ja, wenn wir uns auf bestimmte Zeiten einigen konnten, daß ich dann … von Zeit zu Zeit … auf meinem Bösendorfer spielen durfte. Ich dankte ihr. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich für den Heckmeck zu entschuldigen, den ich mit meinem ständigen Hin- und Herlaufen verursachte, ganz zu schweigen von meinen häufigen Ausflügen in den Keller, wo ich mir das für meine Einrichtung nötige Material beschaffte.

Wenn ich morgens aufstand und mich in dem Türrahmen meiner Hütte räkelte, sah ich sie in der Küche. Ich nickte ihr kurz zu, aber mehr auch nicht, nur eine kleine Demonstration guter Nachbarschaft, höchstens ein schlichtes »Schönes Wetter heute!«, das ich mir manchmal abnötigte, wenn das Fenster offen war und sie die Augen eine Sekunde oder länger auf mich richtete.

Ein paar Tage vor Schulbeginn schaute ich in Saint-Vincent vorbei. Heissenbüttel fand, ich sähe blendend aus. Er lachte einigermaßen nervös und wünschte sich, daß ich ihn im kommenden Jahr nicht allzusehr aufregen möge, daß ich nicht auf die Idee verfiele, die Dachabdeckung zu ändern oder etwas in der Art. Dann bot er mir ein Glas Portwein an und erneuerte seine Absicht, mir das Fach Kunstgeschichte anzuvertrauen.

»Selbstverständlich werden Sie uns mit gewissen heiklen Dingen à la Mapplethorpe verschonen«, scherzte er. »Ich hab Sie im Auge, alter Schlingel!«

»Ich werde versuchen, daran zu denken.«

»Ich habe vor einigen Tagen das gesamte Kollegium zusammengerufen, aber da waren Sie noch nicht zurück, nehme ich an … Wie dem auch sei, der Auftrag lautete: ›Weniger Diskussionen. Mehr Sittlichkeit‹. Ich habe nicht versäumt, alle auf diesen Punkt hinzuweisen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Sie und ich und der gesamte Lehrkörper in vorderster Front stehen, wenn es, und daran zweifeln wir nicht, einen Kampf auszufechten gilt, damit diese Gesellschaft nicht bis ins Mark verfault! Noch kommen die heftigsten Anzeichen für einen solchen Kampf aus dem Ausland, aber uns stecken sie bereits auch in der Kehle. Nicht wahr, was meinen Sie dazu?«

»Ach Gott … Erinnern Sie sich, daß Sie mir von einem gemeinsamen Freund erzählt haben? Ich habe Sie im Sommer aus den USA angerufen … Tja, ich glaube zu wissen, um wen es sich handelt.«

»Aber sicher! Um William Sidney Collins, unseren großen Freund und noblen Wohltäter …! Die Welt ist klein, man kann es nicht oft genug sagen. Mein lieber Henri-John, Sie ahnen gar nicht, wie sehr dieser Mann nur Ihr Bestes will.«

»Mmm … Ich war früher sehr gut mit seinem Sohn befreundet.«

»Aha … Ich wußte gar nicht, daß er einen Sohn hatte!?«

»Doch, doch … Er hatte einen Sohn.«

Ich hatte keine Lust, ihm mehr darüber zu erzählen. Ich ließ ihn in seiner Neugier schmoren, lehnte einen zweiten Portwein ab und ließ mich auch von seinen Grimassen nicht erweichen. Ich stelle fest, daß es mir noch genausoviel Spaß machte, ihn auf die Palme zu bringen. Dabei war er nicht durch und durch unangenehm, auch nicht gefährlich oder böse, wie es unser Freund, der Richter, sein konnte. Er war beinahe ein erträgliches Wesen in dieser Welt von Irren und Mördern.

Ich wußte nicht, was aus Georges eigentlich geworden war, wie ich ihn einzuordnen hatte. Ich wußte nicht, wozu er fähig war. Ich hatte ihn jahrelang für einen Schwärmer gehalten, und ich wollte nichts anderes in ihm sehen. Er war der Mann, der meine ganze Kindheit und Jugend bis zu meiner Hochzeit mit Edith begleitet hatte. Er hatte mich – mehr noch, als mir bewußt war – beraten, geführt und mit allem bereichert, was er wußte. Er hatte mich bestimmte Verhaltensweisen, bestimmte Anschauungen dem Leben gegenüber gelehrt. Es gelang mir nicht, aus ihm schlau zu werden. Nach Rebeccas Tod hatten wir ihm all seine Überspanntheiten durchgehen lassen, und jetzt sah ich, wie fern er mir war, niemals würde ich so laut rufen können, daß er mich hörte.

»Warum erzählst du mir immer die gleiche Leier?! Ich dachte, du wolltest mich wegen etwas Dringendem sprechen!«

»Gib mir meinen Stock, und ich breche dir die Knochen, Henri-John! Mit welchem Stumpfsinn verbringst du deine Tage?! Was tust du Wichtiges, um derart verblendet zu sein?! Wenn dir Ediths Heil nicht wichtig erscheint, dann geh! Scher dich fort!«

»Schön. Nichts anderes tue ich.«

»Aber ja! Das kannst du, dich drücken! Krieche mit den anderen! Kehre unter die Erde zurück aus Angst, daß dich das Licht blendet!«

Ich setzte mich wieder, weil ich sah, daß er wirklich verzweifelt war.

»Ah, verdammt noch mal!« seufzte ich und schüttelte den Kopf.

»Ich bete seit Monaten Tag für Tag, verstehst du, ich habe gefastet und inständig gebetet!«

»Für wen? Für die Kranken, die Obdachlosen? Für die, die Hunger haben und leiden?! Nein, für die natürlich nicht. Du siehst nur noch, was um dich herum geschieht. Daß Kinder getauft werden, daß sich Ehepaare nicht scheiden lassen und daß die Messe auf Latein gelesen wird, mehr interessiert dich nicht! Meine Güte, ist das alles, was du gefunden hast?!«

»›Der Mensch darf nicht trennen, was Gott zusammengefügt hat.‹«

»Es hat keinen Zweck mehr, mit dir zu reden. Du bekommst nichts mehr mit. Weißt du, ich habe deinen Glauben bewundert. Ich war dazu nicht imstande, aber du hast mich beeindruckt. Selbst wenn ich nicht deiner Meinung war, habe ich dich bewundert, in mir war nichts, was annähernd so stark war. Wenn mich Zweifel überkamen, brauchte ich dich nur anzuschauen, um zu sehen, wie jämmerlich ich war. Aber jetzt … Ich dachte, du könntest Berge versetzen, doch mehr als die ewige Hölle hast du nicht zu bieten. Ich hoffe, du brauchst dich für einen solchen Zinnober nie zu rechtfertigen.«

»Dieses Leben ist nichts, und das weißt du. Ich verlange nicht, daß du mich verstehst. Laß dir gesagt sein, daß uns die Ewigkeit erwartet und daß uns keine zweite Chance vergönnt ist. Die Scheidung ist ein Verbrechen vor dem Herrn. Am Tage des Jüngsten Gerichts wird es zu spät sein für die, die dies ignoriert haben. ›Ihr Platz ist in dem von Feuer und Schwefel versengten Teich, ein zweiter Tod.‹«

Ich habe mit Evelyne über dieses Gespräch geredet, als sie sich eines Abends ans andere Ende des Gartens vorwagte. Sie war ein nettes Mädchen, wenn man sich nicht um ihre Angelegenheiten kümmerte, und das hatte mich immer vor Probleme gestellt, denn ich war ihr Vater. Sie fand, daß ich in meinem Puppenhaus gut reden hatte. Kurz und gut, sie war es, die mir verriet, daß ›Brighton and Tornbee‹, der Laden, der Ediths Bücher in den Vereinigten Staaten veröffentlichte, sich ohne Angaben von Gründen geweigert hatte, ihr letztes herauszubringen. Sie fragte mich, ob da, via Richter Collins, ein Zusammenhang mit ihrem Großvater bestünde. Ich hatte keine Ahnung. Da ich am gleichen Abend mit Oli dinierte, stellte ich ihm die gleiche Frage. Er fing an zu lachen.

»In dem Punkt bist du genau wie er«, sagte er. »In Papas Augen sind es die Freimaurer. Und für dich, wer ist es? Eine dieser finsteren Verbindungen, die ihr Netz über die Welt werfen, um eine moralische Ordnung wiederherzustellen oder die Rückkehr Christi vorzubereiten? Sei unbesorgt, wenn eine solche Organisation existiert, dann hat sie bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich um deine Probleme zu kümmern. Hör mal, du weißt so gut wie ich, daß Ediths letztes Buch nicht besonders gelungen ist. Warum dann gleich eine solch phantastische Geschichte?«

Giuletta war aus einem mir unbekannten Grund schlecht gelaunt. Oli hatte mich nur angeschaut und mit den Schultern gezuckt. Ich fühlte mich ratlos.

 

Samstags hatte ich in Saint-Vincent frei. Ich hatte zu meinen ehemaligen Schülern Kontakt aufgenommen – »Henri-John Benjamin gibt seine neue Adresse bekannt: Gehen Sie über den Weg bis ans Ende des Gartens« –, aber samstags wollte ich niemanden sehen, ich wußte, daß ich ein wenig Ruhe brauchte.

Das war also mein erstes Wochenende nach Schulbeginn. In dem Augenblick, wo ich mein Büro betreten hatte, hatte ich Angst gehabt, daß es ein Fehler war, Olis Angebot auszuschlagen. Ich war nicht zum Lehrer geschaffen, und ich wußte es. Ich wußte nicht, wozu ich überhaupt geschaffen war. Es machte mir Spaß, Bücher zu lesen und mich um den Garten zu kümmern; Klavier zu spielen, wenn ich allein war; mit Oli zu fischen; Edith und meine Töchter zu beobachten. Es gefiel mir, wenn man mich in Ruhe ließ. Ich war gern von Zeit zu Zeit allein in der Stille. Ich wußte nicht, welche Art von Arbeit man mir unter diesen Umständen anbieten konnte. Dieser Gedanke hatte mich nicht losgelassen, als ich die Funktionstüchtigkeit meiner Schubladen und meines Bürostuhls überprüfte. Dann war ich losgegangen, um mich meinen Schülern zu stellen.

Die erste Woche war für mich, in puncto Arbeitsmoral, immer die anstrengendste. Ich hatte das Gefühl, mich in eine Kiste zu zwängen, die nicht für mich gemacht war, und alles in mir ächzte, und nachts wachte ich strampelnd auf und starrte die vier Wände an, die sich um mich zusammenzogen.

Ich stand früh auf, um diesen Tag der Ruhe zu genießen. Ich holte Croissants, legte sie vors Küchenfenster, und meine aß ich im Stehen, im lauen Licht der aufgehenden Sonne. Lächelnd sah ich mir an, was zu tun war, der Rasen, die Hecke, ein paar Zweige, die abgeschnitten werden mußten. Im Gegensatz zu den drei anderen schreckte ich vor dieser Arbeit nicht zurück. Und das nicht nur wegen der Optik, sondern wegen der schlichten Freude an den Dingen der Erde und der stillen Zwiesprache mit ihnen.

Evelyne kam als erste. Sie setzte sich aufs Fensterbrett und frühstückte in aller Schnelle, während ich meine Geräte schärfte. Sie las mir ein Gedicht von Raymond Carver vor, das an der Kühlschranktür klebte. Man mußte in Zürich die Tramlinie 5 nehmen, bis zur Endstation fahren und sich eine Weile ans Grab von Joyce setzen. Eléonore erschien als nächste. Sie hatte es ebenfalls eilig, sie mußte einen Kurs nachholen oder irgendwas in der Art, ich wurde nicht ganz schlau daraus.

Ich hörte eine Weile zu, wie sie rauf und runter liefen und Türen auf- und zumachten, dann zogen sie los, und das Haus war wieder still. Ich fing an, die Hecke zu schneiden. Es war ein schöner Tag.

»Hör mal … Darum brauchst du dich nicht zu kümmern.«

Ich drehte mich halb auf meinem Hocker um.

