Aus dem Englischen von Michael Krug

Prolog

Milliarden starben in weniger als vierundzwanzig Stunden.

William Price war einer der ersten.

Price war noch keine zehn Minuten aus dem Bett gewesen, als es begann. Er stand gerade in der Küche, als er die ersten Schmerzen spürte. Bis er seine Frau im Wohnzimmer erreichte, war er fast tot.

Der Virus ließ seine Kehle austrocknen und anschließend beträchtlich anschwellen. Weniger als vierzig Sekunden nach dem Einsetzen der Infektion blockierten die Schwellungen seine Luftröhre. Während er nach Atem rang, begannen die Schwellungen aufzuplatzen und zu bluten. Das Blut, das seine Luftröhre hinunterrann, brachte ihn zum Würgen.

Seine Frau versuchte, ihm zu helfen, doch sie konnte ihn nur auffangen, als er zu Boden stürzte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie, wie sein Körper sich zu verkrampfen begann, doch in jenem Augenblick war sie bereits selbst infiziert. Die Luftmenge, die ihre Lungen erreichte, war auf unter zehn Prozent ihres normalen Sauerstoffbedarfs reduziert.

Weniger als vier Minuten nach dem Einsetzen der Infektion war Price tot. Dreißig Sekunden später war ihm seine Frau in den Tod gefolgt. Nach einer weiteren Minute herrschte in der ganzen Straße Stille.

1

Carl Henshawe

Ich war schon fast zu Hause, als mir klar wurde, dass es geschehen war.

Es war noch früh – halb acht, denke ich –, und ich war seit kurz nach vier aus dem Haus gewesen. Rückblickend war ich froh, nicht zu Hause gewesen zu sein. Es war schlimm genug, Sarah und Gemma dort liegen zu sehen, nachdem es ihnen widerfahren war. Himmel, ich hätte es nicht verkraftet, mit ansehen zu müssen, wie es sie erwischte. Ich hätte es einfach nicht ertragen, sie so schrecklich leiden zu sehen. Und ich hätte nichts für die beiden tun können. Allein der Gedanke daran schmerzt zu sehr. Es schien besser, dass sie bereits von mir gegangen waren und alles vorbei war, als ich nach Hause kam.

Ich hatte bei der Fabrik von Carter and Jameson fünf Meilen nördlich von Billhampton Wartungsarbeiten zu erledigen gehabt. Normalerweise musste ich ein- bis zweimal im Monat dorthin, und im Regelfall mitten in der Nacht. Der für die Fabrik verantwortliche Mistkerl war zu geizig, um neue Maschinen zu kaufen, und zu verdammt schlau, um seine eigenen Leute die Anlage reparieren zu lassen, solange er wusste, dass er uns kommen lassen konnte. Es spielte keine Rolle, was schief lief oder wann, er ließ immer uns antraben. Er kannte den Wartungsvertrag besser als ich.

Ich befand mich sechs Meilen vor Northwich, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte bei einer Raststätte für eine Tasse Kaffee und etwas zu essen angehalten und verließ gerade die Autobahn, als das Radio plötzlich verrückt spielte. An sich war das nichts Ungewöhnliches – die Elektronik im Van hatte ihren eigenen Willen –, aber dieses Mal war es anders. In der einen Minute waren die übliche Musik und Unterhaltungen zu hören, in der nächsten nur noch Stille. Nicht einmal statisches Rauschen. Nur Stille. Ich versuchte, die Frequenzen einiger anderer Sender einzustellen, konnte jedoch rein gar nichts empfangen.

Wie ein Idiot fuhr ich weiter, während ich gleichzeitig das Radio wieder in Gang zu kriegen probierte. Auf die Straße achtete ich nur mit einem Auge. Die Sonne blitzte regelmäßig durch die Baumspitzen. Der Himmel war blau und klar, und die Morgensonne präsentierte sich riesig und blendend. Ich wollte nach Hause, also drückte ich das Gaspedal weiter durch. Die Kurve sah ich erst, als ich sie schon halb passiert hatte, das andere Auto erst, als es schon fast zu spät war.

Heftig rammte ich den Fuß auf die Bremse, als ich es erblickte. Es war ein kleiner senfgelber Wagen, dessen Fahrer offenbar ebenso abgelenkt war wie ich. Er hielt gradewegs auf mich zu, und ich musste das Lenkrad scharf nach rechts reißen, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Ich kann ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt haben.

Etwas an der Art, wie das Auto fuhr, erschien mir merkwürdig. Ich wurde langsamer und beobachtete es im Rückspiegel. Statt der Kurve zu folgen, um die ich gerade gebogen war, steuerte es weiter geradeaus, immer noch mit derselben Geschwindigkeit. Es kam von der Straße ab und zertrümmerte den Bordstein. Die Beifahrertür schabte am Stamm einer mächtigen Eiche entlang, und als sich die Kühlerhaube um einen anderen Baumstamm wickelte, kam der Wagen zum Stillstand.

Niemand sonst befand sich in der Umgebung. Ich blieb stehen, wendete und fuhr zurück zur Unfallstelle. Ich konnte nur daran denken, dass der Fahrer mir und meinem Fahrverhalten die Schuld geben würde und dass sein Wort gegen das meine stünde; Himmel, wenn er mich vor Gericht zerrte, hätte er vermutlich gute Chancen. Außerdem dachte ich, dass ich meinen Job verlieren würde und meinem Chef erklären müsste, was passiert war … Und verdammt, ich kam nicht mal auf die Idee, der andere Fahrer könnte verletzt sein, bis ich ihn zusammengesackt über seinem Lenkrad sah.

Ich hielt ein paar Meter hinter der Unfallstelle an und stieg aus, um zu helfen. Meine Beine fühlten sich schwer an – ich wollte nicht nachsehen, aber ich wusste, dass ich es tun musste. Als ich mich dem Fahrzeug näherte, erkannte ich das ganze Ausmaß des Schadens. Der Wagen hatte den Baum mit einer derartig hohen Geschwindigkeit gerammt, dass der Kühler beinahe vollständig um den Stamm gewickelt war.

Ich öffnete die Fahrertür (sie war verklemmt, und es dauerte ein wenig, ehe ich sie aufbekam). Der Fahrer war schätzungsweise um die fünfunddreißig Jahre alt, und ich musste ihn nicht berühren, um zu wissen, dass er tot war. Sein Gesicht war so heftig gegen das Lenkrad geschleudert worden, dass seine Nase zertrümmert war. Seine toten Augen starrten mit einem Blick zu mir empor, der mir das Gefühl vermittelte, er gäbe mir die Schuld an dem, was gerade geschehen war. Blut strömte aus dem weit offen stehenden Mund und den Überresten der Nase. Es tropfte nicht; fast eine Minute ergoss sich das dicke karmesinrote Blut buchstäblich aus dem Körper und sammelte sich um die Füße des Toten auf dem Boden zu einer Pfütze.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich tun sollte. Einige Sekunden stand ich wie ein Volltrottel da, schaute zuerst die Straße rauf und runter und starrte dann auf den Dampfstrahl, der aus dem Kühler des zerschmetterten Wagens in die kalte Morgenluft emporschoss. Mir war speiübel, und als das Zischen endlich verstummt war, konnte ich nur noch das unablässige Tropfen von Blut hören. Es lag erst kurze Zeit zurück, dass ich gegessen hatte. Ich warf erneut einen Blick auf den Leichnam und spürte, wie ich die Kontrolle über meinen Magen verlor. Hastig sank ich auf die Knie und übergab mich ins Gras am Straßenrand.

Nachdem die Übelkeit verklungen war, rappelte ich mich auf die Füße und ging zum Van zurück. Ich griff nach dem Telefon darin. Wenngleich ich für den armen Teufel im Auto nichts mehr tun konnte, war mir klar, dass ich wenigstens irgendetwas tun musste. Auf seltsame Art war es einfacher zu wissen, dass er tot war. Ich konnte der Polizei einfach berichten, dass ich hier lang gefahren sei und den gegen den Baum gefahrenen Wagen entdeckt hätte. Schließlich musste niemand wissen, dass ich hier war, als der Unfall geschah.

Das verdammte Telefon funktionierte nicht.

Da stand ich also, mitten in der Landschaft unmittelbar außerhalb einer größeren Stadt, und bekam kein Signal. Ich schüttelte das Telefon, schwenkte es in der Luft und schlug es sogar gegen den verfluchten Van, aber die Meldung ›Kein Netz‹ verschwand einfach nicht von der Anzeige. Ich konnte nicht klar denken. Drei oder vier Mal versuchte ich, den Notruf zu wählen, erreichte damit aber gar nichts. Es klingelte nicht einmal. Das Telefon piepste mir nur weiter den Signalton für ›nicht verfügbar‹ ins Ohr.

Unwillkürlich dachte ich: Wenn niemand wissen musste, dass ich den Unfall gesehen hatte, dann brauchte auch niemand wissen, dass ich derjenige war, der ihn entdeckt hatte. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, dass ich als nächstes zurück in den Van stieg und vorhatte, nach Hause zu fahren, wird mir regelrecht übel. Ich beschloss, die Polizei oder sonst jemanden von dort aus anzurufen und zu melden, dass ich ein verlassenes Auto am Straßenrand gesehen hätte. Die Leiche musste ich gar nicht erwähnen. Es muss wohl an den Auswirkungen des Schocks gelegen haben. Normalerweise bin ich kein so rückgratloses Arschloch.

Ich war benommen, fast wie in Trance. Ich stieg zurück in den Van, ließ den Motor an und fuhr zurück in die Richtung der Stadt. Im Rückspiegel starrte ich auf das verunglückte Fahrzeug, bis es außer Sicht geriet, dann trat ich aufs Gaspedal.

Es folgten noch einige weitere Kurven, bevor die Straße sich über eine gute halbe Meile kerzengerade vor mir erstreckte. Nicht weit entfernt erblickte ich ein anderes Auto, und als ich es sah, gab ich meinen stetig wachsenden Schuldgefühlen nach und änderte meinen Plan. Ich beschloss, anzuhalten und dem Fahrer zu berichten, was ich gesehen hatte. Zu zweit fühlt man sich sicherer, dachte ich. Ich würde mit dem Fahrer zur Unfallstelle zurückfahren und mit ihm gemeinsam die Polizei verständigen. Alles würde in Ordnung sein.

Ich irrte mich. Als ich mich dem Wagen näherte, erkannte ich, dass er angehalten hatte. Ich wurde langsamer und bremste auf gleicher Höhe. Der Fahrersitz war leer. Es waren noch drei Personen im Fahrzeug, und sie waren alle tot – eine Mutter auf dem Vordersitz und ihre zwei Kinder auf der Rückbank. Ihre Gesichter waren vor Schmerz und Panik verzerrt. Ihre Haut war hellgrau, und an der Leiche des Kindes, das mir am nächsten war, konnte ich ein Rinnsal Blut sehen, das zwischen den Lippen hervortrat und das leblose Gesicht hinunter rann. Langsam fuhr ich weiter. Ein paar Meter weiter die Straße entlang stieß ich auf den verschwundenen Fahrer, der ausgestreckt auf dem Asphalt lag. Ich musste über den grasbewachsenen Straßenrand ausweichen, um ihn nicht zu überrollen.

Ich hatte eine Scheißangst. Den ganzen Heimweg weinte ich wie ein kleines Kind.

Ich bin nicht ganz sicher, aber bis ich zurück in Northwich war, hatte ich wohl an die vierzig bis fünfzig weitere Leichen gesehen. Die Straßen waren übersät mit Toten. Es war bizarr – die Menschen schienen einfach an Ort und Stelle umgekippt zu sein. Was immer sie gerade getan hatten, wohin sie gerade unterwegs gewesen waren, sie waren einfach umgefallen.

Die Situation war so unerwartet und unerklärlich, dass ich erst an diesem Punkt an die Sicherheit meiner Familie dachte. Ich trat das Gaspedal voll durch und traf wenig später vor meinem Haus ein. Hektisch sprang ich aus dem Van und rannte zur Tür. Meine Hände zitterten so stark, dass ich anfangs nicht in der Lage war, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Schließlich gelang es mir, und ich öffnete die Tür und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan. Im Haus herrschte Stille.

Ich preschte hoch ins Schlafzimmer, und dort fand ich die beiden. Sarah und unser wunderschönes kleines Mädchen, beide tot. Gemmas Gesicht war in einem stummen Schrei erstarrt. Rings um ihren Mund, auf Sarahs weißem Nachthemd und auf den Laken prangte Blut. Beide waren noch warm. Ich schüttelte sie und schrie sie an, aufzuwachen und mit mir zu reden. Sarah wirkte von Grauen erfüllt. Ich versuchte, ihre verängstigten Augen zu schließen, um den Eindruck zu erwecken, sie schlafe bloß, aber es gelang mir nicht. Sie wollten nicht geschlossen bleiben.

Ich konnte es nicht ertragen, sie zu verlassen, aber ebenso wenig konnte ich es ertragen, dort zu bleiben. Ich musste raus. Ich legte Gemma mit ihrer Mutter ins Bett, gab beiden einen Abschiedskuss und zog die Laken über ihre Köpfe. Dann verließ ich das Haus, verriegelte die Tür hinter mir und ging einfach drauflos.

Stundenlang watete ich durch die Leichen und schrie um Hilfe.

2

Michael Collins

Da stand ich also: vor einer Klasse mit dreiunddreißig Sechzehnjährigen, sprachlos und mit vollen Hosen. Ich war von meinem Chef als Freiwilliger für einen dieser Berufsinformationstage in den Schulen auserkoren worden. Einer dieser Tage, an denen die Schüler nicht ihren Lehrern beim stundenlangen Labern zuhören mussten, sondern Opferlämmern wie mir, die ihnen erzählten, wie wundervoll doch die Arbeit wäre, die sie in Wahrheit verachteten. Ich hasste es. Ich hasste es, vor Publikum sprechen zu müssen. Ich hasste es, mich verstellen zu müssen und zu lügen. Und ich hasste die Gewissheit, dass mein monatlicher Bonus verringert würde, wenn ich das hier nicht täte – und wenn ich es vor allem nicht gut täte. Mein Chef war der Meinung, wir Angestellten des mittleren Managements wären die Aushängeschilder der Firma. In Wirklichkeit gab es uns nur, damit er sich hinter uns verstecken konnte.

Mein Vortrag dauerte nicht lange.

Ich hatte mir einige Notizen gemacht, die ich wie einen Schild vor mir hielt. Innerlich fühlte ich mich recht ruhig, aber das Zittern der Notizblätter schien der Klasse den Eindruck zu vermitteln, ich wäre vor Aufregung wie gelähmt. Die sadistischen Sechzehnjährigen stürzten sich sofort auf diese vermeintliche Schwäche. Würde ich husten müssen oder bei einem Wort stocken, wäre ich verloren.

»Unsere Arbeit bei Caradine Computers ist sehr vielfältig und interessant«, begann ich zu lügen. »Wir sind unter anderem verantwortlich für ...«

»Entschuldigung«, sagte ein Junge in der Mitte und winkte dabei mit der Hand.

»Ja?«

»Warum geben Sie’s nicht gleich auf?«, seufzte er. »Es interessiert uns sowieso nicht.«

Das verschlug mir die Sprache. Ich hätte es niemals gewagt, in der Schule so etwas von mir zu geben. Hilfe suchend schaute ich zur Lehrerin im hinteren Teil des Klassenzimmers, aber als unsere Blicke sich trafen, wandte sie sich rasch ab und sah aus dem Fenster.

»Wie ich schon sagte«, fuhr ich fort, »wir kümmern uns um eine große Bandbreite an Kunden, vom kleinen Einzelunternehmen bis hin zu multinationalen Konzernen. Wir beraten sie darüber, welche Software sie verwenden und welche Systeme sie kaufen sollten, und …«

Eine weitere Unterbrechung, diesmal etwas handfester. In einer Ecke des Klassenzimmers brach eine Schlägerei aus. Ein Junge hielt einen anderen im Schwitzkasten.

»James Clyde!«, schrie die Lehrerin durchs Klassenzimmer. »Hör sofort auf! Man könnte meinen, du hättest keine Lust, Mister Collins zuzuhören.«

Als ob das Verhalten der Schüler nicht schon schlimm genug war, wurde nun auch noch die Lehrerin sarkastisch. Mir war nicht klar, ob ihre Worte so klingen sollten, jedenfalls nahm der Rest der Klasse sie definitiv so auf. Mit einem Mal war von überallher unterdrücktes Gelächter zu hören, verborgen hinter vorgehaltenen Händen und durchbrochen vom gelegentlichen Gemurmel derjenigen, die ihren Übermut nicht unter Kontrolle halten konnten. Binnen weniger Augenblicke geriet der gesamte Raum außer Rand und Band.

Ich war kurz davor, aufzugeben und rauszugehen, als es passierte. Ein Mädchen in der hinteren rechten Ecke hustete. Es war weit mehr als normales Husten – ein widerliches, schabendes und abgehacktes Krächzen, das sich anhörte, als würde mit jeder schmerzvollen Verkrampfung das Innere ihrer Kehle auseinander gerissen. Ich ging ein paar Schritte auf das Mädchen zu, dann blieb ich stehen. Abgesehen von dem qualvollen Würgen war es im Raum still geworden. Ich beobachtete, wie der Kopf des Mädchens nach vorne sackte. Dicke, klebrige Fäden aus Blut und Speichel tropften über ihre vorgehaltenen Hände auf die Schulbank hinab. Einen Moment schaute sie mich mit großen, entsetzten Augen an. Sie konnte nicht atmen. Sie erstickte.

Ich sah erneut zur Lehrerin hinüber. Diesmal starrte sie mich unumwunden an. Angst und Verwirrung standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Auf der anderen Seite des Raums begann ein Junge zu husten. Auch er wurde plötzlich von unerwartetem Schrecken und grauenvollem Schmerz gepackt. Er konnte ebenfalls nicht mehr atmen.

Ein Mädchen direkt rechts hinter mir fing erst zu weinen, dann zu husten an. Die Lehrerin wollte aufstehen und auf mich zukommen, blieb aber stehen, als sie selbst zu husten und zu röcheln begann.

Höchstens eine Minute, nachdem die Schmerzen des ersten Mädchens angefangen hatten, zerrte jede einzelne Person an ihrer Kehle und rang um Luft. Das heißt, jede einzelne Person außer mir.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte und wo ich Hilfe finden konnte. Benommen vor Entsetzen torkelte ich rückwärts zur Klassenzimmertür. Ich stolperte über einen Schulranzen und konnte mich grade noch an einer Schulbank auffangen, als die Hand eines Mädchens auf die meine knallte. Ich starrte das junge Ding an. Das Gesicht war totenblass, abgesehen von einem dunkelroten Rinnsal Blut, das über das Kinn auf die Bücher am Tisch hinabtropfte. Der Kopf kippte immer wieder nach hinten zwischen die Schultern, während das Mädchen verzweifelt versuchte, kostbare Sauerstoffmoleküle einzuatmen. Jede unkontrollierte Verkrampfung des Körpers presste weit mehr Luft aus den Lungen, als hineingelangte.

