5. KAPITEL

Merde alors! dachte Marmion de Revers Algemeine, als sie aus der Sichtluke des Shuttles auf eine zur Hälfte mit Schlamm, zur Hälfte mit schmutzigem Eis und Schnee bedeckte kahle Landschaft blickte.

Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Ach, herrje, ich habe es Whit ja nun einmal versprochen! Niemand, der noch ganz bei Trost war, konnte sich wünschen, daß Mad Matt eine einsame Entscheidung traf, egal, worum es ging, und wenn es sich nur darum handelte, ob man irgendwelchen Leuten die Nutzung der sanitären Einrichtungen gestattete.

Der Vizevorsitzende Matthew Luzon hatte mit seinem ›Programm‹

wahrscheinlich schon begonnen, argwöhnte Marmion, als er darauf bestand, daß der Pilot des Shuttles einen Umweg zu der Stelle flog, an der sich ›dieser sogenannte‹ Vulkan befand, den der Planet – ja, was denn? – hatte sprießen lassen? Nein, das richtige Wort war

›Ausbruch‹. Außerdem sollten sie noch das Gebiet überfliegen, wo Whittaker Fiske und alle anderen von diesem soi-disant ›intelligenten‹

Planeten um ihren Verstand gebracht worden waren. Die Vorstellung eines Planeten mit einem eigenen Verstand gefiel Marmion irgendwie.

Es gab ja so wenig Leute, die sich einer derartigen Entschlußkraft hätten rühmen dürfen. Vor allen Dingen Mad Matt. Sie tadelte sich selbst für den Gebrauch dieses Ausdrucks: Was, wenn sie sich einmal taktlos verplappern und ihn offen verwenden sollte? Manchmal wartete ihre Zunge nicht länger die Entscheidung der Vernunftzensur ab. Ob das ein Zeichen dafür war, daß sie endlich vernünftig wurde?

Oder daß sie im Begriff stand, das bißchen Vernunft auch noch einzubüßen, das sie noch besaß?

Nein, an ihrer Vernunft war nicht der leiseste Abstrich zu machen, sagte sie sich entschieden, als sie sich an den Finanzcoup erinnerte, den sie gerade mit drei angeblich maroden technischen Betrieben abgezogen hatte. Jeder davon verfügte über etwas, das die anderen brauchten, und keiner der drei Geschäftsführer war so vernünftig gewesen, im Zuge einer – einvernehmlichen oder unfreiwilligen –

Übernahme auch nur einen Zoll nachzugeben. Also hatte sie letztes Jahr eine ihrer Holdinggesellschaften beauftragt, gleich alle drei Firmen aufzukaufen. Sie hatte die richtigen Köpfe zusammengestoßen und die Einsichtigen mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet.

Das Ergebnis war ein derart exorbitanter Nettogewinn nach Steuern, daß ihr schon bald wohl nichts anderes übrigbleiben würde, als eine weitere Holding zu gründen, um auch diesen finanziellen Triumph noch zu verschleiern. Gleich, wie sehr Mad Matt – nein, nein, nein, Matthew – sich seiner jüngsten Erfolge brüstete, hatte sie doch um einige Milliarden besser abgeschnitten als er. Doch das Prahlen lag ihr nicht.

»Sie werden kaum leugnen können, daß das eine der Formationen ist, wie sie Vulkane anzunehmen pflegen«, sagte sie, nachdem sie vernommen hatte, was Matthew gerade einem seiner zahlreichen Assistenten zugebrummt hatte.

»Und woher, meine Liebe, wissen Sie, daß es verschiedene Arten von Vulkanen gibt?« fragte Matthew mit seiner öligen Stimme. Seine Assistenten lächelten ihn anhimmelnd an, während sie Marmion mit Herablassung betrachteten.

»Weil ich einen Magisterabschluß in Geologie habe«, antwortete sie und gewährte ihnen allesamt ihr strahlendstes Lächeln.

»Aber im Augenblick unternimmt er gar nichts«, bemerkte Matthew und deutete auf die quadratische Sichtluke, die einen guten Überblick über das ›Grübchen‹ des Kegels bot, während der Shuttle ihn umkreiste. Es war nicht einmal die Andeutung einer Rauchfahne oder einer Aschenwolke zu erkennen; dafür aber war die Landschaft im Umkreis von mehreren Kilometern in Grautöne gehüllt: von abkühlender Lava bis zu feuchter, schlammdurchzogener Asche.

»Falls Sie genug gesehen haben sollten, Dr. Luzon«, sagte der Pilot über die Bordspeicheranlage, »werde ich jetzt die Höhlenkoordinaten eingeben.«

Matthew winkte einem seiner Assistenten zu, der daraufhin sofort den eigentlichen Befehl erteilte.

»Werden wir denn landen und die Höhle untersuchen, Matthew?«

fragte Marmion im Plauderton.

»Ich wollte mich nur einmal kurz orientieren, bevor wir weitere Vor-Ort-Untersuchungen einleiten.«

»Das ist klug.«

Er machte eine große Show daraus, die Stelle von oben zu mustern, als das Shuttle sie wenige Minuten später erreicht hatte. Marmion genügte es, sich davon zu überzeugen, daß es sich bei der aufragenden Felsklippe um eine Kalksteinformation handelte, die mit Sicherheit zahlreiche Höhlen aufwies. Da es unwahrscheinlich schien, daß Whittaker Fiske einer Illusion oder anderen Täuschungen aufsitzen würde, hatte sie beschlossen, den Rest seines Berichts so lange für bare Münze zu nehmen, bis sie triftige Gründe dafür finden sollte, ihn in Zweifel zu ziehen. Whit war nicht der Mann, der seine Stellung bei der Intergal oder seinen guten Ruf durch wirre und unbeweisbare Behauptungen aufs Spiel setzen würde.

»Ist das die richtige Stelle?« fragte Matthew mit ausdrucksloser Miene, doch Marmion war zu klug, um dem zu trauen.

»Wir befinden uns ganz genau auf den Koordinaten, die mir mitgeteilt wurden, Dr. Luzon«, antwortete der Pilot. »Der Strom ist zu sehen und der Felsenzug, und mein Sean- ner hat die Hubschrauberabdrücke auf der nächstgelegenen potentiellen Landefläche abgetastet. Es sind mehrere Abdrücke von Hubschraubern unterschiedlicher Größe.«

»Tatsachen lassen sich schlecht abstreiten, nicht?« meinte Matthew.

»Also gut. Dann überfliegen Sie jetzt diese Kleinstadt, die der junge Fiske erwähnt hat. Kil… irgendwie.«

»Kilcoole, Matthew«, sagte Marmion hilfsbereit, als würde sie nur jemandem mit einem fehlerhaften Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

Tatsächlich war an Luzons Gedächtnis nicht das geringste fehlerhaft: Es hatte sich schon allzu oft als allzu genau erwiesen. Es war vielleicht nicht immer besonders ehrlich oder irrte sich, was die Bewertung der gespeicherten Erinnerungen betraf, doch die Einzelheiten selbst waren stets unanfechtbar. Details stellten Matthews Hauptwaffe dar – die Details, die andere vergessen, oder an die sie sich nur ungenau erinnern mochten. Dann pflegte Matthew mit seiner tödlich-raffinierten Genauigkeit zuzuschlagen.

Durch die Sichtluken des Shuttles betrachtet, bot sich Kilcoole als ein einziges Durcheinander weit verstreuter Dächer dar, manche kaum mehr als dunkle Flecken unter Bäumen mit reichlich entwickeltem Astwerk, dazu schmale braune Pfade, von schlammverspritzten Gehsteigen gesäumt. Es war nicht viele Leute unterwegs, obwohl sie einige emsige Seelen bei Reparaturarbeiten bemerkte, sowie ein paar andere, die hinter ihren Häusern gartengroße Quadrate umgruben. Sie schätzte derlei Aktivitäten. Sie liebte es, für die extraterrestrischen Pflanzen und Blumen zu sorgen, die sie zu Hause in einem ausgeklügelten System von miteinander verbundenen Kuppeln pflegte, alle unter den jeweils erforderlichen Temperatur-, Gravitations- und Luftmischungsbedingungen, wie die exotischen Gewächse sie nun mal verlangten. Sie erinnerte sich noch gern an die Zeit, da sie in der Lage gewesen war, sich Hände und Fingernägel schmutzig zu machen, während sie in dem kleinen Garten des ersten Hauses herumwühlte, das sie und Ulgar Algemeine erworben hatten.

Wie jung sie doch gewesen waren! Sie schob diese angenehmen Erinnerungen beiseite und hörte zu, was Matthew gerade sagte.

»Außerordentlich primitiv. Wie lange gibt es diesen… diesen… Ort schon?« fragte er, wobei er es schaffte, eine Unmenge Verachtung in dieses Wort zu legen. »Sofern man das von einer solchen Anhäufung von Hütten überhaupt sagen kann?« Seine Assistenten antworteten nicht, und Marmion hatte nicht die Absicht, ihn zu unterbrechen.

»Und dieser… Ort beherbergt also die Dissidenten? Kilcoole, in der Tat! Wir werden derlei Anmaßung in aller Kühle den Garaus machen.«

»Sind sie sich da sicher?« fragte Marmion in schleppendem Tonfall.

»Ich finde, manchmal sind wir doch vielleicht eine Spur zu überzivilisiert, Matt, mein Lieber. Wir haben die Verbindung zum Gewöhnlichen verloren…«

»Gott sei Dank«, platzte Matthew heraus. »… die es uns ermöglichen würde, den Kampf gegen Klima und

Umweltbedingungen richtig zu würdigen. Ich finde es jedenfalls ansprechend, daß die Leute inmitten all dieses Schnees und Schlamms schon damit beginnen, Gärten anzulegen!«

Matthew schnaubte. »Gärten? Selbst um diese indolente Bevölkerung zu ernähren, bedarf es mehr als ein paar Quadratmeterparzellen. Sie können nicht erwarten, daß die Intergal sie weiterhin mit kostspieligen Importen von Grundnahrungsmitteln unterstützt.«

Marmion hob in einer Geste indolenten Widerspruchs die Hand.

»Ich glaube, Petaybee importiert gar keine Grundnahrungsmittel, Matthew. Überprüfen Sie das doch mal, einer von Ihnen«, sagte sie und zeigte mit einem Fingerschnippen auf seine Assistenten, »denn ich glaube mich entfernt erinnern zu können, daß sie sich tatsächlich selbst versorgen.«

»Nicht, was den Treibstoff betrifft…«

»Treibstoff ist für Fahrzeuge, nicht für Menschen, Matthew. Haben Sie die Zahlen denn immer noch nicht?« Sie gab sich zwar äußerlich gelassen, doch der ein wenig schneidende Tonfall ließ den hagersten unter Matthews Sykophanten noch schneller auf sein Notepad eintippen.

»Nein, äh, gnädige Frau, für die einheimische Bevölkerung werden keine Grundnahrungsmittel importiert.« Dann schluckte er, und sein Adamsapfel zuckte auf und ab.

Marmion mußte den Blick abwenden. Der arme Kerl: Matthew würde ihn deswegen wahrscheinlich noch kräftig aufziehen, wenn er mal wieder eine seiner Launen hatte. Und die anderen jungen Männer

– Matthew hatte ausschließlich junge Männer als Assistenten, was einiges verriet, jedenfalls Marmion, das Matthew höchstwahrscheinlich lieber nicht offenbart wissen wollte – waren alle einigermaßen anziehend und sahen fit und körperlich belastungsfähig aus. Kein Zweifel, daß Matthew den Kontrast rücksichtslos ausschlachten würde.

»Danke, mein Lieber«, sagte Marmion zu dem hageren Burschen.

»Und sagen Sie mir doch bitte noch mal Ihren Namen… mein Gedächtnis, Sie wissen.«

Tatsächlich hatte Matthew sich überhaupt nicht die Mühe gemacht, auch nur einen einzigen seiner Assistenten vorzustellen, obwohl Marmion ganz betont Sally Point-Jefferson vorgestellt hatte, ihre persönliche Sekretärin; dazu Millard Ephiasos, ihren Recherche-Assistenten, und Faber Nike, dessen Stellung innerhalb ihres Mitarbeiterstabs sie nicht genauer definiert hatte. Allzu viele Leute glaubten, daß Fabers großer, muskulöser Körperbau und sein ruhiges Entgegenkommen auf Mangel an Intelligenz und Persönlichkeit hinwiesen. Allzu viele Leute täuschten sich darin. Vor allem jene, die Faber für einen Bettgefährten hielten. Marmion hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vielseitige Leute mit zahlreichen Talenten einzustellen. Das sparte Geld und sorgte für Loyalität und Diskretion.

»Mein Name ist Braddock Makem, Madam«, lautete die Antwort, im leisesten erdenklichen Ton vorgetragen.

»Danke, Mister Makem.« Sie lächelte. Das tat nie weh, und vielleicht gewann sie auf diese Weise sogar einen diskreten Verbündeten in Matthews Stab.

»Hören Sie auf mit Ihren Versuchen, meine Mitarbeiter zu becircen«, sagte Matthew gereizt und warf Makem einen bohrenden Blick zu. Makems Kehlkopf vollführte eine unglückliche Reihe senkrechter Manöver.

»Das habe ich doch schon lange aufgegeben, Matthew«, log sie schamlos. »Sie verstehen sich wirklich darauf, für Loyalität unter Ihren Mitarbeitern zu sorgen. Davon könnte ich mir durchaus noch eine Scheibe abschneiden.« Und weil sie beim Anblick all dieser ernsten, erschrockenen Mienen vor Lachen fast herausgeplatzt wäre, wandte Marmion den Blick abrupt der vorbeiziehenden Landschaft zu.

»Ach, der Fluß, der plötzlich aufgetaut ist. Oh, der ist ja turbulent!«

meinte sie. »Und über seine Ufer gestiegen. Offensichtlich fehlt es hier auch an effizienter Flutkontrolle. Aber ach, schauen Sie doch mal zu den offenen Feldern hinüber, Matthew. Da draußen ist jemand und macht irgend etwas mit dem Boden. Pflügen? Heißt das nicht Pflügen? Und wie, um alles in der Welt, nennt man wohl die Tiere, die sie an dieses merkwürdige Gerät geschirrt haben?« Jetzt hatte sie alle auf ihrer Seite des Shuttles, um diese archaische Aktivität zu beobachten. »Ach, ist das nicht hübsch, Matthew? Die haben Sie offensichtlich gehört.«

Matthew gewährte ihr einen säuerlichen Blick. Fast hätte sie den Satz ›die werden mich noch laut und deutlich zu hören bekommen‹ in einer Sprechblase zwischen seinen fest zusammengekniffenen Lippen hervortreten sehen können. Das jedenfalls war es auch, was sein finsterer Blick ausdrückte.

Aus der Sitzreihe hinter ihr ertönte ein leises Geräusch wie ein unterdrücktes Husten. Höchstwahrscheinlich Faber, dachte sie.

Natürlich sprach er nie viel, aber sie wußte, daß er Matthew Luzon verabscheute. Fast so sehr wie sie selbst, und übrigens auch wie Sally und Millard. Sie hatte ihre Mannschaft wirklich sehr sorgfältig ausgesucht.

Dann kam der Raumhafen auch schon in Sicht – mit seinen lächerlich gefärbten Wartungsgebäuden. Wer hatte nur die Geschmacklosigkeit aufgebracht, derart scheußliche Farben zu verwenden? fragte sich Marmion. Wahrscheinlich war jeder Farbton, den die Intergal jemals verworfen hatte, hier geendet: auf den Mauern dieser Augenqual.

Anders als Matthew hielt sie sich allerdings nicht mit wortreichen Kommentaren über den Zustand des Landeplatzes mit seinen Kratern und Rissen und den Blöcken aus Plastbeton auf, die durch die seismische Aktivität an die Oberfläche gepreßt worden waren. Da diese Schäden ausschließlich die Landebahn zu betreffen schienen, war Marmion durchaus amüsiert von der Vorstellung eines bewußten, intelligenten Planeten, der seine inneren Kräfteverhältnisse so gezielt umzugestalten vermochte, um eben jenen seiner Bewohner das größte Unbehagen zu bereiten, die er nicht auf seiner Oberfläche haben wollte. Eine solche Wesenheit konnte ein äußerst fürsorglicher Freund und ein formidabler Gegner sein, sofern das ganze kein bloßes Hirngespinst war.

Doch woher wollte man schon wissen, ob so etwas unmöglich war oder nicht? Marmion zuckte die Schultern, Sie hatte eine Vorliebe für Rätsel in diesem überanalysierten Universum, in dem sie lebte.

Geheimnisse weckten ihre Neugier, und sie zu entschleiern gab ihr Gelegenheit, ihren Verstand in Anschlag zu bringen und alle Register zu ziehen. Wie wunderbar es doch wäre, sollte sich die ganze Sache tatsächlich als eben jenes gewaltige und komplizierte Puzzle herausstellen, das der Bericht ihnen versprochen hatte! Ob es nun genau das sein mochte, was die Einheimischen glaubten, oder nicht –

auf jeden Fall mußte mehr dahinterstecken als die prosaische Szenerie unter ihnen oder die offiziellen Erklärungen der in den Berichten detailliert geschilderten unheimlichen Ereignisse, so sehr es auch die vermeintlich ›logische‹ Erklärung verhöhnte. Oder eben alles nur allzu genau beschrieb. Marmion war sehr froh, gekommen zu sein, und sollte dieser Planet sich tatsächlich als ein bewußtes und empfindungsfähiges Wesen erweisen, würde sie noch glücklicher sein, seine Bekanntschaft zu machen. So hing sie den etwas kauzigen Gedanken nach, daß der Planet hoffentlich einen guten Eindruck von ihr bekäme und sie nicht allzu streng an der Gesellschaft messen mochte, die sie gerade pflegte.

Natürlich gab es unten einen großen Bahnhof, als das Shuttlefahrzeug auf einem der wenigen intakt gebliebenen Fahrbahnabschnitte landete. Es gab ein richtiges Begrüßungskomitee, und wenn man auch keinen roten Teppich ausgelegt hatte, so war der Plastbeton doch offensichtlich mühsam von dem Schlamm und dem klebrigen Schleim befreit worden, der den größten Teil der restlichen Landebahn bedeckte. Die Bodenfahrzeuge glänzten im klaren Sonnenlicht in ihrer Wachspolitur.

Marmions Lungen saugten die frühlingsfrische Luft in tiefen Zügen ein. Ihr schwindelte fast vom Rausch dieser unbestreitbar frischen Luft.

»Ach du liebe Güte, was für eine Luft! Eine solche Luft hätte ich gern überall, wo ich mich aufhalte«, sagte sie dramatisch und legte dabei eine Hand auf den wogenden Busen.