»Ach … Das macht mir nichts aus.«

Ich konnte sehen, daß sie ihre Toasts meinen Croissants vorzog. Und daß sie nicht lächelte, sondern eher verärgert war.

»Henri-John, ich will, daß du den Garten in Ruhe läßt. Ich will nicht, daß du die Fensterläden streichst. Ich will nicht, daß du mir Croissants bringst und die Post vor die Tür legst. Ich will nicht, daß du aufs Dach steigst und nachsiehst, ob die Ziegel in Ordnung sind. Ich brauche nichts, hast du das kapiert?«

Ich klappte den Hocker zusammen und ging zu meinem Schuppen, ohne einen Ton zu sagen. Ich war froh, daß ich nicht explodiert war, daß ich alles schweigend hingenommen hatte. Das war eine verzwickte Situation. »Wer die Kunst des direkten und indirekten Vorrückens kennt, wird siegreich sein. Dies ist die Kunst des Manövrierens.« (Sun Tzu)

Ich konnte feststellen, daß ich am Nachmittag die richtige Haltung eingenommen hatte. Ich sah sie kommen, tief in meinem Liegestuhl versunken. Sie guckte in die Luft, träumte vor sich hin, während sie näher kam.

»Ich wollte nicht zu schroff sein …«

»Nein, ich bin selbst ungeschickt …«, antwortete ich und legte ihr Buch zur Seite.

»Stellt euch mit seinem letzten Buch in der Hand vor einen Schriftsteller, schon habt ihr ihn an den Eiern« (anonymus). Das war nicht unbedingt geplant. Ich hatte die Absicht, früher oder später noch einmal mit ihr darüber zu reden, und ich wollte mein Gedächtnis auffrischen. Jedenfalls hatte ich sie gewissermaßen in der Hand. Hätte ich meine Nase zwischen ihre Seiten gesteckt und vor Bewunderung geächzt, wäre eine Welle des Vergnügens durch ihren Körper geflutet. Hätte ich es mit angewidertem Gesicht auf den Boden gepfeffert, wäre sie bleich geworden. Vielleicht hätte sie sogar vor Schmerz aufgestöhnt. Ich begnügte mich damit, lässig mit den Fingerspitzen auf dem Einband zu trommeln. Vielleicht war das so, als neckte ich sie mit einer Messerspitze, wer weiß?

Sie hatte bestimmt irgendein seichtes Zeug sagen wollen, um die Wogen zu glätten, um ihre Worte vom Vormittag abzuschwächen, aber jetzt hatte sie alles vergessen. Sie schaute auf ihr Buch. Ihre Stirn war in Falten.

»Äh … Henri-John …«

»Ja, Edith?«

»Könnten wir unser Theater für fünf Minuten vergessen?«

»Sicher.«

»Ich möchte, daß du offen mit mir sprichst, ohne Hintergedanken.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.«

Ich schämte mich fast, eine solch bequeme Haltung einzunehmen, während sie von einem Fuß auf den andern hüpfte. Ich war heilfroh, keine Bücher zu schreiben.

»Sei ehrlich, sag mir, was du davon hältst.«

»Mmm … Weißt du, ich fürchte, die Umstände sind dafür nicht gerade günstig.«

»Red keinen Unsinn! Ich muß es wissen!«

Ich nahm meine Sonnenbrille ab. Das war der geeignete Augenblick, ihr zu zeigen, daß es mich nicht schreckte, draußen zu schlafen, und vielleicht stimmte es sogar.

»Das ist das Schlechteste, was du je geschrieben hast. Das ist noch schlimmer, als ich mir nach dem ersten Kapitel vorgestellt habe.«

Sie drehte sich um und ging.

Es wurde Abend. Evelyne war zum drittenmal in dieser Woche eingekehrt und kurz darauf wieder gefahren. Eléonore gesellte sich eine Weile zu mir. Ich hatte ihr nur ein paar Nudeln anzubieten, ein wenig Gorgonzola und einen Schluck italienischen Rotwein, den ich kalt gestellt hatte, aber sie erklärte, sie wolle ebenfalls ausgehen.

»Geh, amüsier dich«, sagte ich zu ihr, »ich hab sowieso keinen Hunger.«

Ich blieb eine ganze Weile draußen, vor einer Schale mit Salzbrezeln und einem großen Glas mit weißem Wermut, das ich zum Abschied über meinen Kopf hob, als sie rückwärts über die Allee ging und mir zuwinkte. Es gab Leute, denen die Zuneigung, die ich für mich hegte, Sorgen machte, aber wenn man meine Meinung hören wollte: Ich hatte das Gefühl, sie machte sich ganz gut. Die Dinge gehen nie schief, wenn sie sich in die richtige Richtung entwickeln.

Die Nacht war zartrosagrau, rund wie eine Glocke. Ich erwartete kein Wunder. Nach dem, was ich ihr gesagt hatte, durfte ich nicht hoffen, daß sie auf einen Plausch ans Fenster trat, bevor sie ins Schlafzimmer ging. Ich schaute auf das Licht im Erdgeschoß. Es hätte ihr sicher nicht viel genutzt, wenn ich bei ihr gewesen wäre, aber ich hätte die Welt von ihr ferngehalten, und besonders Robert Lafitte. Ich hätte sie in der Hütte eingeschlossen, um sie vor diesem Schwachkopf und allem, was er in puncto Literatur zu wissen glaubte, zu schützen.

Kümmere dich nicht darum, was man über dich schreibt, ob gut oder schlecht. Meide die Orte, an denen über Bücher gesprochen wird. Hör auf niemanden. Wenn sich jemand über deine Schulter beugt, spring auf, und schlag ihn ins Gesicht. Schwing keine Reden über deine Arbeit, es gibt darüber nichts zu sagen. Frag dich nicht, wozu oder für wen du schreibst, aber bedenke, daß jeder Satz dein letzter sein könnte. Und überlaß mir Robert Lafitte.

Während ich ihr diesen Vortrag im Schatten eines Weißdornstrauches hielt, rauchte ich ein Zigarillo, dessen Glut von Zeit zu Zeit mein Gesicht rötete. Plötzlich spiegelte ich mich im Wohnzimmerfenster, rot erleuchtet, triumphierend, reglos, so als hätte sie mich gehört. Aber ich sah sie nicht, ich wußte nicht, wo sie war. All diese Lampen im Erdgeschoß brannten umsonst.

Ein Wagen hielt vor der Einfahrt. Ich hörte eine Tür schlagen, dann knarrte das Gartentörchen. Edith ging zur Tür. Ich bückte mich und schlich zum Flurfenster. Er küßte sie auf den Mund, faßte sie dabei am Arm. Dann gingen sie ins Wohnzimmer. Ich folgte ihnen, postierte mich vor eine andere Fensterscheibe. Deine ganze Arbeit hat er versaut, er hat von nichts ’ne Ahnung. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber deshalb ging es mir weder besser noch schlechter. Dann mußte ich erneut den Standort wechseln und unter einem Vorhang hindurch linsen. Ich wußte nicht, ob sie ihn dazu aufgefordert hatte, in meinem Sessel Platz zu nehmen, jedenfalls hatte er es sich schamlos darin bequem gemacht. Er verkörpert alles, was du meiden mußt, er ist derjenige, der dich erstickt. Sie reichte ihm ein Glas. Meine Hose hatte sich in den Dornen eines Rosenstrauchs verfangen, und ich versuchte mich zu befreien, ohne jedoch meinen Blick abzuwenden. Edith hatte sich feingemacht, sie schienen ausgehen zu wollen. Ich schlich von Fenster zu Fenster die Wand entlang, während sie wieder durchs Zimmer in den Flur gingen. Er half ihr in ihre Jacke, ein perfekter Gentleman. Er hat deine Eitelkeit wachgerufen, dann hat er sie benutzt, um dich zu zerstören. Ich duckte mich hinter ein Gestrüpp. Er hatte sich in meine Richtung gewandt und lächelte, als er die Tür zuzog. Die Nacht war mild, und der Anblick vermochte sich meinem Geist nicht einzuprägen. Er faßte sie um die Taille und führte sie zum Wagen. Du willst wissen, was dein Buch taugt? Er ist die Antwort auf deine Frage, er ist der, der beim Essen über Literatur redet, der das Leben in den Salons gelernt hat, der die Welt unerträglich macht und dich obendrein bumst. Edith, überlaß mir Robert Lafitte.

 

20. Juni 1965

Meryl hatte ihnen eine Überraschung versprochen, wenn sie mit uns zum Konzert gingen. Natürlich haben sich die beiden Blödmänner bitten lassen. Seitdem sie im Fernsehen die Gören in Scharen haben umkippen sehen, glauben sie, sie hätten Grund zum Feixen und den Beweis, daß die Beatles was für Mädchen sind. Das macht ihnen Spaß. Sie selbst hören seit Anfang des Monats mit offenem Mund Satisfaction, aber sagen wir etwas dazu? Meryl hat sie gewarnt: »Kein Konzert, keine Überraschung!« Ich selbst hatte nicht einmal die Kraft, etwas hinzuzufügen, so glücklich war ich. Ich hatte den Brief gelesen, den ihr Vater ihr geschrieben hatte. Ich war bereits auf der anderen Seite des Atlantiks.

Als wir aus dem Palais des Sports kamen, hat Henri-John seinen Arm um meine Schultern gelegt und mir ins Ohr geflüstert, daß Oli und er über einen kleinen London-Aufenthalt mit uns nachdächten, Anfang Juli, bevor wir nach Schottland zu dem Ballett führen. »Die schießen zur Zeit wie Pilze aus dem Boden …« meinte er zu mir. »Müßte man sich näher ansehen. Hab ich dir schon von den Yardbirds erzählt?« Ich sagte ihm, im Sommer hätte ich etwas anderes vor. Er stand da wie ein Ölgötze. »He … Was soll das denn wieder heißen?!« knurrte er.

Meryl wartete, bis wir im Wagen saßen, ehe sie die Neuigkeit verkündete. »Meine Lieben, ihr seid eingeladen, den Sommer in den Vereinigten Staaten zu verbringen!« Selbst ich biß mir auf die Lippen, obwohl ich doch Bescheid wußte, und ich spürte, wie mein Lächeln durch meine Zähne huschte. Oli hat angefangen zu brüllen und mit der Faust aufs Armaturenbrett gehämmert. Henri-John hat ihm geholfen, uns den letzten Nerv zu rauben. Dann ist er losgerast, und auf dem Weg nach Meudon sind wir überall bei Rot durchgerauscht.

Sie haben mein Zimmer erst am frühen Morgen verlassen, um Meryl zurückzubringen. Ich habe eine ganze Weile auf dem Bett gelegen, bevor ich angefangen habe zu schreiben. Aber ich merke schon, ich schaffe es nicht, ich bin zu aufgeregt.

 

21. Juni 1965

Wir fahren in einer Woche. Papa hat uns die Tickets besorgt. Wir haben ihm gesagt, wir kämen schon zurecht, aber er hat darauf bestanden, sie uns zu spendieren. Es paßt ihm nicht, daß wir ihn während der Tournee verlassen, trotzdem hat er nichts gesagt. Er hat uns nur kopfschüttelnd angeschaut.

Meryls Vater hat ein Haus in Cape Cod. Er selbst wohnt in New York. Meryl meint, wenn alles gutgeht, sehen wir ihn nicht allzuoft, höchstens an den Wochenenden. Wir werden also zu viert sein. Abenteuer liegen in der Luft.

Meryl will immer noch nicht mit mir darüber reden. Aber ich bestehe auch nicht darauf. Ich finde, ihre Diskretion ehrt sie, und mitunter regt mich meine Neugier auf. Da treffe ich mal eine, die ihre Geschichten nicht überall rumposaunt, und dann bin ich diejenige, die alles wissen will. Und ich weiß gar nichts.