Ich riss die Hand weg und die Tür auf. Die Geräusche im Raum waren entsetzlich. Eine ohrenbetäubende, dröhnende Kakophonie verzweifelter Schreie durchbohrte mich, und selbst im Gang konnte ich ihr nicht entkommen. Die erbärmlichen Laute aus meinem Klassenzimmer waren nur ein kleiner Teil eines Tumults, der in der ganzen Schule zu hören war. Von abgelegenen Räumlichkeiten wie Versammlungssälen, Turnhallen, Werkstätten, Küchen und Büros aus war die kalte Morgenluft erfüllt von den entsetzten Schreien hunderter verzweifelter Erwachsener und Kinder, die alle erstickten und sich zu Tode husteten.

Als ich das Ende des Korridors erreichte, war es vorbei. In die Schule war Stille eingekehrt.

Unwillkürlich ging ich die Stufen zum Haupteingang hinab. Am Fuß der Treppe lag der Körper eines Jungen ausgestreckt auf dem Boden. Er konnte nicht älter als elf oder zwölf Jahre gewesen sein. Ich hockte mich neben ihn und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus. Als ich sein totes Fleisch berührte, zog ich sie ruckartig zurück. Es fühlte sich kalt, klamm und unnatürlich an, beinah wie feuchtes Leder. Ich zwang mich, meine Angst und Abscheu zu überwinden, packte ihn an den Schultern und rollte ihn auf den Rücken. Wie bei den anderen, die ich gesehen hatte, war auch sein Gesicht gespenstisch bleich und verschmiert mit Blut und Speichel. Ich beugte mich zu ihm hinab, so weit ich es wagte, und brachte mein Ohr vor seinen Mund. Ich hielt die Luft an und horchte auf das leiseste Geräusch von Atmung. Dabei wünschte ich, die plötzlich so still gewordene Welt würde noch leiser, damit ich irgendetwas hören könnte. Es war hoffnungslos. Da war nichts.

Ich trat ins Sonnenlicht des kühlen Septembers und überquerte den verwaisten Schulhof. Ein einziger kurzer Blick auf die Verwüstung außerhalb der Schultore genügte, um mich erkennen zu lassen, dass sich draußen dasselbe wie im Gebäude zugetragen hatte. So weit das Auge reichte, übersäten Leichen die Straßen.

In den sieben Stunden, seit es passierte, habe ich niemanden mehr gesehen.

Mein Haus ist kalt und sicher, aber ich fühle mich nicht in Sicherheit. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss weiter Ausschau halten. Ich kann unmöglich der Einzige sein, der noch lebt.

Die Telefone funktionieren nicht.

Es gibt keinen Strom.

Das Radio ist tot.

Ich hatte noch nie eine solche Scheißangst.

3

Emma Mitchell

Krank, frierend und müde.

Ich fühlte mich elend. Deshalb beschloss ich, meine Vorlesung ausfallen zu lassen und zu Hause zu bleiben. Ich hatte eines jener Fieber, bei denen mir zu heiß war, um im Bett zu bleiben, aber zu kalt, um aufzustehen. Ich fühlte mich zu krank, um etwas zu tun, gleichzeitig aber zu schuldig, um tatenlos herumzusitzen. Eine Zeit lang hatte ich versucht zu lernen. Als mir klar geworden war, dass ich fünf Anläufe für ein und denselben Absatz gebraucht hatte und nie über die dritte Zeile hinausgekommen war, hatte ich aufgegeben.

Meine Mitbewohnerin Kayleigh war schon seit fast zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Sie hatte angerufen, also wusste sie, dass ich krank war, und sie hatte versprochen, Milch und Brot zu besorgen. Ich verfluchte sie, während ich die Küchenschränke nach etwas Essbarem durchstöberte. Sie waren leer, daher musste ich mich wohl oder übel selbst aufraffen und einkaufen gehen.

Eingewickelt in meine dickste Jacke wankte ich schniefend zum Laden am Ende der Maple Street. Dabei fühlte ich mich blass, erbärmlich und durch und durch bemitleidenswert.

Drei Kunden (mich eingeschlossen) hielten sich in Mr. Rashids Geschäft auf. Zuerst schenkte ich keinem von ihnen besondere Aufmerksamkeit. Ich stand da und feilschte mit mir selbst um ein paar Pennys mehr für meine Lieblings-Spaghetti-Sauce, als ein alter Kerl auf mich zutaumelte. Den Bruchteil einer Sekunde, ehe er mich berührte, nahm ich ihn beiläufig wahr. Er streckte die Hand nach mir aus und packte mich am Arm. Der Mann rang nach Luft. Es sah aus, als hätte er einen Asthmaanfall oder etwas Ähnliches. Ich steckte erst im fünften Semester meines fünfjährigen Medizinstudiums und hatte keine Ahnung, was mit ihm los war.

Sein Gesicht war aschfahl, und der Griff um meinen Ärmel verstärkte sich. Ich fing an, mich zu winden, wollte mich von ihm losreißen, aber es gelang mir nicht. Ich ließ den Einkaufskorb fallen und versuchte, seine knochigen Finger von meinem Arm zu lösen.

Ein plötzliches Geräusch hinter mir ließ mich über die Schulter zurückschauen: Der andere Kunde war gegen ein Verkaufsregal gestürzt. Dosen, Gläser und Lebensmittelpackungen krachten zu Boden. Der Mann lag dazwischen auf dem Rücken, hustete und hielt sich gekrümmt vor Schmerzen die Kehle.

Ich spürte, wie sich der Griff um meinen Arm lockerte, und wandte mich wieder dem alten Mann zu. Tränen unerklärlicher Qual und Angst liefen ihm über die ausgemergelten Wangen hinab, während er nach Atem rang. Offensichtlich blockierte ihm etwas die Kehle, aber ich hatte keine Ahnung was. Allmählich begann mein Gehirn zu arbeiten, und ich dachte darüber nach, ihm den Kragen zu öffnen und ihn hinzulegen. Bevor ich etwas tun konnte, öffnete er den weiten, zahnlosen Mund – ich sah Blut darin. Die dicke, dunkelrote Flüssigkeit tropfte vor mir von seinem Kinn auf den Boden. Dann brach er vor meinen Füßen zusammen, und ich musste hilflos mit ansehen, wie sein Körper krampfhaft zuckte und zitterte.

Ich drehte mich zu dem anderen Mann um, der ebenfalls auf dem Boden lag und verzweifelt mit den Armen und Beinen um sich schlug.

So schnell ich konnte, rannte ich in den hinteren Teil des Ladens, um Mr. Rashid zu holen. Das Geschäft erstreckte sich unmittelbar in seine Wohnung. Als ich ihn und seine Frau fand, waren sie beide tot. Mrs. Rashid war in der Küche zusammengebrochen und lag neben einem umgekippten Stuhl. Der Wasserhahn war noch aufgedreht. Das Spülbecken war übergelaufen, das Wasser ergoss sich über die Unterschränke und sammelte sich zu einer großen Lache rund um die Füße der toten Frau. Mr. Rashid lag mitten auf dem Teppich im Wohnzimmer. Sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. Er sah entsetzt aus.

Ich lief zurück in den vorderen Teil des Ladens. Beide Männer, die ich nach Atem ringend zurückgelassen hatte, waren tot.

Bestürzt ging ich nach draußen. Die Sonne schien unglaublich hell, sodass ich die Augen dagegen abschirmen musste. Überall waren Leichen – trotz des gleißenden Lichts waren die schwarzen Schemen auf dem Boden unverkennbar. Es schien, als ob hunderte Menschen gestorben wären. Ich schaute zu denen hinab, die mir am nächsten lagen. Was immer die Menschen im Laden getötet hatte, war auch den Menschen im Freien zum Verhängnis geworden. Sie waren allesamt erstickt. Jedes Gesicht, in das ich blickte, war leichenblass, jeder Mund blutverschmiert.

Ich schaute nach vorn Ecke Marple Street und High Street. Drei Autos waren mitten auf der Kreuzung gegeneinander geprallt. Niemand bewegte sich. Es herrschte absolute Stille. Nur die Ampel folgte weiterhin ihrem vorgegebenen Muster und wechselte von Rot zu Gelb und schließlich zu Grün.

Hunderte, vielleicht sogar tausende Leichen lagen rings um mich verstreut. Ich fühlte mich benommen, ich fror, und mir war übel, also ging ich nach Hause, indem ich mir zwischen den Leichen hindurch einen Weg bahnte, als wären sie bloß Abfall, der auf die Straße gekippt worden war. Ich gestattete mir einfach nicht, über die Ereignisse nachzudenken. Vermutlich war mir klar, dass ich ohnehin keine Antworten gefunden hätte. Ich wollte nicht wissen, was den Rest der Welt um mich herum getötet hatte. Ebenso wenig wollte ich wissen, weshalb ich als Einzige übrig geblieben war.

Ich betrat die Wohnung und verriegelte die Tür hinter mir. Dann ging ich in mein Zimmer, zog die Vorhänge zu und legte mich wieder ins Bett. Dort lag ich eng zusammengerollt, bis es dunkel war.

4

Gegen elf Uhr an einem kalten, klaren und ansonsten gewöhnlichen Dienstagvormittag im September waren über fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung tot.

Stuart Jeffries war auf dem Heimweg von einer Konferenz gewesen, als es begann. Er hatte das Hotel an der schottischen Grenze beim ersten Tageslicht mit der Absicht verlassen, am Nachmittag zu Hause einzutreffen. Die nächsten drei Tage hatte er frei. Er freute sich darauf, faul auf dem Hintern zu sitzen und so lange wie möglich so wenig wie möglich zu tun.

Da er praktisch die gesamte Länge des Landes zu durchfahren hatte, musste er zwangsläufig mehr als einmal anhalten, um den Wagen aufzutanken. Nachdem er mehrere Raststätten entlang der Autobahn passiert hatte, beschloss er zu warten, bis er die nächste Ortschaft erreichte, um zu tanken. Jeffries betrachtete sich als klugen Mann. Je billiger er sich Benzin verschaffte, desto mehr Gewinn würde für ihn bleiben, wenn er bei der Rückkehr zur Arbeit am Freitag seine Spesenabrechnung einreichte. Die nächstgelegene Ortschaft war Northwich. Dort verwandelte sich ein vergleichsweise normaler Vormittag binnen Sekunden in einen höchst außergewöhnlichen. Der starke, aber geordnete Verkehr wurde in ein wüstes Chaos gestürzt, als die Infektion sich rasant durch die kühle Luft ausbreitete. In dem verzweifelten Bestreben, nicht gerammt zu werden, als die ersten Fahrer die Kontrolle über ihre Autos verloren, schlug er die nächstbeste Abzweigung von der Hauptstraße ein und bog anschließend sofort nach rechts auf einen leeren Parkplatz ab. Dort hielt er an, stieg aus und rannte eine schlammige Böschung hinauf. Durch ein Metallgeländer beobachtete er hilflos, wie die Welt um ihn herum innerhalb weniger Minuten zerbrach. Er sah unzählige Leute, die ohne Vorwarnung zusammensackten und einen schier unvorstellbar grässlichen Erstickungstod starben.

Die nächsten drei Stunden verbrachte Jeffries von Grauen erfüllt mit verriegelten Türen und geschlossenen Fenstern in seinem Mietwagen. Das Auto war ihm erst spät am vergangenen Abend zum Hotel geliefert worden, dennoch war es für ihn inmitten der plötzlichen Wirren schlagartig zum sichersten Ort der Welt geworden.

Das Autoradio war tot, sein Mobiltelefon nutzlos. Er befand sich mit einem leeren Benzintank zweihundertfünfzig Meilen weit von zu Hause entfernt und war mutterseelenallein. In jenen ersten paar Stunden fühlte er sich vor Furcht und Verunsicherung wie gelähmt und verängstigter als je zuvor in den zweiundvierzig Jahren seines Lebens. Was rings um ihn geschehen war, empfand er als so unerwartet und unerklärlich, dass er außer Stande war, das von ihm bezeugte Grauen auch nur ansatzweise zu verdauen, geschweige denn, es zu begreifen.

Nach drei einsamen Stunden im Auto passte sich der körperliche Druck zunächst allmählich der mentalen Belastung an, dann überholte er sie. Er stolperte auf den Parkplatz hinaus und wurde sofort von der bitteren Kälte des Spätseptembertages erfasst. Als versuchte er, sich unterbewusst von dem zu überzeugen, was er zuvor gesehen hatte, ging er leise zurück zur Hauptstraße und betrachtete das Ausmaß der Verheerung, die sich vor ihm ausbreitete. Weit und breit rührte sich nichts. Die Überreste demolierter, verbeulter Autos standen überall verstreut. Kalte, leblose Körper übersäten die schmutzig-grauen Bürgersteige, und das einzige Geräusch stammte vom beißenden Herbstwind, der durch die Bäume fegte und Jeffries bis aufs Mark durchfror. Außer bei jenen Leichen, die in den Wracks ihrer Fahrzeuge gefangen waren, gab es keinen ersichtlichen Grund für all die Toten. Der Jeffries am nächsten liegende Leichnam war jener einer alten Frau. Sie schien einfach an Ort und Stelle zusammengebrochen zu sein. Mit einer behandschuhten Hand umklammerte sie immer noch den Griff ihres Einkaufswagens.

Jeffries kam in den Sinn, um Hilfe zu rufen. Er hob bereits die Hände an den Mund, dann jedoch hielt er inne. Die Welt schien so frostig still, und er fühlte sich so ungeschützt, so fehl am Platz, dass er nicht wagte, ein lautes Geräusch zu verursachen. In seinem Hinterkopf schwelte die überaus reale Angst, er könnte durch seine Stimme Aufmerksamkeit auf seinen Standort lenken. Obwohl niemand übrig zu sein schien, der ihn hören konnte, begann er sich in seinem verwundbaren, zunehmend nervösen Zustand einzureden, ein Geräusch könnte das herbeirufen, was den Rest der Bevölkerung ausgelöscht hatte, auf dass es auch ihn vernichtete. Das mochte paranoid anmuten, doch was geschehen war, empfand er als dermaßen unlogisch und unerwartet, dass er schlichtweg nicht bereit war, ein Risiko einzugehen. Frustriert und verängstigt kehrte er um und ging zurück zu seinem Wagen.

Am fernen Ende des Parkplatzes, verborgen von überhängenden Bäumen, stand die Whitchurch Community Hall. Das nach einem längst vergessenen kirchlichen Würdenträger aus der Umgebung benannte Gemeindezentrum erwies sich als nichts sagendes, verwahrlostes Gebäude, das in den späten 1950ern errichtet (und, wie es schien, gewartet) worden war. Vorsichtig näherte Jeffries sich dem Eingang und spähte durch die halb offene Tür. Nervös drückte er sie ganz auf und wagte ein paar zögerliche Schritte hinein. Diesmal stieß er einen Ruf aus, wenngleich zunächst gedämpft, aber er bekam keine Antwort.

Es bedurfte kaum mehr als zwei Minuten, um das kalte, zugige Bauwerk zu durchsuchen, zumal es nur aus wenigen Räumen bestand, von denen die meisten an den Hauptsaal angrenzten. Es gab eine mit dem Notwendigsten ausgestattete Küche, zwei Lagerräume (jeweils einen an jedem Ende des Gebäudes) sowie Herren- und Damentoiletten. An der gegenüberliegenden Seite des Hauptsaals befand sich ein zweiter, wesentlich kleinerer Saal, der zum zweiten Lagerraum führte. Der zweite Saal war offensichtlich als Erweiterung zum ursprünglichen Bauwerk hinzugefügt worden. Wenngleich auch hier die Farbe verblasst wirkte und der Verputz abblätterte, traf dies in geringerem Ausmaß als in den restlichen Räumen zu.

Abgesehen von zwei Leichnamen im Hauptsaal stand das Haus leer. Jeffries fand es überraschend einfach, die beiden Leichen nach draußen zu schleifen. In der Hand eines grauhaarigen Mannes, der wie Anfang sechzig aussah, fand er einen Schlüsselbund, der, wie Jeffries feststellte, zu den Schlössern des Gebäudes gehörte. Demnach musste es sich bei dem Toten um den Hausmeister gehandelt haben. Die gleichermaßen grauhaarige Frau, die neben ihm gestorben war, mochte eine Interessentin gewesen sein, die den Saal vielleicht für ein Treffen einer Frauenvereinigung oder etwas Ähnliches mieten wollte. Er zerrte die sperrigen Körper durch den Eingang und legte sie behutsam in das Unterholz seitlich des Gebäudes.

Während er sich draußen aufhielt, beschloss er, bis zum nächsten Morgen im Saal unterzuschlüpfen. Der Ort schien ihm als Versteck so sicher wie jeder andere. Er lag abgeschieden, und wenngleich er nicht den besten Zustand aufwies, wirkte er durchaus robust und wärmer als das Auto. Jeffries gelangte zu der Erkenntnis, dass der Versuch, irgendwohin sonst zu gelangen, keinen Sinn zu haben schien. Der einzige Ort, an den er wirklich wollte, war sein Zuhause – und das lag mehrere Stunden Fahrt entfernt. Rasch überzeugte er sich, dass es sicherer wäre, vorerst zu bleiben und am nächsten Morgen zu versuchen, sich irgendwie Benzin zu verschaffen. Er würde von einem der demolierten Wagen draußen Treibstoff abzapfen.

Als das Licht zu schwinden begann, musste er feststellen, dass der Strom im Saal nicht funktionierte. Ein rascher Sprint zum anderen Ende des Parkplatzes offenbarte, dass nicht nur das Gemeindezentrum davon betroffen war. Soweit das Auge reichte, hielt über der gesamten Stadt rasch Finsternis Einzug. Abgesehen von ein paar flackernden Feuern konnte er keine Lichter erkennen – nicht einmal eine einzige Straßenlampe. Während er in die Umgebung starrte, beschlich ihn der Eindruck, dass die Welt um ihn herum nach und nach vom undurchdringlichen Schleier der Nacht regelrecht verhüllt wurde.

Da es sich bei Stuarts Auto um einen Leihwagen handelte, enthielt er nichts, was sich als hilfreich erweisen konnte. Er verfluchte die Ironie seiner Situation – im Kofferraum seines eigenen Fahrzeugs hatte er immer eine Decke, eine Schaufel, einen Werkzeugkasten und einen Erste-Hilfe-Koffer dabei. Hätte er die Reise in seinem eigenen Auto angetreten, hätte er zumindest etwas Licht zur Verfügung gehabt. So hatte er nur den Leihwagen selbst. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Vordertür des Saals offen zu lassen und die Scheinwerfer in den Raum zu richten, entschied sich jedoch alsbald dagegen. Obwohl er der letzte lebende Mensch in der Stadt zu sein schien, fühlte er sich durch das Schließen der Tür geringfügig sicherer und weniger verwundbar. Mit geschlossener, verriegelter Tür konnte er eine Weile zumindest so tun, als wäre nichts geschehen.