Matthew schoß ihr einen angewiderten Blick zu. »Marmion, diese Luft mag vielleicht frisch wirken, aber Sie können nicht sicher sein, daß sie nicht voller Bakterien und Mikroben ist, die sich abträglich auf Ihre Gesundheit auswirken könnten. Die wir aber beschützen müssen!« fügte er mit jenem scheußlichen Lächeln hinzu, das er immer aufsetzte, wenn er sich fürsorglich gab, in Wirklichkeit aber nur hoffte, daß sein Gesprächspartner auf der Stelle tot umfallen würde.

Schnell hakte sie sich bei Faber ein und vermied damit elegant den Körperkontakt, als Matthew ihr eine Hand entgegenstrecken wollte, um ihr die skrupulös gereinigten Stufen herunterzuhelfen. Faber begleitete sie geschmeidig hinunter, doch Sally und Millard mußten warten, bis Matthew und seine Gefolgsleute ausgestiegen waren.

Vielleicht würde es Sally ja gelingen, einen der attraktiven, körperlich fitten jungen Assistenten zu beeindrucken. Meistens schaffte sie das.

Bei Matthews Jungen würde sie zwar äußerst raffiniert vorgehen müssen, aber genau das war Sally ja auch: schlau, gewitzt, diskret und von außerordentlicher Intelligenz.

Dann mal wieder ins Getümmel, liebe Freunde, dachte Marmion, als sie Hauptmann Torkel Fiske in voller Paradeuniform erblickte, wie er ein winziges Stück vor seinem Vater stand – reichlich frech von Torkel, überlegte sie. Whittaker war sehr viel legerer gekleidet, doch noch nie hatte sie ihn so fit und glücklich gesehen. Glücklich, dachte sie und staunte darüber, daß ihr ausgerechnet dieses Eigenschaftswort eingefallen war. Wer hatte denn überhaupt die Zeit, in der Intergalaktischen Gesellschaft ›glücklich‹ zu sein, zu der sie, Whittaker und Matthew gehörten? Jedenfalls lächelte sie Whittaker an, als dieser seinen Sohn säuerlich mit den Ellbogen beiseitestieß, um Marmion als erster begrüßen zu können.

»Ist Ihr Arm wieder ordentlich verheilt? Und die Beinwunde?«

fragte sie besorgt, als sie sich umarmten. Er trug einen Stützverband am Arm, und sie bemerkte die leise Andeutung eines Hinkens, als er auf sie zukam.

»Natürlich, Marmie. Unkraut vergeht nicht. Ich hatte nicht nur die besten Mediziner der Intergal zur Verfügung, sondern auch die allerbeste Unfallambulanz und Rekonvaleszenztherapie, die man hier bekommen kann. Eins muß ich diesem Planeten lassen – er ist wirklich gut für die Gesundheit«, sagte Whittaker. Nachdem er sie –

eine Spur zurückhaltend, wie sie es empfand – losgelassen hatte, drehte er sich um und wollte Matthew die Hand geben, wobei er gerade die richtige Mischung aus Respekt und Begeisterung zur Schau trug. »Sie sind uns sehr willkommen, Matthew. Ihr Input wird nicht mit Gold aufzuwiegen sein.«

Lügner, dachte Marmion, lächelte dabei aber nichtssagend, während die beiden Männer die üblichen Artigkeiten austauschten.

Matthew stellte Whittaker seine Schar aus Gänserichen vor, wobei er auch Herkunft und Fachgebiet eines jeden einzelnen nannte. Nur den armen Adamsapfel nicht.

»Und das hier ist Braddock Makem«, sagte Marmion dafür und lächelte erst Matthew, dann Whit fröhlich an, schließlich auch den armen, verschreckten Makem. »Whit, Sie erinnern sich doch sicherlich noch an Sally. Und an Millard und Faber, meine großen Stützen.«

Whit gab ihren Assistenten ebenfalls die Hand; dann wies er alle mit einem Winken zu den wartenden Fahrzeugen. Das Gepäck war bereits entladen und weitergeleitet worden – Marmion war gespannt, was für Unterkünfte dieser deprimierende Ort Leuten von ihrem und Matthews Rang zu bieten haben mochte.

»Wir haben ein köstliches Mahl für Sie arrangiert, Marmie«, erläuterte Whit und stellte sicher, daß er in dem großen Mannschaftstransporter neben ihr zu sitzen kam. Die ziemlich harten Sitze waren frisch mit prächtigen Fellen bezogen worden.

»Wie nett von Ihnen«, erwiderte Marmion und fügte, die weiche Konsistenz der Bezüge befühlend, hinzu: »Stammen die aus einheimischer Produktion?« Sie brauchte ihre Begeisterung nicht einmal zu heucheln, denn selten hatte sie so wunderschöne natürliche Felle anfassen können.

»Ja«, antwortete Torkel Fiske im Doppelsitz hinter ihrem. »Es ist das einzige, was die hier wirklich gut können.«

»Tatsächlich?« fragte sie und schaffte es sogar, den ironischen Beiklang aus ihrer Stimme zu halten. »Wie interessant! Sie müssen mir unbedingt mehr zeigen«, fügte sie träge hinzu. »Ich könnte noch ein paar neue Stolen gebrauchen. Vielleicht auch den einen oder anderen Muff, wenn ich in eiskalten Luftschleusen und auf Transitstationen herumstehen muß.«

»Lassen Sie lieber den jungen Fiske für Sie einkaufen, Marmion«, sagte Matthew. »Sobald die hier Ihren Außenweltlerakzent vernehmen, werden sie wahrscheinlich die Preise vervierfachen.«

»Nein, das tun wir schon«, sagte Whittaker umwerfend komisch.

Marmion kuschelte sich an ihn, schlang die Finger um seinen Arm und drückte sanft zu. »Es ist wirklich schön, Sie wiederzusehen, Whit!

Was immer hier losgewesen sein mag, es hat Sie jedenfalls sehr viel fröhlicher gemacht. Ich glaube, Sie waren im Begriff, im Büro völlig zu versauern.«

Whittaker gluckste und wies mit einem Kopfrucken auf den äußerst steifen, vorwurfsvollen Rücken des vor ihnen sitzenden Matthew Luzon.

Marmion drückte seine Arme ein weiteres Mal. »Eine Feldstudie ist genau das richtige, um die Säfte wieder strömen zu lassen und die Lungen mit frischer, sauberer Luft zu füllen.« Luzons Schultern zuckten, und Marmion spürte, wie sich Whittakers Rippen in stummem Gelächter bewegten. »Jetzt werden wir uns alle auf dieses kleine Problem stürzen und es in nullkommanichts aus der Welt schaffen. Nicht wahr, Matthew?«

Seine angespannte Antwort ging im Kreischen reichlich abgenutzter Bremsbeläge unter, als das Transportfahrzeug vor einem Gebäude zum Halten kam, das frisch in einem aggressiven grellgelb gestrichen war.

»Tut mir leid wegen der Farbe, Marmion«, sagte Whittaker, als er sie zusammenzucken sah. »Es gab nichts anderes mehr in den Vorratskammern, aber so ist es wenigstens sauber und hell.«

Diesmal war Matthews angewidertes Schnauben deutlich zu vernehmen. Als er auf die Ausstiegstür zuging, kündete seine Körpersprache von Mißfallen, Ablehnung und Zorn.

»Ach, herrje, wir sind wohl dran«, murmelte Marmion so leise, daß nur Whittaker sie verstehen konnte.

»Ich glaube auch«, erwiderte er ebenso leise.

»Gefahr erkannt, Gefahr gebannt«, fügte sie hinzu. Dann stand sie auf, um mit größter Anmut durch den Gang auf die Stufen zuzugehen, die in das unglaublich gelbe Gebäude führten.

6. KAPITEL

Die lange, mehrteilige Karawane teilte sich immer mehr auf. Als erstes lösten sich Sinead und Aisling von ihr, die mit Ziel Shannonmouth unterwegs waren, dem Kilcoole am nächsten gelegenen der drei Dörfer, auf die sie es abgesehen hatten. Sinead konnte zwar den ganzen Tag durchreiten, doch Aisling tat sich damit um einiges schwerer, vor allem zu Pferd. Sie zog es vor, die meiste Zeit zu Fuß zu gehen und ihr Lockenfell am Zügel zu führen, wobei sie ebensooft mit der Stute sprach wie mit Sinead, Sean, Yana, Bunny oder Diego. Die Stute schien die Lasten gar nicht zu bemerken, die sie auf dem Rücken trug: Deckenbündel, Nähsachen und Dekorationsmaterial, dazu einen Rucksack und einen Ballen hervorragend gegerbter Felle aus Sineads Winterhütte.

Bunny betrachtete es als regelrechtes Geschenk, mit dieser ausgesuchten Gruppe unterwegs sein zu dürfen. Sie hatte sich inzwischen schon so sehr an Diego gewöhnt, daß sie sich ohne seine Gesellschaft völlig verloren vorgekommen wäre, während sie Yana Maddock bereits seit dem Tag Eins gemocht hatte und sich schon jetzt darauf freute, sie einmal zur Tante zu bekommen, sobald sie und Sean sich vermählten. Außerdem kannten Sinead und Sean alle möglichen besonderen Stellen, wo sie geschützt lagern konnten. Begleitet wurden die Menschen von Alice B, Sineads und Aislings Leithund; von Nanook, einer der Katzen aus Seans Labor, sowie von Dinah, der Leithündin der Maloneys, die einen solchen Narren an Diego gefressen hatte, daß sie seine Gesellschaft sogar der von Liam vorzog.

Bunny mochte sie ebenfalls: Wenn Bunny sie nämlich streichelte, konnte sie sogar Dinahs etwas fahrige Mitteilungen empfangen.

Nachdem sie Sinead und Aisling in Shannonmouth zurückgelassen hatten, setzte die Gruppe ihre Reise fort und folgte dem Fluß, der sich am McGee Paß vorbei die Berge hinaufwand. Dort oben verschmolz der Fluß mit dem Ob, den man so nannte, weil nie sicher war, ob er gerade Wasser führte oder nicht, was wiederum von der Jahreszeit sowie davon abhing, wie sehr es fror oder wie trocken es gewesen war. Im Augenblick war der Ob bis zum Bersten gefüllt, und er goß seine gletscherweißen Wassermassen in den klaren Shannon. Die beiden vermengten sich in einer wolkigen Mischung und strömten gen Harrisons Fjord.

Als Bunny und Diego sich von Sean und Yana trennten, sagte Sean zu ihnen: »Hört mal, ihr beiden. Sucht ruhig die Connellys auf und stellt fest, was dort los ist, wenn ihr könnt. Aber sollte die Stimmung sehr stark für die Minen sein, dann geht wieder und sucht uns, damit wir es lieber zusammen tun können. Ich möchte, daß ihr euch in drei Tagen in Harrisons Fjord mit uns trefft; bis dorthin ist es nur eine Tagesreise, somit habt ihr also zwei volle Tage, um euch über die Lage zu informieren. Alles klar? Ich hätte auch lieber etwas mehr Zeit zur Verfügung, aber da die PTB bald eintreffen, müssen Yana und ich noch auf die südliche Halbkugel reisen, sobald wir unseren Auftrag hier erledigt haben und Johnny oder Rick verfügbar sind.«

»Können wir auch nach Süden mitkommen?« wollte Bunny wissen.

»Ich bezweifle, daß das Luftfahrzeug groß genug für vier Passagiere sein wird«, warf Yana ein. »Es wäre aber klüger, einen der kleineren Hubschrauber zu benutzen. So, und jetzt macht euch auf den Weg, damit ihr noch rechtzeitig bei den Connellys seid, um euch zum Abendessen einladen zu lassen. Sean und ich haben noch eine weite Strecke vor uns.«

Später, als die Erwachsenen um den nächsten Hügel gebogen waren, schwenkten Bunny und Diego ihre Lockenfelle auf den Paß ein, und Bunny bemerkte: »Hast du das gehört? Sie haben nicht nein gesagt! Vielleicht kommen wir noch auf die südliche Halbkugel, Diego!«

»Wie ist es denn so da unten?« wollte Diego wissen.

»Keine Ahnung. Bin noch nie dagewesen. Jedenfalls anders als hier, glaube ich. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der vom Südpol hierhergekommen wäre. Man muß dazu einen furchtbar großen Ozean überqueren, und das sollte man in unseren kleinen Schiffen lieber nicht tun. Ich vermute, daß die dort unten auch keine größeren Schiffe haben, sonst bekämen wir mehr von ihnen zu sehen. Als meine Eltern verschwanden, wollten sie den Beweis für eine Theorie erbringen, die besagte, daß es einen unterseeischen Gang von den Höhlen in der Nähe von Harrisons Fjord dorthin gibt. He! Was ist, wenn sie es geschafft haben sollten, und der Gang… du weißt schon, vielleicht ist irgend etwas damit geschehen, so daß sie nicht nach Hause zurückkehren konnten. Aber wenn wir ihn nehmen, werden wir sie möglicherweise finden.«

»Darauf würde ich lieber nicht zu sehr bauen«, wandte Diego ein.

»Wieviele Jahre ist das jetzt schon her?«

»Ich weiß es nicht. Mehr als zehn. Ich war noch sehr klein, als sie gingen.«

»Ich glaube, daß deine Eltern in dieser Zeit bestimmt irgend jemanden hätten auftreiben können, um eine Nachricht nach Hause zu bringen, denn sie wußten doch sicherlich, welche Sorgen sich alle machten. Natürlich, wenn es meine eigene Mutter wäre«, fügte sie in einem wehmütigen Tonfall hinzu, »die würde so sehr in ihrer Arbeit versinken, daß ihr nicht einmal auffallen würde, daß sie vergessen hatte, mich mitzunehmen; aber ihr hier seid nicht so.«

»Na, vielen Dank. Aber wenn du nichts dagegen hast, ziehe ich es doch vor zu hoffen. Oder darf das niemand sonst tun? Du hast deinen Vater doch auch zurückbekommen. Ich finde das ist doch alles, was zählt.«

»So wollte ich das nicht verstanden wissen, Bunny. Ich hätte meinen Vater nie zurückbekommen, wenn du und Clodagh und all die anderen nicht gewesen wärt, und ich hoffe ganz bestimmt, daß es Leute gibt, die deinen Eltern dort unten helfen. Ich fände es nur schrecklich, wenn du dich erst furchtbar aufregst, um dann doch nur enttäuscht zu werden.«

»Ich werde mich aufregen, wie es mir paßt«, antwortete sie schnippisch. »Und enttäuscht worden bin ich schon öfter.«

Diego antwortete nichts, und Bunny bedauerte, so unfreundlich mit ihm verfahren zu sein. Wahrscheinlich wollte er ihr nur klarmachen, wie sehr ihm an ihr gelegen war, wie Aisling es ausgedrückt hätte.

Aber er war nun einmal gerade zwei Jahre älter als sie und sollte gefälligst langsam damit aufhören, sie wie ein Kind zu behandeln.

Und so ritten sie schweigend weiter, bis sie die Biegung am Fuß des Passes hinter sich gebracht hatten, um von einem tobenden Wind begrüßt zu werden, der durch die Spalte pfiff und sie beinahe in den Shannon zurückgeweht hätte.

Sie preßten sich flach gegen die Hälse der Lockenfelle und ritten den Pfad hinauf, der etwas weniger verschlammt war als das Flachland weiter unten. Die Luft war auch merklich kälter. Dinah ließ sie vorangehen und tippelte im Schutz der stämmigen Leiber hinter ihnen her.

Das Dorf McGees Paß war nicht sehr groß. Nicht einmal so groß wie Kilcoole, dachte Bunny überrascht, als sie zwischen dem ersten Häuserpaar einritten. Es gab nur an die acht Häuser, die einigermaßen eng zusammenstanden und den verbreiterten Abschnitt des Pfads säumten, der hier als Straße galt. Die Straße war stark aufgewühlt und von Schlaglöchern, Aufwürfen und Unebenheiten gezeichnet, alles mit einer dünnen Schicht frischen Schnees bedeckt, so daß die Füße nur einen sehr rutschigen, unebenen Halt fanden.

Bei den Häusern handelte es sich um nicht ausgebesserte Firmenware, mit Holzbrocken, Steinen, Lehmziegeln, Plastbeton, Häuten und allem anderen behäuft, was greifbar gewesen war. Wie in Kilcoole war auch hier der Boden übersät von den Abfällen vieler langer Winter und warmer Jahreszeiten, die allerdings nicht warm genug gewesen waren, um den Schnee zum Schmelzen zu bringen.

»Wahrscheinlich sind alle drin und sitzen beim Mittagessen«, kommentierte Bunny die verlassenen Straßen.

Doch das erklärte noch nicht die Stille. Sie bemerkte keinerlei Hunde, keine Lockenfelle – nichts bis auf eine einzige, vereinsamte Marmeladenkatze, die gerade versuchte, sich so gut es ging auf einem Plastbetondach aufzuwärmen.

Dinah trippelte von Haus zu Haus, von Gegenstand zu Gegenstand, schnüffelnd und winselnd, ein- oder zweimal bellend, dann wieder schnüffelnd und winselnd. Einmal blieb sie stehen, um an einer Türschwelle Wasser zu lassen.

Die Katze blickte zu ihr hinunter, als überlegte sie, zu einem Ausritt auf ihren Rücken zu springen. Dinah sprang hoch, schlug mit den Pfoten nach dem Haus, kläffte heftig. Die Katze stand auf und streckte sich. Mit einem leichtfüßigen Satz sprang sie vom Dach, erst auf ein Faß, dann auf den Boden.

Nachdem sie sich gegenseitig beschnüffelt hatten, schlenderte die Katze die Straße hinauf und zog dabei mit der Rute Kringel in die Luft über ihrem Rücken, während Dinah sich damit abplagte, die Kreatur nicht immer wieder zu überholen, so eilig hatte sie es, der Katze überallhin zu folgen.

Bunny und Diego folgten ihrerseits dem Hund. Die Katze stakste aus dem Ort hinaus, was nicht allzu weit war, dann dem Paß entgegen, um plötzlich in einem Strauch neben dem Weg zu verschwinden.

Bunny und Diego saßen ab. Hinter dem Busch ertönte eine Stimme, dann waren es plötzlich mehrere, und schließlich schob sich der Strauch beiseite, und eine Person erschien in dem Gewölbe, das sich nun als Höhleneingang erwies.

Es war ein Mann, der ein bißchen so aussah wie Bunnys Onkel Adak, und er schien erschrocken, sie zu sehen. »Wer seid ihr? Was tut ihr hier? Was wollt ihr?« fragte er, den Höhleneingang blockierend.