Ich habe längst aufgehört, die Mädchen zu zählen, die in den letzten Jahren in Henri-Johns Armen gelegen haben, warum also sollte ich mich jetzt beunruhigen? Nun ja, ich muß zugeben, Meryl fällt aus dem Rahmen. Ich glaube, ich würde nicht zögern, wenn ich an Olis oder seiner Stelle wäre. Ich frage mich, ob die beiden darüber reden. Ich hab das Gefühl, das ist das erste Mal, daß ihnen so etwas passiert, und das dürfte ihnen einige Probleme bereiten. Das hört sich an, als könnte ich darüber nur lästern, dabei spüre ich, daß die Sache kompliziert wird, wenn wir erst mal drüben sind. Ich verstehe nicht, warum sich noch keiner von den beiden entschieden hat. Bislang hatte ich nicht den Eindruck, daß sie zu den Schüchternen im Lande gehören oder sich lang und breit zieren. Die Sache dürfte also ziemlich ernst sein. Und Meryl, weiß sie wenigstens, wem sie mehr zugetan ist? Ich bin mir nicht sicher. Papa hat sie während des Unterrichts einige Male zusammengestaucht, dabei ist sie eine der besten. »Noch seid ihr Amerikaner nicht auf dem Mond, also tu uns den Gefallen und bleib mit den Gedanken bei der Sache!« Ich weiß, woran sie denkt. Man kann Henri-John spielen hören, und Oli kommt ständig vorbei, um Papa ein paar Sachen unterschreiben zu lassen, oder er steckt seine Nase zur Tür herein wegen irgendwelcher Verträge, die es auszuhandeln gilt, oder sonstwas. Es dürfte ihr schwerfallen, nicht an sie zu denken.

Am Nachmittag haben Elisabeth und ich bei dem Botschafter der Vereinigten Staaten vorbeigeschaut, um schnell an unsere Visa zu kommen. Er hat ihr die Hand geküßt. Wenn ich recht verstanden habe, geht das auf die Zeit vor Henri-Johns Geburt zurück, als Elisabeth an der Oper war. Kurz und gut, wir sind ein wenig durch den Faubourg Saint-Honoré gebummelt und hatten unseren Spaß daran, in den Geschäften alles mögliche anzuprobieren. Es war wirklich angenehm. Ich bin gern mit ihr zusammen. Sie hat mir gesagt, sie habe in ihrem Leben zwei Leidenschaften gehabt: den Tanz und Henri-Johns Vater. Lediglich eins von beiden hätte ihr vermutlich nicht gereicht. »Ein Mann ist nicht das ganze Leben, und der Tanz ist auch nicht das ganze Leben. Man muß genießen, meine Liebe … Opfere nichts. Pflege, was du im Kopf und was du im Herzen hast, und laß nicht zu, daß eins das andere aufzehrt. Dann bleibst du frei.« Darauf habe ich ihr geantwortet, ich wolle Schriftstellerin werden. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Wahrscheinlich hatte ich Angst, für eine Idiotin gehalten zu werden. Ich habe sie gebeten, mir zu schwören, daß sie niemand davon erzählt. Sie hat mich angeschaut, als sei ich ein Engel, den der Himmel schickt. Daß mir so etwas über die Lippen kommen konnte … Bis zum Abend hatte ich Magenschmerzen. Regelrechte Krämpfe.

Als ich vorhin in mein Zimmer kam, fand ich einen Zettel von Elisabeth. Ich weiß nicht, ob ich lächeln oder eine Gänsehaut bekommen soll. »Nehmen Sie irgendeine auf den ersten Blick noch so unscheinbare Sache aus dem wirklichen Leben – wenn Sie nur die Kraft und das Auge haben, werden Sie darin eine Tiefe entdecken, die Shakespeare nicht hat.« Unterzeichnet mit Fjodor Michailowitsch Dostojewskij.

 

22. Juni 1965

Ich habe nie gedacht, daß ein Mann allein mein Leben ausfüllen könnte.

Der Gedanke, Schriftstellerin zu werden, ist mir auch noch nie gekommen. Das war nicht ich, die da mit Elisabeth gesprochen hat, mein Mund hat sich geöffnet, und die Worte sind von selbst hervorgesprudelt. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich wage kaum, daran zu denken, mir ist, als schaute ich in ein grelles Licht. Und dennoch werde ich mir langsam einer Sache bewußt, deren Deutlichkeit mich verwirrt. Ich führe dieses Tagebuch jetzt seit Jahren, es ist so dick, so aufgebläht, daß es mir schon monströs erscheint, aber nie hat es mich verlassen, nie habe ich versäumt, zu ihm zurückzukehren. Ich habe jeden Tag etwas hineingeschrieben, jeden Tag, ohne Ausnahme. Ich habe dabei nie gedacht, daß ich etwas schreibe, ich habe mich nie gefragt, ob meine Sätze etwas taugen, das war nie mein Ziel. Wenn ich das getan hätte, ich glaube, dann hätte ich mich dermaßen geschämt, daß ich hätte aufhören müssen. Bücher haben mich immer eingeschüchtert, niemals hätte ich mein Gekritzel mit dem Werk eines Schriftstellers vergleichen, geschweige denn auf eine Stufe stellen können. Aber eines weiß ich: Wenn ich mich damit an meinen Tisch gesetzt habe, dann stets mit dem Gefühl, einem Bedürfnis nachzugeben, einem Bedürfnis, das ich vielleicht nie genau definiert habe, das jedoch mit der Zeit nicht schwächer wurde. Und das ich nie als Vergnügen oder Verpflichtung aufgefaßt habe, sondern als eine natürliche Sache, die man gewohnheitsmäßig ausübt. So wie ich nicht ungewaschen zu Bett gehe, beende ich meinen Tag niemals, ohne einige Zeilen geschrieben zu haben. Ich glaube, etwas anderes käme mir nie in den Sinn.

Das heißt nicht, daß ich damit jetzt überschnappe. Das regt mich mehr auf als alles andere.

 

Meryl kam gegen Ende des Winters. Sie war eine Schülerin, die Georges von Robbins empfohlen worden war, ein Mädchen, das aufgrund familiärer Zwistigkeiten gezwungen war, einige Monate in Frankreich zu verbringen, und das einen guten Lehrer brauchte. Als sie eines Morgens bei uns auftauchte, hingen Oli und ich unter der Motorhaube meiner Nuckelpinne. Wir schauten uns an, bevor wir unser Werkzeug fallen ließen.

Bislang hatten wir, was Mädchen anging, stets geglaubt, unsere Geschmäcker seien verschieden, aber Meryl brachte es fertig, daß wir uns tatsächlich mal einig waren. Sie brauchte einen nur kurz anzusehen, schon fühlte man sich für den Rest des Tages bescheuert oder verhext oder unglücklich. Neben all den Dingen, die einen verrückt machten, hatte sie einen entzückenden Akzent.

Ich war seit meinen 62er Beschlüssen beharrlich meinen Weg gegangen. Mein Verhalten hatte es mir zwar nicht leichtgemacht, aber ich hatte keine heiklen Probleme mehr lösen müssen, ich war auch nicht mehr ins Krankenhaus gekommen und hatte kein Blut mehr auf dem Gewissen. Einiges hatte mich sogar in meiner Haltung bestärkt, so Davids schmerzliche Abreise nach Island, wo er nach Monaten der Niedergeschlagenheit und verzweifelter Versuche, Edith zurückzugewinnen, wieder bei Null anzufangen gedachte. Oder auch die hysterischen Attacken, die Oli seitens einer seiner Eroberungen hatte erdulden müssen, der er anscheinend ewige Liebe geschworen hatte und die nun drohte, sich unter seinem Fenster das Leben zu nehmen. »Siehst du jetzt, was du dir mit deinem Stuß einbrockst?!« hatte ich ihn ermahnt, als wir das Mädchen entwaffneten.

Aber Edith und er waren schwer von Begriff. Trotz der Lektionen, die ihnen das Leben erteilte, schwelgten sie weiter in Gefühlen und heulten sich dann abwechselnd in meinen Armen aus, wenn es wieder einmal in die Hose gegangen war. »Wie soll das denn klappen?!« hingen sie mir in den Ohren. »So ganz ohne Gefühle?!« Ich hatte es aufgegeben, mir mit guten Ratschlägen den Mund fusselig zu reden. Ich fand Zeit zum Lesen, während sie von ihren Liebschaften loszukommen suchten. Ich fand das nicht einmal lustig.

Edith war weiterhin der Ansicht, ich sei nicht normal. Wenn es ihr Spaß machte, war ich gern bereit zuzugeben, daß mir etwas fehlte. Man hatte mir eines Tages die Mandeln herausgenommen, und seitdem erfreute ich mich bester Gesundheit. Überall werden Tumore, Knoten, Blinddärme entfernt, die die Leute krank machen. Warum sollte ich mich nicht eines Dings entledigen, das der Umschwung all meiner Probleme war, das daran schuld war, daß alles danebenging? Mit Gefühlen zu spielen hieß die Schlinge knüpfen, mit der man sich erhängt. Oder bestenfalls die Riemen der Peitschen mit Nägeln zu versehen und sich das Hemd hochzuschieben. Und das hatte ich nicht aus meinen Büchern. Ich war nicht der Typ, ein Gericht zurückzuweisen, ohne es gekostet zu haben. Ich wußte nicht, ob sie sich erinnerte, was ich in der Vergangenheit erlitten hatte, ob sie überhaupt etwas gemerkt hatte. Wer von uns hatte denn eins auf den Deckel gekriegt, als ich noch weich, verletzlich und unschuldig war? Wer war der Schwachkopf, den man in kleine Stücke schnitt, wenn irgendein Dämlack sie in seine Arme schloß und ihre Lippen verschlang? Wer von uns beiden hatte seine Trauer und seinen Rotz hinuntergeschluckt, während sie sich bemühte, eine Frau zu werden, die sich von anderen befummeln ließ, wer von uns hatte denn die Fäuste geballt, wenn sie sich mit diesem Blödmann von Bob einschloß? Ich hätte ihr einiges auftischen können, wenn ich gewollt hätte. Kleine Geschichten wie die Prügel, die mir dieser Arsch von Juri in Leningrad am Kai der Roten Flotte verpaßt hatte, oder das eine Mal, wo ich glaubte, jetzt werde es passieren, als ich sie streichelte und fast verging und sie mittendrin ohne irgendeine Erklärung aufstand und ging. Entweder war ich reif für die Klapsmühle, oder ich war gewaltig auf dem Holzweg. Und ich nahm ihr all diese Geschichten nicht übel, das war vergeben und vergessen, es ging auch nicht um sie persönlich, es ging um alle anderen, um uns alle, um das, was jedem blüht, der dummerweise glaubt, man könne sich in eine goldene Barke setzen und zu zweit über einen See des Friedens und der Ruhe dahinschnellen, ohne jemals das andere Ufer zu erreichen, wo man doch jedesmal dagegen prallt, daran zerschellt und in die Bäume geschleudert wird. Ich sah ringsum nichts als Fußkranke, nichts als Schweinehunde, Leichtsinnige, Waschlappen, Ahnungslose, zu Tode Betrübte, Entflammte, die sich mit Asche und ihren Opfern zudeckten. Und mir fehlte etwas?! Meinetwegen mochte man mir den Arm ausreißen, wenn er sich auszustrecken drohte. Es gab Typen, die hatten sich verstümmelt, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Was bedeuteten schon zwei, drei Tage voller Nervosität oder ein leichter Kater, verglichen mit dem, was einen sonst erwartete? Sobald mir ein Mädchen ein bißchen zu gut gefiel, verzog ich mich wie der Nebel vor der aufgehenden Sonne. Nur Esel rennen zweimal gegen die gleiche Mauer.

Mit Meryl war das ein wenig anders. Einer der Gründe, der mich auf der geraden Linie, die ich mir vorgezeichnet hatte, ins Schleudern brachte, hing mit ihrem Stundenplan zusammen. Sie kam nicht nur einmal oder, wie die meisten Schüler, zweimal in der Woche zum Unterricht, sondern jeden Tag, wenn das nicht gar auf den Nachmittag überschwappte. Ich spürte sogleich die Gefahr, die Schwierigkeiten, die ich haben würde, im rechten Moment alle Brücken abzubrechen. Das war reines Dynamit, was uns da in die Arme fiel.