Kurz vor einundzwanzig Uhr endete Jeffries abgekapselte Einsamkeit. Er saß auf einem kalten Plastikstuhl in der Küche des Gemeindezentrums, lauschte der Stille der toten Welt und versuchte angestrengt, an etwas anderes zu denken als an das, was an jenem Tag geschehen war und was am nächsten Tag geschehen mochte. Ein plötzlicher Knall von draußen ließ ihn aufspringen und zur Eingangstür hetzen. Er wartete einige Sekunden, fürchtete sich fast davor zu sehen, was das Geräusch verursacht hatte. Da er spürte, dass sich vielleicht Hilfe und Erklärungen unmittelbar vor seiner Nase befanden, holte er tief Luft, öffnete die Tür und rannte hinaus auf den Parkplatz. Zu seiner Linken nahm er eine Bewegung wahr. Jemand ging die Hauptstraße entlang. Erfüllt von der Angst, er könnte die unbekannte Gestalt aus den Augen verlieren, hastete er die Böschung hinauf zu den Geländern und schrie aus Leibeskräften. Die schemenhafte Gestalt hielt inne, drehte sich um und lief zurück zu Jeffries – der die Hand ausstreckte und Jack Baynham erfasste, einen sechsunddreißigjährigen Maurer. Keiner der beiden Männer sprach ein Wort.

Das Eintreffen eines zweiten Überlebenden erfüllte Jeffries mit plötzlicher Hoffnung und Energie. Zwar konnten beide keine Antworten darauf bieten, was sich an jenem Tag ereignet hatte, aber zum ersten Mal begannen sie zumindest, darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollten. Aus dem Umstand, dass es zwei Überlebende gab, folgerten sie, dass es ebenso gut hundertzwei oder sogar tausendzwei geben konnte. Sie mussten andere Menschen darauf aufmerksam machen, wo sie sich befanden.

Mit Müll aus drei Abfalltonnen neben dem Gemeindezentrum und den Überresten einer zerbrochenen Holzbank errichteten sie mitten auf dem Parkplatz, ein gutes Stück vom Gemeindezentrum, dem Leihauto und den überhängenden Bäumen entfernt, ein Leuchtfeuer. Als Brennstoff verwendeten sie Benzin aus dem Wrack eines Sportwagens. Baynham entfachte das Feuer, indem er einen glimmenden Zigarettenstummel durch die kalte Nachtluft schnippte. Binnen Sekunden strömten willkommenes Licht und angenehme Wärme über den Parkplatz. In einem anderen Auto fand Jeffries eine CD, die er in den Player seines Fahrzeugs einlegte. Er drehte den Zündschlüssel und startete die Wiedergabe. Bald hallten die Klänge klassischer Musik durch die Luft. Mitreißende, erhebende Melodien verdrängten die bedrückende Stille, die beinah den ganzen Tag vorgeherrscht hatte.

Das Feuer und die Musik waren noch keine Stunde alt, als die beiden nächsten Überlebenden beim Gemeindezentrum eintrafen. Um vier Uhr früh am nächsten Morgen beherbergte die Whitchurch Community Hall über zwanzig benommene, verwirrte Menschen.

Emma Mitchell hatte fast den ganzen Tag zusammengerollt im Bett verbracht. Zum ersten Mal hatte sie die Musik kurz nach zehn Uhr gehört, aber eine Weile war sie überzeugt davon gewesen, sie sich nur einzubilden. Erst, als sie endlich den Mut aufbrachte, aus dem Bett zu klettern und das Schlafzimmerfenster zu öffnen, wurde deutlich, dass tatsächlich jemand Musik spielte. Vom verzweifelten Drang beseelt, jemanden zu sehen und mit jemandem zu reden, stopfte sie ein paar Habseligkeiten in einen Rucksack, sperrte die Tür hinter sich ab und verließ ihr Zuhause. Sie rannte durch die stummen Straßen und verließ sich auf den spärlichen Schein einer Taschenlampe mit bereits schwachen Batterien, um sich wohlbehalten einen Weg durch die blutige Masse der überall verstreuten Leichen zu bahnen, begleitet von der Angst, die Musik könnte verstummen, sodass sie gestrandet zurückbliebe, bevor sie ihre Quelle erreichen konnte.

Fünfunddreißig Minuten später traf sie im Gemeindezentrum ein.

Carl Henshawe war der vierundzwanzigste Überlebende, der ankam.

Nachdem er die Leichname seiner Familie zurückgelassen hatte, hatte er den Großteil des Tages damit verbracht, sich hinten im Lieferwagen eines Bauunternehmens zu verstecken. Nach einigen Stunden hatte er sich zu dem Entschluss durchgerungen, sich aufzumachen, um Hilfe zu finden. Er war mit dem Wagen ziellos umhergefahren, bis ihm der Kraftstoff ausgegangen und der Motor stotternd abgestorben war. Statt zu versuchen, den Wagen aufzutanken, hatte er beschlossen, sich einfach ein anderes Auto zu nehmen. Er war gerade dabei gewesen, als er die Musik gehört hatte.

Nachdem er sich rasch des toten Fahrers entledigt hatte, erreichte Carl das Gemeindezentrum bei Tagesanbruch in einem luxuriösen Firmenwagen.

Michael Collins hatte beinah aufgegeben. Da er sich zu sehr davor fürchtete, nach Hause zu gehen oder sonstige ihm bekannte Orte aufzusuchen, setzte er sich mitten in einem Park in die klirrende Kälte. Er war zu dem Schluss gelangt, dass es einfacher war, alleine zu sein und zu verleugnen, was sich ereignet hatte, als in eine vertraute Umgebung zurückzukehren und zu riskieren, über die Leichen von Menschen zu stolpern, die er gekannt hatte. Er lag auf dem Rücken im feuchten Gras und lauschte dem sanften Gurgeln eines nahen Baches. Ihm war kalt, er war nass, er fühlte sich unbehaglich und verängstigt, aber das Geräusch des fließenden Wassers verdrängte die tödliche Stille des Rests der Welt und gestaltete es einfacher, eine Weile alles zu vergessen.

Der Wind wehte über die Wiese, auf der er lag, säuselte durch das Gras und die Büsche und schüttelte die Baumwipfel fast ohne Unterlass. Völlig durchnässt und zitternd rappelte Michael sich schließlich auf die Beine und streckte sich. Ohne Plan oder Ziel entfernte er sich langsam von dem Bach und lief auf den Rand des Parks zu. Als die Geräusche des fließenden Wassers in der Ferne verschwanden, drifteten unerwartete Musikfetzen zu ihm. Mit vagem Interesse, aber zu durchfroren, betäubt und verängstigt für wahre Begeisterung, begann er, der Richtung zu folgen, aus der sie stammten.

Michael war der letzte Überlebende, der im Gemeindezentrum eintraf.

5

Michael Collins war der Letzte, der eintraf, aber der Erste, der wieder einen klaren Kopf bekam. Tatsächlich war es eher sein Magen, der ihn zum Handeln zwang. Kurz vor Mittag nach einem langen, trägen und qualvollen Vormittag, fand er, dass es an der Zeit war, etwas zu essen. Im Hauptlagerraum fand er Tische, Stühle und eine Campingausrüstung, die den Etiketten nach der Pfadfindergruppe von Whitchurch gehörte. In einer großen Metalltruhe entdeckte er zwei Gasbrenner, neben der Truhe vier halb volle Gasflaschen. Binnen weniger Minuten hatte er die Brenner auf einem Tisch aufgestellt und beschäftigte sich damit, eine für die Gastronomie vorgesehene Dose Gemüsesuppe und eine ähnlich große Büchse mit Bohnen zu erhitzen, die er gefunden hatte. Die offenbar von Pfadfinderlagern des vergangenen Sommers übrig gebliebenen Lebensmittel stellten eine unerwartete und willkommene Entdeckung dar. Darüber hinaus bot das Zubereiten des Essens Zerstreuung – etwas, um seine Gedanken von dem abzulenken, was außerhalb der dünnen Mauern des Gemeindezentrums von Whitchurch geschehen war.

Der Rest der Überlebenden befand sich schweigend im Hauptsaal. Einige lagen ausgestreckt auf dem kalten, braunen Linoleumboden, während andere mit in den Händen vergrabenen Gesichtern auf Stühlen saßen. Niemand sprach. Abgesehen von Michael bewegte sich niemand. Ebenso wagte niemand, mit jemand anders Blickkontakt zu suchen. Sechsundzwanzig Menschen, die sich ebenso gut in sechsundzwanzig verschiedenen Räumen hätten aufhalten können. Sechsundzwanzig Menschen, die nicht glauben konnten, was der Welt um sie herum widerfahren war und die es nicht ertragen konnten, darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren mochte. Am vergangenen Tag hatten sie alle mehr Schmerz, Verwirrung und Verlust erlitten, als man unter normalen Umständen in einem ganzen Leben erwartet hätte. Was diese Gefühle nun jedoch noch unerträglicher erscheinen ließ, war das völlige Fehlen einer Erklärung. Das Fehlen eines Grunds. Hinzu kam, dass sich alles so plötzlich und ohne Vorwarnung ereignet hatte. Und nun, nachdem es passiert war, gab es niemanden, an den sie sich wenden konnten, um Antworten zu erhalten. Jeder der durchfrorenen, einsamen und verängstigten Überlebenden wusste so wenig wie der durchfrorene, einsame und verängstigte Überlebende neben ihm.

Michael spürte, dass er beobachtet wurde. Aus dem Augenwinkel sah er ein Mädchen, das in der Nähe saß und ihm aufmerksam zusah. Was ihm Unbehagen bereitete. So sehr er sich wünschte, jemand würde die Stille durchbrechen und mit ihm reden, wollte er tief in seinem Innersten nichts sagen. Er hatte tausende Fragen zu stellen und keine Ahnung, womit er anfangen sollte, daher schien es ihm am sinnvollsten zu schweigen.

Die junge Frau stand auf und kam zögerlich auf ihn zu. Einen Augenblick verharrte sie etwa anderthalb Meter entfernt, ehe sie einen letzten Schritt wagte und sich räusperte.

»Ich bin Emma«, sagte sie leise. »Emma Mitchell.«

Michael schaute kurz auf, rang sich ein Lächeln ab und senkte den Blick wieder.

»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte sie. »Soll ich dir helfen?«

Michael schüttelte den Kopf und starrte in die Suppe, die er umrührte. Er beobachtete die darin kreisenden Gemüsebrocken und wünschte, sie würde weggehen. Er wollte nicht reden. Er wollte keine Unterhaltung beginnen, weil eine Unterhaltung unweigerlich dazu führen würde, über das zu sprechen, was in der Welt draußen geschehen war, und im Moment war dies das Letzte, worüber er nachdenken wollte. Das Problem war nur, dass er an nichts anderes denken konnte.

»Soll ich versuchen, ein paar Becher zu finden?«, murmelte Emma. Sie war überzeugt davon, dass er letztlich reden würde. Er war der Einzige im Raum, der den ganzen Vormittag irgendetwas getan hatte, und sowohl die Logik als auch die Vernunft legten nahe, dass er derjenige war, mit dem es am sinnvollsten wäre, eine Unterhaltung zu beginnen. Emma fand die Stille, den Mangel an Kommunikation erstickend – so sehr, dass sie kurz zuvor drauf und dran gewesen war, das Gemeindezentrum wieder zu verlassen.

Da Michael spürte, dass sie nicht weggehen würde, schaute er abermals auf.

»Ich habe im Lager ein paar gefunden«, brummte er. »Trotzdem danke.«

»Kein Problem«, gab sie zurück.

Nach ein paar Sekunden Stille ergriff Michael abermals das Wort.

»Ich bin Michael«, sagte er. »Hör zu, es tut mir Leid, aber ...«

Mitten im Satz verstummte er, weil er eigentlich nicht wusste, was er zu sagen versuchte. Emma verstand es dennoch, nickte niedergeschlagen und setzte dazu an, sich umzudrehen und sich zu entfernen. Der Gedanke, dass die gezwungene Unterhaltung beendet war, bevor sie wirklich begonnen hatte, zwang Michael, sich etwas mehr Mühe zu geben. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er sagen konnte, damit sie bei ihm am Tisch blieb. Anfangs war es ein unwillkürliches Gefühl, doch binnen weniger Sekunden wurde ihm klar, dass er eigentlich nicht wollte, dass sie ging.

»Tut mir Leid«, wiederholte er. »Es ist nur so ... nach allem, was passiert ist ... Ich meine, ich weiß nicht, warum ich ...«

»Ich hasse Suppe«, murmelte Emma und fiel ihm bewusst ins Wort, um das Gespräch in sicherere, neutralere Gefilde zu lenken. »Ganz besonders Gemüsesuppe. Herrgott, ich kann Gemüsesuppe nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht«, gestand Michael. »Ich hoffe nur, irgendjemand mag sie. Ich habe vier Dosen davon hier.«

So rasch, wie das kurze Zwiegespräch begonnen hatte, endete es wieder. Mehr gab es nicht zu sagen. Belangloses Gerede schien unnötig und unpassend. Beide wollten nicht darüber sprechen, was geschehen war, aber beide wussten, dass es sich nicht vermeiden ließ. Emma holte tief Luft und versuchte es erneut.

»Warst du weit von hier weg, als es ...«

Michael schüttelte den Kopf.

»Ein paar Meilen. Gestern bin ich hauptsächlich planlos umhergeirrt. Ich war überall im Ort, obwohl mein Haus nur zwanzig Minuten entfernt liegt.« Er rührte die Suppe um und fühlte sich verpflichtet, ihr dieselbe Frage zu stellen.

»Meine Wohnung ist gleich auf der gegenüberliegenden Seite des Parks«, antwortete sie. »Ich habe gestern den ganzen Tag im Bett verbracht.«

»Im Bett?«

Sie nickte und lehnte sich an die nächste Wand.

»Sonst schien es nicht viel zu tun zu geben. Ich habe einfach den Kopf unter die Decke gesteckt und so getan, als wäre nichts passiert. Das heißt, bis ich die Musik hörte.«

»War verdammt genial, die Musik zu spielen.«

Michael schöpfte eine großzügige Portion Bohnen in eine Schale und reichte sie Emma. Sie ergriff einen Plastiklöffel vom Tisch und rührte eine Weile in dem heißen Essen, bevor sie vorsichtig einen Mund voll probierte. Eigentlich wollte sie nicht essen, aber sie war am Verhungern. Seit ihrem verhinderten Einkaufsbummel am Morgen des Vortags hatte sie keinen Gedanken an Essen verschwendet.

Ein paar der anderen Überlebenden spähten in ihre Richtung.

Michael wusste nicht, ob die Mahlzeit oder der Umstand, dass er und Emma sich unterhielten, ihre Aufmerksamkeit erregte. Bevor sie herübergekommen war, hatte er den ganzen Vormittag keine zwei Worte gesprochen. Es schien, dass ihre Kommunikation wie eine Art Dammbruch wirkte. Er beobachtete, wie mehr und mehr der bislang in sich gekehrten Überlebenden neue Lebenszeichen erkennen ließen.

Eine halbe Stunde später war alles aufgegessen. Mittlerweile fanden im Saal zwei oder drei Unterhaltungen statt. Kleine Gruppen von Überlebenden kauerten sich zusammen, während andere alleine blieben. Einige Menschen redeten (mit offenkundiger Erleichterung in den Gesichtern), andere weinten. Die Geräusche des Schluchzens waren über die gedämpften Gespräche deutlich zu hören.

Emma und Michael waren zusammengeblieben. Sie unterhielten sich sporadisch miteinander und erfuhren ein wenig voneinander. Michael wusste inzwischen, dass Emma Medizinstudentin war, Emma umgekehrt, dass Michael mit Computern arbeitete. Außerdem fand sie heraus, dass Michael alleine lebte. Seine Eltern waren vor kurzem mit seinen beiden jüngeren Brüdern nach Edinburgh gezogen. Sie erzählte ihm, dass sie beschlossen hatte, in Northwich zu studieren, und dass ihre Familie in einem kleinen Dorf an der Ostküste wohnte. Weder er noch sie konnten sich überwinden, ausführlicher über ihre Angehörigen zu reden, da beide nicht wussten, ob die Menschen, die sie liebten, noch am Leben waren.

»Was hat das verursacht?«, wollte Michael wissen. Er hatte schon ein paar Mal versucht, die Frage zu stellen, die Worte jedoch nicht hervorgebracht. Natürlich wusste er, dass Emma keine Antwort darauf haben würde, trotzdem half es, die Frage ausgesprochen zu haben.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, vielleicht eine Art Virus?«

»Aber wie konnten dadurch so viele Menschen getötet werden? Und so schnell?«

»Keine Ahnung«, wiederholte sie.

»Herrgott, ich musste mit ansehen, wie dreißig Kinder innerhalb von wenigen Minuten gestorben sind. Wie um alles in der Welt könnte ...«

Sie starrte ihn an. Er verstummte.

»Tut mir Leid«, murmelte er.

»Schon gut«, seufzte sie.

Eine weitere betretene, bedeutungsschwere Pause folgte.

»Ist dir warm genug?«, erkundigte Michael sich schließlich.

Emma nickte.

»Mir geht‘s gut.«

»Ich bin am Erfrieren. Ich sag dir, hier gibt es Löcher in den Mauern. Heute Morgen bin ich in einer Ecke gestanden und konnte die verfluchten Wände mit bloßen Händen zerlegen! Es bräuchte nicht viel, um diesen Ort zum Einsturz zu bringen.«

»Das ist ja sehr beruhigend, danke.«

Rasch verstummte Michael und bedauerte seine unbedachten Worte. Das Letzte, was jemand hören wollte, war, wie verwundbar sie in diesem Gebäude waren. Es mochte schäbig, verwahrlost und zugig sein, aber vorläufig stellte es alles dar, was sie hatten. In der Umgebung warteten unzählige robustere, sicherere Bauwerke, aber aus Angst davor, was draußen sein mochte, wollte niemand auch nur einen einzigen Schritt vor die Tür setzen.

Michael beobachtete, wie Stuart Jeffries und ein anderer Mann (von dem er glaubte, dass er Carl hieß) sich in der fernen Ecke des Raumes mit einer dritten Gestalt unterhielten, auf die ihm Jeffries‘ Rücken die Sicht blockierte. Jeffries war als Erster im Gemeindezentrum eingetroffen und ließ es sich nicht nehmen, jeden der später Ankommenden darauf hinzuweisen, dass er es gewesen war, der ihren Unterschlupf entdeckt hatte, ganz so, als schuldeten sie ihm Dankbarkeit dafür. In einer Welt, in der Rang und Namen nichts mehr zählten, schien er sich verzweifelt an seinen selbst zuerkannten ›Status‹ zu klammern. Vielleicht fühlte er sich dadurch wichtig. Vielleicht vermittelte es ihm das Gefühl, einen Grund zum Weiterleben zu haben.

Die Unterhaltung in der Ecke setzte sich fort, und Michael beobachtete sie aufmerksam. An den lauter werdenden Stimmen spürte er, dass die Frustration allmählich an die Oberfläche zu drängen begann. Noch vor fünf Minuten hatten sie leise und unter sich gemurmelt. Mittlerweile konnten alle Anwesenden jedes Wort mithören.

»Keine Chance, ich gehe nicht raus«, stieß Jeffries mit angespannter, müder Stimme hervor. »Wozu? Was ist da draußen schon?«

Der in den Schatten verborgene Mann antwortete.

»Was sollen wir dann tun? Wie lange können wir hier bleiben? Es ist kalt und ungemütlich. Wir haben keine Lebensmittel und sonstigen Vorräte. Wenn wir überleben wollen, müssen wir raus. Außerdem müssen wir in Erfahrung bringen, was geschehen ist. Womöglich kapseln wir uns hier ab, während ein paar Ecken weiter Hilfe bereit steht ...«

»Wir werden keine Hilfe kriegen«, widersprach Jeffries.