»Släinte«, sagte Bunny in einem so normalen Tonfall, wie sie nur konnte. Wenn diese Leute hier tatsächlich auf der Seite der Firma und nicht auf der des Planeten stehen sollten, war es eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn sie sich ein wenig defensiv gaben. »Ich suche die Familie Connelly. Ich dachte, die wohnen hier in der Nähe.«

»Wer fragt da nach den Connellys?« ertönte eine Frauenstimme hinter dem Mann. »Krilerneg O’Malley, würdest du gefälligst mal deinen Hintern wegbewegen, damit wir anderen auch rauskönnen?«

»Bist du das, Iva?« fragte Bunny. Als O’Malley getan hatte, was man von ihm verlangte, stellte sie fest, daß es tatsächlich Iva Connelly war – oder jedenfalls jemand, der ihr sehr glich, als die Frau ans Tageslicht heraustrat.

Anders als der unhöfliche O’Malley gab die Frau die Türöffnung frei und kam zu den Pferden herüber, während! hinter ihr eine ganze Schar von Männern, Frauen und Kindern aus der Höhle kam.

»Was ist los, Ma?« fragte ein Junge. Es war ein hochgewachsener Junge; nicht dunkel, wie die meisten Leute, die Bunny kannte, sondern blond und blauäugig.

Die Frau wirkte selbst verwundert, und für einen Augenblick befürchtete Bunny schon, daß sie die Falsche erwischt hatte.

»Släinte, Dama«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, aber ich bin Buneka Rourke, die Schnokelfahrerin aus Kilcoole. Das hier ist mein Freund Diego Metaxos.«

»Das ist aber kein Kilcoole-Name«, murmelte der Junge mißtrauisch.

»Laß mal, Krisuk«, sagte die Frau. »Du hast eine lange Reise hinter dir, Bunka. Du mußt müde und hungrig sein.«

Nun teilte sich die Schar der Leute vor einem weiteren Mann. Er war in Felle und Häute gekleidet, alle mit Perlen verziert wie Aislings Latchkay-Blusen. Doch sein Äußeres war noch auffälliger als die Kleidung. Es war ein sehr großer, sehr schmucker Mann, der das Haar in einer schwarzen Mähne trug, das Kinn mit einem kurzgestutzten schwarzen Bart bedeckt, über dem Mund ein dichter schwarzer Schnäuzer.

Die anderen ließen ihn nicht nur durch, sie wichen geradezu schreckhaft vor ihm zurück. Er trug einen Stock, auf dem der Schädel eines kleinen Tiers stak – vielleicht ein Eichhörnchen, obwohl es eher so aussah wie… nein, es konnte doch wohl unmöglich ein Katzenschädel sein! Niemand würde so etwas Grausiges tun, wie einen Katzenschädel zur Schau zu stellen.

Allerdings fiel ihr auf, daß die marmeladenfarbene Katze, die sie vorhin noch gesehen hatte, spurlos verschwunden war.

»Iva, mein Kind, natürlich sind diese wunderschöne Kreatur und ihr Freund müde und hungrig. Ihr müßt sie in mein Haus zum Essen und zum Ausruhen bringen.« Er wandte sich Bunny zu und gewährte ihr ein Lächeln, das sie dazu einzuladen schien, es zu bewundern. Dann streckte er die Hand aus, nicht so sehr, um die ihre zu schütteln, sondern um sie mit einem Zeichen zu segnen. »Ich bin Satok, der Shanachie. Willkommen in meinem Dorf.«

»Släinte, Satok«, erwiderte Bunny. »Und danke für die Einladung.

Ich bin nur gekommen, um die Connellys von unserer Heilerin Clodagh Senungatuk zu grüßen. Aber sie hat von dir erzählt, und ich weiß, daß sie sich freuen wird zu erfahren, daß ich dir begegnet bin.«

Iva Connelly sprach zu dem Shanachie, und Bunny kam ihr Verhalten ungewöhnlich zaghaft für jemanden vor, der mit dem Gedächtnis des Dorfs und seinem Hauptsänger und -

geschichtenerzähler redete. »Bunka ist eine wichtige Frau in Kilcoole, Shanachie. Sie gehört zu den beiden einzigen Leuten, die die Firmenschnokel fahren dürfen. Von der Mutterseite her stammt sie von den Shongili-Wissenschaftlern ab. Ihr Onkel ist Sean persönlich, und sie ist so gut wie ausschließlich bei Clodagh der Heilerin aufgewachsen.«

Normalerweise hätte diese Rede Bunny in Verlegenheit gebracht, doch wurde sie das Gefühl nicht los, daß Iva damit ihre Qualifikationen vorstellen wollte, um zu zeigen, daß Bunny jemand war, der Respekt verdient hatte und die Protektion und den Schutz wichtiger und einflußreicher Leute genoß. Satok schien die Rede als

›Reklame‹ für sie zu werten – vielleicht für ihre Vorzüge? Jedenfalls sah er sie nach Art der werbenden Männer an, nur kühner und ohne jede Unterwürfigkeit.

»Hervorragende Empfehlungen«, meinte er und ergriff ihre Hand.

»Ich fühle mich sehr geehrt, daß du mein Dorf aufgesucht hast.«

»Wir… äh… wir haben den Connellys von ihren Freunden in Kilcoole ein Lied mitgebracht«, warf Diego ziemlich scharf ein.

»Komm schon, Bunny. Vielleicht können wir den Shanachie ja später einmal besuchen, falls noch Zeit sein sollte. Wir haben einen ziemlich engen Zeitplan. Wir werden schon bald anderswo erwartet.«

Bunny, die der feurige Blick des Shanachie ein wenig beunruhigte, hatte diesmal ausnahmsweise nichts dagegen, daß Diego sich in ihre Angelegenheiten mischte. Iva Connelly warf ihnen einen erleichterten Blick zu, mit dem sie sich zugleich für den Shanachie entschuldigte, um sie schließlich zusammen mit dem Jungen und einer Schar weiterer Verwandter zu einem Haus zu scheuchen, das kaum größer als Clodaghs war.

Iva, ihr Mann Miuk und ihre erwachsenen Kinder und Enkel, darunter auch der blonde Junge, hausten alle unter diesem Dach. Es roch dumpf, nach Enge und pausenlosem Bewohntwerden. Bis auf sechs Plätze und einen Tisch gab es nur wenige Möbel, und die Lebensmittelläger schienen nicht sehr zahlreich zu sein.

»Wir haben unsere eigene Verpflegung mitgebracht«, sagte Bunny zu Iva. »Und ein paar Keimlinge von Clodagh. Sie und Sean glauben beide, daß wir dieses Jahr eine ungewöhnlich lange Anbauzeit haben werden.«

Iva antwortete nicht sofort darauf. »Niambh«, sagte sie zu einer ihrer Enkelinnen. »Setz den Kessel für unsere Gäste auf.«

Dann nahm sie auf einem der Betten Platz und bedeutete Diego und Bunny, sich auf ein zweites zu setzen. Der Rest der Connellys scharte sich dicht um sie. Die jüngsten mußten von den Satteltaschen ferngehalten werden, die sie sehr faszinierten.

»Das ist zwar nett von Clodagh, aber ich bezweifle, daß wir dieses Jahr sehr viel anbauen werden«, antwortete Miuk. »Wir sind sehr damit beschäftigt, der Intergal beim Ausbau der neuen Minen zu helfen.«

Bunny versuchte, nicht überrascht zu tun. Die Mitteilungen der Katzen stimmten also. Dieser marmeladenfarbene Rabauke, der sie zur Versammlungshöhle geführt hatte, war zweifellos ein nützlicher Informant.

Diego überraschte sie. Normalerweise hielt er sich bei Diskussionen zurück, doch diesmal beugte er sich vor und musterte Iva mit einem bohrenden Blick.

»Und was«, fragte er, »hält euer Shanachie von der Möglichkeit frisch eröffneter Minenanlagen?«

»Oh, er meint natürlich, daß es endlich Zeit wird. Er sagt, der Planet ist sehr verärgert, weil wir uns weigern, alle seine Geschenke anzunehmen. Deshalb spricht der Planet auch mit keinem von uns mehr, sondern nur noch zu Satok.«

»Was?« rief Bunny.

»Genau das, was sie sagt, Mädchen. Bist du taub?« warf Miuk ein.

»Der Planet teilt uns seine Bedürfnisse inzwischen nur noch durch Satok mit, und wir ihm die unseren ebenfalls.«

»Weshalb denn? Ist der Planet auf ihn denn nicht auch ›wütend‹?«

fragte Diego und schaffte es nur mit Mühe, keine verächtliche Schnute zu ziehen.

»Ihr versteht das nicht«, erwiderte Iva. »Ihr habt Clodagh gehabt, um euch zu führen und dafür zu sorgen, daß ihr eins bleibt. Aber McConachie war alt und schon lange nicht mehr ganz klar im Kopf, bevor er schließlich starb. Außerdem ist jahrelang niemand mehr in den Vordergrund getreten. Wir… wir haben den Kontakt verloren.

Wir haben Sachen falsch gedeutet. Wir haben falsche Dinge getan.

Frevelhafte Dinge. Bis Satok schließlich zu uns kam, um alles auszudeuten, wurde das Leben für uns von Tag zu Tag härter und härter. Die Tiere kamen nicht mehr an ihre Sterbeplätze. Der Fluß ist drei Sommer nacheinander nicht abgetaut. Wir konnten keinen Gartenbau betreiben. Erst als Satok kam, erkannten wir, um welches Problem es überhaupt ging. Wir hatten den Planeten erzürnt, indem wir nicht mit der Firma zusammenarbeiteten, als sie bei ihren Erkundungen unserer Hilfe bedurfte.«

»Welche Erkundungen?« fragte Bunny. Sie wußte nichts davon, daß die Firma sich auch außerhalb von Kilcoole um Unterstützung der Einheimischen bemüht hatte.

»Letztes Jahr hat eine stattgefunden. Ein paar Burschen kamen vorbei und suchten Führer. Sie sind in einem Shuttle gelandet. Ich glaube, sie haben nicht einmal den Raumhafen besucht. Sie sagten, hier bei uns gäbe es irgendein besonderes Mineral, nach dem sie suchten.«

»Da waren auch noch andere«, warf Miuk ein. »Fragt Clodagh.

Manchmal, wenn sich das, was die Firma wollte, in der Nähe von Shannonmouth befand, haben die Leute in Kilcoole sie einfach weitergeschickt oder sie bis hierher geführt und nicht weiter. Mein Bruder Upik hat auch eine der Gruppen angeführt, aber wir haben ihn nie mehr wiedergesehen.«

»Ich bin zusammen mit meinem Vater und Lavelle Maloney in einer Gruppe unterwegs gewesen«, sagte Diego mit leiser, angespannter Stimme. »Wir sind in einen Schneesturm geraten. Aber wir haben uns ins Innere des Planeten gerettet. Mein Vater… na ja, eine Weile war es ziemlich schlimm; fast wäre er am Schock gestorben. Aber Clodagh und Bunny und die anderen haben ihm geholfen, und inzwischen geht es ihm schon wieder sehr viel besser.

So etwas scheint vielen Firmenteams zu passieren.«

Iva schüttelte den Kopf. »Dann haben sie nicht um Erlaubnis gebeten. Wie Satok sagt, haben wir früher alles falsch gemacht. Er sagt, daß Miuks Bruder und unsere anderen Einwohner die Firmenteams umgebracht hätten und daß der Planet sie dafür bestraft hat… ja, uns alle.«

»Weshalb erzählt er euch solche Lügen?« wollte Bunny wissen. Sie hatte sich lange genug zurückgehalten. Jetzt war sie wirklich wütend.

»Er lügt nicht. Solange wir tun, was er sagt, und die Zahlungen aufbringen, die er haben will, läuft doch alles viel besser.«

»Welche Zahlungen?« fragte Diego ungläubig und streckte die Kieferlade vor.

»Nur Kleinigkeiten. Lebensmittel, Felle, ein paar Näharbeiten für ihn, die besten Welpen des jeweiligen Wurfs und der beste Leithund, um sie auszubilden.«

»Ach so, solche Zahlungen«, sagte Diego in einem Tonfall, den Bunny bei ihm noch nie gehört hatte. Aber sie wußte schon, worauf er hinauswollte. »Und all eure Schwierigkeiten sind behoben, seit er euch hilft?«

Alles nickte feierlich.

»Und der Planet hat auch nichts dagegen, daß ihr euch so tief in ihn hineingrabt«, Diego machte eine heftige absteigende Geste mit der Hand; dann verpaßte er seinem imaginären Werkzeug eine bösartige Drehung, als er imaginäres Grabgut auf den Boden schleuderte, »und daß ihr große Wunden in seine Oberfläche reißt?«

Ein benommenes Grollen war die Antwort auf seine harten Worte.

»Du, junger Diego, bist ein Fremder, du stammst nicht von diesem Planeten. Wie kannst du da behaupten, seine Wünsche zu kennen?

Wie kannst du da behaupten, unsere Bedürfnisse zu kennen? Du verstehst den Planeten nicht, du verstehst uns nicht, du weißt nicht, wie das in Shannonmouth ist«, sagte Miuk schließlich streng und verlagerte das Gewicht auf seinen Beinen, um eine aggressive Körperhaltung einzunehmen.

»Höchstwahrscheinlich nicht«, antwortete Diego und erwiderte seinen Blick so furchtlos, daß Bunny ebenso stolz wie verängstigt auf ihn war. »Aber ich habe ein Lied zu singen…«

Bunny atmete insgeheim erleichtert auf. Diego lernte wirklich schnell dazu. Aus anerzogener Höflichkeit entkrampften sich alle Anwesenden in dem winzigen Haus gerade genug, um anzuzeigen, daß sie wohl für ein Lied empfänglich sein würden, nicht jedoch für weitere Worte, die sich gegen ihren Shanachie richteten. Unter all den angespannten Mienen bemerkte Bunny nur eine – die des hellhaarigen Jungen Krisuk –, die nicht denselben abwehrenden, halb verschreckten Ausdruck hatte. Sie hatte Krisuks Gesichtsausdruck zuerst mit Mißmut verwechselt, doch als Diego sprach, entspannte sich das Gesicht des Jungen, und Bunny erkannte, daß er sehr zornig war – und zwar nicht auf sie.

Als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan und es nicht erst in den letzten Monaten gelernt, hob Diego nun den Kopf, die Augen halb geschlossen, und sang das Lied, das er für das Latchkay von Kilcoole komponiert hatte.

Ich bin neu gekommen, im Sturm, hierher.

Ein Sturm des Herzens und der Seele.

Ich suchte und fand den Sturm mit Lavelle.

Sie rettete mich, als der Schlitten stürzte.

Mit der Hitze ihres Körpers rettete sie mich.

Mit dem Witz ihres Geistes rettete sie auch meinen Vater.

Rettet mich, die Höhle zu sehen, von der alle sagen, ich hätte sie nicht geschaut.

Doch ich schaute die Höhlen und das Wasser und das Schnitzwerk von Wind und Regen.

Ich schaute den glitzernden Schnee wie Geschmeide auf Tuch.

Ich schaute die winkenden Zweige, das sprechende Wasser, die Antwort des Eises, das Lachen des Schnees.

Ich schaute die Tiere des Wassers, der Erde, und auch diese sprachen zu mir.

Sie waren gütig zu mir und gaben mir Antwort auf all meine Fragen, doch ich weiß nicht mehr, welche Fragen ich stellte.

Ich weiß nicht mehr, welche Antwort ich hörte.

Ich weiß nur die Höhle, die Äste, das sprechende Wasser, das lebende Eis und den lachenden Schnee.

Ich weiß, daß ihr es auch wißt.

So vernehmt denn mein Lied und glaubt mir.

Denn ich schaute, was ihr geschaut habt.

Und bin verwandelt.

Hört meinen Gesang.

Glaubt mir.

»Diego ist kein Fremder auf Petaybee. Der Planet hat zu ihm gesprochen«, sagte Bunny ruhig in das respektvolle Schweigen, das jedem wahren Lied folgte. Denn sie konnte an ihrer Reaktion ermessen, daß die Connellys das Lied in seinem innersten Wesen erkannten.

»Der Planet spricht nur zu wenigen«, meinte Iva nickend.

»Aber hier«, versetzte Miuk mit rauher Stimme, »spricht der Planet zu Satok und zu niemandem sonst, und ihm müssen wir im Namen des Planeten gehorchen.«

»Gut gesprochen, Miuk.« Erstauntes Keuchen, als Satok plötzlich den Kopf durch ein vorsichtig geöffnetes Fenster schob. »Gut gesungen, junger Reisender!«

Iva erhob sich schnell und öffnete die Tür. Sie war puterrot vor Verlegenheit, daß der Shanachie eigens durchs Fenster hatte lauschen müssen, um etwas zu hören, was in ihrem Haus geschah.

Bunny fiel sofort ein, daß dies möglicherweise erklärte, wieso er so viel von den Geschehnissen im Dorf wußte. Nachdem Satok eingetreten war, hielt er sofort auf das Bett zu, auf dem auch Bunny und Diego saßen. Doch Diego reagierte schnell und wechselte den Platz, so daß Satok neben ihm an Stelle von Bunny sitzen mußte, wie er es offensichtlich vorgehabt hatte.

»So, junger Reisender, du meinst also, der Planet teilt dem einen Dorf dies mit, und dem anderen etwas anderes?« fragte Satok mit glitzernden Augen, den Mund spöttisch verzogen.

»Dein Dorf liegt in der Nähe von Minen, Kilcoole hingegen nicht.«

»Aber Lavelle hat doch gerade nach Minen gesucht, als eure Gruppe sich im Schneesturm verirrte, nicht wahr?«

»Das haben wir, aber weit östlich von Kilcoole und sehr weit nördlich von hier«, erwiderte Diego gelassen. Bunny fand, daß er sehr viel klüger war als der Shanachie, der offensichtlich versuchte, Diego eines Widerspruchs zu überführen.

»Was hat der Planet dir denn noch alles gesagt, daß du ein solches Lied verfaßt hast?«

Diego blickte Satok direkt in das drohende Gesicht. »Der Planet hat mir Worte zum Singen gegeben, die ich nun gesungen habe. Jetzt ist mein Mund trocken, und wir sind weit gereist, um Iva Connelly zu besuchen und ihr für ihre Geschenke zu danken, wie auch wir Geschenke mitgebracht haben.«

»Pah!« sagte Satok mit verächtlichem Blick auf die Keimlinge. »Es wird keine Zeit für den Anbau bleiben, wenn erst die Anweisung der Firma eingetroffen ist.«

»Im Augenblick ist aber Zeit«, versetzte Bunny, die sich durch Diegos Haltung ermutigt fühlte. »Die Tage sind jetzt lang genug, und der Boden hier wird schon bald genauso bereit sein wie in Kilcoole.