Schon bald erklärte ich Oli, daß wir uns von ihr fernhalten müßten. Aber auf dem Ohr war der Kerl taub. Er fing an, um sie herumzuschwänzeln, und sagte ständig, er könne nichts dafür, sie sei viel zu dies und viel zu das, als ob ich blind wäre. Zunächst sagte ich nichts, aber ich war zum erstenmal in meinem Leben sauer auf ihn.

Zu dieser Zeit erlagen, wie durch eine Art Fluch, sämtliche Bewohner des Hauses Meryls Charme. Auf allen Stockwerken rief man ihr ›Schätzchen‹ nach, und sie bewegte sich unter uns so behend wie ein Fisch im Wasser.

Es fiel mir nicht leicht, außer Reichweite zu bleiben. Trotz meines Widerstands brauchte sie nicht lange, um mich in die Tasche zu stecken. Sie brachte mich – manche Päckchen kamen extra für mich aus den USA – auf einige junge Autoren wie Carver und Harrison, während ich noch bei Kerouac und Saroyan steckte, und ich rauchte Import-Winstons, ich erhielt ganze Stangen. Leider war ich nicht der einzige, der in den Genuß ihrer Gunstbeweise kam. Und so gerieten Oli und ich schnell in ein undurchsichtiges Klima.

Wir hatten uns noch nie um ein Mädchen gestritten. Ich hatte sogar mitunter das Gefühl, daß er mir sozusagen ein Vorkaufsrecht einräumte, wenn sich an einem Abend unsere Blicke auf das gleiche Ziel konzentrierten. Und als Lohn für seine Freundlichkeit ließ ich ihn zuweilen ans Ruder. Denn der Himmel zwischen ihm und mir war strahlend blau. Und das sicher auch, weil ich Schlanke und Große liebte und er eher die Kleinen, die Püppchen, so daß unsere gegenseitige Höflichkeit nur bei den Mittelgroßen notwendig war.

Diese Sache mit der Größe spielte bei Meryl keine Rolle. Sie schlug uns beide in ihren Bann, ohne daß wir ein Zentimetermaß anlegen mußten. Und zum erstenmal erbot sich Oli keineswegs, mir den Vortritt zu überlassen. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er die Ellbogen spielen ließ und mich zur Seite drängte, und sein Verhalten verletzte mich und ging mir hochgradig auf die Nerven. Nicht anders als anfangs auch lieferten wir uns zwar kein Wortgefecht, was Meryl betraf, aber er hatte mich bald im Schlepptau, und wir schwänzelten zu zweit um sie herum.

Wir störten uns gegenseitig. Wir waren wie zwei Läufer, die einander im Auge hatten, auf den geringsten Fehltritt lauerten und aus Angst, einen Fehler zu begehen, nicht wagten, sich an die Spitze zu setzen. Zumal uns Meryl nicht viel half. Ich konnte sie noch so sehr beobachten und die Aufmerksamkeiten und Blicke vergleichen, die sie ihm und mir schenkte, ich bekam nicht heraus, zu wessen Gunsten sich die Waagschale neigte. Und da ich immerhin der ältere von uns beiden war, schmerzte es mich allmählich, daß ich nicht die Führung übernahm. Ich fragte mich, ob ich es ertragen könnte, von ihm abgehängt zu werden. In gewisser Weise stand meine Ehre auf dem Spiel. Die Kordeln, die ich zwischen meinen Fingern knetete, verhedderten sich zu verschlungenen Monstern, die ich nicht mehr auf bekam.

Oli hatte sie nicht mehr alle. Ich war mir nicht mal sicher, ob er mich im Auge behielt oder meine Schritte und Manöver in diesem Rennen verfolgte. Obwohl noch nichts entschieden war, krampfte sich ihm vor Liebe der Magen zusammen. Es machte mich noch nervöser, ihn in diesem Zustand zu sehen.

An Meryls Stelle hätte ich uns beide für arme Irre gehalten. Unser Treiben war jämmerlich, lachhaft, nicht mehr komisch. Bisweilen sah ich mich gezwungen, Oli eine Weile das Terrain zu überlassen, um nicht ins Groteske abzusinken. Unser Eifer, ergo unsere Ungeschicklichkeit, grenzte oft an Keilerei, an überschäumende Körpersäfte, artete in ein wildes Gedränge aus, wenn wir schlicht durch eine Tür gingen. Da setzte ich mich lieber wieder hin, wenn ich ihn aufspringen sah, trat zur Seite, wenn er zwischen uns auftauchte, streckte die Beine aus und wartete ab, bis er genug große Töne gespuckt hatte, um selbst ein paar anzubringen.

Nichts konnte ihn aufhalten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich erfahren hätte, daß er bis Tagesanbruch durch sein Zimmer tigere. Wenn ich morgens runterging, war er stets schon unten. Der Unterricht fing erst um neun Uhr an, aber er war bereits auf den Beinen, um man weiß schon wen nicht zu verpassen. Er grüßte mich mit abwesender Miene, aß nichts, trank einen Kaffee nach dem andern. Er lächelte mich sogar an. Er war total im Tran. Wenn ich ein paar Worte über dieses lächerliche Verhalten knurrte, schien er nicht zu verstehen, was ich sagte, er gab keine Antwort, und sein Blick durchbohrte mich, wenn ich mich zufällig zwischen ihn und das Fenster schob, durch das er das Gartentor beobachten konnte.

Er näherte sich der geistigen Beschränktheit. Ich hoffte, Meryl würde dieses seligen Schwachkopfs überdrüssig werden, zumal ich aus Furcht, er könne sein Ziel erreichen – man wußte ja nie –, gezwungen war, selbst zumindest das Minimum zu tun. Im allgemeinen fühlte ich mich in der Rolle des Gleichgültigen wohler, ich brauchte mich nicht zu beklagen. Ich hatte also allen Grund, aufgebracht zu sein, ich hatte ihm dermaßen viel vorzuwerfen, daß ich mich manchmal mit geballten Fäusten ertappte.

Dann lud uns Meryl in die Vereinigten Staaten ein.

 

Meinerseits dämpfte das die Spannung. Man brauchte nur eine Treppe runterzugehen, um ein Bad zu nehmen und sich abzukühlen. Die Gegend war für meinen Geschmack ein bißchen einsam, aber nicht allzuweit weg war eine kleine Stadt, wenn man abends ausgehen wollte. Kurz und gut, die Sache ließ sich trotz der Umstände nicht übel an.

Das war natürlich die Reise, von der wir geträumt hatten. Unsere Fahrten quer durch Europa am Rockzipfel des Sinn-Fein-Balletts begeisterten uns längst nicht mehr so wie früher. Wir vernahmen nur noch den Lockruf der Neuen Welt, deren Literatur und Musik sich schon so lange über unsere Köpfe ergoß. Das ging so weit, daß Oli und ich während des gesamten Fluges nebeneinander hockten und wie alte Kumpane palaverten, die keine Kanonenkugel zu trennen vermag.

Einige Tage lang schützte uns eine sanfte Euphorie vor unserem Zwist. Uns stand ein Dodge-Kombi zur Verfügung, der uns, meinen compadre und mich, bei der geringsten Gelegenheit auf eine wunderbare Spritztour in die Stadt brachte. Es gab im Hafen immer etwas zu gucken oder zu hören und in der Hauptstraße immer irgend etwas zum Beißen. Mein Verlangen nach Meryl und seine Leidenschaft für sie gingen in unserer immensen Gier nach allem, was ringsum war, unter. Außerdem waren da die endlosen Ausflüge ans Wasser, die Erkundungen benachbarter Strände und die nächtlichen Touren, die jeden erschöpft hätten. Woher hätten wir die Kraft zu einem quälenden Ringen nehmen sollen, woher den geringsten Spielraum, wenn unser Kopf voll war?

Meryl hatte zudem eine Menge Freunde in der Gegend. Ständig brannten große Feuer am Strand, wurden links und rechts gediegene Feten veranstaltet. Meistens wußten wir gar nicht, wo uns der Kopf stand. Das hieß nicht, daß wir Meryl vergessen hatten, aber es gab nur selten Gelegenheit, sich länger als fünf Minuten mit ihr zu unterhalten. Ich würde sagen, die ersten vierzehn Tage verstrichen in einer Art Waffenstillstand, in einer Atmosphäre wie kurz vor Weihnachten, wenn sich selbst die größten Rohlinge nach Frieden sehnen.

Ich machte mir jedenfalls nicht mehr so viele Gedanken. Ich hatte keine Angst mehr, die beiden allein zu lassen, und das aus dem schlichten Grund, daß immer jede Menge Leute da waren. Zumindest beruhigte ich mich, bevor ich mich woandershin schleifen ließ. Ich hatte meinen Spaß, wenn ich ihn Grimassen schneidend und händereibend auf sie zugehen sah und ihnen eine fröhliche Bande auf die Pelle rückte, um den kleinen Franzosen, ein gefundenes Fressen, ganz Paris unverfälscht präsentiert zu bekommen, so schnell nicht loszulassen. Manchmal schickte ich ihnen auch ein paar, wenn ich fand, daß sie allmählich eingreifen konnten, dann entfernte ich mich leichten Herzens.

Außerdem hatte ich zwei Vogelscheuchen von ungefähr fünfzehn Jahren an der Hand, die für Frankreich schwärmten und für diesen hübschen Jungen, dem sie wie gebannt an den Lippen hingen, um sich jedes seiner Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, bevor sie es mit einem schmachtenden Seufzer verschlangen. Sie wohnten direkt nebenan und entwischten ständig ihrer Gouvernante, um sich in unsere Gegend vorzuwagen. Ich ermunterte sie, bei uns vorbeizukommen, sich für das Pariser Leben zu interessieren. Ich sah ihn erbleichen. Diese beiden Mädchen waren fürchterliche Waffen.

Sie hatten einen Bruder, Irving, ein Typ, der ein wenig älter war als ich und jede Menge trank. Er war Meryls bester Freund. Er war so schön, daß man kein Hellseher sein mußte, um seinen Namen auf Ediths Liste zu setzen. Dabei war er ein charmanter, fast schüchterner Kerl, der ganz Cape Cod wie seine Westentasche kannte und ein Bier in sieben Sekunden kippte, die Uhr in der Hand. Wenn er neben seinen Schwestern stand, fragte man sich, wie die Natur so ungerecht sein konnte: Alles, was an ihm angenehm wirkte, war bei ihnen das genaue Gegenteil, von der Haarfarbe bis zur Stimme. Als ich erfuhr, daß sie Klavierspielen lernten, brach mir der kalte Schweiß aus.

Ihr Vater war Richter William Sidney Collins, ein, wie es hieß, recht strenger Zeitgenosse, einer dieser Spaßvögel, die geradewegs aus dem Scharlachroten Brief ausgebrochen sind. Zu sehen bekam man ihn nie, aber man spürte seine Anwesenheit bis in die Baumwipfel, und sein Haus schien vor ihm zu zittern. Meines Erachtens wagten es nur seine beiden Töchter, seinen Zorn herauszufordern, wenn sie unerlaubt stiftengingen, aber, wie Oli sagte: Man wußte nicht, was er ihnen hätte antun können. So ungefällig war ihr Äußeres, daß man sich nur schwer einen Vater vorstellen konnte, der hartnäckig dem leibhaftigen Bild der Plumpheit nachstellte und die Hand gegen zwei Gesichter erhob, die zu ohrfeigen jeden Morgen der Spiegel übernahm.

Dafür kriegte Irving alles ab. An irgendwem mußte der Richter seine Wut abreagieren. Anfangs, als wir noch nicht im Bilde waren, zuckten Oli und ich zusammen, wenn Meryl ihn zur Seite zog. Wir wußten noch nicht, daß sie ihn nur tröstete, und es verschlug uns den Appetit, wenn sie ihn in ihre Arme schloß. Außerdem fand ich, trösten und trösten war zweierlei. Ich bezweifelte, daß sie ihn mit ihren zarten Küssen bedeckt hätte, wenn er den Schädel und die Wangen von Quasimodo gehabt hatte.