»Woher weißt du das?«, wollte Carl wissen. Seine Stimme klang ruhig, dennoch schwangen darin eindeutig Verärgerung und Ungeduld mit. »Woher, zum Teufel, willst du wissen, dass uns niemand helfen wird? Das erfahren wir nur, wenn wir rausgehen.«

»Ich gehe nicht raus.«

»Ja, das haben wir schon mitbekommen«, seufzte der Mann im Verborgenen. »Du bleibst hier drin, bis du verhungerst ...«

»Komm mir nicht mit dämlichen Sprüchen«, spie Jeffries ihm entgegen. »Komm mir bloß nicht mit beschissenen, dämlichen Sprüchen.«

Michael spürte, dass die Spannung in jener Ecke kurz davor stand, in Gewalt auszuarten. Er wusste nicht recht, ob er einschreiten oder sich einfach heraushalten sollte.

»Mir ist schon klar, worauf du hinauswillst, Stuart«, meinte Carl vorsichtig, »aber wir müssen irgendetwas tun. Wir können nicht ewig hier rumsitzen und abwarten.«

Jeffries sah aus, als versuchte er krampfhaft, sich eine Erwiderung einfallen zu lassen. Vermutlich hatte er Schwierigkeiten, sein Argument zu begründen. Wie konnten Logik und Ordnung auch in einer so trostlosen und unerklärlichen Lage Anwendung finden? Weil sich ihm die Worte entzogen, um auszudrücken, was er empfand, begann er zu weinen, und der Umstand, dass er außer Stande war, seine Gefühle zurückzuhalten, schien ihn nur noch wütender zu machen. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen ab und hoffte, dass die anderen sie nicht bemerkt hatten, wusste aber mit Sicherheit, dass es niemandem entgangen war.

»Ich will einfach nicht da raus«, schrie er endlich die Wahrheit zwischen Schluchzen und Keuchen heraus. »Ich will das alles nicht noch einmal sehen. Ich will hier bleiben.«

Damit stand er auf und verließ den Saal. Dabei stieß er seinen Stuhl um, der gegen die Heizung polterte. Der plötzliche Lärm ließ alle Anwesenden aufschauen. Sekunden später wurde die wieder eingekehrte Stille erneut erschüttert, als die Toilettentür zugeschlagen wurde. Carl blickte den Mann in der Ecke eine Weile an, ehe er mit den Schultern zuckte, aufstand und in die entgegengesetzte Richtung davonging.

»Die ganze verdammte Welt fällt auseinander«, meinte Michael leise, während er das Geschehen beobachtete.

»Was soll das heißen, sie fällt auseinander?«, fragte Emma im Flüsterton. »Das ist bereits geschehen. Es ist nichts mehr übrig. Das war‘s.«

Michael schaute auf, betrachtete seine kalte, graue Umgebung und musterte jeden der eher an leere Hüllen erinnernden Menschen im Saal. Emma hatte Recht. Sie hatte schauderhaft Recht.

6

Innerlich tot.

Henshawe saß allein mit dem Kopf in den Händen in einer dunklen Ecke des Lagerraums und weinte um die Frau und die Tochter, die er verloren hatte.

Was hatte es für einen Sinn weiterzuleben? Wozu sollte es gut sein? Die beiden hatten seinen Lebensinhalt verkörpert. Er war zur Arbeit gegangen, damit er für sie sorgen konnte. Er war abends nach Hause gekommen, um bei ihnen zu sein. Die beiden hatten ihn auf eine Weise für sich vereinnahmt, wie er es nie für möglich gehalten hätte, bevor er Sarah kennen gelernt hatte. Und jetzt waren sie ohne Grund, Vorwarnung oder Erklärung verschwunden. Binnen eines Lidschlags von ihm genommen. Und er war nicht in der Lage gewesen, ihnen zu helfen oder sie festzuhalten. Er war nicht einmal da gewesen, als sie gestorben waren. Als sie ihn am meisten gebraucht hatten, war er meilenweit entfernt gewesen.

Draußen im Hauptsaal hörte er das Stöhnen und Weinen anderer, die alles verloren hatten. Er roch und schmeckte die Wut, die Frustration und die völlige Verwirrung der anderen Überlebenden – all das hing wie der Gestank verwesenden Fleisches in der kalten, trüben Luft. Er hörte Streit, Diskussionen und Geschrei – Ausdruck des rohen Schmerzes, der jeden Einzelnen der völlig verschiedenen, verzweifelten Menschen zerriss.

Als der Lärm unerträglich wurde, rappelte er sich in der Absicht auf, das Gebäude zu verlassen. Er wollte sich gerade dazu aufraffen, das Gemeindezentrum und den Rest der Überlebenden hinter sich zu lassen, als sich sein Verstand mit den Bildern von Millionen lebloser Körper füllte, die auf den Straßen ringsum verstreut lagen. Schlagartig wurde ihm klar, dass er nicht gehen konnte. Das Tageslicht schwand bereits. Der Abend war fast angebrochen. Der Gedanke, sich draußen aufzuhalten, schien an sich schon grauenhaft genug, doch noch dazu in der Dunkelheit alleine und ziellos umherzuwandern, war zu viel, um es auch nur in Erwägung zu ziehen.

Er lehnte sich gegen die Lagerraumtür und spähte hinaus in den Hauptsaal. Das grelle, orange Licht des Sonnenuntergangs strömte von über seinem Kopf in das Gebäude und tünchte alles in schillernde, beinah fluoreszierende Farben. Neugierig, woher das Licht stammte, ging er ein paar Schritte aus dem Raum und drehte sich um. Im Schrägdach unmittelbar über der Tür befand sich ein schmales Dachfenster. Der Lagerraum, in dem er sich versteckt hatte, war als Erweiterung an das ursprüngliche Haus angebaut worden, und bei seinem Eintreffen war ihm aufgefallen, dass sich darüber ein Flachdach befand. Henshawe spürte eine Rückzugsmöglichkeit, stieg auf einen Holztisch und streckte sich, um das Dachfenster zu öffnen. Dann hievte er sich hindurch und kletterte auf das Asphaltdach.

Der kälteste Wind, den er je gespürt hatte, rüttelte an ihm und blies ihm entgegen, während er ungeschützt auf dem kaum etwa acht Quadratmeter großen Dach stand. Vom äußersten Rand aus konnte er über die Hauptstraße hinweg nach Northwich und in die tote Stadt dahinter sehen. Nur durch Augenbewegungen folgte er dem Verlauf der Straße, die nach links abzweigte und sich Richtung Hadley erstreckte, des kleinen Vororts, in dem er gewohnt hatte. Des kleinen Vororts, in dem die Leichen seiner Lebensgefährtin und seines Kindes zusammen im Bett lagen. Vor seinem geistigen Auge sah er sie immer noch, erstarrt und leblos, die makellosen Körper mit dunklem, gerinnendem Blut befleckt, und nun schien der eisige Wind noch kälter zu wehen. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, zu den beiden zurückzufahren. Das Mindeste, was sie verdienten, war ein anständiges Begräbnis und etwas Würde. Der Schmerz, den er in sich spürte, war unerträglich; er sank auf die Knie und umklammerte mit den Händen den Kopf.

Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er unzählige Leichname sehen, und er empfand es als gleichermaßen seltsam und beunruhigend, dass er sich an den Anblick bereits gewöhnte. Bevor all das geschehen war, hatte er ein einziges Mal einen toten Menschen gesehen, was er damals als außergewöhnlich und fremdartig empfand. Er war an der Seite seiner Mutter gewesen, als sie starb. Während das Leben aus ihr entwich, hatte er beobachtet, wie sie sich veränderte. Er hatte mit angesehen, wie ihr Gesicht erbleichte, ihre Züge erstarrten und der letzte Atemzug aus ihrem verbrauchten Körper ausgestoßen wurde. Er hatte bezeugt, wie ihr alter, zerbrechlicher Leib erschlaffte und nutzlos wurde. Gegen Ende ihres Lebens hatte sie die Kraft verlassen, dennoch hatte es nie mehr als einer einzigen Pflegerin bedurft, um ihr zu helfen. Nach ihrem Tod waren zwei Träger notwendig gewesen, um sie vom Bett zu heben und wegzutragen.

Teile der Stadt brannten in der Ferne. Mächtige, dichte Schwaden schmutzig schwarzen Rauchs trieben von unkontrollierten Feuersbrünsten zum orangefarbenen Himmel empor. Während der Qualm unablässig höher stieg, gingen ihm unzählige Erklärungen darüber durch den Kopf, was die Brände ausgelöst haben mochte – eine gebrochene Gasversorgungsleitung? Oder ein verunglückter Treibstofflaster? Ein Leichnam, der zu nah neben einer Gasflamme zusammengebrochen war? Er wusste, dass selbst der Versuch, einen Grund zu finden, sinnlos war, aber er hatte nichts anderes zu tun. Und zumindest halfen solche Grübeleien, ihn eine Weile von Sarah und Gemma abzulenken.

Er wollte gerade zurück hineingehen, als eine der Leichen auf der Straße seine Aufmerksamkeit erregte. Weshalb vermochte er nicht zu sagen, denn der Körper wirkte inmitten des Chaos unscheinbar. Es war die Leiche eines Teenagers, der gestürzt und mit dem Schädel auf einem Randstein aufgeprallt war. Sein Hals war unnatürlich verrenkt, sodass der Junge zwar auf der Seite lag, seine glasigen Augen jedoch in den Himmel starrten. Es sah aus, als suchte er dort nach Erklärungen. Carl glaubte fast, er blickte ihn an und forderte von ihm zu erfahren, was geschehen war und weshalb mit ihm. Der arme Bursche wirkte so verängstigt und allein. Carl konnte es nicht ertragen, seine gequälten Züge länger als ein paar Sekunden zu betrachten.

Er kehrte zurück ins Haus, und plötzlich empfand er den kalten, unbehaglichen Gemeindesaal als den sichersten und wärmsten Ort der Welt.

7

Carl begab sich zurück zu den anderen Überlebenden und fand sie in einer Ecke des dunklen Saals in einem groben Kreis versammelt vor. Einige saßen auf Stühlen und Bänken, während andere auf dem harten Linoleumboden kauerten. Die Gruppe scharte sich um eine matt schimmernde Gaslampe, und eine rasche Zählung der Köpfe ergab, dass Carl als Einziger fehlte. Ein paar der verwirrten Seelen schauten zu ihm auf, als er sich näherte.

Mit einem plötzlichen Gefühl der Verunsicherung, von dem er wusste, dass es unnötig war, setzte er sich an den Rand der Gruppe. Er nahm zwischen zwei Frauen Platz. Obwohl er den Großteil eines Tages im selben Gebäude wie sie festgesessen hatte, kannte er noch nicht einmal ihre Namen. Er wusste über niemanden viel, und ebenso wenig wussten die anderen über ihn. So sehr er ihre Nähe und den Kontakt brauchte, er fand die Distanz zwischen den einzelnen Überlebenden sonderbar angenehm.

Ein Mann namens Ralph versuchte, sich an die Versammelten zu wenden. Aus seinem Gebaren und der gemessenen, wohlüberlegten Ausdrucksweise, der er sich bediente, schloss Carl, dass er wohl Anwalt gewesen sein musste, bevor die Welt am Morgen des vergangenen Tages auf den Kopf gestellt worden war.

»Was wir tun müssen«, sagte Ralph deutlich, langsam und mit fast nachdenklicher Besonnenheit, »ist, hier eine Art Ordnung zu schaffen, bevor wir auch nur daran denken, uns draußen umzusehen.«

»Warum?«, erkundigte sich jemand von der anderen Seite der Gruppe. »Was müssen wir denn in Ordnung bringen?«

»Wir müssen wissen, wer hier ist und was wir hier zur Verfügung haben. Wir brauchen Lebensmittel und Wasser, Bettzeug und Kleidung. Das Meiste davon sollten wir hier finden. Außerdem müssen wir feststellen, was wir nicht haben, und wir sollten anfangen, darüber nachzudenken, woher wir es bekommen.«

»Warum?«, unterbrach ihn die Stimme erneut. »Wir wissen doch, dass wir alles, was wir brauchen, draußen finden. Ich finde, wir sollten nicht hier drin unsere Zeit verschwenden. Wir sollten rausgehen und es hinter uns bringen.«

Ralphs Selbstvertrauen erwies sich als einstudierte Fassade, die beim ersten Anzeichen von Widerstand zu bröckeln begann. Er schob die breitrandige Brille mit der Fingerspitze den Nasenrücken hinauf und holte tief Luft.

»Das halte ich für keine gute Idee. Ich denke, unsere persönliche Sicherheit muss unser oberstes Anliegen sein, und ...«

»Das sehe ich auch so«, fiel ihm die Stimme abermals ins Wort. »Aber warum hier? Es gibt tausende bessere Ort, warum sollen wir hier bleiben? Warum fühlst du dich hier sicherer als auf dem Mittelstreifen der Stanhope Road?«

Carl bewegte sich ein Stück weiter, damit er durch die Masse der Köpfe und Körper den Sprecher erkennen konnte. Es war Michael, der Bursche, der früher die Suppe gekocht hatte.

»Wir wissen nicht, was uns draußen erwartet ...«, setzte Ralph an.

»Aber letzten Endes müssen wir raus, darin sind wir uns doch einig, oder?«

Ralph begann zu stammeln und betastete wieder seine Brille.

»Ja, aber ...«

»Hör zu, Ralph, ich versuche keineswegs, die Sache schwieriger zu gestalten, als sie ohnehin ist. Aber wir müssen hier weg, um uns die Dinge zu beschaffen, die wir brauchen. Ich stelle nur die Frage, weshalb wir es hinauszögern und warum wir hierher zurückkehren sollten. Warum suchen wir uns nicht einen anderen Platz?«

Ralph wusste nichts zu erwidern. Für Carl und wahrscheinlich so gut wie alle anderen war offensichtlich, dass Ralph aus demselben Grund nicht hinauswollte, den Stuart Jeffries zuvor genannte hatte. Beide hatten Angst.

»Natürlich könnten wir versuchen, einen anderen Platz zu finden«, begann er zögerlich, »aber hier haben wir einen Unterschlupf, der sicher ist und ...»

»Und kalt, dreckig und ungemütlich«, ergänzte Carl rasch.

»Na gut, es ist vielleicht nicht perfekt, aber ...«

»Aber was?«, bedrängte ihn Michael. »Ich denke, im Augenblick können wir so ziemlich alles aussuchen, was uns zusagt.«

Eine Weile senkte sich Stille über den Saal. Unvermittelt setzte Ralph sich aufrechter hin und schob erneut die Brille hoch. Er schien einen Grund gefunden haben, weshalb die Gruppe hier bleiben sollte.

»Aber was ist mit der Musik und dem Feuer?«, fragte er deutlich lebhafter. »Stuart und Jack ist es gelungen, uns alle hierher zu führen, indem sie das Feuer angezündet und Musik gespielt haben. Wenn wir das wiederholen, finden wir vielleicht noch weitere Überlebende. Womöglich sind sogar schon Leute unterwegs zu uns.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Michael. »Seit mir ist niemand mehr eingetroffen. Hätte noch jemand die Musik gehört, wären diejenigen mittlerweile längst hier. Trotzdem gebe ich dir Recht, nur wiederum frage ich: Warum hier? Warum suchen wir uns nicht eine bessere Bleibe, richten uns dort ein und zünden mitten auf der Straße dafür ein riesiges Leuchtfeuer an?«

Carl stellte fest, dass er mit Michael einer Meinung war.

»Er hat Recht. Wir sollten wieder ein Signalfeuer oder etwas Ähnliches anmachen, aber zuerst sollten wir für unsere Sicherheit sorgen.«

»Ein neues Feuer an einem anderen Ort würde doch bestimmt von mehr Menschen gesehen, oder?«, fragte Sandra Goodwin, eine fünfzigjährige Hausfrau. »Und das wollen wir doch, richtig?«

»Unterm Strich bleibt die Tatsache«, ergriff wieder Michael das Wort, änderte den Tonfall und hob die Stimme leicht an, sodass sich ihm plötzlich alle zudrehten und ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten, »dass wir uns zuerst um uns selbst kümmern müssen, bevor wir an etwaige andere denken, die noch leben könnten.«

»Sollten wir nicht besser gleich nach weiteren Überlebenden suchen?«, fragte jemand anders.

»Das denke ich nicht«, gab Michael zurück. »Ich finde zwar auch, dass wir mit einem Feuer oder sonst irgendwie auf uns aufmerksam machen sollten, aber es hat vorerst keinen Sinn, Zeit damit zu vergeuden, aktiv nach anderen zu suchen. Wenn es noch andere gibt, haben sie wesentlich bessere Chancen, uns zu finden als wir sie.«

»Wie kommen Sie darauf?«, hakte Sandra nach.

»Es scheint mir logisch«, brummte er. »Weiß jemand, wie viele Menschen früher in dieser Stadt gelebt haben?«

Ein paar Sekunden Stille folgten, bevor jemand antwortete.

»Etwa eine Viertelmillion. Jedenfalls über zweihunderttausend.«

»Und wir sind hier sechsundzwanzig.«

»Und?«, bohrte ein betreten dreinblickender Ralph nach, der sich verzweifelt zurück ins Gespräch zu bringen versuchte.

»Was sagt euch das?«

Ralph zuckte mit den Schultern.

»Mir sagt das«, fuhr Michael fort, »dass die Suche nach anderen Überlebenden der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen gleichkäme.«

Carl nickte zustimmend und griff den Faden dort auf, wo Michael abgebrochen hatte.

»Was ist draußen?«, fragte er leise in die Runde.

Keine Antwort.

Er blickte von links nach rechts in die um ihn versammelten Gesichter, dann quer durch den Raum, um Augenkontakt zu Michael zu suchen.

»Ich sag‘s euch«, meinte er leise. »Da ist nichts. Die einzigen Menschen, die ich in Bewegung gesehen habe, seit all das angefangen hat, sitzen in diesem Raum. Aber wir wissen nicht, ob es vorüber ist. Wir wissen nicht, ob wir morgen aufwachen werden. Wir wissen nicht, ob das, was den anderen passiert ist, uns nicht auch noch blüht.«

Ralph unterbrach ihn.

»Also ehrlich«, beklagte er sich, »hör auf, so zu reden. Das bringt nun wirklich nichts ...«

»Ich will auf etwas hinaus ...«

Michael ergriff wieder das Wort.

»Hat irgendjemand von euch ein Flugzeug oder einen Hubschrauber gehört, seit all das begonnen hat?«

Wieder keine Antwort.

»Der Flughafen liegt nur fünf Meilen von hier entfernt – wenn Flugzeuge gestartet oder gelandet wären, dann hätten wir sie gehört. Außerdem gibt es eine Bahnlinie zwischen dem Flughafen und der Stadt, die direkt auf der gegenüberliegenden Seite der Stanhope Road verläuft. Hat irgendjemand einen Zug gehört?«

Schweigen.

»Also, was glaubt ihr, wie viele Menschen es getroffen hat?«, fragte Carl vorsichtig.

»Wäre das hier die einzige betroffene Region«, antwortete Michael, »dann sagt mir die Logik, dass mittlerweile Hilfe eingetroffen wäre.«

»Was willst du damit andeuten?«, wollte ein Mann namens Tim wissen.

Michael zuckte mit den Schultern.