Damit wird die Firma nicht belastet. Sie braucht nichts von ihren eigenen frischen Lebensmittelvorräten abzugeben. Die Firma beliefert uns nur mit Dosenkonserven und Trockennahrung. Unsere Leute brauchen aber frisches Essen.«

Satok sprang auf. »Ich werde verkünden, was für meine Leute gut ist, und nicht ihr Fremden!« Er fuhr zu Iva herum. »Du wirst diese Geschenke nicht annehmen.« Ivas Miene wirkte verschreckt und schockiert, doch Satok ignorierte es. »Wenn der Planet meint, daß du ihrer würdig bist, wird er auch dafür Sorge tragen.« Dann blickte er in seiner vollen, imposanten Körpergröße auf Diego und Bunny herab.

»Man hat euch nicht eingeladen.« Drohend wies er mit dem dicken Zeigefinger auf Diego. »Du kommst hierher und versuchst meinen Leuten vorzuschreiben, was das Richtige für sie sein soll.« Er zeigte auf Bunny, und ein merkwürdig habgieriger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Der Planet spricht durch mich, und ich kann am besten beurteilen, wer oder was für diese Leute gut ist. Ich entscheide, welche Geschenke für diesen Teil des Planeten geeignet sind. Eure Shanachie meint es gut, aber sie weiß nicht um unsere wahren Nöte.

Morgen werde ich euch belehren, nachdem ihr euch ausgeruht habt.«

Damit stakste er aus dem kleinen Haus und blieb draußen kurz stehen, um die Lockenfelle zu mustern, während alle zornig und nervös zurückblieben, Löcher in die Luft starrten oder sogar heftig zitterten. Bunny bebte vor Wut, und Diego hatte sich auf die Lippe gebissen, um sich selbst am Sprechen zu hindern. Er warf Bunny einen langen Blick zu, und seine Schultern sackten herab wie die aller anderen.

Danach fiel es Iva sehr schwer, höflich zu bleiben. Der Shanachie hatte sie durch sein Verhalten vor den anderen blamiert, und die anderen hatten Iva durch ihr Benehmen vor dem Shanachie in Verlegenheit gebracht. Außerdem war sie wütend auf ihren Mann.

Immerhin verweigerte sie die Vorräte nicht, die Bunny und Diego in ihren Satteltaschen mitgebracht hatten, um die Abendmahlzeit damit zu bereichern.

Bunny hatte nur wenig Appetit. Sie war zornig, sogar ein wenig bestürzt. Noch nie im Leben hatte jemand sie so grob behandelt, nicht einmal ihre widerlichen Vettern. Ganz gewiß hatte sie nicht damit gerechnet, daß man Clodaghs sorgfältig ausgesuchte Geschenke verschmähen könnte.

Diego blieb stumm und aß ebensowenig wie Bunny. Sein Blick hatte etwas Lauerndes.

Sie ließen sich zur Nacht auf dem Fußboden zwischen den beiden Pritschen nieder, die dem Feuer am entferntesten lagen. Sie froren, weil sie nicht ihre wärmste Winterausrüstung mitgebracht hatten. In Kilcoole, wo es für die Jahreszeit warm war, hatten sie sich nicht vorstellen können, daß es hier so kalt sein würde.

Diego zitterte, schlang die Arme um seinen Oberkörper und schaffte es dabei noch, zornig dreinzublicken.

Der blonde Junge, Krisuk, lag in einem der Betten neben ihnen und warf Diego eine Flickendecke zu. »Nimm das«, flüsterte er.

»Brauchst du sie denn nicht?«

»Ich kann meinen Parka anziehen. Ich wollte euch nur sagen, daß es gut war, wie ihr diesen Schaumschläger zurechtgestutzt habt.«

»Glaubst du denn nicht, daß er das Herz und die Seele des Planeten ist, wie alle anderen hier zu glauben scheinen?« fragte Bunny flüsternd.

Krisuk stieß ein leises abfälliges Geräusch aus.

In diesem Augenblick ertönte draußen vor dem Blockhaus wütendes Gebell.

»Dinah!« sagte Diego und fuhr auf.

Iva und Miuk hoben die Köpfe; dann wälzten sie sich betont auf die Seite, um weiterzuschlafen. Außer Krisuk zogen sich alle Kinder die Flickendecken über den Kopf. Schon bald wich das Gebell einem Kratzen und Winseln an der Tür.

»Sie darf nicht reinkommen«, sagte Krisuk. »Seine Hoheit hat verfügt, daß Tiere nicht mit Menschen zusammen im Haus bleiben dürfen.«

Doch Diego war bereits an der Tür, entriegelte sie und beugte sich über die aufgeregte Hündin. Bunny stand ebenfalls auf. Krisuk schlich ihr nach. Da die Hündin nicht herein durfte, gesellten Bunny und Krisuk sich draußen zu Diego, der gerade dabei war, ihr das Fell abzureiben und mit ihr zu sprechen.

»Sie versucht, mir irgend etwas mitzuteilen. Das weiß ich genau«, sagte Diego. »Aber sie ist so aufgeregt, daß sie ganz durcheinander ist.«

»Darby und Ciscol!« entfuhr es Bunny, als ihr die Lockenfelle wieder einfielen. »Was?«

»Wo sind sie?«

»Ich… ach, Scheiße!« sagte er.

Krisuk schnitt eine Grimasse. »Wenigstens hat er den Hund übrig gelassen.«

»Wer?«

»Ihr wißt schon – er«, antwortete Krisuk und wies mit dem Kinn zum Ende der Häuserreihe hinüber. »Der Kerl denkt, daß alles ihm gehört, was sich zu haben lohnt. Außerdem habe ich gesehen, wie er deine Frau angeblickt hat.« Er nickte in Richtung Bunny. »Ich schätze, er will auch dich hierbehalten, zusammen mit den Pferden.«

»Der wird nichts und niemanden behalten«, fauchte Bunny.

»Einschließlich der Macht, die er über dieses Dorf ausübt. Ich weiß zwar nicht, wie er es geschafft hat, diese Stellung zu erringen, aber eins weiß ich mit Sicherheit – wenn er der einzige ist, der hier mit dem Planeten in Verbindung tritt, ist irgend etwas faul.«

Diego sagte vorsichtig: »Wir haben versprochen, daß wir zuerst Sean und die Majorin aufsuchen werden, falls es hier haarig werden sollte.«

»Schön, aber ohne die Pferde kommen wir ja wohl kaum von hier weg, oder? Jedenfalls nicht so, daß wir rechtzeitig dort wären. Wir wären bloß das reinste stehende Ziel für diesen… diesen…

Hexendoktor!« Sie benutzte den Ausdruck, mit dem manche Firmenleute gelegentlich Clodagh zu bezeichnen pflegten. »Eure Pferde sind weg«, warf Krisuk in einem harten, nüchternen Tonfall ein. »Was Satok einmal für sich beansprucht, bekommt niemand jemals zurück.«

Bunny sagte mit einer Stimme, wie Tante Moira sie für störrische Kinder und Welpen aufsparte: »Sei nicht albern! Satok ist auch nur ein Mensch – noch dazu ein ziemlich habgieriger.«

»Alle sagen, daß er die Stimme von Petaybee ist.«

»Dann sind alle eben ziemlich taub geworden«, versetzte Bunny.

»Kein Einzelwesen ist die Stimme von Petaybee. In Kilcoole kann jeder, der es möchte, mit Petaybee sprechen. Dieser Planet ist durchaus in der Lage, sich jedem verständlich zu machen, der sich Mühe gibt, ihm zuzuhören.«

»Warum spricht er dann nur durch Satok zu uns? Ich hasse ihn, aber die einzige Gelegenheit, da man etwas von dem Planeten zu hören bekommt oder in McGees Paß mal etwas Gutes geschieht, besteht immer nur dann, wenn wir dem Ruf in die Höhle dort oben folgen.«

»Dort, wo wir dir und deiner Mutter zuerst begegnet sind?« fragte Bunny.

»Genau da.«

»Schön, dann gehen wir einfach dorthin zurück. Ich habe eine gute Beziehung zu dem Planeten. Ich bin mir ganz sicher, daß er sich nicht weigern wird, mit mir zu sprechen. Und außerdem, vielleicht hat der Shanachie ja die Lockenfelle dort versteckt.«

»Nein, die Pferde sind wahrscheinlich dort oben«, widersprach Krisuk und gestikulierte mit einer knappen, heftigen Bewegung, »an seinem Haus, oben auf der Höhle, auf der Weide oberhalb des Felsvorsprungs.«

Dinah winselte leise, und Diego streichelte sie. »Weißt du was, Bunny. Ich glaube, die Pferde würden Dinah folgen, wenn sie nicht allzu fest angebunden sind.«

»Der würde nur eure Hündin dazu einsacken – oder sie umbringen.«

»Das wollen wir doch mal sehen«, erwiderte Bunny. Sie reckte das Kinn vor und ballte die Hände zu Fäusten, als sie den Weg zum Höhleneingang hinauf marschierte. Der Nachtwind war ziemlich laut und heulte über die Wipfel und Dächer, ließ Türen und Fenster klappern, packte alles, was nicht niet – und nagelfest war und schleuderte es umher. Bunny merkte, daß der Planet bereits sprach.

Wenn die Leute nur zuhören würden! Seine Botschaft war laut und deutlich vernehmbar: Er war nicht erfreut. Überhaupt nicht erfreut.

»Bunka, warte!« flüsterte Krisuk drängend. Er packte sie am Arm, als er sie eingeholt hatte.

Diego stand auf der anderen Seite neben ihr. »Wir können nicht länger warten. Dieser Kerl hat bereits unsere Pferde gestohlen. Wer weiß, was er als nächstes tut.«

»Das versuche ich euch doch gerade zu erklären. Sie«, mit einem Nicken wies Krisuk auf Bunny, »sollte am allerwenigsten gehen.«

»Warum nicht?«

»Ihr habt meine ältere Schwester Luka nicht kennengelernt«, antwortete er. Er klang so zornig und gequält, daß Bunny und Diego abrupt stehenblieben. Sie hatten gerade das letzte Haus hinter sich gelassen und standen nun etwa zweihundert Schritte vor dem Höhleneingang. »Satok hat sie rüber nach Totpferd geschickt. Aber vorher hat er sie genommen.«

»Was soll das heißen, er hat sie genommen?« fragte Bunny.

»Meinst du, er hat sie vergewaltigt?«

»Jedenfalls nicht sofort. Am Anfang war er doch so ein wichtiger Mann, daß es sie entzückte, von ihm auserwählt worden zu sein. Sie war schließlich das hübscheste Mädchen im ganzen Dorf, dazu eine kluge, fleißige Arbeiterin. Als sie noch jünger war, hielt man es für möglich, daß sie eine Heilerin werden könnte, wie Clodagh. Sie hat immer gesungen und sehr freundlich mit allen und jedem gesprochen.

Aber als sie eine Frau geworden war, wurde sie ein wenig seltsam. Ich glaube, wahrscheinlich haben die Leute zu viel davon geredet, wie hübsch sie war und was für eine gute Partie sie einmal machen würde.

Und die Burschen hier im Dorf… na ja, in ihrem Alter gab es ohnehin nicht allzu viele, und keiner von denen war der Richtige. Als Satok kam, schmeichelte er ihr mit seiner Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil sie hübsch war. Er setzte auch auf ihre Schamanenkräfte und auf ihre Beziehung zu Petaybee, die immer sehr eng gewesen ist. Wenn ich Satok nicht so sehr hassen würde, müßte ich wohl zugeben, daß er gar nicht schlecht aussieht. Er wirkt… größer… als die anderen Burschen hier. Meine Schwester war sehr aufgeregt. Sie glaubte, sie hätte den Richtigen gefunden. Meine Eltern glaubten, sie würde ihn heiraten, aber er hat sie einfach nur dort oben zu sich geholt. Nicht, daß es allzu großer Überredung bedurft hätte.«

Jetzt marschierten sie langsam und um einiges vorsichtiger gegen den Wind, die Köpfe zusammengesteckt, während das Haar des einen den anderen ins Gesicht wehte. Sie wollte sich anhören, was Krisuk ihnen so dringend mitzuteilen hatte. Als sie den Höhleneingang erreichten und Krisuk den Strauch beiseiteschob, der vor dem Eingang wuchs, setzte der Wind plötzlich aus, als hätte jemand ihn ausgelöscht. Geduckt traten die drei ein.

7. KAPITEL

»Coaxtl, wach auf. Ich glaube, sie haben mich entdeckt«, flüsterte Ziegendung der Katze ins fellbesetzte linke Ohr.

Coaxtl setzte sich und gähnte. Wer hat uns gefunden, Junges?

»Der Heulende Hirte und seine Herde. Sie kommen, um mich zurückzuholen.«

Coaxtl wälzte sich herum und setzte sich auf die Hinterläufe, auf die Vorderpfoten gestützt, während sie den leisen Stimmen lauschten, deren Worte nicht ganz verständlich waren. Nachdem sie einen Augenblick zugehört hatte, legte die Katze sich wieder hin.

Fürchte dich nicht, Kind. Das ist nur die Stimme des Heims.

Der Heulende Hirte hatte von dem Großen Ungeheuer erzählt, bei dem es sich um dasselbe Wesen zu handeln schien, das die Katze Heim nannte, und davon, daß das Ungeheuer eine Stimme besaß, obwohl der Hirte sie stets als Knurren oder Brüllen oder Zähneknirschen oder Speien oder etwas ähnlich Bösartiges beschrieben hatte. Er hatte gesagt, daß das Große Ungeheuer in allen Legenden der Erde vorkäme; er hatte von der Unterwelt gesprochen, die vom Gebein der Toten bewacht wurde, und von schrecklichen gefräßigen Feuern und Qualen. Wenn er Ziegendung oder ein anderes Mitglied der Herde bestrafen ließ, pflegte er sie daran zu gemahnen, daß das Große Ungeheuer ihnen noch sehr viel Schlimmeres antun würde, sollten sie in Sünde und Irrtum sterben, ohne durch seine Lehre auf den rechten Weg zurückgeführt worden zu sein.

Schreckliche Schlangen und Würmer und feuerspeiende Tiere würden das Große Ungeheuer bewachen oder wären Bestandteile von ihm, und die Unterwelt beherberge alle diese bösen Dinge, sagte der Hirte. Ziegendung fragte sich, ob sie die Unterwelt wohl auch zu Gesicht bekommen würde. Bisher war sie ja nur Coaxtl begegnet.

Die Sorglosigkeit der Katze hätte sie eigentlich wieder in ihre erschöpfte Erholung von den Abenteuern der vergangenen beiden Tage lullen sollen. Doch sie machte die Feststellung, daß die Stimmen

– und die Möglichkeit, zur Herde zurückkehren zu müssen – sie so sehr aufgeschreckt hatte, daß sie nun nicht mehr einschlafen konnte.

»Hast du mal gehört«, fragte sie die Katze träge, »wie es in der alten Zeit auf der Erde war, bevor wir für unsere schrecklichen Frevel und Sünden an diesen kalten Ort verbannt und dem Großen Ungeheuer ausgeliefert wurden?«

Ziegendung erwartete die Antwort der Katze in schläfriger Vorfreude, denn trotz allem, was sie am Leben im Tal der Tränen verabscheute, und trotz aller Furcht, die sie dem Heulenden Hirten entgegenbrachte, gefielen ihr die Geschichten, die er und alle anderen in der Herde unentwegt zu erzählen pflegten. Sie erzählten Geschichten darüber, weshalb es gut war, auf die eine Art zu kochen und nicht auf die andere; Geschichten darüber, weshalb man ein Haus auf eine bestimmte Weise und keine andere bauen sollte. Geschichten, wie furchtbar es in ihren Heimen zugegangen war, bevor sie ins Tal der Tränen gekommen waren. Geschichten von ihrer ersten Begegnung mit dem Hirten. Obwohl einige der Geschichten beängstigend waren und die Bilder, die sie heraufbeschworen, Ziegendung mit Abscheu und Ekel erfüllten, so vermißte sie diese Geschichten doch.

Es fehlte ihr, sie erzählt zu bekommen. Die Geschichten stellten eine Erholung von der Prügel dar und ließen die Arbeit schneller vonstatten gehen. Viele der Geschichten glichen jener, an die Ziegendung sich gerade erinnert hatte: Sie handelten davon, wie das große Ungeheuer Menschen verschlang und ihr Leben durcheinander brachte. Andere dagegen waren schön und berichteten von der alten Zeit auf der Erde. Meistens erzählte man sie, damit alle Zuhörer angemessen Trauer darüber empfanden, was sie durch ihre Sünden verloren hatten; trotzdem hörte Ziegendung die Geschichten gern.

O ja, erwiderte die Katze. Meine Großmutter hat meiner Mutter davon erzählt und gesagt, daß sie die Geschichte von einem uralten Mann hatte, der auf dem Weg zum Sterben vorbeigekommen war.

Aber ich finde nicht, daß diese Geschichten für Jungtiere geeignet sind.

»Wie meinst du das?«

Die alten Zeiten waren schlimm. Zunächst sind alle guten Dinge verschwunden, die das Leben schön machten. Dann war eine Zeitlang alles steril und bestand aus unechten Materialien. Bäume trugen totes Laub und tote Rinde, und sie wuchsen auch nicht aus der Erde, denn die war ebenfalls tot. Der Boden bestand aus hartem, unnachgiebigem Zeug, und zwischen einem selbst und dem Himmel gab es Schranken.

Am Anfang durfte noch ein wenig echte Luft hindurch, später nur noch Licht, und manchmal war nicht einmal dieses Licht mehr echt. Das war schon schlimm genug, als alles noch sauber und frei von winzigen Lebewesen war, doch mit der Zeit war die Erde nicht nur tot, sondern auch immer schmutziger geworden. Schließlich war eine von unserer Art so gescheit, dafür zu sorgen, daß sie und ein ihr bekanntes Männchen in das Manifest aufgenommen wurden, als man Lebewesen aus unseren Ländern auswählte.

»Was für eine merkwürdige Geschichte«, meinte Ziegendung und fügte streng hinzu, wie die Frauen es mit ihr zu tun pflegen, wenn sie ihnen etwas erzählte, was sie für eine Lüge hielten: »Das ist aber nicht, was der Heulende Hirte von der alten Erde erzählt.«

Der Heulende Hirte, versetzte die Katze und putzte dabei ihre langen, scharfen Krallen, frißt auch seine Jungen.

Darüber dachte Ziegendung einen Augenblick nach. »Stimmt. Rede weiter. Hat der alte Mann deiner Vorfahrin auch Einzelheiten berichtet?«

Ja. Ich will es dir erzählen, wie es ihr erzählt wurde.