»Ich stelle fest, es gibt Dinge, die du nicht verstehen kannst«, meinte Edith zu mir.

Wir schauten zu, wie die weiche Zuckermasse am Ende unserer Stäbchen schmolz. Die anderen waren im Wasser. Wir waren hinausgegangen, weil das Feuer erlosch.

»Könntest du nicht eine andere Platte auflegen?« antwortete ich.

»Pah, ich würde das gleiche mit dir oder Oli machen. Was hieße das schon?«

»Mmm … Ich kann mir nicht vorstellen, daß du unsere Tränen abwischst. Das ist nicht deine Art.«

»Soso, ich kann mich aber nicht erinnern, daß ihr mir jemals Gelegenheit gegeben hättet. Außerdem wirkt Irving so zerbrechlich …«

»Ihr solltet euch zu zweit daranmachen.«

 

17. Juli 1965

Sie haben nichts von all dem, was ich an ihm liebe. Vor allem Irving nicht. Ich weiß nicht, was das ist. Ich möchte keinen, der auch nur die Hälfte seiner Fehler hat. Bin ich noch ganz bei Trost?

Um auf Irving zurückzukommen: Vielleicht hätte ich mich letztes Jahr noch mit ihm eingelassen. Jetzt habe ich davon die Nase voll. Und Henri-John hat recht, wenn er behauptet, daß ich keine mütterliche Ader habe. Ich habe keine Lust, jemanden in den Armen zu wiegen. Man muß zugeben, man findet sie nicht an jeder Ecke, die Typen, die von innen leuchten … Und ist das nicht immer ein Kampf mit ihnen?! Heute abend hätte ich ihn fast ins Feuer gestoßen. Trotzdem bin ich fröhlich, denn ich schreibe diese Zeilen draußen, in einer wunderbaren Nacht, und mir ist, als ziehe mich der Himmel an.

 

Eines Morgens traf Irvings Frau aus New York ein. Ich verstand schnell, warum er sich scheiden lassen wollte. Er wollte mir gerade zeigen, wie man mit einer Angelrute umgeht. Sie riß ihm die Ausrüstung aus den Händen und warf sie mitten ins poison ivy. Ohne einen Ton zu sagen. Sie war grün im Gesicht, und ihre Lippen zitterten vor Wut. Ich dachte, er werde ihr nach einem solchen Tiefschlag an die Kehle springen, ich war überdies einen Schritt zurückgewichen. Aber er wandte sich nur ab und ging nach Hause. Und sie folgte ihm wild gestikulierend. Mir blieb die Spucke weg.

Meryl erklärte mir, sie seien seit zwei Jahren verheiratet und es stehe nicht gerade gut um sie. Das fand ich auch. Wir kehrten aus Truro zurück, von einem Abstecher zum Supermarkt, und ich fuhr so langsam wie möglich. Ich visierte die Schlaglöcher an, hüpfte auf der Sitzbank, um näher an sie heranzurücken. Ich saß fast in der Mitte, unter dem Rückspiegel, aber sie rührte sich keinen Millimeter. Fast hatte ich Oli im Verdacht, ihren Sitz mit Leim bestrichen zu haben.

Sie sorgte sich einzig um Irving. Es ist hart, mit einem Mädchen durch die Gegend zu fahren, das die Stirn runzelt. Es setzte ihr zu, ihn in diesem Zustand zu sehen. Anscheinend machte ihm sein Vater das Leben sauer, weil man sich bei den Collins, stockkatholischen Leuten mit puritanischem Firnis, um das Maß voll zu machen, nicht scheiden ließ.

»Weißt du, vor seiner Heirat hat er überhaupt nicht getrunken …«

»Ach, das ist nur die Hitze«, wiegelte ich ab.

»Nein, Henri-John, das ist nicht die Hitze. Aber diese Hochzeit, mein Gott, was für eine Dummheit! Jeder wußte, daß das nicht klappen konnte.«

»Aha! Na ja, in der Tat …«

»Aber du kannst dir nicht vorstellen, welchen Druck sein Vater auf ihn ausgeübt hat. Es war widerlich!!«

Sie biß die Kieferbacken zusammen, starrte auf die Straße, ohne sich weiter um meine Anwesenheit zu scheren. Mir unter diesen Umständen ihr Knie zu packen hätte nicht viel Sinn gehabt. Kein Zweifel, ich hätte meinen Kopf gegen ihre Schulter lehnen können, sie hätte es gar nicht gemerkt, wozu also?

Ich weigerte mich, dieses Fiasko – ich hatte mir eingebildet, es reichte, wenn man uns fünf Minuten allein ließ – als Niederlage anzusehen. Selbst wenn ich der Typ gewesen wäre, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte, wären meine Chancen nicht besser gewesen. Sie war ganz von Irvings Problemen beherrscht, und wenn sie darüber nachsann, konnte man ihr auf der Nase herumtanzen und das Hohelied von allem möglichen anstimmen, ohne daß es etwas gebracht hätte. Ich bedauerte nur, daß ich mich nicht auf der Hinfahrt dazu aufgerafft hatte, aber leider hatte ich das Radio angemacht und war an die Neue von Bob Dylan geraten, Like a Rolling Stone, und ich hatte gedacht, ich sterbe, ich hatte mir auf die Lippen gebissen, und dann hatte ich auf die Straße gestarrt, und kein Striptease und keine Liebeserklärung hätte mich aufwecken können.

Na schön, das war also weiterhin eine Hängepartie. Der Form halber schenkte ich Oli, als er uns beim Abladen half, ein rätselhaftes Lächeln, genug, um ihm den Rest des Tages zu verderben.

 

Johnson hat heute morgen verkündet, daß er fünfzigtausend Soldaten nach Vietnam geschickt hat. Irving hat den ganzen Nachmittag getrunken. Überflüssig, ihn zu fragen, ob er sich mit seinem Vater angelegt hat. Diesmal ging es um Vietnam, morgen um etwas anderes. Das macht ihn noch ganz krank. Ein Taubstummendialog mit freudianischem Überguß, auf den wir gern verzichtet hätten.

Er hat sich mit seinen Bieren in die pralle Sonne gesetzt. Zu guter Letzt haben wir einen Sonnenschirm neben ihn gestellt, weil er sich überhaupt nicht mehr von der Stelle rühren wollte. Ich habe es Meryl und den anderen überlassen, sich abwechselnd zu ihm zu setzen. Ich setze mich nicht neben ihn. Ich beobachte. Ich bin die einzige, die nicht hin und her flattert. Und mein letztes I-Ging hat mir recht gegeben. Ich habe die Unbeweglichkeit gezogen, den Berg: »Das Denken muß sich auf die vorliegende Lebenssituation beschränken. Alle Gedanken und Spekulationen, die darüber hinausgehen, verletzen nur das Herz.«

Vor einer Stunde erst habe ich Meryl dabei ertappt, daß sie Oli unauffällig anschaute. Das hat mich nur ein wenig überrascht. Langsam kenne ich sie.

Danach ein Spaziergang im Mondschein mit einem gewissen Jim, der mir seit drei Tagen nachstellt. Ich fand ihn nicht übel, und heute abend war er lustig und nett. Er hat mich in seine Arme genommen, aber ich mußte fürchterlich lachen, als er mich küssen wollte. Ich habe ihm gesagt, es tue mir leid, das sei nervlich bedingt. Und da war nichts zu machen, ich konnte nicht anders. Als wir zurückkamen, suchte Henri-John schon eine Weile nach mir, weil er mit mir tanzen wollte. »Einen Slow?« habe ich ihn gefragt und mußte wieder laut lachen. Wahrhaftig, sie amüsierten mich alle, ausnahmslos, das lag an dem Abend. »Was ist los? Wo kommst du her? Bist du noch ganz dicht?!« Seine Miene verfinsterte sich, als er Jim anstarrte, der hinter mir stand. Und ich, was habe ich getan? Ich habe ihn angelächelt. Das hat ihm den Rest gegeben. Und die anderen kamen hinzu und bettelten, sie wollten wissen, ob wir was in den Beinen hatten, ob er mich wirklich durch die Luft wirbeln konnte, wie er sich wohl gebrüstet hatte. »Schon gut … Lassen wir’s«, hat er geknurrt. »Müßt ihr mir schon aufs Wort glauben.«

Kein Aufbrausen mehr, kenne ich nicht an ihm. Jetzt sind alle im Bett. Er sitzt allein draußen, und ich höre ihn murmeln. Wahrscheinlich spielt er mit seinen Kordeln.

 

Meryls Vater hatte weiße Haare. Ich wußte nicht, ob das der Grund war, warum seine Frau nach Europa geflohen war, aber Tatsache ist, daß er ziemlich alt wirkte. Er ähnelte Spaak, der, nebenbei gesagt, auch nicht jünger wurde, während meine Mutter immer noch genauso schön war. Allmählich hatte ich die Nase voll von diesen unzulänglichen Partnerschaften, diesen in die Brüche gegangenen Ehen, diesen desaströsen Verbindungen. Überall dasselbe, wenn ich mich umsah. War nicht der Selbstmord von Ediths Mutter eines der ersten Bilder meiner Kindheit? Waren all diese Männer und all diese Frauen nichts als Idioten und Masochisten?

»Eins scheinst du nicht zu begreifen«, sagte er eines Morgens zu mir, kurz bevor er nach New York zurückkehrte. »Ich bereue nicht, daß ich es versucht habe. Sicher, ich stimme dir zu, das ist nicht einfach, aber hast du einen besseren Vorschlag?«

»Besser als was?« antwortete ich ihm mit einem herben Lächeln.

»Du bist ein intelligenter Junge, Henri-John. Aber damit mache ich dir kein Kompliment. Ein intelligenter Bursche pinkelt nicht gegen den Wind, sondern macht am Ende in die Hose.«

Ich kannte ihn kaum, diesen Kerl. Er war nur für ein Wochenende aufgetaucht – wir hatten uns ein wenig erschrocken – und verschwand wieder, wie er gekommen war, aber was er mir da gesagt hatte, traf mich wie der Blitz. Dabei hatte ich schon allerlei zu hören bekommen. Im Laufe der Diskussionen, die ich mit Georges führte, mußte ich kaum zu parierenden Stößen ausweichen. Ich fand mich mit den großen Vorträgen ab, die mir meine Mutter über die richtige Art hielt, die Welt anzugehen, und umkurvte geschmeidig die Reden, die Alice oder Ramona schwangen, wenn sie mich zu erweichen suchten. Und plötzlich, zu einem Zeitpunkt, wo ich überhaupt nicht darauf gefaßt war, erzählte mir ein quasi Unbekannter irgendeinen Quatsch, und ich geriet ins Taumeln.

Ich wollte ihm nach, ihm ein für allemal die Meinung sagen, aber er war bereits weg.

Ich verbrachte den Rest des Tages im Wasser, trank ein paar Bier mit Irving. Wir schrieben den 15. August. Die Aufstände von Watts hielten seit fünf Tagen an, und die ›Beatles‹ traten im Shea Stadium auf, im Radio hieß es: fünfundsechzigtausend Zuschauer außer Rand und Band, und er fluchte darüber, aber ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Ich hatte andere Sorgen. Und ich sah auch nicht ein, daß Bierpicheln im Abendlicht, auf einem Liegestuhl mit einem Hühnchensandwich in der Hand, die ideale Haltung war, um an dem Leben in den Ghettos Anteil zu nehmen.

Mit seiner trüben Stimmung konnte ich mich jedoch anfreunden. Ich hatte auch keinen überragenden Anlaß zur Freude. Nicht nur, daß mich diese Sache mit dem Pinkeln gegen den Wind beschäftigte, auch mein Techtelmechtel mit Meryl machte keinerlei Fortschritte. Ich hatte den Eindruck, daß sich alles verfinsterte. Oli entzog sich mir, und Edith fing grundlos an zu lachen. Dazu Irving, der neben mir Trübsal blies, aber die einzig annehmbare Gesellschaft war.