»Ich schätze, ich will damit sagen, dass wir es mindestens mit einer landesweiten Katastrophe zu tun haben. Und dass es keinen Flugverkehr gibt, lässt mich noch Schlimmeres befürchten.«

Betretenes Gemurmel ging angesichts der Erkenntnis durch die Gruppe.

»Michael hat Recht«, ergriff Emma das Wort. »Diese Sache hat sich so schnell ausgebreitet, dass unmöglich abzuschätzen ist, welche Gebiete betroffen sein könnten. Es ging alles so schnell, dass ich bezweifle, ob etwas zur Eindämmung unternommen werden konnte, bevor es zu spät war.«

»Aber vielleicht ist unsere Gegend hier nur zu verseucht, um sich herzuwagen«, warf Tim mit angespannter, verängstigter Stimme ein. »Vielleicht hat man Northwich abgeriegelt.«

»Das wäre natürlich möglich«, räumte Michael ein. »Aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, du etwa?«

Tim erwiderte nichts.

»Was sollen wir also tun?«, fragte eine verunsicherte Frauenstimme aus der Mitte der Gruppe.

»Ich denke, wir sollten von hier verschwinden«, gab Michael zurück. »Passt auf, ich will ganz ehrlich sein: Ich denke in erster Linie an mich. Der Rest von euch muss selbst eine Entscheidung treffen. Ich jedenfalls bin nicht bereit, hier herumzusitzen und auf Hilfe zu warten, von der ich ziemlich sicher bin, dass sie nie eintreffen wird. Ich will mich nicht hier verschanzen, umzingelt von tausenden Leichen. Ich will raus aus der Stadt, weg von hier, an einen sicheren Ort, an dem ich mich gemütlich einrichten kann, um abzuwarten, was als Nächstes geschieht.«

8

Die ersten fünfeinhalb Stunden des folgenden Morgens verbrachte Michael mit dem Versuch, eine bequeme Stelle zum Schlafen zu finden. Als es ihm endlich gelang, das Bewusstsein abzuschütteln, schlief er weniger als fünfundvierzig Minuten, bevor er wieder erwachte und sich schlimmer als zuvor fühlte. Er hatte sich auf den kalten, harten Boden gelegt, und jeder Knochen in seinem erschöpften Körper schmerzte. Er wünschte, er hätte es gelassen.

Im Hauptsaal herrschte Kälte. Michael war vollständig angezogen und in eine dicke Winterjacke gehüllt, dennoch fror er. Im Augenblick hasste er alles, aber er gelangte rasch zu dem Schluss, dass er diese Zeit des Tages am meisten hasste. Es war noch dunkel, und in den frühmorgendlichen Schatten vermeinte er fortwährend, schlurfende Schemen zu erkennen, wo es keine gab. So sehr er sich bemühte, er konnte an nichts anderes denken als an das, was mit der Welt draußen geschehen war, weil es wirklich alles betraf. Er konnte es nicht ertragen, über seine Familie nachzudenken, weil er nicht wusste, ob sie noch am Leben war. Er konnte nicht über seine Arbeit und Karriere nachdenken, weil beides nicht mehr existierte. Er konnte nicht darüber nachdenken, am Wochenende mit seinen Freunden um die Häuser zu ziehen, weil auch seine Freunde höchstwahrscheinlich tot waren und an irgendeiner Straßenecke mit dem Gesicht im Dreck lagen. Er konnte nicht über seine Lieblingssendungen im Fernsehen nachdenken, weil es kein Fernsehen und keinen Strom mehr gab. Nicht einmal die Melodie seines Lieblingslieds konnte er summen, weil es zu viele Erinnerungen in ihm weckte – Erinnerungen und Gefühle, die erst einige Tage zurücklagen und doch schon für immer verloren schienen. Verzweifelt starrte er in die Dunkelheit und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, der Stille zu lauschen. Er hoffte, den Schmerz zu vertreiben, indem er den Kopf bewusst leerte. Es funktionierte nicht. Egal, in welche Richtung er schaute, überall sah er die Gesichter gleichermaßen verzweifelter Überlebender, die seinen Blick in der Düsternis erwiderten. Michael war nicht der Einzige, der unter qualvoller Schlaflosigkeit litt.

Allmählich krochen die ersten orangefarbenen Sonnenstrahlen in den Saal. Das Licht schlich sich langsam durch eine Reihe kleiner, rechteckiger Fenster ein, die in regelmäßigen Abständen entlang der längsten Wand des Hauptsaals angeordnet waren. An der Außenseite schützte jedes der Fenster ein robustes Drahtgitter, außerdem hatten sich im Lauf der Jahre unzählige Vandalen mit Sprühfarbeschichten darauf verewigt. Michael empfand den Gedanken, dass jeder einzelne dieser Vandalen nun so gut wie sicher tot war, gleichermaßen sonderbar und beunruhigend.

Michael wollte sich nicht bewegen, aber ihm war klar, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste dringend auf die Toilette, musste aber erst die Überwindung aufbringen, aufzustehen und hinzugehen. Es war zu kalt, und er wollte keinen der wenigen Glücklichen wecken, denen es tatsächlich gelungen war einzuschlafen. Im Saal herrschte solche Stille, dass man jeden einzelnen Schritt seiner schweren Stiefel zwangsläufig hören würde, egal wie vorsichtig er wäre. Und wenn er die Toilette erreichte, würde ihn auch dort Trostlosigkeit erwarten. Die Spülung funktionierte nicht mehr, weil die Wasserversorgung ausgefallen war. Die Gruppe war dazu übergegangen, eine kleine chemische Toilette zu verwenden, die jemand bei der Pfadfinderausrüstung entdeckt hatte. Obwohl sie erst seit weniger als einem Tag benutzt wurde, stank sie bereits. Es war eine widerwärtige Mischung durchringender Chemikalien und abgestandener menschlicher Ausscheidungen.

Allerdings konnte er es nicht länger hinauszögern, er musste gehen. Erfolglos versuchte er, den kurzen Gang einfacher wirken zu lassen, indem er sich einredete, je früher er es hinter sich brachte, desto eher wäre er zurück. Seltsamerweise erschien ihm angesichts des Ausmaßes der Katastrophe draußen plötzlich selbst die einfachste alltägliche Aufgabe wie ein unmöglich zu erklimmender Berg.

Er stützte sich mit der ausgestreckten rechten Hand an einer Holzbank neben ihm ab und rappelte sich mühsam auf unstete Beine. Ein paar Sekunden stand er nur reglos da und versuchte, das Gleichgewicht zu finden. Die Kälte ließ ihn schaudern, dann stolperte er probeweise ein paar Schritte durch das Zwielicht auf die Toilette zu. In drei Wochen würde er neunundzwanzig Jahre alt. An jenem Morgen fühlte er sich wie mindestens neunundachtzig.

Vor der Toilette blieb er stehen und holte tief Luft, bevor er die Tür öffnete. Er schaute nach rechts durch ein kleines quadratisches Fenster neben dem Haupteingang – und war sicher, draußen etwas zu sehen.

Einen Moment erstarrte er.

Er sah eindeutig eine Bewegung.

Michael ignorierte das hartnäckige Zwacken seiner Blase und presste das Gesicht gegen die schmutzige Scheibe, um durch die Sprühfarbe und das Drahtgitter zu spähen. Er blinzelte ins Licht hinaus.

Da war es erneut.

Schlagartig vergaß er die Kälte, seine schmerzenden Glieder und seine volle Blase, entriegelte die Tür und riss sie auf. Er stürzte hinaus in den kalten Morgen, rannte quer über den Parkplatz und hielt am Straßenrand inne. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er einen Mann, der sich in langsamem Gang vom Gemeindezentrum entfernte.

»Was ist denn los?«, fragte plötzlich eine Stimme, die ihn erschreckte. Es war Stuart Jeffries. Er und drei weitere Überlebende hatten ihn gehört und waren ihm verständlicherweise besorgt gefolgt.

»Da drüben«, gab Michael zurück, deutete auf die entfernte Gestalt und ging langsam ein paar Schritte weiter. »Hey«, brüllte er in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, bevor er außer Sicht geriet. »Hey, du!«

Keine Antwort.

Michael blickte zu den anderen, ehe er sich wieder umdrehte und hinter dem Unbekannten herrannte. Da die einsame Gestalt ungemein langsam und träge ging, hatte Michael sie binnen weniger Sekunden eingeholt.

»Hey, Kumpel«, rief er unbekümmert, »hast du mich nicht gehört?«

Immer noch keine Antwort.

Der Mann lief unbeirrt weiter.

»Hey«, wiederholte Michael, diesmal etwas lauter. »Alles in Ordnung? Ich hab dich vorbeigehen gesehen, und ...«

Im Sprechen streckte er die Hand aus und ergriff den Arm des Mannes. Als die Gestalt den Widerstand spürte, blieb sie schlagartig stehen und rührte sich nicht mehr. Der Mann stand einfach da und schien Michaels Gegenwart nicht einmal zu bemerken. Vielleicht rührte die völlige Reaktionslosigkeit von einem Schock her. Vielleicht war das alles zuviel für diesen armen Teufel gewesen.

»Lass ihn«, brüllte einer der anderen zu Michael. »Komm zurück herein.«

Michael beachtete ihn nicht. Stattdessen drehte er den unbekannten Mann langsam herum, bis er ihm direkt ins Gesicht blickte.

»Scheiße ...« war alles, was er hervorstoßen konnte, als er in die kalten, glasigen Augen eines Leichnams starrte. Es widersprach jeder Logik, dennoch bestand für seinen völlig verängstigten Verstand nicht der geringste Zweifel daran, dass der Mann unmittelbar vor ihm ... tot war. Seine Haut spannte sich und schimmerte gelblich, und wie bei all den anderen Opfern prangte ihm am Mund, am Kinn und am Hals dunkles, geronnenes Blut.

Angewidert und entsetzt ließ Michael den Arm des Mannes los und taumelte rücklings. Er stolperte, fiel hin und beobachtete vom Rinnstein aus, wie die Gestalt wieder loswankte, immer noch so quälend langsam, als hätte sie Blei in den Schuhen.

»Michael!«, rief Jeffries von der Einfahrt zum Parkplatz herüber. »Komm mit zurück hinein, wir schließen die Tür.«

Michael rappelte sich auf die Beine und sprintete zu den anderen. Während er sich ihnen näherte, erblickte er in der Ferne weitere Gestalten. Durch ihre trägen, gezwungen wirkenden Bewegungen war offensichtlich, dass es sich wie bei dem Mann auch bei ihnen um keine Überlebenden handelte.

Als er den Parkplatz erreichte, waren die anderen bereits zurück in das Gemeindezentrum verschwunden. Vage nahm er war, dass sie ihm zubrüllten, er solle hineinkommen, aber in seiner Ungläubigkeit und Verwirrung entging ihm, welche Angst und Panik in ihren Stimmen mitschwang. Wie gebannt von dem unmöglichen Anblick, der sich ihm inzwischen bot, stand er da und starrte auf die Hauptstraße.

Etwa ein Drittel der Leichen bewegte sich. Ungefähr jeder dritte der Leichname, die zuvor über die Straßen rings um das Gemeindezentrum verstreut gelegen hatten, hatte sich wieder erhoben. Waren sie gar nicht tot gewesen? Waren sie in einer Art Koma oder etwas Ähnlichem gewesen? Tausend unbeantwortbare Fragen wirbelten ihm durch den Verstand.

»Um Gottes willen, komm rein!«, schrie ein weiterer der Überlebenden aus dem Gemeindezentrum mit vor Furcht heiserer Stimme.

Wie zur Betonung begann der Michael am nächsten liegende Leichnam, sich zu bewegen. Es begann an den Fingerspitzen einer ausgestreckten Hand; dann streckte sich der Körper und erzitterte. Während Michael ungläubig hinstarrte, krümmten die Finger sich auf dem Boden zu Klauen, ehe sich Sekunden später die gesamte Hand bewegte. Das Erwachen setzte sich den Arm entlang fort, dann erhob sich der Leichnam mit einem mächtigen Schauder, der den Körper durchlief. Die Kreatur wankte und stolperte, als sie sich auf unstete Beine mühte. Nachdem sie sich letztlich aufgerappelt hatte, schlurfte sie einfach davon und lief dabei kaum einen Meter vor Michael vorüber. Das Geschöpf schien ihn überhaupt nicht zu bemerken.

Von blankem Grauen gepackt drehte er sich um und rannte zurück ins Haus.

Es dauerte weniger als eine halbe Minute, bis sich die Neuigkeit unter allen Überlebenden verbreitet hatte. Carl Henshawe, der sich zu glauben weigerte, was man ihm erzählte, kletterte auf das Flachdach, auf dem er schon in der vergangenen Nacht gewesen war.

Es stimmte. So unglaublich es schien, etliche der Leichen bewegten sich.

Carl ließ den Blick über dieselbe trostlose Szenerie wie vor weniger als zwölf Stunden wandern und sah, dass viele der erkalteten Leichname verschwunden waren. Er schaute zu der Stelle, an der jener Junge mit dem verrenkten Hals gestorben war.

Da war nichts mehr. Die Leiche war weg.

9

Fast eine Stunde verstrich, ehe es jemand wagte, sich zu bewegen.

Die bereits von den früheren Erlebnissen gezeichneten und niedergeschlagenen Überlebenden standen verängstigt und ungläubig beisammen und versuchten, die Ereignisse jenes Morgens zu verarbeiten. Überraschenderweise schien Ralph, der Anwalt, der in der vergangenen Nacht noch so großspurig versucht hatte, die Rädelsführerschaft an sich zu reißen, am meisten Probleme damit zu haben, das zu akzeptieren, was er an jenem Tag gesehen und gehört hatte. Er stand neben Paul Garner (einem übergewichtigen Immobilienmakler mittleren Alters) in der Mitte des Saals und versuchte, Emma, Carl, Michael und Kate James (eine neununddreißigjährige Grundschullehrerin) davon zu überzeugen, die Tür nicht zu öffnen und im Gemeindezentrum zu bleiben.

»Aber wir müssen raus, Ralph«, erklärte Emma mit ruhiger, leiser Stimme. »Wir müssen versuchen herauszufinden, was vor sich geht.«

»Interessiert mich nicht«, fauchte der gerötete, sichtlich verängstigte Mann. »Mir ist egal, was vor sich geht. Ich gehe auf keinen Fall raus und riskiere ...«

»Was?«, fiel Michael ihm ins Wort. »Niemand hat dich gebeten rauszugehen, oder?«

»Allein das Öffnen der Tür ist riskant genug«, murmelte Garner besorgt. Er kaute beim Sprechen auf den Fingernägeln seiner linken Hand. »Ich sage, sie bleibt zu, damit sie nicht herein können.«

»Wir dürfen kein Risiko eingehen, indem wir uns diesen Dingern aussetzen ...«, blies Ralph ins selbe Horn.

»Dinger?«, wiederholte Emma, in deren Tonfall plötzlich Wut und Erregung mitschwang. »Diese Dinger sind Menschen, du selbstsüchtiges Arschloch. Verdammt, deine Freunde und Familie könnten da draußen sein ...«

»Diese Leichen sind tagelang tot herumgelegen!«, schrie er, das Gesicht unvermittelt nur wenige Zentimeter vor dem ihren.

»Woher weißt du, dass sie tot waren?«, fragte Michael vollkommen ernst und gefasst. »Hast du sie alle überprüft? Hast du auch nur bei einem einzigen den Puls gefühlt, bevor du dich hier eingeschlossen hast?«

»Du weißt genauso gut wie ich, dass ...«

»Hast du oder nicht?«, wiederholte Michael. Ralph schüttelte den Kopf. »Und hast du je zuvor eine Leiche rumlaufen gesehen?«

Diesmal antwortete Ralph nicht. Stattdessen wandte er sich ab und lehnte sich an die nächstbeste Wand.

»Herrgott«, fluchte Garner. »Natürlich haben wir noch nie eine wandelnde Leiche gesehen, aber ...«

»Aber was?«

»Aber ich habe auch noch nie jemanden gesehen, der umkippt und zwei Tage lang nicht mehr aufsteht. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, Michael, die waren alle tot.«

»Pass auf, Paul«, seufzte Michael. »Seien wir doch mal ehrlich. Keiner von uns hat auch nur den leisesten Schimmer, was hier vor sich geht. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich vorhabe, mich um mich selbst und den Rest der Menschen in diesem Saal zu kümmern, und ...«

»Wenn dir an den Leuten hier drin etwas liegt, warum willst du dann rausgehen?«

»Weil mir auch an mir selbst gelegen ist«, wiederholte Michael, der immer noch relativ ruhig blieb. »Ich muss rausgehen und versuchen festzustellen, was los ist und ob eine dieser Gestalten eine Bedrohung für uns darstellt. Ich habe nicht vor, denen zu helfen, ich will bloß in Erfahrung bringen, was hier geschieht.«

»Und wie willst du das anstellen?«, erkundigte sich Ralph und drehte sich zum Rest der Gruppe um. »Wer wird es dir sagen können?«

Einen Augenblick lang rang Michael um eine Erwiderung.

»Emma hat Medizin studiert«, fiel ihm schließlich ein, und er schaute zu ihr. »Du wirst uns doch sagen können, was mit denen da draußen nicht stimmt, oder?«

Emma trat unbehaglich von einem Bein aufs andere und zuckte mit den Schultern.

»Ich kann es versuchen«, murmelte sie. »Ich kann versuchen festzustellen, ob sie tot sind oder nicht, aber darüber hinaus ...«

»Aber ist euch nicht klar, was ihr damit tut?«, protestierte Ralph, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Ihr setzt uns alle einem Risiko aus. Wenn wir einfach eine Weile abwarten und ...«

»Worauf sollen wir warten?«, unterbrach ihn Carl. »Mir scheint, wir sind so oder so einem Risiko ausgesetzt. Wir hocken hier in einem Saal, dessen Wände wir mit bloßen Händen einreißen könnten, wenn wir wollten, und wir sind von tausenden Leichen umgeben, von denen einige beschlossen haben, aufzustehen und herumzulaufen. Hier zu bleiben, finde ich auch ziemlich riskant.«

Da Michael spürte, dass die Kontroverse in die vertrauten Gewässer einer weiteren Debatte darüber abdriftete, ob sie hinausgehen sollten oder nicht, stellte er seine Gefühle und Absichten klar.

»Ich gehe raus«, verkündete er. Seine Stimme erklang leise, dennoch hallte sie unbestreitbar kraftvoll durch den Saal. »Bleibt hier und verkriecht euch, wenn ihr wollt, aber ich gehe raus, und zwar jetzt gleich.«

»Um Himmels willen«, flehte Ralph ihn an, »denk noch mal drüber nach, bevor du etwas tust, das ...«

Michael wartete das Ende des Satzes nicht ab. Stattdessen kehrte er den anderen einfach den Rücken zu und ging zum Haupteingang des Gemeindezentrums. Einen Augenblick hielt er inne und schaute über die Schulter zurück zu Carl, Emma und Kate. Der Rest der Überlebenden schwieg.

»Seid ihr soweit?«, fragte er.

Nach einer Sekunde des Zögerns nickte Carl und gesellte sich zu Michael, dicht gefolgt von Emma und Kate. Michael holte tief Luft, schob die Tür auf und trat hinaus in den hellen Septembersonnenschein.