Coaxtl stieß ein leises Hüsteln aus, das beinahe schon ein Knurren war, und fuhr fort.

Vor langer Zeit, als unsere Vorfahren noch rotbraunes Fell trugen, lebten wir in den Bergen. Es waren keine Berge wie diese, die alle zerklüftet und eisig kalt sind, sondern glatte Berge mit heißen und duftenden Dschungeln, die fast bis an die Gipfel reichten. Damals war der Himmel voller Blattwerk und Dächern, unter denen man sich verstecken konnte.

»Was ist denn ein Dschungel?« fragte Ziegendung.

Ein sehr heißer Ort mit vielen Bäumen, manchmal auch mit sehr viel Regen und leuchtenden Blumen.

»Wie im Sommer im Tiefland?«

Nein, noch viel wärmer, und das ganze Jahr lang. Eine solche Hitze würden du und ich gar nicht ertragen. Damals gab es viele Tier- und Pflanzenarten, die heute nicht mehr existieren, jedenfalls hier nicht.

Noch nicht.

»Wie meinst du das, noch nicht?«

Unser Heim, antwortete die Katze, hat Pläne.

»Was ist los, Sean?« fragte Yana etwa zum fünften Mal, als sie bemerkte, wie Sean über die Schulter zurückblickte. Nanook hatte bereits zweimal dasselbe getan.

»Ich weiß nicht«, erwiderte er achselzuckend und grinste sie verlegen an. »Eigentlich sollten sie bei den Connellys in Sicherheit sein. Und wir sollten uns mal lieber auf den Weg machen, wenn wir heute nacht noch im Warmen schlafen wollen.« Sein Grinsen wurde breiter. »Die Luft hier oben ist kühler als unten. Ich bin gar nicht darauf gekommen, daß es nicht überall so unverhältnismäßig warm sein würde wie in Kilcoole.«

Nachdem sie den Wald und die mit flechtenähnlichen Pflanzen und Moosen bewachsenen Hänge hinter sich gelassen hatten, mußten sie absteigen und die Ponys an mehreren heiklen Stellen selbst führen, wo der Weg so eng wurde, daß es Yana einen Schrecken einjagte, obwohl sie vor ihrer Verwundung in Bremport einiges gewöhnt gewesen war.

Die Lockenfelle schienen keinerlei Gefahr zu kennen, obwohl es Yana ein wenig tröstete, daß die Ohren der Tiere ständig zuckten und sie die Schweife wie Propeller kreisen ließen, um das Gleichgewicht zu halten, wie Nanook es auch zu tun pflegte, wobei sie häufig schnaubten, als würden sie sich über irgend etwas verständigen.

Nachdem sie das felsige Stück hinter sich gebracht hatten, gelangten sie wieder in den Wald, als es schon völlig dunkel war. Der Wald war hier dichter als um Kilcoole, die Bäume größer, die Stämme dicker. Von den Ästen troff unentwegt geschmolzener Schnee, so daß es ebensogut hätte regnen können. Yana war sehr erschöpft, und so wies Sean sie an, sich um das kleine Feuer zu kümmern, das er entfacht hatte, während er zunächst die Pferde versorgte und anschließend die Hasen häutete, die Nanook erlegt hatte. Der Kater fraß seine Portion roh, und er tat es mit soviel Genuß, daß Yana es kaum erwarten konnte, bis ihre eigene Mahlzeit gar geworden war.

Schließlich fiel sie – Sean auf der einen, Nanook auf der anderen Seite

–, in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen erwachte, kitzelte sie der Duft von Kaffee in der Nase, und sie erblickte einen Becher, dessen Henkel auf sie gerichtet war.

Schließlich schlüpfte Sean wieder in den Schlafsack und grinste Yana dabei an, und gemeinsam unterdrückten sie ihr Kichern über Nanooks leises Schnarchen.

Es war schon gegen Ende des Morgens, als sie plötzlich das Plateau erreichten, das sich der anderen Hälfte des Fjords entgegenneigte.

Hier sah es so aus, als hätte eine riesige Axt die Steilklippe in zwei Teile gehauen, um den Wassermassen über eine sich verjüngende Schneise den Zutritt zum Kontinent zu ermöglichen. Weiter unten erweiterte sich die Schneise abrupt, dort, wo der Fluß endlich das Meer erreicht hatte und sich in einem anmutigen, mittelgroßen Wasserfall am Ende von Harrisons Fjord in die Tiefe ergoß.

»Wer war eigentlich Harrison?« fragte Yana, als sie dem Gefälle folgten, dem Rauch entgegen, der von unsichtbaren Kaminen aufstieg, wobei Nanook ihnen als Vorhut voransprang.

»Harrison? Das war ein alter Kumpel von Großvater. Er ist von Werweißwo hierhergekommen«, erklärte Sean. »Er hatte eine Menge Humor und liebte alte Geschichten von Weltraumabenteuern.«

»Ach ja?«

»Ja, wie der Ortsname beweist«, fuhr Sean fort und blickte dabei über die Schulter, als müsse Yana die Anspielung sofort begreifen.

Als ihm klar wurde, daß es nicht der Fall war, fuhr Sean achselzuckend mit seiner Erklärung fort. »Die meisten Leute hier sind eskirischer Herkunft – Fischer und Bootsbauer.«

»Bootsbauer?« Yana war erstaunt: Nachdem sie den Paß bei McGee hinter sich gelassen hatten, waren auch die bewaldeten Hänge verschwunden, und die gegenüberliegende Seite des Fjords war ebenso kahl wie diese. Wenn man hier irgend etwas bauen wollte, mußte man meilenweite Transportwege in Kauf nehmen, um das Holz heranzuschaffen.

»Gute Boote bestehen nicht unbedingt nur aus Holz«, erklärte Sean.

»Aha. Übrigens, Sean, Liebster«, erwiderte Yana und packte die Gelegenheit beim Schopf, »wie viele Leute wissen eigentlich, daß du ein Selkie bist?«

»So wenige wie möglich.« Doch dabei grinste er sie an. »Viele Leute haben schon mal einen Selkie gesehen. Das kann nicht immer ich gewesen sein, weil ich weiß, daß ich zur fraglichen Zeit nicht einmal in der Nähe war, und soweit ich weiß, verfügt niemand sonst über meine… hm… Vielseitigkeit. Manche Petaybeeaner haben nun mal eine ausgeprägte Einbildungskraft.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Dachte ich mir. Tja, jetzt können wir wieder reiten. Ich würde es vorziehen, wenn wir die Reise endlich hinter uns brächten, bevor die Lichtverhältnisse wieder schlechter werden.«

Sie saßen auf und setzten die Reise in jenem erstaunlich geschmeidigen Trab fort, den die Lockenfelle so mühelos in den unterschiedlichsten Geschwindigkeiten an den Tag zu legen vermochten. Yanas kleine Stute blieb mit der Nase dicht am Schweif von Seans Hengst. Das Tempo war atemberaubend, doch hier unten machte es Yana nicht so viel zu schaffen wie oben auf den schmalen Gebirgspfaden.

Die Lockenfelle hatten allerdings auch die Eigenart, ohne jede Vorwarnung plötzlich stehenzubleiben. Nur das Anspannen der Vorderhandmuskeln unter ihren Schenkeln machte die Reiter darauf aufmerksam, daß es ratsam war, sich an der dichten Mähne festzuhalten. Gerade noch schossen sie förmlich davon – im nächsten Augenblick standen sie stocksteif da! Dann mußte Yana sich wieder vom Pferdehals lösen und sich um eine aufrechte Haltung bemühen.

Sie saß ab, als sie bemerkte, daß Sean das gleiche getan hatte. Was war da los? Führte er sein Pony etwa gerade über den Klippenrand?

Nein, bemerkte sie nach kurzem Stocken, zur Rechten war mit knapper Mühe Nanooks Kopf zu erkennen, und Sean hatte sich dieser Richtung zugewandt, worauf das Trio mit seinem Abstieg begann.

Yana seufzte angesichts der Aussicht, jetzt auf dem Weg hinunter wiederholen zu sollen, was ihr schon auf dem Weg hinauf widerfahren war, mußte aber zu ihrer angenehmen Überraschung feststellen, daß sie auf einen breiten, zerklüfteten, aber mit Gras überwachsenen Pfad gelangten, der sich in sanftem Gefälle die Klippenwand hinunter bis ins Dorf Harrisons Fjord schlängelte. Dieser Weg mußte von Menschenhand geschaffen worden sein. Wie üblich, hatte Nanook die Vorhutrolle übernommen und trappelte mit lässig zuckender Rute voraus.

»Harrison«, sagte Sean, »haßte das Klettern. Er hatte Gleichgewichtsprobleme. Ich weiß zwar nicht, wen von der ursprünglichen TerraB-Gruppe er bestochen haben mag, jedenfalls wurde die Straße so angelegt, wie er es haben wollte. Gleiches galt für das Dorf und den Hafen.«

»Wo sind denn deine Schwester und ihr Mann in die Höhlen eingedrungen…« Yana hielt inne, als sie feststellte, daß die Felsformation am Wegesrand eine Höhlenbildung weitgehend ausschloß.

Während Sean auf den Wasserfall deutete, bemerkte Yana zu ihrer Verwunderung, daß Nanook in dieselbe Richtung blickte und nieste.

»Da hinten, ein Stück links von der gegenüberliegenden Seite, liegt die Fjordhöhle.«

Plötzlich ertönte Hundegebell, und als Yana gerade mit sich selbst eine Wette abschließen wollte, kamen ihnen auch schon mehrere orangefarbene Katzen entgegengeschlendert, um sie zu begrüßen. Sie stellten sich auf die Hinterläufe, um, Nase an Nase, Beschnüffelung auszutauschen. Yana hatte bestanden. Die Katzen kamen den Reisenden sofort entgegen, für die Nanook offensichtlich die Bürgschaft übernommen hatte.

»Wo wir auch hinkommen?« fragte sie Sean, der sich gerade vorbeugte, um einen orangefarbenen Rücken zu streicheln. Selbst auf einige Schritt Entfernung konnte Yana das Schnurren vernehmen.

»Nicht überall«, erwiderte Sean mit leiser Betonung des ersten Wortes, »aber sie kommen viel herum.« Er streichelte ein weiteres Exemplar, dann kraulte er einem schwarzen, zottigen Hund mit hellbrauner und weißer Gesichtsmaske die Ohren, der sich mittlerweile ebenfalls eingefunden hatte, um seine Streicheleinheiten abzuholen.

Das Schnurren wurde immer vernehmlicher, als die erste Katze um Yanas Knöchel strich. Yana hatte das merkwürdige Gefühl, daß man sie um ihrer selbst willen willkommen hieß und nicht nur als Seans Gefährtin. Sie neigte sich vor, um die Katze unterm Kinn zu kraulen, und spürte das leichte Beben eines Schnurrens in den Fingerspitzen.

Nun kamen immer mehr bellende Hunde zur Begrüßung herbei.

Geschmeidig und geschickt bewegten sie sich zwischen den Katzen.

»Wer kommt da?« rief eine schnarrende Baßstimme.

»Sean Shongili und Yanaba Maddock!« rief Sean zurück.

»Sean? Und niemand geringerer als seine Herzensdame? Dreifach willkommen! Beeilt euch, kommt herunter! Hier wartet schon eine Tasse Warmes auf euch!«

Es gab keinerlei Möglichkeit, sich beim Abstieg zu ›beeilen‹; das verhinderten schon die Katzen und Hunde, die darauf bestanden, sie zu beschnüffeln, sich streicheln zu lassen und überhaupt ihr ganzes Weiterkommen zu behindern. Nanook war vorangesprungen und verschwunden, eine Bewegung, die Yana veranlaßte, die merkwürdige Anordnung der Häuser zu betrachten: ein gutes Dutzend Bauten, die man sorgfältig in einer Terrasse aus Erdreich verankert hatte. Die Klippe diente als Rückenwand, wobei die Terrasse gerade weit genug hervorragte, um einen kleinen Garten oder einen Hof samt Sitzbänken zu bilden. Die Häuser säumten den Weg zu beiden Seiten, als führten sie, wie auf einer Perlenkette aufgereiht, zu der letzten breiten Terrasse, die auch als Kai diente und hoch über dem Wasser des Fjords lag. Dort standen säuberlich aufgereihte Boote auf ihren!

Gestellen. Von den hohen Pfählen hingen Netze herab, die im letzten Sonnenlicht trockneten. Auf der gegenüberliegenden Seite dieser breiten Terrasse stand eine große Halle aus Holz, in der man, wie Yana vermutete, wahrscheinlich Boote bauen konnte. Doch das Wasser schien furchtbar weit entfernt zu sein, was Harrisons Fjord nicht gerade zu einem ideal gelegenen Fischerhafen machte.

»Zur Zeit ist Ebbe«, sagte Sean, als er Yanas überraschten Ausruf hörte. »Bei Flut spült das Wasser hier hinauf wie eine Herde laufender Rentiere. Da muß man alles möglichst hoch, trocken und sicher lagern. Ah, Fingaard! Schön, dich zu sehen!« Und plötzlich fand sich Sean, der selbst schon alles andere als klein war, in der Umarmung eines der größten Männer wieder, den Yana auf diesem Planeten zu Gesicht bekommen hatte.

»Gleichfalls, Shongili!« antwortete der Mann und grinste Yana über Seans Schulter hinweg an. »Das ist deine Frau?« Und er löste sich von ihm, um auf Yana zuzutreten. Sie hielt die Stellung, mußte den Kopf aber immer weiter in den Nacken legen, je näher der Riese kam, bis sie fast hintüber gekippt wäre.

Plötzlich beugte er die Knie, bis sein Gesicht auf derselben Höhe war wie ihres, und legte mit erstaunlicher Sanftheit die heugabelgroßen Hände auf ihre Schultern. Er sah ihr in die Augen, so gütig und durchdringend, wie Clodagh es zu tun pflegte, und lächelte.

»Ah, ja, natürlich.«

Mit einer einzigen Bewegung hatte er Yana die Zügel des Lockenfells aus der Hand genommen und die riesige Pranke in den Rücken gestemmt, so daß sie sich auf dem Weg ins Dorf bequem dagegenlehnen konnte.

Inzwischen waren auch andere Leute aus den Häusern gekommen.

Jedes Haus schien seine separate Treppe zu haben, die zur Straße führte, sowie eine weitere, zweite, auf der man zur nächsten Ebene hinunter steigen konnte.

»Wir haben schon gehört, daß ihr kommt«, sagte Fingaard jovial.

»Und ihr könnt uns sagen, wie wir Petaybee helfen können?«

»Fingaaaaaard, was hast du nur für Manieren, du Riesentolpatsch!«

Eine Frau, fast so groß wie er, kletterte zur Straße hinauf, um Yana erst anzulächeln, bevor sie ihren Mann weiter zurechtstutzte. »Erst kommt das Trinken, dann das Essen, und danach hast du die ganze Nacht Zeit, um zu reden und zu erledigen, was erledigt werden muß.

Mach dir nichts aus ihm, er meint es ja gut«, sagte sie an Yana gewandt. Eine Hand – nicht ganz so groß wie Fingaards – schob sich Yana entgegen. Sie ergriff die Pranke und machte sich schon auf einen Händedruck wie von einer Schraubzwinge gefaßt. Tatsächlich drückten die Finger jedoch nur ganz sanft zu und lösten sich wieder von den ihren. »Ich bin Ardis Sounik, die Frau von Fingaard.

Willkommen, Yanaba Maddock.«

Yana war nicht überrascht, als sie die Katzen erblickte, die sich um Ardis’ Füße scharten, ohne daß sie auf die Tiere trat oder sie mit ihren Lederröcken beiseitefegte. Die Röcke waren wunderschön gefertigt und mit ungewöhnlichen Mustern verziert. Alles war auf eine Weise miteinander verwoben, die Yana so vertraut vorkam, daß sie sich das Gehirn zermarterte, als sie sich zu erinnern versuchte, wie man so etwas nannte.

Dann aber hatte sie nicht mehr viel Zeit für tiefschürfende Gedanken, denn nun versammelte sich der Rest des Dorfes um sie –

und es schienen weitaus mehr Menschen zu sein, als man bequem in zwölf, vierzehn oder selbst in vierzig Häusern hätte unterbringen können. Die Ponys wurden weggeführt, während die Hunde und Katzen sich unter Bänken und auf Simsen ihr Plätzchen suchten. Sean und Yana wurden an die längste Bank gesetzt und bekamen eine Tasse

– ›etwas Warmes‹ zu trinken.

Yanas erstes, verstohlenes Schnüffeln teilte ihr mit, daß das Getränk nichtalkoholisch war und keinerlei Ähnlichkeit mit Clodaghs Gebräu aufwies. Der erste Schluck offenbarte ein dermaßen sorgfältig zusammengestelltes Aroma, daß sie nichts Bestimmtes hätte herausschmecken können; doch insgesamt erwies es sich als eines der wohltuendsten Getränke, die sie je zu sich genommen hatte. Sie trank davon, wie Sean es tat, trank und genoß es und versuchte, sich die Namen der Leute einzuprägen, die ihr vorgestellt wurden. Sie waren ja so froh über den Besuch, so froh darüber, daß der Shongili selbst gekommen war, um ihnen mitzuteilen, wie sie sich in dieser Notlage nützlich machen könnten. Denn selbst hier hatte der Planet ihnen bereits mitgeteilt, daß ihre Hilfe gebraucht wurde und daß man ihnen schon bald zeigen würde, was sie tun könnten.

Yana warf Sean einen verstohlenen Blick zu. Sie wollte wissen, wie er diese Neuigkeit aufnahm, doch er nickte nur weise, als wäre er bereits in alles eingeweiht. Wahrscheinlich war er das sogar. Und so trank Yana weiter.

Dann kam das Essen. Wie von Zauberhand erschienen plötzlich Klapptische, und man stellte Fackeln auf, so daß das hastig zusammengestellte Bankett gut beleuchtet blieb, als das Tageslicht zu schwinden begann. Yana hatte noch nie so viele Möglichkeiten der Fischzubereitung auf einem Haufen gesehen: paniert, gegrillt, in würzigen Soßen mariniert, mit einer perfekt abgeschmeckten Außenschicht fritiert, in einer scharfen Flüssigkeit eingemacht, als Eintopf mit Kartoffeln und Gemüse – das letzte Getrocknete vom Vorjahr, aber gut gelagerte. Und dann der Nachtisch – aus Fischgelee und mit Kräutern gewürzt. Dazu eine seltsame, dicke Paste, die sich im Mund auflöste. Und immer mehr ›etwas Warmes‹.