Ich hatte das Gefühl, daß Oli inzwischen im Vorteil war. Es waren nur unscheinbare Details, die mir dies sagten, aber ich schätzte, daß er viel näher am Ziel war, als er selbst glaubte. Abends hatte ich Schwierigkeiten, einzuschlafen. Ich konnte ihm noch so viele Beinchen stellen und mir das Gehirn zermartern, um ihm eins auszuwischen, sein Vormarsch war unaufhaltsam. An seiner Stelle wäre ich längst aufs Ganze gegangen, und tatsächlich hinderte nicht ich ihn daran, sondern die Gefühle, die er für sie hegte. Das trübte ein wenig seinen Kopf, hüllte ihn in eine solch schwere Rüstung, daß er Mühe hatte zu reagieren. Ich schäumte schweigend, aber das war keine kalte, strahlende, befreiende Wut. Das war das genaue Gegenteil.

 

Ich mache mir Gedanken um Oli. Genaugenommen gibt mir nur Evelyne keinen Anlaß zur Sorge. Ich sehe sie überdies mit anderen Augen, seit ich zurück bin. Es kommt zwar noch vor, daß ich die Nächte zähle, die sie außer Haus verbringt, aber das ist eine Art Reflex und löst nicht mehr viel in mir aus. Letztens hat sie mich von unten her angeschaut, weil ich im Garten mit einem Typ quatschte, der auf sie wartete und der mir, jaja, bis auf ein, zwei Kleinigkeiten gar nicht so übel vorkam, zumal ich ja nicht mit ihm ausgehen mußte. Und gestern erst sind wir beide uns in der Küche begegnet, gegen ein Uhr morgens, bei einem meiner nächtlichen Geheimausflüge zu einem Kühlschrank, der besser gefüllt ist als meiner. Wir haben uns an eine Ecke des Tisches gesetzt. Ich hatte nie darauf geachtet, daß wir mit diesem Heißhunger, der uns mitten in der Nacht überfiel, zumindest eines gemeinsam hatten. Und obwohl das noch ein wenig neu für mich war, glaubte ich doch gewisse Züge in unser beider Wesen zu erkennen, die einander ähnlich waren, eine Sache, die mir noch nie aufgefallen war und die mich auch jetzt noch erstaunt. Sie fand, mein Einsiedlertum habe auch sein Gutes, ich würde allmählich ein annehmbarer Vater, sagte sie lachend, na ja, ich sei auf dem besten Weg.

»Ich will dir nicht verhehlen, daß der Weg lang ist«, habe ich gemurmelt.

Vielleicht nimmt das nie ein Ende. Zum Beweis hätte ich nur den Himmel anzuschauen brauchen, und ich hätte ein Blau entdeckt, das ins Violett spielte, ein Rosa, das mich ratlos gemacht hätte. Ich glaube, Eléonore hat zur Zeit einigen Kummer, aber sie hat mir nichts davon erzählt. Muß ich mit einem Helm auf dem Kopf nach draußen gehen?! Der Weg ist nicht so lang, aber er endet nie. Einem Hindernis ausweichen heißt auf ein anderes stoßen. Es gibt nichts Festes unter unseren Füßen. Der Geist muß locker bleiben.

Schlage mich da, wo ich nicht damit rechne. Verwandle meinen Weg in ein Meer von schroffen Felsen, und ich werde von einem zum andern springen, denn du hast mir Beine gegeben und Verpflegung und hast mich mitgezogen. Gibt es neue Schwierigkeiten, finstere Prüfungen am Horizont? Und werden sie von dir kommen, Eléonore? Das macht nichts, mein Mädchen, meine Liebste, ich bin bereit.

Kurz und gut, im Augenblick geht das Gewitter auf Oli nieder. Ich mißtraue Giuletta. Und ich bin heilfroh, daß ich mich von ihr ferngehalten habe, daß ich sie nur in allen Ehren auf meinen Schoß genommen habe.

Mir war bereits aufgefallen, daß die Sache nicht zum besten stand, aber seit einigen Tagen hat sich das Klima zwischen den beiden eindeutig verschlechtert. Wir sehen uns oft, Oli und ich. Wir haben beschlossen, daß uns nichts umwerfen kann. Wenn wir zu Abend essen, denken wir nicht daran, daß Edith mit Robert Lafitte zusammensein könnte und Giuletta am Arm von weiß der Himmel wem. Wir trinken ein letztes Glas bei ihm und rauchen eine Zigarre, während wir uns über die Karten der ganzen Welt beugen. Wir haben eine leichte Vorliebe für Alaska, wo die Hechte mannsgroß sein können. Wir haben Adressen, Reiseprospekte. Gestern abend haben wir Harrisons Drinking song gesungen. »In the river was a trout and I was on the bank, my heart in my chest, clouds above, she was in NY forever, and I fishing and drinking.«

Wir werden sicher nicht nach Alaska reisen, aber darum geht es nicht. Ich verlasse ihn mit roter Nase, blauen Fingern und nach frischem Fisch stinkend. Die schönsten Exemplare haben wir wieder ins Wasser geworfen. Keine Frau erwartet uns zu Hause.

Er hat ihr die Rolle im Sacre verweigert. Georges hatte mit Rebecca mitunter das gleiche Problem, aber er hat nie nachgegeben. Oli kennt da auch keinen Spaß. Sie hat ihn gewarnt, das werde er ihr büßen. Er hat immer noch nichts von ihr gehört.

»Nein, das wird sie nicht tun«, versuchte er uns zu überzeugen.

Ich will ihn nicht beunruhigen. Vielleicht täusche ich mich. Sie hat ihre Koffer erst gestern morgen gepackt.

»Kann sein, daß sie wieder zurückkommt«, sagt er.

Und wir sind immer noch mittendrin, es gibt keinen Anfang und kein Ende.

 

Vom Kiffen wurde mir übel. Nach einer Prise LSD hatten mir die Haare zu Berge gestanden, und nachdem ich mir ein paar Krümel Speed reingezogen hatte, hatte ich eine ganze Korbflasche Poland Spring geleert, und die enthielt fünf Gallonen. Um mal was anderes zu probieren, kaufte ich manchmal so ein Zeug, aber entweder verteilte ich es, oder es flog tagelang in meiner Hosentasche herum.

Oli und ich waren an diesem Morgen im Haus geblieben, während die anderen baden gingen. Er hatte irgendwas zu schreiben, und ich sann über das Frühstücksgeschirr nach. Ich hatte mich – unter dem Vorwand, sie hätten ewig lang am Tisch rumgehangen – geweigert, mit dem Spülen anzufangen. Ich war zwar an der Reihe, aber ich hatte ihnen gesagt, sie könnten mich mal. Ich war mit dem falschen Fuß aufgestanden, ich war ziemlich schlecht gelaunt. Schließlich war Oli für mich eingesprungen. Er hatte allein angefangen. Dann hatte Meryl ihm geholfen. Es fehlte nicht viel, und sie hätten angefangen zu singen, als wollten sie den ganzen Tag mit den Fingern im Spülwasser verbringen, Ellbogen an Ellbogen, und sich Geschichten erzählen und unter dem Schaum einander die Hände reiben. Das war wirklich eine einzige Verarschung.

Ich schaute Oli an, der mit einem Kuli im Mund seine Gedanken schweifen ließ, er lag der Länge nach auf dem Boden und schnurrte, als läge er auf Federn. Die andern waren nicht zu sehen, aber man konnte sie weiter unten hören. Ich war auf hundert. Und ich hatte den entsetzlichsten Knoten meiner ganzen Laufbahn fabriziert.

»Ja verdammt nochmal, was treibst du da eigentlich?!« wetterte ich und schmiß ihm den Knoten ins Gesicht.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, was los war. Aber ich hatte nicht das Talent, ihn auf die Palme zu bringen.

»Ich schreibe ein Gedicht …« antwortete er ernsthaft.

»Was machst du??!«

»Ich sag doch, ich schreibe ein Gedicht. Weißt du nicht, was das ist?«

»Bist du noch zu retten oder was?!«

Er wandte den Kopf ab. Nicht daß ihn meine Reaktion zu ärgern schien, offenbar störte ich ihn nur beim Nachdenken. Überflüssig zu fragen, wem sein Opus gewidmet war. Kitsch hing in der Luft.

»Scheiße! Was denkst du dir eigentlich?! Merkst du nicht, daß du an Gehirnaufweichung leidest?!«

»Hör mal, das kannst du nicht verstehen.«

Mir langte es allmählich, ständig zu hören, daß ich nichts verstand. Die Sonne knallte mir auf den Kopf.

»Du bist noch keine zwanzig, du armer Irrer. Was willst du mir schon beibringen?!«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die bedeutete, daß er keine Lust hatte, mit mir zu diskutieren. Ich, ich hatte ihm nie etwas von meinen Liebesabenteuern verschwiegen, ich hatte ihm alles erzählt, was er wissen wollte, ich hatte ihm sogar geholfen, wenn er sich in eine unmögliche Situation manövriert hatte. Und das war der Dank dafür. Im Grund war mir Meryl ziemlich egal. Wenn ich ihr ein Flugticket hätte zustecken können, damit sie zum Teufel ging, hätte ich das ohne Zögern getan. Mein Herz zog sich nicht zusammen, wenn ich sie ansah, ich hatte nicht das Bedürfnis, ihr ein Gedicht zu schreiben oder nach ihrem Glas zu greifen, um mit ihr daraus zu trinken, oder ihre Gabel abzulecken, als ob nichts wäre, nur daß ich nicht blind war und nicht wie ein Volltrottel dreinblickte. Ich gab zu, daß sie anders war als die andern, daß man eine Minute darüber nachdenken und sich durchaus ein wenig Mühe geben konnte, um sich an ihren Arm zu klammern, aber nicht um jeden Preis. Das war der Unterschied zwischen Oli und mir. Er war bereit, den Preis zu zahlen, ganz gleich, was es kostete. Ich konnte in meiner Ecke verrecken, dieser Saukerl hätte es nicht einmal bemerkt.

Eher zufällig fuhr ich mit der Hand in meine Hosentasche.

»Ich hab die Schnauze voll von diesem Stuß«, erklärte ich ihm.

Da er keine Antwort gab, stand ich auf und hockte mich vor ihn. Ich machte vor seiner Nase meine Hand auf und zeigte ihm die Pille.

»Guck mal. Das ist die Lösung unserer Probleme …«

Bislang ganz Gleichmut, verwandelte er sich in Väterchen Fratze.

»Hmm? Was ist das denn?«

Es gab so viele Gerüchte darüber, daß man es nicht genau sagen konnte. Der, der es verkaufte, schwor einem, daß es für alles gut war.

»Das wird sie in die richtige Stimmung bringen. Das reicht für uns beide, wenn du mich fragst …«

Trotz seiner Bräune wurde er bleich. Ich existierte also wieder für ihn. Endlich entschloß sich der Herr dazu, mir lebhafte Aufmerksamkeit zu widmen. »Ah, hol ruhig wieder Luft, mein Bester! Nicht daß du mir erstickst, du kleiner Phantast!«

»Nein … Mal langsam … Was hast du vor??!!«

Ich wußte selbst nicht, was ich vorhatte, aber ich würde es schnell herausbekommen. Ich sprang auf, fort von der Hand, die er nach mir ausstreckte.

»Ich werde ihr etwas zu trinken machen. Was hältst du davon?«

Er stand ebenfalls auf, mit verzerrtem Gesicht, hängendem Kiefer. Ich erkannte, das war es, was ich wollte.

»Mein Gott! Zwing mich nicht, dich daran zu hindern«, stieß er mit tonloser Stimme hervor.

»Wehe, du kommst mir in die Quere«, knurrte ich.

Wir stierten uns einen Moment lang an, dann stürzte ich mich auf ihn.

Und das war kein Jux. Ich prügelte mit voller Wucht auf ihn ein.

 

5. August 1965

Ich hatte so etwas wie eine Vorahnung. Ich habe nichts gesagt, ich bin ins Haus zurückgegangen.