Es war überraschend warm. Carl fiel auf, dass der kalte Wind der vergangenen Nacht nicht mehr wehte. Er schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab und beobachtete, wie Michael denselben Weg wie vorhin erneut einschlug, indem er sich von dem verwahrlosten Holzgebäude entfernte und auf die Straße zusteuerte. Als der erste wandelnde Leichnam in Sicht geriet, blieb er instinktiv stehen und drehte sich zu den anderen um.

»Was ist denn los?«, fragte Emma sogleich besorgt.

»Gar nichts«, murmelte er nervös und unsicher.

Die drei übrigen folgten ihm. Carl bemerkte, dass sich in den Schatten des Eingangs des Gemeindezentrums eine Schar der anderen eingefunden hatte, die sie beobachtete.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Kate James. Sie war eine stille, kleinwüchsige und rundliche Frau mit sonst geröteten Zügen, aus denen im Moment jedoch alle Farbe gewichen war.

Michael sah sich nach einer Eingebung um.

»Keine Ahnung«, gestand er. »Hat irgendjemand eine Idee?«

Aus drei Gesichtern sahen ihn ausdruckslose Mienen an. Ein paar Sekunden darauf räusperte sich Emma und ergriff das Wort.

»Wir müssen uns einen von denen genauer ansehen«, flüsterte sie.

»Wie meinst du das?«, wollte Kate mit ebenso leiser Stimme wissen. »Was sollen wir uns ansehen?«

»Probieren wir mal aus, wie sie reagieren. Wir sollten versuchen, ob sie uns etwas mitteilen können.«

Während sie gesprochen hatte, war Michael ein paar Schritte weitergegangen.

»Was ist mit der da?«, schlug er vor und deutete auf die nächste der wandelnden Leichen.

Die Gruppe stand schweigend beisammen und beobachtete das qualvoll langsame Vorankommen der Mitleid erregenden Kreatur. Die Bewegungen der Frau wirkten erschöpft und hölzern. Ihre Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Die Füße schien sie beinah hinter sich herzuschleifen.

»Was sollen wir mit ihr tun?«, fragte Kate nervös.

»Willst du näher ran und sie hier unter die Lupe nehmen?«, erkundigte sich Carl.

Michael schüttelte den Kopf.

»Nein«, gab er zurück. »Schaffen wir sie rein.«

»Was, da rein?«, stieß Carl hervor und deutete auf das Gebäude hinter ihnen.

»Ja, da rein«, bestätigte Michael. Seine Stimme wirkte immer noch ruhig und gefasst, was Carl allmählich zu stören begann, zumal er insgeheim hoffte, dass die anderen seine wachsende Angst teilten, da er sich keineswegs so selbstsicher fühlte, wie Michael wirkte. »Ist das ein Problem?«

»Für mich nicht«, sagte Emma. »Aber versuch mal, die anderen zu überzeugen.«

Offensichtlich bereitete ihm das kein Kopfzerbrechen.

»Ich denke, wir sollten sie reinbringen und versuchen, es ihr gemütlich zu machen. Wir werden mehr aus ihr herausbekommen, wenn wir es schaffen, dass sie sich entspannt.«

»Bist du sicher, dass wir das tun sollten?«, murmelte Kate. Ihre Nerven lagen mittlerweile unverkennbar blank.

Michael überlegte kurz, dann nickte er.

»Ich bin sicher«, erwiderte er voll Überzeugung. »Was ist mit dem Rest von euch?«

Schweigen.

Nach ein paar betretenen Sekunden meldete sich Carl zu Wort.

»Verdammt, machen wir es einfach. Wenn wir nur so rumstehen, erreichen wir gar nichts, oder?«

Mehr brauchte Michael nicht zu hören. Er ging von hinten auf die Frau zu, streckte die Arme aus und legte ihr die Hände auf die Schultern. Sie blieb sofort stehen.

Emma lief die letzten paar Schritte und stellte sich vor der Frau auf. Sie schaute ihr in die glasigen Augen und sah, dass sie verschwommen und leer wirkten. Die Haut war blass und straff, als wäre sie über den Schädel gespannt worden. Obwohl Emma sicher war, dass der wandelnde Leichnam sie nicht sehen konnte, sie tatsächlich überhaupt nicht wahrzunehmen schien, achtete sie aus Respekt darauf, ihre wachsende Abscheu zu verbergen. An der rechten Schläfe der Frau prangte eine tiefe Schnittwunde. Dunkles Blut war eine ganze Weile uneingedämmt daraus hervorgequollen und hatte ihre einst weiße Bluse und das graue Kostüm durchtränkt.

»Wir möchten Ihnen helfen«, sagte sie leise.

Keine Reaktion.

Michael umfasst die Schultern der Frau ein wenig fester und trat einen Schritt näher.

»Kommen Sie mit«, flüsterte er. »Wir bringen Sie hinein.«

Carl und Kate beobachteten Michael und Emma mit morbider Faszination.

»Was um alles in der Welt ist hier los«, stieß Kate hervor, deren Stimme jedes Mal, wenn sie sprach, merklich schwächer und unsteter wurde.

»Keine Ahnung«, gestand Carl. »Scheiße, ich wünschte, ich wüsste es.«

Er ließ den Blick über die trostlose Umgebung wandern. Nicht alle Leichname hatten sich in Bewegung gesetzt. Die meisten lagen noch immer reglos, wo sie zusammengebrochen waren.

»Carl!«, schrie Michael.

»Was?«, murmelte Carl nervös und drehte sich zurück zu den anderen.

»Hilf uns mal, Kumpel. Könntest du ihre Beine nehmen?«

Carl nickte und lief hinüber. Er duckte sich, ergriff mit jeder Hand einen der dürren Knöchel der Frau und hob sie von den Beinen, während Michael weiter die Schultern festhielt. Die Frau erwies sich als überraschend leicht. Sie schien fast nichts zu wiegen und zeigte keine Reaktion darauf, hochgehoben zu werden.

Dicht gefolgt von Emma und Kate begaben die beiden Männer sich zurück zum Gemeindezentrum. Als sie sich dem Eingang näherten, erkannten die anderen Überlebenden, die das Geschehen wie gebannt verfolgt hatten, sehr rasch, was sich anbahnte. Wie ein Schwarm verängstigter Fische, auf den ein tödlicher Hai zuraste, stoben sie auseinander.

»Was soll das werden?«, stammelte Ralph, als Carl und Michael sich an ihm vorbeidrängten. »Was denkt ihr euch dabei, dieses Ding hier reinzuschaffen?«

Michael erwiderte nichts. Er war zu beschäftigt damit, den anderen Anweisungen zu erteilen.

»Gruppiert euch um sie«, befahl er. »Umzingelt sie.«

Gehorsam kamen Kate und Emma näher, ebenso zwei andere, deren Namen Michael nicht kannte. Carl ließ die Beine der Frau behutsam zu Boden, bis sie aufrecht dastand, dann wich er zurück auf Höhe der übrigen. Nachdem sich annähernd ein Kreis gebildet hatte, mit dem Michael zufrieden war, ließ er die Frau los.

Eine Sekunde lang geschah gar nichts. Dann stolperte die Frau ansatzlos auf Kate zu, die beklommen das Gesicht verzog und die Arme vor sich streckte, um zu verhindern, dass die Frau ihr zu nahe kam. Sobald sie in Kontakt mit Kates ausgestreckten Händen geriet, änderte die Frau die Richtung und wankte in eine andere Richtung weiter. Der Vorgang wiederholte sich jedes Mal, wenn sie den Rand des Kreises erreichte.

Als die Frau auf Michael zustolperte, gestattete er sich zum ersten Mal einen tiefen Blick in ihr Gesicht. Ein paar gefährliche Sekunden war er wie gebannt von der Mitleid erregenden Kreatur vor ihm; er fragte sich, wie sie vor einer Woche ausgesehen haben mochte. Vermutlich hätte er sie noch vor ein paar Tagen attraktiv gefunden, doch nun zerstörten ihr leerer Blick und die runzlige, fast durchscheinende Haut sofort jeden Eindruck von Schönheit, die ihr Gesicht einst besessen haben mochte. Dem freiliegenden Fleisch haftete ein unnatürlicher Glanz an. Michael fiel auf, dass die Haut gräulich, beinah hellgrün und straff über die Schädelknochen gespannt wirkte. Was auf den ersten Blick wie dunkle Ringe unter den Augen ausgesehen hatte, erwies sich tatsächlich als die vorstehenden Ränder der Augenhöhlen. Ihr Mund stand offen, prangte wie ein riesiges, dunkles Loch im Gesicht, und ein dicker Strang zähflüssigen Speichels troff ihr unablässig seitlich über das Kinn. Michael stieß sie von sich.

Die Frau machte kehrt und wankte auf Carl zu. Sie war eindeutig außer Stande, ihre Bewegungen zu kontrollieren oder zu koordinieren, und so schlurfte sie halb stolpernd vor sich hin. Carl schrak zurück und stieß sie zu Boden. Er spürte kalten Schweiß auf der Stirn, als die beklagenswerte Kreatur sich wieder auf die Beine rappelte.

»Kann sie uns hören?«, dachte Kate laut nach, obwohl sie die Frage eigentlich gar nicht aussprechen wollte.

»Keine Ahnung«, antwortete Michael.

»Wahrscheinlich schon«, sagte Emma.

»Wie kommst du darauf?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich schließe das aus der Art, wie sie reagiert.«

Ralph, der das Geschehen bislang aus der Ecke des Saals beobachtet hatte, wurde unwillkürlich näher und näher zum Kreis der Überlebenden gezogen.

»Aber sie reagiert doch gar nicht«, stammelte er mit für ihn untypisch brüchiger und zittriger Stimme.

»Ich weiß«, pflichtete Emma ihm bei. »Genau das meine ich. Sie läuft herum, aber ich glaube nicht, dass sie weiß, weshalb oder wie sie es macht.«

»Ein Instinkt«, murmelte Carl.

»Das denke ich allmählich«, bestätigte Emma. »Wahrscheinlich kann sie uns hören, aber sie weiß nicht mehr, was die Geräusche bedeuten, die wir von uns geben. Ich wette, sie wäre körperlich in der Lage zu sprechen, nur erinnert sie sich nicht daran, wie es geht.«

»Aber sie reagiert auf Berührungen«, warf Paul Garner nervös ein.

»Nein, tut sie nicht. Sie reagiert überhaupt nicht. Sie wendet sich nur ab, wenn sie sich in eine bestimmte Richtung nicht weiterbewegen kann. Ich bin überzeugt, sie würde endlos in einer geraden Linie vor sich hin laufen, wenn ihr nichts im Weg stünde.«

»Grundgütiger, seht sie euch an«, murmelte Kate. »Seht euch das arme Ding nur an. Wie viele Millionen Menschen laufen da draußen so wie sie herum?«

»Hast du ihren Puls überprüft?«, flüsterte Michael zu Emma, die neben ihm stand.

»Irgendwie schon«, erwiderte sie mit ebenso leiser Stimme.

»Was soll das denn heißen?«, zischte Michael, verärgert über die vage Antwort.

»Ich konnte keinen finden«, gab sie unverblümt zurück.

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit gar nichts sagen.«

»Und was denkst du?«

Emma sah ihn an und zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie.

»Schafft sie hier raus«, fauchte Garner nervös von seinem Beobachtungspunkt an einer Tür in sicherer Entfernung.

Michael ließ den Blick über den Kreis wandern und stellte fest, dass die anderen plötzlich entweder zu Boden starrten oder ihn ansahen. Da er spürte, dass von ihm erwartet wurde, den nächsten Schritt zu tun, trat er vor und ergriff einen Arm der unglückseligen Frau. Er zog sie behutsam aus dem Saal zurück zur Tür, die er mit der freien Hand öffnete. Dann stieß er sie hinaus in den Sonnenschein und beobachtete, wie sie vom Gebäude weg und zurück über den Parkplatz schlurfte.

10

Die isolierte und verzweifelte Lage machte allen zu schaffen, manchen mehr als anderen. Carl verbrachte den Großteil des Nachmittags mit dem (erfolglosen) Versuch, mangelnden Schlaf nachzuholen und zu vergessen, was draußen geschah. Die Zeit verstrich schier unerträglich und qualvoll langsam. Eine Stunde fühlte sich wie fünf Stunden an, fünf Stunden eher wie fünfzig. Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, kletterte er wieder auf den kleinen Dachbereich, den er am Vorabend entdeckt hatte.

Einen Augenblick fühlte die Luft sich rein und erfrischend an, und er sog mehrere tiefe, beruhigende Atemzüge ein, ehe die mittlerweile vertrauten Gerüche des Todes und brennender Gebäude sich rasch wieder einstellten, da sie ihm ein kalter, böiger Wind zutrieb. Ein plötzliches, unerwartetes Geräusch ertönte hinter ihm. Carl wirbelte herum und sah, wie Michael sich damit plagte, durch das winzige Dachfenster zu klettern.

»Hab ich dich erschreckt?«, fragte er, als er sich aufs Dach zog. »Tut mir Leid, Kumpel, das wollte ich nicht. Ich habe nach dir gesucht und gesehen, wie du hier rauf verschwunden bist, deshalb ...«

Carl schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab, enttäuscht darüber, dass seine kleine Zufluchtstätte entdeckt worden war. Im Gemeindezentrum war Privatsphäre Mangelware; jedem der Überlebenden standen nur wenige Quadratmeter zur Verfügung. So gut wie jede Bewegung, die man vollführte, konnte von jedem beobachtet werden. Carl hasste das und hatte sich darauf gefreut, einige Zeit allein auf dem Dach zu verbringen. Dieses kleine Fleckchen war der einzige Ort, an dem er sich strecken, kratzen, mit dem Fuß aufstampfen, brüllen, gegen die Wand schlagen oder weinen konnte, ohne das Gefühl zu haben, sich wegen der anderen zurückhalten zu müssen. Dabei schien es dumm, dass er, obwohl fast die gesamte Bevölkerung tot war, immer noch instinktiv berücksichtigte, was die wenigen Überlebenden von ihm denken würden, statt sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Die Auswirkungen jahrelanger gesellschaftlicher Zwänge würden wohl mehr als ein paar Tage brauchen, um zu verblassen.

»Schon in Ordnung«, seufzte er, als Michael sich ihm näherte. »Ich bin nur hier raufgeklettert, um eine Weile allein zu sein.«

»Möchtest du, dass ich wieder reingehe?«, fragte Michael, der spürte, dass er unerwünscht war. »Wenn dir das lieber ist, dann –«

Abermals schüttelte Carl langsam den Kopf.

»Nein, ist schon gut.«

Froh darüber, dass er Carl nicht störte (wenngleich nicht gänzlich davon überzeugt, dass er wirklich erwünscht war), stellte Michael sich neben Carl an den Rand des Daches.

»Was um alles in der Welt geht bloß vor sich?«, fragte er mit so leiser Stimme, dass Carl ihn kaum zu hören vermochte.

»Ich weiß es nicht«, murmelte der ebenso leise.

»Gott, es ist alles so schnell gegangen«, murmelte Michael. »Noch vor ein paar Tagen war alles normal, aber jetzt ...«

»Ich weiß«, seufzte Carl. »Ich weiß.«

Eine Weile standen die beiden Männer schweigend da und beobachteten die Trostlosigkeit rings um sie. Ganz gleich, wie lange und eindringlich sie hinstarrten, sie konnten sich immer noch nicht mit den unzähligen Leichen abfinden, die mit dem Gesicht auf der kalten Erde lagen. Als noch schwieriger empfanden sie es, jene Mitleid erregenden Kreaturen zu akzeptieren, die sich inzwischen bewegten. Wie konnte dieser Albtraum geschehen?

»Fast möchte man sie beneiden, was?«, meinte Carl.

»Wen?«

»Die Leichen, die noch auf dem Boden liegen. Diejenigen, die nicht aufgestanden sind. Ich muss immerzu daran denken, wie viel einfacher es wäre ...«

»Das ist verflucht dummes Gerede«, zischte Michael.

»Ach ja?«, fauchte Carl zornig zurück.

In der betretenen Stille, die folgte, dachte Carl über seine Worte nach. Verdammt, wie niedergeschlagen und schicksalsergeben er sich inzwischen anhörte. Aber warum auch nicht? dachte er. Warum sollte es anders sein? Immerhin war sein Leben auf den Kopf gestellt worden; er hatte alles verloren. Nicht nur Besitztümer und sein Haus, sondern uneingeschränkt alles. Und wenn er an Sarah und Gemma dachte, die zusammen zu Hause im Bett lagen, wurde der Schmerz unerträglich. Waren sie überhaupt noch dort? Oder hatte diese Veränderung auch sie erfasst? Die Vorstellung, dass sein wunderschönes kleines Mädchen ziellos allein durch die dunklen Straßen wandeln könnte, war zu viel. Erfolglos versuchte er, die Tränen zu verbergen, die ihm ungezügelt über das abgehärmte Gesicht liefen.

»Das wird schon wieder«, flüsterte Michael in einem kläglichen Versuch, ihn zu trösten, wenngleich er wusste, dass es unmöglich war.

»Mir geht‘s gut«, erwiderte Carl schniefend. Allerdings war unbestreitbar offenkundig, dass er log.

»Sicher?«, hakte sein Gefährte nach.

Carl sah ihm ins Gesicht und rang sich den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln ab. Gerade wollte er mit der üblichen Floskel »Ja, alles in Ordnung« antworten, als er jäh davon absah. Es schien sinnlos, die Wahrheit zu verbergen.

»Nein«, gestand er. »Nein, Kumpel, es geht mir überhaupt nicht gut ...«

Unvermittelt brachte er kein weiteres Wort heraus und schluchzte stattdessen hemmungslos.

»Mir auch nicht«, sagte Michael und wischte sich selbst Tränen der Verzweiflung und des Schmerzes aus den Augen.

Die beiden Männer setzten sich an den Rand des Daches und ließen die Beine über die Kante baumeln. Michael streckte sich, gähnte und fuhr sich mit den Fingern durch das verfilzte Haar. Er fühlte sich schmutzig. Im Augenblick hätte er jeden Preis für die Möglichkeit bezahlt, sich in einem heißen Bad zu entspannen und anschließend die Nacht in einem gemütlichen Bett zu verbringen. Oder auch nur in einem ungemütlichen. In irgendetwas, das besser war, als eine harte Holzbank in einem kalten Holzgebäude.

»Weißt du, was wir brauchen?«, fragte er.

»Da fielen mir auf Anhieb tausende Dinge ein«, gab Carl zurück.

»Lass mal alles Praktische und Abstrakte wie Wärme, Sicherheit, Antworten auf tausend Fragen und dergleichen beiseite. Weißt du, was ich mehr als alles andere bräuchte?«

Carl zuckte mit den Schultern.

»Nein, was?«

Michael legte sich auf das Dach zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Ich müsste mich so richtig besaufen. Ich möchte so viel Bier in mich reinschütten, dass ich nicht mehr weiß, wie ich heiße, und mir alles egal ist.«

»Da drüben ist ein Schnapsladen«, sagte Carl halb lächelnd und deutete über die Hauptstraße. »Lust auf einen Spaziergang?«

Er schaute zu Michael hinab, der entschieden den Kopf schüttelte.

»Nein«, gab er sofort zurück.

Eine weitere längere Stille folgte.