Nun begann man mit dem Gesang, und noch bevor es Yana peinlich werden konnte, wurde sie gebeten, ihr Lied über das Debakel auf Bremport vorzutragen; denn damals war auch einer der Jungen aus Harrisons Fjord dabeigewesen. Vielleicht lag es an dem ›Warmen‹, vielleicht aber auch nicht, jedenfalls hob Yana den Kopf und sang ihr Lied, und diesmal hatte sie keine Schwierigkeiten, den Eltern des Jungen in die Augen zu sehen, der gefallen war, als sie selbst beinahe ums Leben gekommen wäre. Diesmal wußte Yana, daß sie den Schmerz in den Herzen der Zuhörer linderte – und das war Balsam für ihren eigenen Schmerz. Vielleicht würde ja einmal der Tag kommen, da der schreckliche Alptraum von Bremport nicht mehr sein würde als der Text eines aus tiefstem Herzen kommenden Liedes.

Schließlich führte man sie im Schein der Fackeln zu ihrer Unterkunft. Yana war so erschöpft, daß sie zwei Anläufe brauchte, um auch nur einen ihrer Stiefel auszuziehen. Sean half ihr, sich zu entkleiden, und bettete sie unter die warmen Felldecken. Das letzte, das Yana bewußt spürte, war Seans Arm, als er sie an sich preßte.

In dieser Nacht träumte sie vom Umherwandern zwischen Zähnen, weiße Zungen hinunter, durch Knochen, die wie Rippenkäfige waren

– und doch empfand sie keine Angst in diesem Traum, nur Neu gier, was wohl als nächstes kommen würde. Und die ganze Zeit während dieser sich immer wiederholenden Traumsequenz vernahm sie Stimmengemurmel wie von fernen, unverständlichen Gesängen. Und doch wußte sie, daß es ein frohes Lied war und die Melodie sie beschwingte, mit einem merkwürdigen Einschub, der sich sehr nach einem Schnurren anhörte.

Als sie die Höhle betraten, sagte Bunny zu Krisuk: »Hier spricht Sarok also mit dem Planeten.«

»Nein. Hier teilt er uns mit, was der Planet sagt.«

»Aber er gibt niemandem sonst die Gelegenheit, mit Petaybee zu sprechen?«

»O nein«, erwiderte Krisuk verbittert. »Das würde er nicht zulassen.«

»Das begreife ich nicht. Wenn ihr doch euer ganzes Leben Verbindung zu Petaybee hattet, wie konnte dieser Bursche dann plötzlich auftauchen und euch zum Verstummen bringen?« fragte Diego. »Schön, vielleicht kann er die Leute ja bluffen. Schließlich kommen die nicht besonders viel herum, während er ein ziemlich gerissener Redner ist. Das könnte ich noch verstehen. Aber wie bringt er den Planeten selbst zum Verstummen?«

Bunny hörte die letzten Worte kaum. Als sie in die hallende Dunkelheit hineinschritt, überfiel sie plötzlich die Atemnot, als würde irgend etwas in ihrem Innern, etwas, das zuvor ununterbrochen dagewesen war, mit einem Mal von ihr abgetrennt werden und verkümmern. Die plötzliche, grauenhafte Einsamkeit des Verlusts dieser Gegenwart war schier überwältigend. Sie wich zurück, taumelte Diegos Stimme entgegen.

Er redete immer noch, als sie gegen ihn prallte und seine Jacke packte. »Bunny? Bunny! Was ist los?«

»Tot«, sagte sie. »Er ist… tot. Raus… müssen… raus!«

Bestürzt halfen die Jungen ihr aus der Höhle. Draußen auf dem Weg setzte Bunny sich zu Boden und japste nach Luft. Nach einem Dutzend tiefer Züge im kalten Wind blickte sie zu Krisuk auf.

»Wie ertragt ihr das nur, dort hineinzugehen?« wollte sie wissen.

»Wieso? Was ist denn los?«

»Er ist tot, das ist los! Irgendwie hat dieser Schweinehund einen Teil des Planeten abgetötet.«

»Wie soll er das denn getan haben?« fragte Diego.

»Ich weiß es nicht.«

»Mir gefällt dieser Ort nicht besonders«, versetzte Krisuk, »und auch die anderen fühlen sich hier drin jedesmal unwohl. Ich habe die Lieder gehört, die von der großen Freude künden, mit Petaybee zu singen, und ich kann mich noch daran erinnern, wie gern ich früher hierhergekommen bin. Ich begreife das einfach nicht! Ich dachte immer, es läge an Satoks einnehmendem Wesen.«

Bunny schüttelte den Kopf. »Es steckt noch mehr dahinter. Ich bin überrascht, daß du es nicht auch gespürt hast. Was ist mit dir, Diego?«

»Vielleicht«, meinte er mit nachdenklichem Stirnrunzeln. »Als ich noch ein Kind war, hat ein Schiff mal ein Wrack zu unserer Raumstation zurückgeschleppt. Sie haben es im Laderaum verstaut.

Ich wollte unbedingt sehen, wie es aussieht, und bin hineingeschlüpft.

Ich konnte gar nicht wieder so schnell hinaus, wie ich reingekommen war. War es das, was du empfunden hast?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Nachdem Bunny dem erstickenden Gefühl in der Höhle entkommen war, fühlte sie sich zu ausgelaugt, um es richtig zu beschreiben. Der Wind und der Eisregen hatten plötzlich etwas merkwürdig Tröstliches.

»Ich gehe wieder rein«, entschied Diego plötzlich. »Krisuk, du solltest vielleicht bei Bunny bleiben.«

»Nein«, widersprach der Junge. »Ich komme mit. Es ist uns verboten, ohne Satoks ausdrückliche Genehmigung hineinzugehen.

Manche, die ihm nicht gehorcht haben, sind plötzlich für alle Zeiten verschwunden. Aber sollte es dort drinnen irgendeine Art von Beweis dafür geben, daß Satok nicht der ist, für den er sich ausgibt, hat mein Wort sicherlich mehr Gewicht als das eines Außenstehenden. Ich glaube nicht, daß meine Eltern diesem Drecksack auch noch ein zweites Kind so kampflos überlassen, wie sie es mit Luka getan haben.«

»Meinst du, du kommst klar, Bunny?«

Dinah suchte sich genau diesen Augenblick aus, um mit der feuchten Nase gegen Bunnys Ohr zu stupsen und es abzulecken.

»Ja«, antwortete Bunny schleppend. »Vielleicht könnte auch ich sogar wieder hinein, jetzt, wo das Gefühl mich nicht mehr so überraschen kann.«

»Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee wäre«, meinte Diego und musterte dabei Bunnys bleiches Gesicht und die von Entsetzen und Trauer geweiteten Augen. »Außerdem sollte einer von uns hier Wache halten. Allerdings wünschte ich mir, daß wir eine Lampe dabei hätten.«

»Oh, Lampen gibt es dort drin schon«, antwortete Krisuk. »Komm, ich zeig’ es dir.«

Bunny hörte, wie ihre Stimmen immer leiser wurden, je tiefer sie in die Höhle eindrangen. Ihre Finger legten Dinahs Fell in Falten und streichelten ihr die weichen, spitzen Ohren. Dinah winselte und legte den Kopf in Bunnys Schoß. Bunny war selbst nach Winseln zumute.

Die kleine Lampe ließ die Schatten der Jungen groteske Knochentänze an den glatten Wänden des Höhlenraums vollführen. Es war ein großer Raum, doch etwa vierzig Fuß vom Eingang entfernt endete er plötzlich. »War der schon immer so klein?« wollte Diego wissen.

»Nein. Es gab einen Unfall. Das war… ja, zwei Tage, bevor Satok kam. Es war das erste Latchkay, seit der alte McConachie gestorben war. Die Leute begaben sich hier hinein, wie wir es schon immer getan haben, als es plötzlich knallte, wie von einer Explosion. Dann flogen uns Steintrümmer und Staub um die Ohren. Wir sind gerannt, was das Zeug hielt. Aber die ersten von uns, McConachies Familie und sein Lehrling, kamen um. Ich erinnere mich noch, wie mein Pa und die anderen Männer nach den Leichen gruben. Damals war ich noch ein kleines Kind. Ich verstand einfach nicht, wo mein Freund Inny McConachie hingegangen war. Das war der Enkel des alten Mac, ein guter Kumpel von mir.«

»Das ist hart«, antwortete Diego, während er sich die Wände entlangtastete. »Ich habe auch jemanden verloren. Es ist noch nicht allzu lange her.«

»Die Frau in dem Lied?«

»Ja. Warte mal. Was ist das?«

»Was denn?«

Diegos Finger schlüpften in eine Mulde, und ein Paneel glitt auf; als er die Hände ausstreckte, griff er ins Leere.

»Wie lange haben sie denn gebraucht, um den Höhleneinsturz zu beseitigen?«

»Man hat nichts unternommen. Das wollte niemand. Als Satok kam, heuchelte er großes Mitgefühl und ging hinein, um nach den Leichen zu suchen. Er holte ein paar Kleiderfetzen heraus und bestand darauf, daß wir alle noch einmal in die Höhle kommen, um eine ordentliche Gedenkfeier abzuhalten. Ich weiß auch nicht, warum die Leute das mitgemacht haben. Wahrscheinlich standen sie alle noch unter Schock. Es muß so ziemlich das Schlimmste gewesen sein, das hier je vorgefallen ist.«

»Nicht ganz«, murmelte Diego halblaut. »Bring mal die Lampe her.«

Krisuk tat, wie geheißen. Die Dämpfe der Stutenmilchlampe stanken zwar, doch angesichts der Sterilität der Höhle war ihnen das beinahe angenehm. Als Krisuk die kleine Lampe hob, offenbarte der Lichtschein einen sauberen Steinboden und ebenso saubere Steinwände.

»Mag sein, daß hier ein Höhleneinbruch gewesen ist«, bemerkte Diego mit einem Schnauben, »aber irgend jemand hat sich mächtig angestrengt, um alles wieder aufzuräumen.«

»Das kann doch gar nicht sein!« versetzte Krisuk. »Die Höhle ist schon vor Jahren eingestürzt und seitdem versperrt. Hier kommt nie jemand herein, außer mit Satok zusammen. Im Grunde fürchten sich alle vor diesem Ort.«

»Jammerschade«, murmelte Diego, und der Gedanke kam ihm wie eine verirrte Gedichtzeile. »Es sollte eigentlich andersherum sein.«

»Was?«

»Sieht so aus, als hätte wohl eher der Ort einen Grund, sich vor den Leuten zu fürchten…«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

»Keine Ahnung. Ist mir nur so eingefallen.«

»Hör mal, meine Leute mögen ja vielleicht den Fehler begehen, einem Drecksack zu folgen, aber ich mag es trotzdem nicht, wenn ein Außenstehender sie beleidigt.«

»Schon gut, schon gut. Hab mir doch gar nichts dabei gedacht.

Komm schon, schauen wir uns den Rest auch noch an.«

»Ist da etwa noch mehr?« Krisuk hielt die Lampe hoch über den Kopf, trat durch die neu entdeckte Öffnung und stieß einen leisen Pfiff aus. »Und ob!«

Selbst im matten Licht der Lampe konnten sie erkennen, daß jemand einen ziemlich geräumigen Tunnel durch den Einsturzschutt geschlagen hatte. Der Boden bestand zwar noch immer hauptsächlich aus Gestein mit einer Staubschicht, doch Wände und Decken wiesen ein merkwürdiges weißes Schimmern auf. Krisuk fuhr mit den Fingern darüber und schnüffelte daran. »Riecht nach nichts.«

Diego beugte sich vor und fuhr mit den Fingernägeln über die Wand: Sie hinterließen nicht einmal die Spur eines Kratzers. »Nein, wohl kaum. Das Zeug ist mit Petraseal versiegelt.«

»Was ist denn das?«

»Das verwendet man heute in Minen, um Einstürze zu verhindern.

Mit diesem Zeug werden die Gesteinsoberflächen miteinander verbunden. Es ist sehr stark. Läßt nichts durch. Ich frage mich, wo Satok es in solchen Mengen auf getrieben hat.«

»Du glaubst, daß Satok es getan hat?«

»Wer sonst?«

Der Junge stieß ein zittriges Stöhnen hervor. »Nein, nein. Ich kann nicht glauben, daß er es war.«

»Was?« fragte Diego und blickte in dieselbe Richtung, in die Krisuk plötzlich wie gebannt starrte. Da sah er die Umrisse von Totenschädeln, großen wie kleinen, und Gebein aller Größen und Längen, mit dem Gestein vereint wie Fossilien.

»Mistkerl! Er hätte sie wenigstens rausholen können, damit sie ein anständiges Begräbnis bekommen!« sagte Krisuk.

»Sieht mir sehr danach aus, als ob sie von den Felsen halb zertrümmert wären«, wandte Diego ein. »Vielleicht konnte er sie gar nicht herausholen, ohne einen zweiten Einsturz zu riskieren. Da hat er sie eben einfach versiegelt.«

»Ohne ein einziges, ordentliches Lied?«

»Du hast doch selbst gesagt, daß ihr eine Gedenkfeier in der Höhle abgehalten habt.«

»Schon, aber…«

»Hör mal, ich versuche doch gar nicht, den Burschen zu verteidigen. Aber diese Versiegelung wurde erst vorgenommen, als von ihnen längst nur noch Skelette übrig waren. Ich vermute, daß Satok eine ganze Weile gebraucht hat, um das hier auszugraben und zu versiegeln. Muß ja wohl. Komm, schauen wir mal, wie weit es noch geht.«

»Ich war damals noch ein Knirps, mußt du wissen«, sagte Krisuk und würgte verkrampft, »aber ich glaube, die Höhle war wirklich ziemlich lang. Der Boden war abschüssig, denn auf dem Rückweg war es sehr anstrengend. Meine Mutter mußte mich immer tragen. Ich erinnere mich auch noch, daß die Höhle ein Stück weiter vorn kleine Zähne hatte.« Krisuk deutete in die vor ihnen liegende Dunkelheit, über den Schein der Lampe hinaus.

»Meinst du Stalaktiten und Stalagmiten?« fragte Diego. »Spitze Dinger, die entweder von der Decke herabhängen oder aus dem Boden hervorragen wie Ameisenhügel?«

»Ja. Ich habe zwar noch nie Ameisenhügel gesehen, die so aussehen, aber du hast mich schon verstanden.«

Sie gingen ein Stück weiter, wobei der Grieß zunächst schmirgelnde Geräusche am Boden erzeugte, bis sie schließlich an eine Stelle gelangten, von wo aus der Höhlenboden ebenfalls mit Petraseal versiegelt und mit Metallgittern ausgelegt war, so daß ihre Schritte scheppernd widerhallten. Eine Zeitlang verlief der Boden tatsächlich abschüssig, genau, wie Krisuk sich erinnert hatte. Dann aber zweigte ein anderer Gang aus frischem, schartigem Gestein davon ab, das selbst durch die Versiegelung noch scharfkantig wirkte, und zog sich in Windungen nach oben.

»Der war früher nicht da!« sagte Krisuk und betrat dabei den neuen Gang.

Diego folgte ihm ein paar Schritte, weit genug, um sich davon zu überzeugen, daß der Boden mit Petraseal bedeckt war und von der Decke die Wurzeln von Bäumen und Sträuchern herabhingen, für alle Zeiten zu todglänzenden Knochen konserviert.

Diego überkam ein Schauer. »Der führt wahrscheinlich zu Satoks Hütte, falls er wirklich über der Höhle wohnt, wie du gesagt hast.«

»Der soll das alles gemacht haben?« fragte Krisuk. »Wie denn?«

Diego zuckte die Schultern. »Mit dem richtigen Werkzeug ist es gar nicht so schwierig. Ich frage mich nur, woher er es hat. Komm. Ich wette, wenn wir weitergehen, bekommen wir heraus, warum er das alles getan hat.«

Das Warum bekamen sie zwar nicht heraus, stellten aber fest, was er hier tat, als sie den abschüssigen Pfad zu der unteren Höhle nahmen, an die Krisuk sich erinnerte.

Dort, ein Stück vom Eingang entfernt, war nicht mehr alles mit dem Gesteinbindemittel versiegelt. Doch an den Stellen, wo sich früher die Stalaktiten und Stalagmiten befunden hatten, waren nun runde Krater zu sehen, manchmal auch kleine Tunnel, wie die Löcher von Riesenschlangen, die sich tief in die Felswände bohrten.

Als sie sich schließlich von dem üppigen Mahl zurückziehen konnten, das Torkel Fiske zu ihren Ehren gegeben hatte, bat Marmion ihren Assistenten Faber, für den nächsten Morgen eine Transportmöglichkeit zu besorgen, um Kilcoole auch einmal von unten zu besichtigen.

»Und bitte Sally und Millard, Augen und Ohren aufzusperren, ja, lieber Faber?« fügte sie hinzu und genehmigte sich den Luxus eines Gähnens, das sie zur Abwechslung einmal nicht zu unterdrücken brauchte.

»Soll ich meinen Dienstgrad ausspielen, falls ich auf Hindernisse stoße?« fragte Faber. Er war Fliegeroberst, langfristig abgestellt, um bei Marmion Dienst zu tun.

»Hm, es wäre mir lieber, du würdest dir das für später aufheben, sofern es geht. Während des Geplauders bei Tisch hat Torkel irgendwann einmal erwähnt, daß wir uns sämtlicher Einrichtungen bedienen können, die wir für unsere Untersuchungen brauchen. Also werden wir das tun.«

Marmion war schon wieder zu einer Stunde auf den Beinen, die vielen ihrer Peers als obszön früh erschienen wäre. So war sie nicht dermaßen überrascht wie Whittaker Fiske, als der sie aus ihrem Apartment kommen sah.

»Aber Whit, wieso, um alles in der Welt, sind Sie schon um diese Zeit auf?«

Er gluckste. »Diese Frage dürfte mir ja wohl viel eher anstehen als Ihnen, Marmie.« Er verneigte sich anmutig und gab ihr einen Handkuß. »Gold im Mund?«

Sie lächelte, und das Eintreffen Fabers in der alten Klapperkiste mit dem Allradantrieb ersparte ihr die Notwendigkeit, auf das Offensichtliche zu antworten.

»Können wir Sie mitnehmen?« fragte Marmion.

»Kommt darauf an, wohin Sie fahren.«

»Nach Kilcoole. Aus der Luft haben wir gestern nicht allzu viel davon zu sehen bekommen, und mir scheint, es ist der beste Ort, um mit der Untersuchung anzufangen.«

Whit legte den Kopf schräg, und die Lachfalten kräuselten sich in den Winkeln seiner erheitert dreinblickenden Augen.

»Heute ist die Bude sturmfrei«, sagte er und half ihr auf das erste hohe Trittbrett, das zu dem Passagiersitz führte.

»Oh, Ihr Bein!« sagte Marmion und machte Anstalten, wieder zu ihm hinunterzusteigen.