Oli lag auf dem Boden. Sein Gesicht war ganz rot, und er blutete aus dem Mund, er stöhnte. Henri-John saß neben ihm, er hatte die Beine an die Brust gezogen und die Arme um seine Knie geschlungen.

»Laß uns in Ruhe«, murmelte er.

Ich trat näher und kniete mich neben Oli hin. Ich spürte Henri-Johns Blick auf mir. Ich war unfähig, einen Ton zu sagen, und mir fiel nichts Besseres ein, als meinem Bruder die Haare zu ordnen und mir auf die Lippen zu beißen.

Als ich meine Augen auf Henri-John richtete, habe ich gedacht, er sei um zehn Jahre gealtert. Seine Augen funkelten, aber seine Haut war grau und spannte sich wie Pergament. Er hatte eine Hand in ein Tuch gewickelt, und die andere war voller getrocknetem Blut. Er starrte Oli an, der halb ohnmächtig war, und ich hätte nicht sagen können, was in ihm vorging, noch nie hatte ich einen solchen Gesichtsausdruck gesehen. Und ich wußte auch nicht, was ich empfand. Ich war völlig leer. Kein Ekel, keine Wut, keine Trauer. Wie diese Leere vor dem Schmerz, wenn man sich irgendwo verletzt, nur daß das nicht aufhörte.

Und ausgerechnet in diesem Moment schneiten die Töchter des Richters herein.

»Macht, daß ihr wegkommt …!« knurrte er.

»Irving hat sich in der Scheune aufgehängt …« teilten sie uns mit.

Wenn ich Mut hätte, würde ich heute abend zu Henri-John gehen. Heute abend schlafen Meryl und Oli in einem Zimmer.

 

»Wirklich, werter Freund … Das ist sehr peinlich«, raunt mir Heissenbüttel zu.

»Für wen?« frage ich ihn.

Wenn ich mir irgendwelche Unannehmlichkeiten hätte ersparen wollen, wäre ich nicht zu dieser Abendveranstaltung gekommen. Ich wollte nur wissen, ob sie soviel Dreistigkeit hat, und sie hat mich nicht enttäuscht. Robert Lafitte fühlt sich nicht sehr wohl, er meidet meinen Blick, achtet jedoch darauf, mir nicht den Rücken zuzukehren.

Die Nacht ist außergewöhnlich mild. Heissenbüttels Wohnung mündet in eine große Terrasse zwischen den Dächern von Saint-Vincent. Das ist ein angenehmer Ort, von dem man die ganze Stadt überblicken kann, und auf dem Balkon steht man mit zufriedenem Lächeln wie an der Spitze eines Flaggschiffs. Das ist ein ganz pariserischer Abend, mit hübschen Frauen, die nicht die Augen niederschlagen. Meine Geringschätzung für diese Stadt gilt nicht den Frauen. Auch nicht den Cafés. Oder den Straßen am frühen Morgen. Oder dem Einbruch der Nacht.

Ich habe mich zu Edith gesellt. Robert Lafitte bleibt wie versteinert am Buffet stehen.

»Meinst du, ich mache ihm angst?«

»Ich weiß nicht. Du kannst ihn ja mal fragen.«

»Ich hab das Gefühl, er beobachtet uns.«

»Ja, in der Tat, er läßt uns nicht aus den Augen.«

»Schade, daß du meine Frau bist und außerdem in Begleitung. Ich glaube, sonst hätte ich gern mein Glück versucht.«

»Mach mir nicht den Hof, Henri-John. Es war noch nie deine Stärke, mich einzuseifen.«

Die Hummer kommen auch nicht gar auf deinen Teller, hatte Finn immer gesagt.

Ich schlage keine Wurzeln bei ihr. Ich überlasse ihrem Trainer meinen Platz.

»Hören Sie, werter Freund, das ist wirklich sehr ärgerlich. Sie sehen mich untröstlich«, ereifert sich Heissenbüttel.

»Keine Ursache«, sage ich zu ihm.

Ich bin nicht am Boden zerstört. Ich bin nicht wütend. Ich bin nicht in der Stimmung, mit Ediths Manager Streit anzufangen, denn: »Diejenigen, die Experten in der Kunst der Kriegführung sind, besiegen die feindliche Armee kampflos« (Sun Tzu, III, 10). Solange sie mir von Zeit zu Zeit einen Blick zuwirft, bin ich zufrieden wie eine Pflanze in der Wüste, die einen Regentropfen auffängt. »Wenn dich eine Frau nicht sterben läßt, dann kannst du aus deinem Haus gehen und dich lachend auf dem Boden wälzen« (anonymus).

Ich habe nichts gegessen, aber ein paar Gläser getrunken. Einige weibliche Gäste, die mich nicht kannten und für einen Junggesellen hielten – die meisten wollen keine Scherereien –, traten an mich heran, um mich aus der Nähe zu betrachten, und sie brachten es fertig, meine Phantasie anzuregen, während sie mir von diesem und jenem erzählten. Ich frage mich, aus welchem Holz man geschnitzt sein muß. Und nicht nur wegen der Sache mit dem Sex. Ich finde es schade, daß niemand für die Missetaten Rechenschaft ablegen muß, die er nicht begangen hat.

Ich will gerade gehen, als mich Heissenbüttel am Ellbogen packt, um mich zur Tür zu begleiten. Jetzt, wo wir allein sind, wagt er es, die Stirn zu runzeln.

»Kommen Sie, mein Freund. Es ist Zeit zu reagieren!«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen Arm losließen.« Seine Hand sinkt, aber er läßt sich nicht aufhalten: »Also bitte … Kommen Sie zu sich, Teufel noch mal!«

»Hören Sie, lassen wir dieses Thema, ja?«

»Ich möchte Ihnen nur helfen, Henri-John …«

»Ach, verzichten Sie darauf, mir helfen zu wollen. Und wo wir einmal dabei sind: Wenn Sie Richter Collins treffen, richten Sie es ihm auch aus.«

»Finden Sie nicht, daß Sie ein wenig undankbar sind, mein Bester? Schauen Sie sich um. All diese Leute halten Saint-Vincent zur Hälfte am Leben. Sie sehen dort sehr großzügige Spender, äußerst einflußreiche Eltern … Und Sie sind der einzige Lehrer, den ich zu diesem Abend eingeladen habe … Aus Freundschaft zu Ihnen und Ihrer Frau. Vergessen wir einen Augenblick, was ich als Privatperson empfinde, und überlegen Sie sich, in was für eine Lage Sie mich als Schulleiter bringen … Zwingen Sie mich nicht, Maßnahmen zu ergreifen, unter denen wir beide zu leiden hätten.« Ich habe gelacht.

»Nehmen Sie meine Worte nicht auf die leichte Schulter«, hat er hinzugefügt.

Schnell wie eine Schlange hat sich meine Hand um seinen Bizeps geschlossen. Pflaumenweich war sein Arm. Meine Stimme wie aus einer anderen Welt.

»Bleiben wir Freunde, altes Haus. Hören Sie gut zu, was ich Ihnen sage. Ich weiß nicht, wer von Ihnen alles hinter meinem Rücken agiert, und ich bin nicht in der Lage, gegen alle zu kämpfen. Schweigen Sie, hören Sie mir zu. Jetzt versuche ich Ihnen zu helfen. Ich werde der Übermacht erliegen, wie ich bereits sagte, aber nicht, bevor ich mit Ihnen und Collins abgerechnet habe …«

»Also bitte, Sie phantasieren!«

»Lächeln Sie, man schaut uns zu.«

»Um Gottes willen, wie kommen Sie denn darauf?!«

»Ich weiß es nicht. Mag sein, daß ich mich täusche … Aber wehe, Sie versuchen den geringsten Druck auf mich auszuüben, dann mache ich Ihnen das Leben zur Hölle … Und krümmen Sie Edith nur ein Haar, dann ersäufe ich Sie in Ihrem eigenen Blut. Wie soll ich sagen … Versuchen Sie sich nicht mit mir anzulegen, sonst zerfetze ich Sie unter dem Tisch …«

 

Das passierte am Abend, nach Irvings Beerdigung. Das traf mich voll vor die Brust. Fast wäre ich den Felsen runtergestürzt. Meine Hand schloß sich um das Treppengeländer.

Wegen der Hitze hatten die Collins die Formalien beschleunigt. Ich schwitzte. Ich kam aus dem Krankenhaus, wo man mir den kleinen Finger verbunden hatte. Ich hatte ihn mir gebrochen, als ich Oli verdroschen hatte, und es war noch keine Stunde her, daß man ihn mir wieder gerichtet hatte. Mein ganzer Arm schmerzte. Um das Grab herum waren so viele Blumen, daß man einen widerlichen Geruch einatmete.

Soviel wir wußten, hatte sich Irving nach einer hitzigen Auseinandersetzung mit seinem Vater erhängt. Seine beiden Schwestern hatten uns alles haarklein erzählt, ohne jede Rührung, als handele es sich um einen Unbekannten, der auf der Straße überfahren worden war. Einmal mehr – ein letztes Mal – war diese Scheidungssache zur Sprache gekommen, und Collins hatte seinen Sohn geohrfeigt und gedroht, ihn einsperren zu lassen.

In der Kirche hatte sich Meryl, viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Tränen abzuwischen, noch zurückgehalten. Als sich jedoch der Trauerzug in Bewegung setzte, fing sie an zu gestikulieren und den Richter zu beschimpfen, der vorneweg ging. Ihre Ausbrüche lösten in den Reihen eine gewisse Unruhe aus, Köpfe wandten sich um, und diese Bewegung pflanzte sich bis zur Quelle des Aufruhrs zurück. Oli zog Meryl beiseite, versuchte ihre Verwünschungen an seiner Brust zu ersticken.

Während der Grablegung heftete der Richter seinen Blick auf Edith und mich und fixierte uns einen Moment lang. Wir kannten ihn kaum, hatten uns höchstens einen guten Tag gewünscht, wenn wir ihm auf dem Weg begegnet waren oder an Irvings Seite sein Grundstück durchquert hatten. Doch sein Blick war fürchterlich, und ich wußte nicht, was er dachte, als er uns so anstierte. Nichts Wohlwollendes, wenn man mich fragte. Vielleicht suchte er jetzt, da er keinen Sohn mehr hatte, neue Opfer, an denen er seinen Zorn ablassen konnte.

Wieder im Haus, saßen wir einen langen, traurigen und schweigsamen Nachmittag ab. Oli und Meryl ließen einander nicht los. Es tat mir weh, die beiden anzuschauen. Zum einen, weil in ihrer Beziehung eine solche Sanftmut war, daß es mich schon störte. Zum andern, weil Olis Gesicht dermaßen geschwollen war, daß mir der kalte Schweiß ausbrach.

Meine Wut war überdies verraucht, und ich haute mich seit zwei Tagen vors Geschirr. Ich hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, sämtliche Bezeichnungen hingenommen, mit denen man mich nach meinem großen Auftritt bedacht hatte. Es hatte mir sogar eine gewisse Beruhigung verschafft. Am Tag zuvor hatten sie mich von morgens bis abends ignoriert. Mein Finger tat höllisch weh, aber das war das letzte, worüber ich hätte sprechen können. Oli war gelb vor Arnika, und ich hatte keine Lust, noch einen drauf zusetzen. Bis heute morgen hatte mich niemand gefragt, warum ich ein Tuch um die Hand trug. Vielleicht glaubten sie, ich würde Mitleid heischen, würde nur einen Grund für meine Grimassen vortäuschen, wenn ich mich mit dem Geschirr abplackte.

»Wenn Meryl ihn einen Moment freigäbe, würde ich mich gern fünf Minuten neben ihn setzen«, sagte ich mir, während ich die Nudeln abtropfen ließ. Sie waren draußen. Im Licht der untergehenden Sonne glich Olis Kopf einem von innen angestrahlten Zelluloidspielzeug, einem von der bunten Sorte.