»Mein Gott, sieh dir den mal an«, forderte Carl ihn einige Minuten später auf. Michael setzte sich auf.

»Wen?«, fragte er.

»Den da drüben«, erwiderte Carl und nickte in Richtung einer einsamen Gestalt in der Ferne, die am Rand der Hauptstraße entlangtorkelte. Die schattige, leere Hülle war einst ein etwa eins achtzig großer und vermutlich zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alter Mann gewesen. Er stolperte linkisch mit einem Fuß auf dem Bürgersteig vor sich hin und zog den anderen im Rinnstein hinter sich her.

»Was ist mit ihm?«

Carl zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht«, seufzte er. »Sieh dir nur an, in welchem Zustand er ist. Genauso gut könnten das du oder ich sein.«

»Ja, sind wir aber nicht«, gab Michael gähnend zurück und wollte sich wieder hinlegen.

»Und da ist noch einer. Siehst du den im Zeitschriftenladen?«

Michael spähte in die Ferne.

»Wo?«

»In dem Zeitschriftenladen mit dem roten Schild. Zwischen dem Pub und der Autowerkstatt ...«

»Oh, ja, jetzt sehe ich ihn.«

Die beiden Männer starrten auf den Leichnam in dem Gebäude. Er war im Eingangsbereich gefangen. Hinter ihm war ein Regal umgekippt und versperrte ihm den Weg rückwärts, und ein verunfalltes Auto verhinderte, dass die Tür sich nach außen öffnen ließ. Die Gestalt bewegte sich unablässig, bald nach vorne, dann wieder nach hinten.

»Dieses Ding hat keinen Schimmer, was los ist, oder?«, murmelte Carl. »Komisch, dass es nicht aufgibt, was?«

»Es bewegt sich der Bewegung halber. Es weiß nicht, wie oder warum oder was es tun soll. Es verspürt einfach den Drang, sich zu bewegen.«

»Und wie lange werden sie sich bewegen? Verdammte Scheiße, wann werden sie damit aufhören?«

»Gar nicht. Es gibt keinen Grund dafür, oder? Sie nehmen nichts mehr wahr. Pass auf.«

Michael erhob sich und ging zu dem Bereich, in dem das Schrägdach an das Flachdach grenzte, auf dem sie sich befanden. Er zog einen Ziegel heraus.

»Was um alles in der Welt tust du da?«, fragte Carl grinsend.

»Sieh zu«, forderte Michael ihn leise auf.

Er wartete ein paar Sekunden, bis einer der wandelnden Leichname sich dem Gebäude näherte. Michael zielte sorgfältig und schleuderte den Ziegel. Überraschend genau traf der Ziegel die Gestalt in den Rücken. Der Leichnam taumelte und stolperte kurzzeitig, lief aber unbeirrt weiter.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Carl verwirrt.

Michael zuckte mit den Schultern.

»Ich denke, ich wollte nur etwas beweisen.«

»Was?«

»Dass sie nicht reagieren. Sie leben nicht wie du oder ich, sie existieren nur noch.«

Verzweifelt und ungläubig schüttelte Carl den Kopf. Michael entfernte sich wieder. Auf seltsame Weise bedauerte er, den Ziegel auf den Leichnam geworfen zu haben. Ganz gleich, was die Kreatur nun darstellen mochte, vor wenigen Tagen war sie noch ein lebender, atmender Mensch gewesen. Er fühlte sich wie ein Straßenräuber, der einem unschuldigen Opfer aufgelauert hatte.

»Glaubst du, es war ein Virus?«, fragte Carl. »Emma scheint etwas in die Richtung zu vermuten. Oder denkst du, es war ...«

»Keine Ahnung, und es ist mir auch egal«, fiel Michael ihm ins Wort.

»Was soll das heißen, es ist dir egal?«

»Was macht es für einen Unterschied? Was geschehen ist, ist geschehen. Dasselbe alte Klischee, nicht wahr? Wenn man von einem Auto überfahren wird, spielt es dann eine Rolle, welche Farbe es hatte?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, dass es belanglos ist, was das alles verursacht hat. Gut, es spielt vielleicht insofern eine Rolle, als ich nicht will, dass es auch mir widerfährt, aber was passiert ist, lässt sich nicht rückgängig machen, oder?«

»Ich schätze nicht.«

»Sieh mal, ich habe so wie der Rest von uns Freunde und Familie verloren. Ich mag mich wie ein gleichgültiger Mistkerl anhören, aber das bin ich nicht. Ich sehe bloß keinen Sinn darin, Zeit damit zu vergeuden, mir blödsinnige Theorien und Erklärungen auszudenken, die allesamt nicht das Geringste ändern können. Das Einzige, worüber wir ein wenig Kontrolle haben, ist, was wir morgen tun.«

»Und was tun wir morgen?«

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung!«, gab Michael zurück und lachte verkniffen.

Es begann zu regnen. Erst waren es nur vereinzelte Tropfen, die sich jedoch binnen Sekunden in einen Schauer beinah monsunartiger Ausmaße verwandelten. Rasch zwängten Carl und Michael sich durch das Dachfenster und ließen sich hinab in den bedrückend stillen Saal.

»Tut gut, ab und an mal an die frische Luft zu kommen, was?«, murmelte Carl sarkastisch.

»Da ist was Wahres dran«, erwiderte Michael, der Mühe hatte, sich über den Lärm des heftigen Regens Gehör zu verschaffen.

»Was?«

»Du hast Recht. Ich denke, es täte uns gut, an die frische Luft zu kommen. Hast du schon mal über die Leichen nachgedacht?«

»Scheiße, ich kann an kaum etwas anderes denken ...«

Michael schüttelte den Kopf.

»Nein, ich meine, hast du schon mal darüber nachgedacht, was passieren wird, wenn sie ernsthaft zu verwesen beginnen? Die Luft wird voll von Keimen und sonstigem Mist sein.«

»Dagegen können wir nicht viel tun, oder?«

»Dagegen können wir einen Scheißdreck tun«, gab Michael unverblümt zurück. »Aber wir könnten von hier verschwinden.«

»Verschwinden? Wohin? Es wird überall so sein, oder?«

»Keine Ahnung.«

»Was würde es also bringen, von hier zu verschwinden?«

Carl wurde klar, dass Michael wesentlich logischere Überlegungen angestellt hatte als der Rest der Überlebenden zusammen.

»Denk mal nach. Wir befinden uns hier am Stadtrand. Rings um uns sind hunderttausende Leichen.«

»Und ...«

»Und ich finde, wir sollten uns aufs Land durchschlagen. Dort gibt es weniger Leichen, was zwangsläufig eine geringere Seuchengefahr bedeutet. Völlig sicher werden wir nirgends sein, aber ich denke, wir sollten versuchen, unser Risiko zu minimieren. Wir sollten zusammenpacken und so bald wie möglich von hier verschwinden.«

»Du willst das wirklich durchziehen?«

»Wenn wir bereit dafür wären, würde ich noch heute Nacht aufbrechen.«

11

Trotz des Umstands, dass jeder Einzelne der Überlebenden neue Dimensionen emotionaler und mentaler Erschöpfung erreicht hatte, konnte niemand an Schlaf auch nur denken. Der Schlafmangel bewirkte, dass die ungleichartige Gruppe furchtsamer und verzweifelter Menschen mit jeder verstreichenden Minute noch ängstlicher und verzweifelter wurde. Nur ein paar schwache Gaslampen und vereinzelte Taschenlampen erhellten den Saal. Der Mangel an Licht schien die Orientierungslosigkeit und Furcht zu verstärken, die sie alle verspürten. Gegen Mitternacht erreichten die Spannungen und die Frustration selbst der friedfertigsten Mitglieder der Gruppe gefährliche Ausmaße.

Jenny Hall, die ihren drei Monate alten Jungen in den Armen gehalten hatte, als er am Dienstagmorgen starb, hatte es gewagt, sich über das Essen zu beschweren, das sie am Abend erhalten hatten. Wenngleich sie ihre unschuldige Bemerkung nicht böse gemeint hatte, fühlte sich der Koch – der sonst so stille und reservierte Stuart Jeffries – persönlich angegriffen.

»Du blöde Schlampe«, brüllte er sie an, das Gesicht buchstäblich nur Millimeter von dem ihren entfernt. »Was fällt dir ein, dich zu beschweren? Verdammte Scheiße, du bist nicht die Einzige, die es schwer hatte. Herrgott, wir sitzen hier alle im selben Boot ...«

Mit zitternden Händen weinte Jenny bittere Tränen. Sie verkrampfte sich vor Angst und konnte ihre Bewegungen kaum kontrollieren.

»Ich wollte nicht ...«, stammelte sie. »Was ich sagen wollte, war nur ...«

»Halt‘s Maul!«, schrie Stuart, packte sie an den Armen und drückte sie gegen die Wand. »Halt dein verdammtes Maul!«

Einen Augenblick stand Michael nur da und beobachtete die Szene, verblüfft, wie betäubt und außer Stande zu begreifen, was er bezeugte. Doch es gelang ihm rasch, sich aus seiner ungläubigen Trance zu lösen und einzuschreiten. Er packte Stuart und riss ihn von Jenny weg, die entlang der Wand zu Boden rutschte und als schluchzendes Häufchen Elend auf dem schmutzigen braunen Boden zusammensackte.

»Mistkerl«, fauchte sie und schaute zu Stuart auf. »Verdammter Mistkerl.«

Michael schob Stuart quer durch den Raum und stieß ihn auf einen Stuhl.

»Was ist bloß los mit dir?«, verlangte er zu erfahren.

Stuart erwiderte nichts. Stattdessen starrte er zu Boden. Seine Züge waren gerötet, die Fäuste geballt, und er zitterte vor Wut am ganzen Leib.

»Worin liegt das Problem?«, bohrte Michael nach.

Stuart rührte sich nicht.

»Wir sind wohl nicht gut genug für sie«, murmelte er schließlich.

»Was?«

»Dieses kleine Flittchen«, presste er hervor. »Hält sich wohl für etwas Besonderes, wie? Glaubt wohl, sie steht über uns.« Er schaute auf und deutete auf Jenny. »Sie denkt, sie ist die Einzige, die alles verloren hat.«

»Du redest Unsinn«, stellte Michael fest und setzte sich auf eine Bank neben Stuart. »Was soll denn das heißen?«

Stuart konnte – oder wollte – nicht antworten. Tränen der Frustration traten in seine müden Augen. Um Michael das Ausmaß seiner aufgestauten Gefühle nicht erkennen zu lassen, sprang er auf, stürmte aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu.

»Was sollte das denn?«, erkundigte sich Emma, als sie an Michael vorbei auf Jenny zuging, die mittlerweile auf dem Boden lag. Sie kauerte sich nieder und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ganz ruhig«, flüsterte sie. »Es ist alles in Ordnung.«

»Alles in Ordnung?«, schluchzte Jenny. »Wie kannst du sagen, dass alles in Ordnung ist? Wie kannst du nach allem, was geschehen ist, behaupten, alles sei in Ordnung?«

Kate James setzte sich neben die beiden. Emma umarmte Jenny und schaute zu Kate.

»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte sie leise.

»Nicht richtig«, erwiderte Kate. »Erst haben die beiden nur geredet. Dass etwas nicht stimmte, habe ich erst bemerkt, als Stuart zu schreien anfing. In der einen Minute verhielt er sich noch ganz normal und ruhig, in der nächsten fiel er sie völlig außer sich an.«

»Warum?«

Kate zuckte mit den Schultern.

»Anscheinend hat sie ihm gesagt, dass ihr die Suppe nicht geschmeckt hat.«

»Was?«, fragte Emma ungläubig.

»Sie mochte die Suppe nicht, die er gekocht hat«, wiederholte Kate. »Ich bin sicher, das war alles, worum es ging.«

»Mann o Mann«, seufzte Emma und schüttelte resigniert den Kopf.

Carl betrat mit Jack Baynham den Saal. Nach kaum drei Schritten hielt er inne und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist denn los?«, fragte er vorsichtig, beinah so, als fürchtete er sich vor der Antwort. Es herrschte eine derart bedrückte Atmosphäre im Raum, dass er überzeugt war, es müsste sich etwas Schreckliches ereignet haben.

Michael schüttelte den Kopf.

»Gar nichts«, sagte er. »Hat sich alles erledigt.«

Carl schaute zu Emma hinab, die mit Jenny in den Armen auf dem Boden kauerte. Offensichtlich war sehr wohl etwas vorgefallen, doch was immer es gewesen sein mochte, es schien sich auf innerhalb des Saals beschränkt zu haben und gelöst worden zu sein, deshalb beschloss er, keine weiteren Fragen zu stellen. Er hatte ohnehin keine Lust, darin verwickelt zu werden. Es mochte selbstsüchtig und gefühllos von ihm sein, aber er wollte es eigentlich gar nicht wissen. Er hatte genug eigene Probleme und musste sich nicht auch noch mit denen anderer Leute befassen.

Michael dachte ähnlich, doch ihm war es unmöglich, so auf sich konzentriert und abgekapselt zu bleiben wie Carl. Als er aus einem anderen dunklen Winkel des Saals ein neues Weinen hörte, ging er hin, um nachzusehen. Er stellte fest, dass die Tränen von Anne Nelson und Jessica Short stammten, zwei der ältesten Überlebenden. Die beiden Damen kauerten gemeinsam unter einer Decke, hielten einander fest und bemühten sich, mit dem Schluchzen aufzuhören, durch das sie Aufmerksamkeit auf sich zogen. Michael setzte sich neben sie.

»Alles in Ordnung mit euch beiden?«, fragte er sinnloserweise, doch etwas anderes fiel ihm nicht ein.

Annie lächelte einen flüchtigen Augenblick, nickte und versuchte angestrengt, eine tapfere Miene aufzusetzen. Beiläufig wischte sie eine Träne ab, die ihr über die faltige Wange rann.

»Uns geht‘s gut, danke«, gab sie mit brüchiger Stimme zurück.

»Kann ich euch etwas holen?«

Annie schüttelte den Kopf.

»Nein, wir brauchen nichts«, sagte sie. »Ich denke, wir versuchen jetzt, ein wenig zu schlafen.«

Michael lächelte und legte die Hand auf die ihre. Dabei bemühte er sich, seine Sorge zu verbergen, aber ihre Hand fühlte sich beunruhigend kalt und zerbrechlich an. Die beiden taten ihm aufrichtig Leid. Ihm war aufgefallen, dass sie unzertrennlich schienen, seit sie im Gemeindezentrum eingetroffen waren. Jessica, so hatte er von Emma erfahren, war eine wohlhabende Witwe, die in einem großen Haus in einem der exklusivsten Viertel von Northwich gewohnt hatte. Annie hingegen hatte ihm am Vortag erzählt, dass sie ihr ganzes Leben im selben viktorianischen Reihenhaus mit zwei Zimmern verbracht hatte. Sie war dort geboren worden und beabsichtigte, wie sie sofort hinzugefügt hatte, auch den Rest ihrer Tage dort zu verleben. Sobald die Dinge sich beruhigten, hatte sie naiv erklärt, würde sie schnurstracks nach Hause zurückkehren. Sie hatte sogar Jessica für einen Nachmittag zum Tee eingeladen.

Michael tätschelte die Hand der alten Dame, dann stand er auf und entfernte sich. Dabei schaute er über die Schulter zurück und beobachtete, wie die beiden Rentnerinnen sich enger aneinanderdrängten und in furchtsamen Flüstertönen miteinander tuschelten. Da sie eindeutig von gegenüberliegenden Enden des gesellschaftlichen Spektrums stammten, war der einzige Grund, warum sie sich zueinander hingezogen fühlten, ihr ähnliches Alter. Geld, Rang und Namen, Besitztümer, Freunde und Verbindungen zählten nichts mehr.

Zwei Stunden später saß Emma immer noch auf dem Boden. Als es bald halb drei wurde, verfluchte sie sich für ihre verdammte Selbstlosigkeit. Da kauerte sie, kalt und unbehaglich, und hielt immer noch Jenny Hall in den Armen. Erschwerend kam hinzu, dass Jenny seit fast einer Stunde schlief. Warum bin immer ich es, die so etwas macht? fragte sie sich. Mich hält nie jemand fest und wiegt mich in den Schlaf. Warum opfere immer ich mich? Eigentlich brauchte Emma keine Hilfe, aber es ärgerte sie, dass ihr niemand welche anbot.

Abgesehen von einer gedämpften Unterhaltung, die aus einem der dunklen Räume abseits des Hauptsaals drang, herrschte Stille im Gebäude. Emma schob sich behutsam unter Jenny hervor, legte sie auf den Boden und deckte sie mit einem Laken zu. In der schweren Stille schien jedes noch so geringe Geräusch regelrecht Ohren betäubend. Nachdem sie Jenny versorgt hatte, lauschte sie aufmerksam und versuchte, die genaue Quelle der Unterhaltung ausfindig zu machen. Sie sehnte sich nach etwas ruhiger, vernünftiger Gesellschaft.

Die Stimmen drangen aus einem Raum, den sie zuvor noch nie betreten hatte. Vorsichtig schob sie die Tür auf und spähte hinein. Pechschwarze Finsternis herrschte, und die Stimmen verstummten schlagartig.

»Wer ist da?«, fragte ein Mann.

»Emma«, flüsterte sie. »Emma Mitchell.«

Als ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie, dass zwei Männer mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand kauerten. Es waren Michael und Carl. Sie tranken Wasser aus einer Plastikflasche, die sie untereinander hin und herreichten.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Michael.

»Mir geht‘s gut«, gab Emma zurück. »Habt ihr was dagegen, wenn ich reinkomme?«

»Überhaupt nicht«, antwortete Carl. »Hat sich draußen wieder alles beruhigt?«

Emma betrat den Raum, stolperte beinah über ausgestreckte Beine und tastete in der Düsternis nach der nächsten Wand. Vorsichtig setzte sie sich.

»Alles still«, bestätigte sie. »Trotzdem musste ich da einfach weg, falls ihr wisst, was ich meine.«

»Was glaubst du, warum wir hier drin sind?«, fragte Michael.

Nach kurzem Schweigen meldete sich wieder Emma zu Wort.

»Es tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Habe ich euch bei etwas gestört? Wollt ihr, dass ich wieder gehe, damit ihr ...«

»Bleib, solang du willst«, unterbrach Michael sie. Emmas Augen gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit, sodass sie mittlerweile Einzelheiten der beiden Gesichter ausmachen konnte.

»Ich glaube, da draußen schlafen alle. Zumindest sind alle mucksmäuschenstill. Ich denke mal, wer nicht schläft, grübelt über das nach, was heute geschehen ist. Ich habe bei Jenny gesessen und ihr zugehört, wie sie über ...« Emma wurde klar, dass sie vor sich hinschwafelte und ließ den Satz unvollendet. Michael und Carl starrten sie an. »Was ist denn?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich verunsichert. »Was?«

Michael schüttelte den Kopf. »Mann«, seufzte er. »Warst du die ganze Zeit da draußen bei Jenny?«

Emma nickte. »Ja, warum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich frage mich bloß, warum du dir das antust.«

»Na ja, irgendjemand musste es ja tun, oder?«, gab sie gleichgültig zurück, als sie zu einem Schluck aus der Wasserflasche ansetzte, die Carl ihr reichte.