»Um mich brauchen Sie sich nicht zu kümmern.« Er öffnete den hinteren Verschlag und schwang sich geschmeidig ins Fahrzeug.

»Was meinen Sie mit ›sturmfrei‹, Whit, mein Lieber?« fragte Marmion, während sie sich anschnallte und Faber das Fahrzeug in Bewegung setzte.

Es würde eine holprige Fahrt über den zerschundenen Plastbeton werden, doch dafür würden sie später noch eine Rutschpartie über die Schlammstraße nach Kilcoole vor sich haben.

»Tja, nun, Matt hat seine Jungs schon vor dem Frühstück aufgescheucht. Jetzt huschen sie überall herum und werten alle möglichen Aufzeichnungen und Berichte aus, damit er seinen

›Gesamtüberblick und die demographischen Daten‹ und ähnliches Zeug bekommt.« Whittaker schnaubte. »Da besteht keine Gefahr, daß Sie heute draußen in Kilcoole auf ihn stoßen könnten.«

Marmion lächelte zufrieden. Sie hatte gehofft, ihre eigenen Recherchen als erste durchführen zu können, ohne über diese fitten Typen stolpern zu müssen. Als das Fahrzeug über eine besonders holprige Stelle fuhr, packte sie den Haltegriff über ihrem Kopf. Sie spürte, wie Whittaker den Rücken ihres Sitzes fest ergriff.

»Um diese Jahreszeit sollte man eigentlich noch Schnokel benutzen können«, meinte Faber. »Das Tauwetter hat alle auf dem linken Fuß erwischt.«

»Ja. So sehr«, ergänzte Whit mit einem Glucksen, »daß bei der Wette niemand auch nur im entferntesten herangekommen ist.«

»Der Wette?« fragte Marmion, die den Griff immer noch fest umklammert hielt.

»Die Wette unter den Einheimischen, wann der Fluß aufbricht.

Dieses Jahr hat es so früh getaut, daß alle davon überrascht wurden.

Sehen Sie dort?« sagte er und zeigte zu dem Fluß zu ihrer Linken hinüber, wo Soldaten am Ufer standen und arbeiteten. »Die sind immer noch damit beschäftigt, abgesoffene Schnokel aus ihrem feuchten Grab zu bergen.«

Es schien Marmion, als hätten die Soldaten ihre Schwierigkeiten damit: Die Räder des Abschlepplasters drehten auf der schlammigen Uferbank durch und bekamen nicht genug Zug, um das Fahrzeug am Ende des Stahlseils aus dem schnell dahinströmenden Fluß zu ziehen.

»Faber«, sagte Whit und beugte sich vor, um über die Schulter des Fahrers zu den Wäldern hinüberzuzeigen, »sehen Sie die Schneise dort? Ich an Ihrer Stelle würde diese Strecke nehmen. Ist viel schneller. Normalerweise gehe ich zu Fuß.«

Marmion und Faber waren beide froh, daß sie seinen Rat befolgt hatten, denn auf dem schmalen Weg ließ es sich viel unbeschwerter fahren als im zerwühlten Matsch am Fluß.

»Ach, ist das schön hier«, meinte Marmion und sog den üppigen Duft von feuchtem Erdreich ein. »Die Bäume schlagen ja aus!« fügte sie erstaunt hinzu. »Praktisch über Nacht, wie es scheint.«

»Ich glaube nicht, daß Petaybee sich dieses Jahr an den Kalender hält«, meinte Whittaker, und es klang, als wäre er äußerst zufrieden mit sich. »Und Ihnen würde ich das gleiche raten, Marmie. Dann kommen Sie schneller ans Ziel.«

»Wo soll ich denn Ihrer Meinung nach anfangen, Whit?«

»Halten Sie sich an mich«, erwiderte er und lehnte sich zurück.

»Folgen Sie einfach diesem Weg, Faber. Wenn Sie das Dorf erreicht haben, halten Sie sich rechts.«

Trotz der Berge aus einstmals schneebedecktem Gerät wirkte Kilcoole verlassen. Marmion sprach Whittaker darauf an, wobei sie sich taktvollerweise eines Kommentars zum äußeren Erscheinungsbild des Dorfes enthielt.

»Ja, viele Leute nutzen das Tauwetter, um Verwandte zu besuchen und Gartenpflanzen auszutauschen.«

»Wie klug. Sind die damit auch frühzeitig dran?«

»Sie haben den Hinweis verstanden. Und lassen Sie sich von dem ganzen Zeug, das Sie da draußen sehen, nicht täuschen, Marmie. Hier wirft niemand etwas weg, was noch irgendeiner nützlichen Verwendung zuzuführen wäre.« Er deutete auf mehrere Jungen, die damit beschäftigt waren, Maschinenteile sorgfältig auf dem Nebenhof eines Hauses zusammenzutragen, wobei sie offensichtlich nach einem bestimmten Stück Ausschau hielten.

Im Vorbeifahren bekam Marmie ihre Kommentare mit: »Ich weiß, daß es hier war, noch vor dem ersten Schnee. Und ich weiß auch, es war hier an diesem Ende.«

»Na ja, mein Vater hast auch etwas gesucht. Vielleicht hat er den Haufen dabei auseinandergenommen.Du kennst ihn ja.«

»Dann versuch es eben darunter

Faber trat plötzlich auf die Bremse, als ein Dreigespann orangegestreifter Katzen unmittelbar vor ihnen auf die Straße sprang.

»Junge, Junge! Begehen die öfters auf diese Weise Selbstmord?«

»Meine Schuld«, erwiderte Whit verlegen. »Hätte Ihnen sagen sollen, daß Sie an dem Haus dort drüben links anhalten müssen. Dort arbeite ich nämlich, und dort sollten Sie auch anfangen.«

»Aber wenn Sie dort arbeiten, Whit, will ich nicht stören…«

»Ich arbeite im Freien, Marmie«, erwiderte Whittaker und öffnete die Tür des Fahrzeugs. Die Katzen schossen unter dem alten Allradantrieb hervor und stürzten sich auf ihn; zwei von ihnen stemmten die Vorderpfoten auf seine Knie, um sich streicheln zu lassen. Die dritte sprach mit ihm; dann machte sie kehrt und blieb abwartend stehen. »Sie sind eingeladen, einzutreten«, fügte er hinzu.

»Das ist gut, das können Sie mir glauben.«

»Ich hatte schon immer etwas für Einladungen übrig«, erwiderte Marmion und bedeutete Faber, ebenfalls auszusteigen. »Was für ein prächtiger Orangeton«, sagte sie, direkt an die Katze gewandt. Als das Tier sich umdrehte und die Rutenspitze lässig hoch über dem Rumpf schwanken ließ, folgte sie ihm. »Mirandabelle Turvey-West würde ihre Augenzähne für ein Haarfärbemittel in dieser Tönung hergeben!«

murmelte sie halblaut vor sich hin.

Die Katze schoß die schlammbedeckten Stufen hinauf. Marmion schlug Fabers dargebotene Hand aus und setzte die gestiefelten Füße vorsichtig auf die trockeneren Stellen. Die Tür ging auf, als sie die vordere Veranda erreichten, und eine der größten, beeindruckendsten Frauen, die Marmion je zu Gesicht bekommen hatte, erschien in der Öffnung – mit einem Teint, für den es sich zu sterben gelohnt hätte, und einem Lächeln, das bisher das allerschönste an Kilcoole gewesen war.

»Släinte, Whittaker, Frau Algemeine, Oberst Nike, großartiger Morgen für einen Ausflug, nicht? Ich bin Clodagh Senungatuk. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Kommen Sie herein. Ich habe frischen Kaffee gemacht und auch einiges an anständigem Gebäck aus dem Ofen geholt.«

Der herzliche Empfang freute Marmion, und sie streckte die Hand aus, die ihr kurz, aber freundlich geschüttelt und leicht mehlbestäubt zurückgegeben wurde. Dann wurde Faber derselben wohlwollenden Behandlung unterzogen.

»Die neuen Schindeln sind gleich bei Tagesanbruch eingetroffen, Whit«, sagte Clodagh, »aber du hast noch ein bißchen Zeit für einen kleinen Imbiß.«

»He, das klingt aber gut«, meinte Whit mit größerer Begeisterung, als Marmion sie jemals bei ihm beobachtet zu haben glaubte.

»Wahrscheinlich kann ich dann heute noch das Dach fertig machen.

Vielleicht fange ich schon mal an, Clodagh, und genehmige mir später einen Happen.«

Er nickte den beiden anderen zu; dann stapfte er zum Verandarand und hüpfte hinunter. Sie vernahmen ein kurzes, explosives Schnaufen.

»Sein Bein ist noch nicht wieder soweit, um damit rumzuhüpfen wie ein Jüngling«, meinte Clodagh kopfschüttelnd und scheuchte ihre verwunderten Gäste ins Haus.

Marmions erster Schock, als sie das Innere musterte, löste sich schnell im Wohlgeruch würzigen warmen Brots und der plötzlichen Erkenntnis auf, daß dieses kleine Zuhause – und ein richtiges Zuhause war es ganz zweifellos – tatsächlich hochgradig organisiert und erstaunlich ordentlich war, sofern man über das hinwegsah, was sich der flüchtigen Betrachtung vielleicht als ›Durcheinander‹ darstellen mochte. Allerdings gab es hier noch weitere Katzen, die eine nach der anderen vorbeigeschlendert kamen, um die Neuankömmlinge persönlich zu begutachten.

»Haben wir bestanden?« fragte Marmion, als Clodagh sie mit einer Geste zum Schaukelstuhl wies und Faber bedeutete, auf einer stabilen Bank Platz zu nehmen.

Clodagh schob die Antwort vor sich her, bis sie ihren Gästen Kaffee und frisch gebackene heiße Zimtbrötchen serviert hatte, dazu einen Krug Milch und eine riesige Schale mit Süßmittel. Sie schenkte ihren eigenen Becher wieder voll; dann nahm sie gegenüber von Marmion Platz, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, und lächelte gelassen.

»Ich habe schon immer viele Katzen um mich gehabt«, fing sie an.

»Und alle orangefarben?« fragte Marmion. »Oder ist das eine einzigartige petaybeeanische Rasse?«

»Das kann man wohl behaupten.«

»Hmm, diese Brötchen sind aber köstlich«, sagte Marmion und wechselte geschmeidig das Thema. »Und zum Glück können Sie auch richtigen Kaffee kochen. Nicht wahr, Faber?«

»Ja, in der Tat, Frau Senungatuk«, sagte Faber und lächelte auf jene unerwartet charmante Art, wie sie schon viel weltlicher gesinnte Gemüter als Clodagh für sich eingenommen hatte. Clodagh grinste und zwinkerte ihm zu, weil er ihren Nachnamen so präzise ausgesprochen hatte. Das war ein weiterer Zug, den Marmion an Faber Nike bewunderte. »Bekommen Sie denn regelmäßig Vorräte geliefert?«

Clodagh grunzte. »Diesen hier hat Whit besorgt. Er sagt, es wäre eine gottverdammte Schande, was man am Raumhafen mit den wehrlosen Kaffeebohnen anstellt.« Mit einem Nicken wies sie in eine Ecke ihrer überfüllten Arbeitsstelle. »Ich mahle sie selbst, wenn ich welche brauche, und bis dahin friere ich sie ein.«

»Ist das im Augenblick nicht ein wenig schwierig?« erkundigte sich Marmion dezent.

»Nö. Nicht mal das Tauwetter kann dem Permafrost-Stauraum etwas antun.«

»Ah, ja!« machte Marmion. »Ich habe natürlich davon gelesen, daß die Permafrost-Schicht so hart ist wie gefrorenes Gestein. Aber bis jetzt war ich noch nicht darauf gekommen, wie praktisch das auch sein kann.«

»Na ja, meistens benutzen wir sie im Sommer«, meinte Clodagh.

»Dann ist guter Kaffee für Sie also eine ebensolche Rarität und Delikatesse wie für uns«, sagte Marmion und nahm dankbar einen weiteren Schluck. Die Milch im Krug war ebenfalls frisch gewesen; obenauf trieb die Sahne. Die unterschiedlich geformten Klumpen wiesen darauf hin, daß auch das Süßmittel hausgemacht war.

»So ist es«, bestätigte Clodagh.

Marmion merkte, wie etwas gegen ihre Wade preßte und senkte eine Hand, um auf einen pelzigen Kopf zu treffen, den sie gehorsam kraulte.

»Ihre Katzen können in den extremen Temperaturen von Petaybee überleben?«

»Sind dafür gezüchtet. Natürlich waren sie auch vorher schon schlau. Außerdem nutzen sie ihren Instinkt.«

»Wie die meisten hier auf Petaybee, würde ich sagen«, bemerkte Marmion und peilte damit den eigentlichen Zweck ihres Besuchs an.

Clodagh verschränkte die Arme und sagte mit Nachdruck: »Wir haben gelernt, hier zu leben. Ich möchte nirgendwo anders sein.«

Eine der klügsten, scharfsinnigsten Frauen, der sie je begegnet war, entschied Marmion anerkennend.

»Ich möchte Sie auch nirgendwo anders sehen müssen als hier in Ihrem Zuhause, wo Sie jenen, die das Glück haben, hierherzufinden, Ihre hervorragende Gastlichkeit angedeihen lassen, Frau Senungatuk«, fuhr Marmion fort. »Es ist ja so selten geworden, daß man auf Menschen stößt, die zufrieden damit sind, was sie sind und wo sie leben.«

Clodagh musterte sie einen Augenblick, betrachtete Marmions praktische, aber elegante Kleidung und studierte ihr ausdrucksstarkes Gesicht.

»Wenn man nicht weiß, wer man ist oder wo man hingehört, kann das eine Menge Probleme geben. Dieser Planet ist kein Ort, an dem es sich leicht lebt. Aber wir sind nichts anderes gewöhnt und kommen gut zurecht.«

Unausgesprochen, aber deutlich vernehmbar blieben die Worte: solange man uns in Ruhe so leben läßt, wie wir es möchten.

»Hätten Sie vielleicht noch eine halbe Tasse Kaffee für mich, Frau Senungatuk?« fragte Marmion, die Finger um ihre Tasse geschlungen, damit es nicht so aussah, als würde sie diese Sonderportion geradezu erwarten.

Clodaghs Miene verlor ihre Angespanntheit, und die Züge weichten zu einem Lächeln auf. »Bitte nennen Sie mich Clodagh. Daran bin ich mehr gewöhnt.«

»Meine Freunde nennen mich Marmion. Selbst Marmie ist erlaubt.«

Und die außerordentlich reiche, außerordentlich kluge Dame Algemeine streckte ihre Tasse vor, so unprätentiös wie jede andere Bittstellerin auch.

»Sie auch, Faber Nike?« fragte Clodagh, nachdem sie Marmion etwas mehr als die Hälfte ihrer Tasse vollgeschenkt hatte.

»Hätte nichts dagegen… Clodagh.«

Clodagh goß auch ihm noch etwas Kaffee ein; dann reichte sie wieder die Brötchen herum.

»Ich hatte gehofft, noch mehr Leute in Kilcoole kennenzulernen, Clodagh«, fuhr Marmion in etwas forscherem Tonfall fort. »Ich bin hier, wie Whit Ihnen wahrscheinlich schon mitgeteilt haben dürfte, um die ungewöhnlichen Ereignisse zu untersuchen, für die man dem Planeten augenscheinlich die Schuld gibt.«

»Den Planeten trifft keine Schuld, Marmion«, erwiderte Clodagh mit einem Grinsen und einer abwinkenden Handbewegung. »Der Planet tut nur, was erforderlich ist – den Leuten zeigen, was er haben will und was man ihm nicht antun soll. Sie hätte es ja auch nicht gern, wenn man einen Haufen Löcher in Ihren Vorderhof gräbt oder Stücke aus Ihrem Garten heraussprengt. Whittaker hat das klar und deutlich begriffen, nur sein Sohn nicht. Und einige andere auch nicht – aber die, die es verstanden haben, haben dafür sehr gründlich verstanden.«

»Und Sie wissen, daß der Planet das aus eigener Erkenntnis heraus getan hat?« fragte Faber mit sanfter Stimme, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er verhindern wollte, daß die Leute ihm vor Schreck mit Falschinformationen kamen.

»Wenn Sie damit meinen sollten, ob der Planet es getan hat, ohne daß wir nachgeholfen haben – ja. Nicht, daß überhaupt irgend jemand einem Planeten helfen könnte, wenn er sich zu etwas entschieden hat und voll und ganz dazu in der Lage ist, das auch bekanntzugeben.«

»Das Problem, vor dem wir gerade stehen«, fuhr Faber fort, »ist der Nachweis, daß tatsächlich der Planet die Ursache dieser ungewöhnlichen Vorfälle ist.«

Clodagh blickte ihn kurz verständnislos an. »Was sonst sollte denn wohl so erstaunliche Dinge bewirken? Wissen Sie, wie lange es dauert, einen Eimer voll Eis über einem Feuer abzutauen? Glauben Sie etwa, wir«, ihre ungewöhnlich anmutige Hand umkreiste ein Stück des Tisches, das für Kilcoole stehen sollte, »könnten dieses frühe Tauwetter verursacht haben? Oder einen Vulkan ausbrechen lassen?

Oder das Land so beuteln, wie ich es mit den Krumen von diesem Tisch tun könnte?« Es war kein Diskussionston – es klang vielmehr so, als wäre sie überrascht von einer solchen Begriffsstutzigkeit bei einem offenbar recht intelligenten Mann. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, der Planet hat ganz allein entschieden, daß schon viel zu viele Löcher gegraben wurden und Sprengungen stattgefunden haben und so weiter, und er will, daß das endlich aufhört.«

»Dann ist der Planet also Ihrer Meinung nach intelligent und empfindungsfähig?« fragte Marmion.

»Der Planet ist er selbst. Er ist lebendig und«, erwiderte Clodagh und wandte sich mit spöttischem Funkeln in den Augen an Faber,

»sich völlig seiner eigenen Handlungen bewußt.«

Marmion stützte den Kopf auf ihren Arm und drehte mit der freien Hand die Kaffeetasse immer wieder am Henkel im Kreis, während sie diese Mitteilung verdaute. Tatsächlich machte sie sich inzwischen größere Sorgen um Clodagh als um den Planeten. Die Frau glaubte wirklich daran – Marmion war auf dem besten Weg, es selbst zu tun –, und Matthew Luzon würde Hackfleisch aus ihr machen.

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Intelligenz des Planeten zu beweisen? Ohne jeden wissenschaftlichen Zweifel?«

»Vorzeitiger Frühling, Vulkanausbrüche und Erdbeben sind wohl nicht Beweis genug?« fragte Clodagh.