Niemand hatte Hunger. Ich schaffte die Schüssel und die Teller wieder nach drinnen. Ich fühlte mich wirklich leer. Edith hatte sich während des Frühstücks nach meinem Finger erkundigt, und sie hatte mich ins Krankenhaus gefahren. Am Nachmittag war sie mit mir schwimmen gegangen. Wir blieben unter uns, als Meryl und Oli zum Strand hinabstiegen.

Ich schenkte ihr jedoch keine Aufmerksamkeit. Die Ereignisse dieser letzten Tage hatten mich ein wenig erschüttert, und ich drehte mich um mich selbst, jeder noch so banale Gedanke, der mir kam, artete in ein Gift aus, in einen finsteren Hinterhof, in einen Becher Weltschmerz.

Ich blickte nicht mehr durch. Mir war, als wäre ich krank oder als brütete ich etwas aus. Ich zermarterte mir das Hirn, um herauszubekommen, was nicht stimmte, aber es half nichts, es gab immer einen Moment, in dem alles dunkel wurde.

Dann kam mir der Gedanke, daß ich selbst das Licht ausknipste. Das war der einzige Geistesblitz, der mich eine Sekunde lang erleuchtete. Dann, wieder in meiner Finsternis, erkannte ich, daß mich das letztlich auch nicht weiterbrachte.

Ich stellte mich an den Rand der Klippe, um eine Zigarette zu rauchen. Es war windig, aber ich mußte nicht pinkeln. Ich erblickte Meryl und Oli, die auf der untersten Treppenstufe saßen. Ich fand, daß es sich lohnte, eine Tracht Prügel einzustecken, wenn man dafür eine solche Belohnung erhielt. Mir hatte mein kleiner Finger nichts vom Himmel geholt.

Ich versteifte mich leicht, als sie sich küßten. Ich beobachtete sie, und nach einer Minute kam es mir vor, als ob ich nicht so ganz raffte, was sie da trieben. Ich wußte, wie man es anstellte, ein Mädchen zu küssen. Und das da ähnelte dem, nur daß es ganz anders war. Oder ich hatte noch einiges zu lernen. Und damit spuckte ich auf den Boden.

Dann steckte ich die Fäuste in die Taschen. Unten hielten sie Händchen, schmiegten sich aneinander. Mir war nicht kotzübel, aber ich hatte das Gefühl, als stiege mir alles in die Kehle. Mir war auch nicht nach Weinen zumute, und dennoch schien sich alles in meinem Innern zu verflüssigen, ich spürte überhaupt nichts Festes mehr. Schlimmer noch: Ich lief aus wie ein Sieb, die Kälte rutschte aus meinem Kopf, durchdrang meine Brust und glitt in dem Maße, wie der Pegel sank, an meinen Hüften entlang. Das war die Leere, die sich breitmachte oder vielmehr in diesem Augenblick auf recht bizarre Weise zutage trat. Ich holte Luft, und der Wind drang in meine Nasenflügel, fauchte quer durch meinen Körper, als durchströme er ein Haus ohne Möbel, ohne Türen, ohne Fenster, ohne eine Menschenseele vom Speicher bis in den Keller.

Und da hörte ich Ediths Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um, so schlecht dran wie nur einer.

»Entschuldige«, murmelte ich, »aber ich habe nicht verstanden, was du gesagt hast …«

»Dann will ich es dir noch einmal sagen …«

Ich nickte. Wenn sie mir den Rest geben wollte, dann war das der richtige Zeitpunkt, ich hätte mich nicht gewehrt. Ich schaute sie an, da sie zögerte.

Und sie erklärte mir: »Du findest nichts Besseres als mich, Henri-John. Du solltest mir wenigstens einmal was glauben …«

Und meine Hand langte nach dem Treppengeländer.

 

»Na ja … Ich glaube, ich hätte es gern zurück …«

Sie wußte natürlich, daß ich es hatte mitgehen lassen. Ich wußte meinerseits nicht, wie sie reagieren würde, wenn wir auf dieses Thema kamen, es konnte sein, daß ich Ärger bekam. Aber ich hatte sie nach diesem Abend bei Heissenbüttel kalt erwischt, in der Küche, und es war spät, und ich hatte keinen Skandal verursacht, ich hatte keinen Streit mit ihrem Impresario gesucht, ich war perfekt gewesen. Hatte ich es verdient, daß sich auch nur ein leiser Zorn über meinem Haupt entlud?

»Paß auf, könnte ich es noch ein wenig behalten?«

»Und warum?«

»Sagen wir, du bist das erste Mädchen, an das ich das Wort gerichtet habe, und ich habe mich daran gewöhnt. Wenn ich wach werde und dein Tagebuch nehme, schaffe ich es nach einer Weile, wieder einzuschlafen.«

»Na, vielen Dank!«

Aber sie lächelte.

»Weißt du«, habe ich hinzugefügt, »wo wir davon reden, ich hab mich gewundert, daß du so lange gewartet hast. Ich hatte wirklich ’ne lange Leitung …«

»Ich war noch jung …«

»Ich glaube, bei Männern ist das anders. Erst wenn sie älter werden, kommt ihnen die Geduld zu Hilfe.«

 

8. August 1966

Er weiß nicht, was er will. Das ist nicht erst seit heute so, und vielleicht wird er sich nie ändern. Warum erscheint mir dagegen alles so klar?

Ich habe meinen Platz mit Ramona getauscht. Ich lege keinen Wert darauf, mich am Vorabend unserer Hochzeit zu streiten. Frage ihn bloß keiner, warum er kein Kind will, er weiß es selbst nicht, sämtliche Gründe, die er anführt, ziehen nicht eine Sekunde.

Aber Herrgott, es fällt mir schwer, ihm zu widerstehen, wenn er sich mir zuwendet, ich habe das Gefühl, ich liebe ihn jeden Tag mehr. Morgen sind wir genau ein Jahr zusammen. Ich habe Angst, daß er mir zu guter Letzt mit seinen Seufzern und Grimassen ein Lächeln entlockt.

Elisabeth sagt zu mir: »Sie sind stärker, als sie glauben … Aber es ist unsere Schuld, wenn sie es herausbekommen …«

Oli hat uns heute morgen angerufen. Um zu fragen, ob wir immer noch entschlossen sind (ha, ha!). Anscheinend ist der Priester nervös, weil wir nicht zur Probe gekommen sind, und er hat noch nie zwei Paare auf einmal getraut. Ich rechne fest damit, daß Oli und Henri-John ein allgemeines Chaos auslösen.

Ich habe beschlossen, dieses Tagebuch zu beenden. Heute oder morgen. Ich werde anderswo schreiben, etwas anderes, ich weiß es nicht genau … Es gehörte zu einem Lebensabschnitt, der zu Ende geht. Vielleicht sollte ich am besten mit diesen unter freiem Himmel gekritzelten Worten aufhören. Besser als in irgendeiner lyrischen Scheiße zu versinken.

 

Das war wirklich eine ganz blöde Lappalie, warum wir noch einmal zum Haus zurückfuhren: Oli hatte seine Heiratsurkunde vergessen.

Wir wendeten auf der Brücke von Sagamore, es war noch früh am Morgen. Überall auf der Welt gibt es Leute, die einfach bescheuert sind. Wir drohten Probleme zu bekommen, wenn wir ein Hotelzimmer nehmen wollten, und der Grand Canon war nicht gerade nebenan. Oli und ich hatten mit diesen Papieren rumgealbert, und er hatte seins schließlich an seine Zimmertür genagelt. Ich hatte meins erst in einen Hut, dann in einen Biertrichter verwandelt, aber Edith hatte sich eingemischt und es beschlagnahmt, bevor ich es mit Budweiser taufte. Es war eine glorreiche Nacht gewesen.

Georges hatte uns ein Coupé gemietet. Weiß, mit roten Ledersitzen. Oli saß am Steuer, einen Arm um Meryls Schultern. Wir hörten Mother’s Little Helper. Wir kamen über Bay Village Road, nördlich von Truro. Genau in dem Moment, wo wir in den Weg einbogen, der zum Haus hinabführte, stieg ein Schwarm Reiher auf. Wir guckten alle in die Luft.

Der Wagen brach aus, kam vom Asphalt ab. Wir waren daran gewöhnt, wir hatten diese Kurve mindestens hundertmal wie die Irren genommen. Aber an diesem Morgen kam uns Rebecca mit dem Rad entgegen.

Sie wurde in die Büsche geschleudert. Sie war auf der Stelle tot, denn jemand hatte mit einer Maschine die Sträucher gestutzt. Ein schrägkantig geschnittener Zweig durchbohrte ihre Brust.

Gleichzeitig riß Oli das Steuer herum, und der Wagen kippte um. Edith und ich wurden beim ersten Überschlag hinauskatapultiert. Der Buick stürzte weiter den Abhang hinunter.

Meryl starb noch in der Nacht. Oli erwachte zwei Tage später aus dem Koma. Man hatte sein Bein gerade noch gerettet. Das war’s.

 

»Und was hat er geantwortet?«

»Nichts … Er hat gesagt, er verstehe das nicht. Er hat mich in seine Arme geschlossen, weil ich wieder mit seiner Tochter bumse.«

»Weißt du, ich glaube, das ist die Wahrheit. Ich glaube nicht, daß er was mit Collins ausgeheckt hat. Und Heissenbüttel ist ein feiger Idiot.«

»Ja, das heißt, ganz so klar ist das nicht … Ich finde, es gibt zur Zeit eine Menge Kreuzzüge, und die Truppen sind nicht besonders helle. Es gibt zu viele Leute, die einen dazu bringen wollen, die Straße zu überqueren, obwohl man keine Lust dazu hat. Selbst wenn er nichts Konkretes gegen Edith unternommen hat, und da bin ich mir gar nicht so sicher, hätte er sie doch lieber tot gesehen als geschieden, das hat er mir gesagt. Dein Vater ist ein gefährlicher Kerl, Oli, und das weißt du. Jeder, der glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben, ist eine Bedrohung für die andern. Er soll ruhig seinen Nächsten lieben, ansonsten soll er einen in Frieden lassen.«

Wir kamen von einem Essen mit Giulettas Anwalt. Ich hatte dem guten Mann mit Hilfe einer kleinen Kordel gezeigt, daß die Schlinge, mit der er uns – ich meine Oli – zu erwürgen glaubte, nur eine Illusion war. Er hatte seine Brille geputzt. Sodann eingesehen, daß der Fall vielleicht doch nicht von vornherein gewonnen war, daß bei meiner Aussage – ich hatte einen Koffer voller Krawatten, mit denen dieses hysterische Mädchen versucht hatte, einen Familienvater zu verführen – die Anklage wegen Verführung einer Minderjährigen schnell in sich zusammenbräche.

Oli hatte einen kleinen Scheck ausgestellt. Nachdem der Mann gegangen war, hatten wir über die Tournee des Balletts nach Leningrad gesprochen. Oli wollte gern zusammen mit mir dorthin zurückkehren. Ich hatte gelächelt.

Dann hatte ich ihm erzählt, daß ich Georges bei meiner Mutter getroffen hatte. Und daß ich ihnen verkündet hatte, Edith und ich hätten unsere sexuellen Beziehungen wiederaufgenommen.

»Das ist ein guter Anfang, Henri-John«, hatte mir Georges ins Ohr geflüstert, während meine Mutter und Ramona nickten.

 

»Sicher werden Sie deine Adverbien zählen, deine Obwohls und die Länge deiner Ellipsen messen … Das ist ihr Job. Aber du, du schneiderst dir kein Abendkleid, du schreibst ein Buch! Kümmere dich nicht drum, was man über dich schreibt, ob gut oder schlecht. Meide die Orte, an denen über Bücher gesprochen wird. Höre auf niemanden. Wenn sich jemand über deine Schulter beugt, spring auf und schlag ihn ins Gesicht. Schwing keine Reden über deine Arbeit, es gibt dazu nichts zu sagen. Frag dich nicht, warum und für wen du schreibst, sondern denke, daß jeder deiner Sätze der letzte sein könnte. Laß ihn an die Tür klopfen, er wird schon die Lust verlieren, oder soll ich mal fünf Minuten mit ihm reden?«