»Und warum ausgerechnet du? Herrgott, wer würde denn stundenlang bei dir hocken, wenn du ...«

»Wie ich schon sagte«, fiel sie ihm ins Wort, »irgendjemand musste es tun. Wenn wir uns alle in Zimmern wie diesem abkapseln, wenn die Dinge mal nicht so prächtig laufen, dann sieht unsere Zukunft hier wohl nicht besonders rosig aus, oder?«

Obwohl sie sich noch vor wenigen Minuten selbst aus demselben Grund kritisiert hatte, verteidigte Emma ihr Vorgehen unwillkürlich.

»Also denkst du, wir haben hier eine Zukunft?«, fragte Carl.

Emma fühlte sich allmählich unbehaglich. Sie war nicht hergekommen, um sich von unangenehmen Fragen bedrängen zu lassen.

»Natürlich haben wir eine Zukunft«, gab sie unwirsch zurück.

»Auf den Straßen rings um uns liegen unzählige Leichen, und wir gehen einander an die Gurgel, weil jemand keine Suppe mag. Das scheint mir nicht allzu viel versprechend, oder?«, gab Michael zu bedenken.

Stille kehrte ein.

»Was denkst du?«, wollte Emma wissen. »Du scheinst über alles eine Meinung zu haben. Glaubst du, wir haben eine Chance? Oder sollten wir uns einfach jeder in einem Winkel zusammenrollen und aufgeben?«

»Ich glaube, wir haben eine verdammt gute Chance, aber nicht unbedingt hier.«

»Wo dann?«, fragte sie.

»Lass uns mal sehen, was wir hier haben«, begann Michael. »Wir haben eine Art Unterstand, begrenzte Vorräte und Zugang zu dem, was von der Stadt noch übrig ist. Außerdem sind wir von schier unendlich vielen Leichen umgeben, die verwesen werden – und von denen sich etliche bewegen. Richtig?«

Die beiden anderen überlegten kurz, dann nickten sie.

»Ich denke«, fuhr er fort, »dass die Medaille eine Kehrseite hat. Unser Unterschlupf kann sich rasch in ein Gefängnis verwandeln. Wir haben doch in Wahrheit keine Ahnung, was rings um uns ist. Wir wissen nicht einmal, was sich in den Gebäuden auf der anderen Straßenseite befindet.«

»Aber es wird überall dasselbe sein, egal, wohin wir gehen ...«, warf Emma ein.

»Möglich. Carl und ich haben uns früher darüber unterhalten, uns aufs Land durchzuschlagen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint es mir.«

»Warum?«

Carl erklärte es ihr anhand der Erinnerung an das Gespräch, das er vor ein paar Stunden mit Michael geführt hatte.

»Die Bevölkerung konzentriert sich in den Städten, oder? Draußen auf dem Land wird es daher weniger Leichen geben. Und weniger Leichen bedeuten weniger Probleme ...«

»Hoffentlich«, fügte Michael vorsichtig hinzu.

»Was hält uns dann auf?«, wollte Emma wissen.

»Nichts«, erwiderte Michael

»Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«

»Ganz sicher.«

»Und wenn niemand mitkommen will?«

»Pech gehabt. Dann gehe ich allein.«

»Und wann willst du aufbrechen?«

»Sobald ich kann. Schon morgen, wenn ich könnte.«

So arrogant und überheblich Michael sich anhörte, Emma musste zugeben, dass seine Gedanken sinnvoll erschienen. Je eingehender sie über seinen Vorschlag nachdachte, desto hoffnungsvoller wurde sie. Von einer neuen Begeisterung und Zielstrebigkeit erfüllt, redeten die drei die langen ersten Stunden des anbrechenden Tages hindurch. Gegen vier Uhr morgens hatten sie ihren Plan gefasst.

12

Michael Collins

Bastarde.

Rückgratlose, beschissene Bastarde.

Nachdem ich beschlossen hatte aufzubrechen, war der Fall für mich erledigt: Ich würde gehen. Es ergab so viel Sinn. Niemand konnte sicher sein, was als Nächstes geschehen würde, und niemand wusste, wie sicher wir sein würden. Das Problem war nur: Alle schienen darin einig, dass wir weiterziehen sollten ... bis es tatsächlich an der Zeit dafür war. Bis es soweit war, zur Tür hinauszugehen, stimmten mir alle zu, dass es vernünftig wäre, die Stadt zu verlassen. Aber als es Zeit zu handeln war, hatte keiner den Mumm dafür. Sie hatten zwar Angst davor, im Gemeindezentrum herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas geschah, noch mehr jedoch fürchteten sie den Gedanken an die ersten zaghaften Schritte außerhalb ihrer Ruhezone. Ich stand mitten im Saal vor ihnen und erklärte ihnen, weshalb wir verschwinden sollten. Wie verdammte Schafe nickten sie und murmelten zustimmend. Fünf Minuten später allerdings, als Paul Garner und Stuart aufstanden, um ihre Meinung zu verkünden, und den anderen mitteilten, warum sie es für besser hielten, bis in die beschissene Ewigkeit untätig stillzusitzen, wurde die Sache abgehakt. Plötzlich fühlte es sich an, als hieße es Carl, Emma und ich gegen den Rest. Allmählich identifizierte ich mich mit den Leichen draußen mehr als mit den geist- und leblosen Bastarden, mit denen ich eingesperrt war.

Aber zumindest waren damit die Grenzen gezogen. Das Hin und Her war zu Ende. Wir konnten bleiben und verrotten, oder wir konnten gehen. Keine besondere Auswahl.

An jenem Vormittag blieb Emma im Gemeindezentrum, um unsere Sachen zu packen, während Carl und ich in die Stadt aufbrachen, um zusammenzusuchen, was wir für unsere Reise ins Unbekannte brauchen könnten. Als wir draußen waren, wurden die Dummheit und Kurzsichtigkeit derer, die sich im Gemeindezentrum verschanzten, nur noch augenscheinlicher. Die Stadt erwies sich als wahre Goldgrube. So gut wie alles, was wir uns wünschten, war zu haben. Wir brauchten lediglich danach zu suchen. Es glich einem Einkaufsbummel mit einer Kreditkarte ohne Limit, und die toten Verkäufer waren weit weniger lästig als lebendige. Am seltsamsten aber fühlte es sich an, in den Geschäften zu stehen und hinaus auf die stillen Straßen zu schauen. Es gab reichlich stolpernde Leichname, die ziellos umherschlurften. Um ehrlich zu sein, sah ich keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Masse der toten Kreaturen und den Horden der gleichermaßen ziellos umherwandernden Konsumenten, die vor weniger als einer Woche die Straßen bevölkert hatten.

Aus einem erstklassigen Autohaus holten wir uns einen Wagen brauchbarer Größe. Es war einer jener Vans mit sieben Sitzplätzen. Zwar hatten wir noch nicht viel zum Mitnehmen, aber es erschien uns sinnvoll, das größte Auto zu nehmen, das wir finden konnten. Im Notfall konnte es uns sogar als zeitweiliger Unterschlupf dienen. Eine Weile spielten wir mit dem Gedanken, stattdessen nach einem Lieferwagen oder etwas Ähnlichem Ausschau zu halten, entschieden uns jedoch letztlich dagegen. Es schien nicht notwendig, auf etwas Komfort zu verzichten, zumal er nichts kostete.

Außerdem luden wir Lebensmittel und Kleider ein, weil keiner von uns viel dabeihatte. Während wir draußen waren, kam von Zeit zu Zeit der Gedanke auf, nach Hause zurückzukehren, um unsere eigenen Dinge zu holen. Zuerst störte mich persönlich die Vorstellung nicht, aber Carl war von Anfang an sicher, dass er es nicht wollte. Er hatte mir bereits ein wenig von seiner Frau und seinem Kind erzählt, und ich konnte nachvollziehen, warum er nicht einmal in die Nähe seines früheren Zuhauses wollte. Ich hatte zwar alleine gelebt, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto beunruhigender fand auch ich den Gedanken, in das leere Hause zurückzukehren. Selbst in meinem Fall schien es zu viele Erinnerungen und Emotionen zu beherbergen – hätte ich dort jemanden zurückgelassen, wäre eine Rückkehr undenkbar gewesen. Unterm Strich befanden sich dort neben meiner Vergangenheit nur meine Besitztümer, die problemlos ersetzt werden konnten. So gut wie alles, was ich wollte, konnte ich mir aus den Regalen eines der trostlosen Läden nehmen, die wir plünderten.

Ich verlor jedes Gespür für die Zeit. Wir waren seit neun Uhr morgens unterwegs, aber es fühlte sich wesentlich länger an. Im Verlauf der letzten Woche hatten meine Tage jede Form, Struktur und Vertrautheit verloren. Niemand schlief besonders viel. Man erwachte unwillkürlich ohne bestimmten Rhythmus und beschäftigte sich so gut wie möglich, bis man die Augen nicht mehr offen halten konnte. Es gab keine Essenszeiten oder Ruhezeiten, einfach nur Zeit. Jede Stunde schien sich länger hinzuziehen als die vorherige.

Kurz vor elf Uhr fuhren Carl und ich mit unserem silbernen, mit Vorräten voll gepackten Van durch die stillen Straßen zurück zum Gemeindezentrum.

13

Emma war es gelungen, all ihre Habseligkeiten in zwei Tragetaschen und einem Karton zu verstauen. Sie tat dasselbe mit Michaels und Carls Sachen. Zusammen brachten sie es auf gerade mal fünf Tragetaschen und zwei Kartons.

Sie seufzte vor Erleichterung, als Carl und Michael drei Minuten vor elf Uhr zurückkehrten. In all der Zeit, während die beiden aus dem Gemeindezentrum weg waren, hatten die anderen kaum mit ihr gesprochen. Es war beinah so, als existierte sie plötzlich nicht mehr. Die restlichen Überlebenden schienen zu glauben, sie würden verlassen, und Emma hatte echte Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum sie so empfanden. Die Einladung, Michael, Carl und sie zu begleiten, war für jeden Einzelnen – für alle, wenn sie wollten – nach wie vor aufrecht. Emma vermutete, dass allein Unsicherheit und ihre irrationale persönliche Angst, vor das klapprige Holzgebäude zu treten, sie davon abhielten. Unzählige Male in jenen wenigen Stunden hatte sie aufgeschaut und den Blickkontakt zu anderen gesucht, die dabei jedoch stets rasch die Augen abgewandt hatten. Emma wusste, dass man über sie sprach, weil nichts mehr geheim blieb. Die gespenstische Stille im Saal verstärkte jedes höhnische Wort.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie Michael, als er den Van vor dem Gebäude parkte, ausstieg und sich streckte.

»Alles bestens«, gab er leise zurück, sandte ihr einen flüchtigen Blick zu und lächelte dabei ermutigend. »Bei dir auch?«

Sie nickte.

Carl kam von der anderen Seite um den Wagen herum.

»Wir haben alles, was wir brauchen«, verkündete er. »Was hältst du von unserem Gefährt?«

Abermals nickte sie und schritt langsam um den großen Familienwagen. Im Inneren befanden sich sieben Sitze – zwei vorne, zwei hinten und drei in der Mitte. Die beiden Vordersitze und der Sitz hinter jenem des Fahrers waren leer. Auf den übrigen stapelten sich Vorräte.

Während sie durch die getönten Glasscheiben blickte, wurde ihr klar, dass sie im Freien standen und es zum ersten Mal, seit alles begonnen hatte, niemanden zu kümmern schien, was mit der verheerten Welt rings um sie geschehen war. Sie waren von Leichnamen umgeben – einige lagen still, andere bewegten sich –, und dennoch empfand sie an jenem Tag nicht die geringste Furcht. Vermutlich lag es an ihrem bevorstehenden Aufbruch. Wahrscheinlich hatte der Entschluss, dass sie den Schutz des Gemeindezentrums nicht mehr brauchte, unterbewusst ihre Denkweise verändert.

»Hattet ihr unterwegs Schwierigkeiten?«, erkundigte sie sich und löste sich aus ihrer Grübelei.

»Schwierigkeiten?«, gab Carl überrascht zurück. »Was für Schwierigkeiten?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Herrgott noch mal, ihr habt den Vormittag mitten in einer Stadt voller wandelnder Leichen verbracht. Was weiß ich, was ihr gesehen habt. Hattet ihr ...«

Michael unterbrach sie.

»Es ist nichts passiert«, sagte er abrupt. »Wir sind wandelnden Leichen zuhauf begegnet, aber es gab keine Zwischenfälle.«

»Und es waren gar nicht mal so viele Leichen, wie ich erwartet hatte«, fügte Carl hinzu.

»Das liegt daran, dass sie sich allmählich verteilen«, brummte Michael, während er ihre Tragetaschen und Kartons im Kofferraum des Wagens verstaute.

»Verteilen?«, fragte Emma.

»Das ist der Löschpapiereffekt.«

»Soll heißen?«

Michael hielt inne und drehte sich zu ihr um.

»Als alles angefangen hat, gab es eine hohe Konzentration von Leichen im Stadtzentrum, nicht wahr? Die Menschen waren bei der Arbeit oder in der Schule, richtig?«

»Ja ...«, pflichtete sie ihm bei, ohne zu wissen, worauf er hinauswollte.

»Diejenigen, die aufstehen und rumlaufen, wandeln willkürlich umher, somit ist zu erwarten, dass sie sich vom Stadtzentrum ausgebreitet haben wie Tinte über Löschpapier.«

»Ich verstehe ...«, murmelte sie alles andere als überzeugt.

»Es könnte eine Weile dauern, aber es hat begonnen, und ich wette, genau das wird geschehen.«

Damit wandte er die Aufmerksamkeit wieder dem Beladen des Wagens zu. Emma dachte weiter nach und versuchte angestrengt, seiner Logik zu folgen.

»Wenn stimmt, was du sagst«, fuhr sie schließlich fort, »müsste sich im Verlauf der Zeit eine gleichmäßige Anzahl von Leichen über das gesamte Land ausbreiten, oder?«

Michael überlegte kurz.

»Ich schätze schon. Warum?«

»Wenn das der Fall ist«, meinte sie leise, »warum dann die Mühe zu fliehen?«

»Wir fliehen nicht«, fauchte er und mied bewusst den durchaus gültigen Punkt ihrer Äußerung. »Wir sind hier in eine Ecke gedrängt. Wir verschaffen uns lediglich eine Chance.«

Da er spürte, dass die Unterhaltung den Deckel einer besonders unangenehmen Jauchegrube geöffnet hatte, knallte er die Wagentür zu, verriegelte den Van und steuerte zurück ins Gemeindezentrum.

Die Stille, die Michael begrüßte, als er den Hauptsaal betrat, war die bedrückendste Lautlosigkeit, die er gehört hatte, seit er vor wenigen Tagen hier eingetroffen war. Der Rest der Anwesenden – rund zwanzig verängstigte Personen – verharrte jäh und starrte ihn, Carl und Emma in schweigendem Einklang an. Einige jener Menschen hatten von Michael in all der gemeinsamen Zeit im Gemeindezentrum kaum Notiz genommen. Einige hatten mit niemandem ein Wort gewechselt, seit sie angekommen waren. Und dennoch beschlich Michael plötzlich und unerwartet der deutliche Eindruck, dass sie drei gegen den vereinten Rest standen. Im Raum herrschten nachgerade greifbare Feindseligkeit und Wut vor. Es stank nach Verrat.

Die Welle der Feindseligkeit ließ Michael unvermittelt stehen bleiben. Er drehte sich zu Emma und Carl um. Die drei standen ungeschützt mitten im Saal zusammen.

»Was soll denn das?«, fragte Michael mit leiser Stimme.

»So ist es schon, seit ihr beide losgezogen seid«, erwiderte Emma. »Die anderen scheinen ein echtes Problem mit dem zu haben, was wir tun.«

»Verdammte Idioten«, fauchte Carl. »Das ist nur deshalb so, weil sie wissen, dass wir Recht haben. Wir sollten ihnen sagen, dass –«

»Wir sagen ihnen gar nichts«, fiel Michael ihm ins Wort. Die überraschende Befehlsgewalt brachte Carl verdutzt zum Schweigen. »Verschwinden wir einfach.«

»Was denn, jetzt sofort?«, fragte Emma verblüfft. »Sind wir schon soweit? Müssen wir nicht erst ...«

Michael sah sie an. Sein Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel über seine Absichten offen.

»Was soll es bringen, noch länger zu warten?«, zischte er. »Wir sind besser damit bedient, bei Tageslicht zu fahren, also sehen wir zu, dass wir es bestmöglich ausnützen. Lasst uns abhauen.«

»Bist du sicher –«, setzte Carl an.

»Du hörst dich an, als hättest du Zweifel«, stellte Michael barsch und in einem Tonfall fest, der beinah wie ein Knurren klang. »Wenn du willst, kannst du ja hier bleiben.«

Carl schüttelte den Kopf und wandte die Augen ab. Er fühlte sich eingeschüchtert und unter Druck gesetzt.

»Ach, drauf geschissen«, meinte Emma mit etwas lauterer Stimme. »Du hast Recht. Verschwinden wir einfach von hier.«

Michael wandte sich wieder dem Rest der Überlebenden zu, die ihn und seine Gefährten nach wie vor anstarrten. Er räusperte sich. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte oder warum er sich überhaupt die Mühe des Versuchs machte. Es schien einfach nicht richtig, sich davonzustehlen, ohne ein letztes Mal zu versuchen, die anderen von der Sinnhaftigkeit dessen zu überzeugen, was sie taten.

»Wir fahren«, verkündete er. Seine Worte hallten durch den kalten Holzraum. »Wenn jemand von euch mitkommen will ...«

»Verpisst euch«, spie Stuart Jeffries ihm entgegen, stand von seinem Stuhl auf und kam auf Michael zu. Die beiden Männer standen einander von Antlitz zu Antlitz gegenüber. »Steigt einfach in euren verdammten Wagen und verpisst euch«, presste er hervor. »Ihr setzt uns alle einem Risiko aus. Jede Sekunde, die ihr hier verbringt, ist eine Sekunde zu viel.«

Michael blickte eine scheinbare Ewigkeit in das erschöpfte Gesicht seines Gegenübers. Er hätte Jeffries und den anderen unzählige Dinge sagen können – unzählige Gründe, weshalb sie ihm folgen und sich nicht im Gemeindezentrum abschotten sollten –, doch die an Hass grenzende Wut in den Augen des anderen Mannes ließ keinerlei Zweifel daran offen, dass jedes Wort sinnlos gewesen wäre.

»Komm mit«, forderte Emma ihn auf, ergriff seinen Arm und zog ihn weg.

Michael ließ den Blick ein letztes Mal durch den Saal wandern und schaute in jedes der ihn anstarrenden, verzweifelten Gesichter. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu und ging.

Carl lief voraus, dicht gefolgt von den beiden anderen. Nach wenigen Schritten hinaus in die kalte Luft wurde die Tür des Gemeindezentrums hinter ihnen zugeworfen und verriegelt. Mit dem deutlichen Gefühl, dass es kein Zurück mehr gab, was plötzliche Nervosität und Verunsicherung heraufbeschwor, tauschten die drei Abtrünnigen verkniffene Blicke und stiegen in den Van. Michael ließ den Motor an und fuhr auf die Hauptstraße. Dabei hielt er einmal an, um einen spindeldürren Leichnam mit ölig glänzender Haut vor dem Wagen vorbeiwanken zu lassen.

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