»Ich bin nicht die einzige, die die ungewöhnlicher. Ereignisse auf Petaybee untersucht, Clodagh«, erwiderte Marmion schleppend. »Gibt es irgendwo jemanden, den Sie besuchen könnten, an einem möglichst unzugänglichen Ort? Vielleicht für eine Woche oder so?«

»Wozu?« Clodagh starrte Marmion an, als hätte sie den Verstand verloren. Dann erhob sie sich empört halb vom Stuhl. »Warum sollte ich gehen? Ausgerechnet jetzt, da Kilcoole mich mehr braucht denn je?« Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken, die Kieferlade angespannt. Besitzergreifend und schützend spreizte sie die Finger auf der Tischplatte. »Nein, gnädige Frau. Ich bleibe! Ich bleibe hier! Aus meinem Zuhause bringt mich niemand weg!«

»Ich nehme an, das dürfte ziemlich schwierig werden, Clodagh, aber ich fürchte, ganz unmöglich ist es nicht.« Marmion beugte sich über den Tisch zu der Heilerin hinüber. »Wenn ich irgendwie… den Planeten… selbst erfahren könnte…«

»So wie Whit und die anderen in der Höhle?« fragte Clodagh und beruhigte sich ein wenig, verschränkte die Arme aber resolut vor ihrem beachtlichen Busen.

»Ja, irgend etwas Subjektives, damit ich mich so nachhaltig auf Ihre Seite schlagen kann wie nur möglich.«

»Aha!« sagte Clodagh. »Damit Sie uns gegen diesen Wieheißternochgleich, der, den Yana den Lämmergeier nennt, helfen können.«

»Sein Name ist Matthew Luzon, Clodagh«, sagte Whittaker Fiske mit einem leicht vorwurfsvollen Grinsen, als er in der Tür erschien. Er blieb kurz stehen, um sich die Matschklumpen von den Stiefeln und den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor er fortfuhr: »Rieche ich da etwa Zimtbrötchen? Tatsächlich!« Er angelte sich eine Tasse von vielen, die unter dem Wandschrank hingen, setzte sich an den Tisch und stellte den Stuhl schräg, um Faber nicht den Rücken zuwenden zu müssen. Dann goß er sich Kaffee ein und nahm zwei große Bissen von dem Zimtbrötchen, das Clodagh ihm auf einem Teller reichte. »Wir haben Glück, daß Sie sich zum Kommen entschieden haben, Marmie.

Sie haben zwar mehr Verstand in einer Haarspitze als Luzon in seinem ganzen Eierkopf, aber…« Und Whit unterstrich das Gesagte, indem er mit der Faust kurz auf den Tisch hieb.

Marmion bemerkte, wie die Krumen auf der Tischplatte hüpften.

Wie konnte ein Planet so etwas nur in größerem Maßstab bewerkstelligen? Durch tektonische Plattenverschiebung? Aber solche Verschiebungen waren doch minimal und geschahen nur unter ganz bestimmten Bedingungen… Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Whit.

»Aber… der, mit dem wir uns abplagen mußten, ist Matthew Luzon, und Sie wissen ja, was für eine Type das ist. Der hat sich noch nie in seinen vorgefaßten Meinungen von der Wahrheit beeindrucken lassen, selbst wenn man ihn mit der Nase darauf gestoßen hat. Wenn Sie nicht gekommen wären, Marmie, dann hätte ich… nein, bei Gott, Petaybee hätte ich nicht verlassen!« Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch.

»Aber falls wir, Whit, wir – Faber und ich, dazu Sally und Millard –

uns überzeugen ließen, wären wir eine vereinte Streitmacht, die auf Ihrer Seite stünde.«

Whit atmete tief durch. Offensichtlich ging er das Für und Wider der Angelegenheit durch. »Die würden behaupten, daß Sie ausgeflippt sind, Marmie.«

»Ha! Dazu kenne ich viel zu viele PIHPs – das bedeutet Personen in hohen Positionen, Clodagh –, als daß selbst Matthew es schaffen würde… Aber tatsächlich ist er es, der überzeugt werden muß.«

»Diesen Mann zu überzeugen, bedarf erheblicher Mühe, Zeit und möglicherweise sogar eines Wunders, obwohl das, was hier geschehen ist, schon an eins grenzt, und das hat ihn offensichtlich auch nicht sonderlich beeindruckt.« Whit hielt inne, ließ die Schultern in kurzfristiger Niedergeschlagenheit sinken. Als er Clodaghs Blick auf sich ruhen sah, richtete er sich wieder auf und legte eine entschlossenere Miene an den Tag. »Wir müssen ihn austricksen!«

»Oder«, warf Faber ein, an Clodagh gewandt, »es den Planeten tun lassen?«

Sie zupfte an ihrer Unterlippe. »Was der Mensch nicht hören will, hört er auch nicht. Dein Sohn ist genauso, Whit – so leid es mir tut, dir dies ins Gesicht sagen zu müssen.«

»Mir tut es auch leid, Clodagh. Aber um deinet-, nicht um meinetwillen.«

»Matthew hat noch nicht mit seinen Untersuchungen begonnen«, warf Marmion ein, brach noch ein paar Stücke von einem weiteren Zimtbrötchen ab und kaute darauf, um sich besser konzentrieren zu können, »also haben wir noch etwas Zeit. Er liebt es, jede Menge Schreibkram zur Hand zu haben, der seine Behauptungen stützt, bevor er sie überhaupt aufgestellt hat. Er hat einen Haufen flotter junger Burschen dabei, die alle im Raumhafen herumlaufen. Ich frage mich…« Sie wandte sich an Faber. »Ich frage mich, ob man vielleicht bei denen ansetzen sollte. Und zwar so bald wie möglich. Braddock Makem heben wir uns bis zum Schluß auf. Zuerst dachte ich zwar, ich könnte ihn für uns gewinnen, aber seitdem ist mir aufgefallen, daß er Matthews Managementmethode anscheinend ziemlich genießt, anstatt sie zu verabscheuen, wie man es eigentlich hätte erwarten sollen. Statt dessen scheint er unter allen Gefolgsleuten Matthews am stärksten mit ihm übereinzustimmen, und er ist auch am wenigsten aufgeschlossen.

Wenn wir uns zuerst um die anderen kümmern, wird das Matthew früher oder später in den Kriechgang zwingen.« Sie ließ ein Lächeln in die Runde schweifen, als sie sich das letzte Brötchenstück in den Mund schob und es fröhlich verputzte. »Schön, dann fangen wir mal an. Clodagh?«

8. KAPITEL

Dinah bemerkte das Geräusch noch vor Bunny: Schritte, die von oben den Hügel herunterkamen. Die Hündin streckte sich vor, lauschte, stieß ihr leise kläffendes Winseln aus, das immer ihrem kehligen Gebell vorausging.

Bunny, die von ihrem Erlebnis in der Höhle noch immer völlig benommen war, packte ein Stück Gebüsch und zog sich daran hoch, bis sie auf den Beinen stand. Sie hörte, wie Dinah den Weg hinaufkroch. Unter ihren Pfoten glitt vereistes Bruchgestein in die Tiefe.

»Was ist los, Mädchen?« fragte Bunny und wandte sich dem Geräusch der Hündin zu. Fast im selben Augenblick jaulte Dinah kurz auf und verstummte.

»Dinah?« flüsterte Bunny in die dichten Schatten hinein und griff nach der beruhigenden Wärme des dichten Hundefells. »Dinah?«

Plötzlich wurde ihre ausgestreckte Hand in die Zwinge genommen, und Satok trat aus den Schatten hervor.

»Släinte, hübsche Shongili-Schnokelfahrerin. Wie nett von dir, hierherzukommen, um dich mit mir zu treffen. Wo ist denn dein Freund?«

»Was hast du mit Dinah gemacht?« schnauzte sie ihn an. »Laß meine Hand los.«

Statt dessen ergriff er auch noch die andere. »Die Hündin? Ich habe ihr den gottverdammten Schädel eingeschlagen. Sie hätte eigentlich klug genug sein müssen, den Shanachie nicht zu verbellen. Die anderen Hunde haben es auch gelernt. Mach nur. Schrei ruhig. Ich warte bloß darauf, daß dein Freund zu deiner Rettung herbeieilt. Dann kann ich ihn dort hinschicken, wo auch seine Hündin gelandet ist.«

Bunny schrie tatsächlich. Sie trat aus und brüllte. Doch während sie das tat, schleppte er sie den Weg zu seinem Haus hinauf, wobei im dunklen Dorf unter ihnen keine Lampe aufflammte, keine Gesichter aus den Fenstern oder Türen spähten, um nachzusehen, was hier wohl los sein mochte. Weder bei den Connellys noch sonstwo.

Während er sie verschleppte, streifte Bunnys Hand immer noch warmes Fell. Es war klebrig; es konnte nur vom Blut der treuen Hündin stammen.

Aber die Jungen mußten sie doch gehört haben. Sie mußten einfach!

Einmal glaubte Bunny, das Schimmern kupferner Augen hinter den Felsen zu erblicken, die sie umgaben, doch davon abgesehen gab es keinen Zeugen ihrer Entführung.

Als sie sich ein gutes Stück oberhalb des Dorfs und des Höhleneingangs befanden und noch immer keine Hilfe erschienen war, beschloß Bunny, ihre Kräfte für später aufzusparen, und so leistete sie nur symbolischen Widerstand,: als der Mann sie zu seinem Haus brachte.

Zahlreiche Vorgebäude warfen ihre Schatten über die felsige Bergweide, wo das massive Steinhaus stand. Es war das prachtvollste Haus, das Bunny je gesehen hatte; nicht das winzigste Stück Schrottabfall war für den Bau verwendet worden. Dicke Steinmauern, ein Dach aus einem widerstandsfähigen Material, das Bunny von ihren Fahrten zum Raumhafen her kannte, weil es auch die derartigen Baracken bedeckte, und echte Fenster aus dickem Plastglas, schwer verhangen.

In einem Korral, der mit einem hohen Zaun eingefaßt war, standen zahlreiche Lockenfelle, darunter auch Diegos Cisco und Bunnys Darby. Draußen im Freien war, nur ein kleines Stück vom Haus entfernt, ein Hundegespann angebunden; die Tiere feuchten und knurrten und hatten trotz ihres roten Fells ungefähr soviel Ähnlichkeit mit den sanften, intelligenten Fuchshunden von Kilcoole wie mit einem Karibu. Bunny konnte selbst im eisigen Wind noch den Gestank ihres Kots riechen.

Satok mißdeutete das Nachlassen ihres Widerstands und den forschenden Blick, mit dem sie sein Anwesen begutachtete.

»Aha, du bist also beeindruckt, wie? Schön, Mädchen. All dieser behagliche Luxus steht dir zur Verfügung, wenn du nur nett bist und tust, was man dir sagt. Und jetzt komm rein, die Nacht ist noch jung.«

Sie versuchte sich wieder zu wehren, aber er war sehr viel stärker als sie und in der überlegeneren Position. Sie wußte zwar, daß ihre Fluchtchancen erheblich größer sein würden, wenn er sie erst einmal ins Haus geschafft hatte – allerdings auch die Gefahr, die ihr von ihm drohte –; aber sie dachte auch daran, daß das Geheimnis des Banns, den er auf diese Leute ausübte, die es nicht einmal wagten, einem schreienden Mädchen zu Hilfe zu eilen, möglicherweise im Innern dieses stolzen Hauses zu finden war.

Bunny staunte über sich selbst, darüber, wie kühl und berechnend sie doch war. Ihre Wut über das, was er Dinah angetan hatte, diesem Planeten und diesen Menschen, hatte sich in eine kalte Gelassenheit verwandelt, so kalt wie die tiefe Einsamkeit, die sie in der Höhle empfunden hatte. Hier war sie sogar noch einsamer, mit einem Mann, der verrückt sein mußte, auch nur den Versuch zu unternehmen, dem Planeten dies anzutun. Bunny wußte, daß sie bei klarem Verstand bleiben mußte, wenn sie in Erfahrung bringen wollte, was es zu ermitteln galt, und wenn sie verhindern wollte, daß er Diego und Krisuk ebenso skrupellos umbrachte, wie er Dinah ermordet hatte.

Er zerrte sie hinein. Sie streckte die Waffen nicht völlig, denn das könnte ihn mißtrauisch machen, und außerdem, hatte sie ohnehin ihre liebe Mühe damit, die Panik zu unterdrücken, die sie schon bei dem bloßen Gedanken daran überfiel, jetzt allein mit ihm in seinem Haus zu sein.

Es ist kaum verwunderlich, daß er sich hier eine Frau wünscht, war Bunnys erster Gedanke. Es war ein einziges Durcheinander. Der zweite Gedanke ging dahin, daß es ein interessantes Durcheinander war. Sie hatte gar nicht gewußt, daß es auf Petaybee außerhalb des Raumhafens (und möglicherweise Seans Labor) soviel technisches Gerät geben konnte.

Zwei Computer und eine riesige Sammlung von Handwerkzeugen, Waagen und Gesteinsproben lagen zwischen Knochen, zwei kleinen Schädeln, Federn und vertrockneten Tierteilen. Sie bemerkte, daß eine große Anzahl von Gegenständen darunter war, die eine gute Waffe abgegeben hätten.

Die Werkzeuge lagen über mehrere improvisierte Tische verteilt, doch einen richtigen Eßtisch gab es nicht, ebensowenig Stühle, wohl aber eine Kochgelegenheit – fettverschmiert und übersät mit schmutzigem Küchengerät – sowie eine große Matratze auf dem Boden.

Als sie eingetreten waren, ließ Satok sie fahren, und Bunny wich vor dieser Matratze zurück, so weit sie konnte, obwohl sie genügend Auseinandersetzungen mit ihren pubertierenden Vettern gehabt hatte, um zu wissen, daß es nicht unbedingt einer Matratze bedurfte, um bis zum Hals in Hundescheiße zu treten.

Bevor er irgend etwas sagen konnte, hatte sie bereits beschlossen, sich genauso besonnen zu verhalten, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie mit ihrem Schnokel irgendwo steckenblieb oder sie mit ihren Hunden von einem Elch angegriffen wurden. Sie würde ihn erst provozieren, wenn es erforderlich war. Ja, wenn er sie für ein Dummchen halten sollte, nur weil sie ein Mädchen war, war sie sogar bereit, ihn für eine Weile in diesem Glauben zu belassen.

»Junge!« sagte mit einem nervösen Kichern, von dem sie hoffte, daß es nicht allzu gequält klang. »Was für ein Schuppen!«

»Was ist los, kleine Dame Shongili? Nicht gut genug für dich?«

höhnte er und stellte seinen Stock neben der Tür ab, um ein paar Kleiderschichten abzuwerfen.

»Nein, es ist großartig«, erwiderte sie und ignorierte die Tatsache, daß er sie nicht bei ihrem eigenen Namen nannte. Ohnehin war es ihr lieber, wenn er ihren Namen nicht in seinen schmutzigen Mund nahm, vom Rest von ihr ganz zu schweigen. »Ich habe noch nie irgendwo außerhalb des Raumhafens gleich zwei Computer auf einmal gesehen.

Gehören die beiden dir?«

»Ja«, antwortete er.

»Junge, wo hast du die bloß her?«

»Das war Teil meiner Entlassungsprämie«, sagte er und kam auf sie zu, doch sie tänzelte davon und nahm ein anderes Stück Ausrüstung auf. Es war aus Stahl und ziemlich schwer.

»Was ist denn das hier?« fragte sie.

»Hör auf mit dem Unsinn! Du interessierst dich doch nicht wirklich für das Zeug. Ich habe hier etwas, das ich dir zeigen möchte«, sagte er und griff sich ins Gekröse.

Sie tat, als bemerkte sie es nicht, während sie den schweren Gegenstand etwas genauer untersuchte. »Im Gegenteil, dieses Zeug interessiert mich sehr. Ich kutschiere nämlich ständig irgendwelche Bergbauexpeditionen durch die Gegend, und die haben immer sehr interessante Sachen dabei. Aber meistens ist das Zeug schon verschwunden, bevor ich zu sehen bekomme, wie es funktioniert.«

»Keine Sorge, Baby, ich werde schon nicht verschwinden. Ich kenne diesen Planeten, und ich bin viel zu schlau, um in eine seiner Fallen zu tappen.«

Er kam ihr entgegen, und sie legte eine der vielen Werkbänke (kaum mehr als zwei Böcke und ein flaches Stück Stahlschrott) zwischen sich und den selbsternannten Shanachie.

»Wie machst du das bloß?« fragte sie lässig, obwohl schon der bloße Gedanke daran, was er der Höhle möglicherweise angetan hatte, sie in Rage versetzte. Aber Angst hatte sie nicht. Die konnte sie sich jetzt nicht leisten. »Du stammst doch nicht von hier, oder?«

»Ich bin auf diesem Planeten geboren, falls du das meinen solltest«, sagte er. »Ich weiß von den Höhlen. Und ich weiß auch, daß die Höhlen den leichtesten Zugang zu den netten Sächelchen darstellen, für die die Intergal und andere Gesellschaften mächtig viel Schotter abzudrücken bereit sind.«

»Sieht so aus, als wüßtest du auch alles darüber, wie man an diese Sächelchen rankommt, wie?« fragte Bunny mit einer Miene mädchenhafter Begeisterung, eine Imitation ihrer völlig auf Jungen versessenen Base Nuala. Zu dieser Technik gehörte es, die Augen weit aufzureißen und ein bißchen so dreinzublicken wie ein Hase, der plötzlich von den Scheinwerfern eines nahenden Schnokels geblendet worden war. »Wo hast du denn gelernt, so etwas zu tun, wenn du von Petaybee stammst?«

»Im Firmenkorps, wo denn sonst?« erwiderte er. »Ich habe den üblichen Routinedienst abgerissen, bis ich Schwierigkeiten bekam.

Glücklicherweise ist es mir gelungen, mir eine sehr viel lukrativere Arbeit zu besorgen, bevor ich vors Kriegsgericht mußte.«

»Hier, meinst du?«

»Nein, das kam erst später, als ich endlich soweit war, mich mit einer guten Frau niederzulassen.«

Bunny stieß etwas hervor, von dem sie hoffte, daß es als gurrendes Geräusch durchgehen mochte. Sie fand es sehr seltsam, daß er in ihrem jetzigen Verhalten keinen Widerspruch zu dem Widerstand sah, den sie ihm auf dem Weg hier hoch geboten hatte; andererseits wußte sie aber auch, daß manche Kerle einfach nicht auf den Gedanken kamen, das Verhalten von Mädchen könnte völlig logisch oder gar durchdacht sein. Wahrscheinlich glaubte er, daß sie sich nur der Form halber gewehrt hatte, daß sie aber jetzt von diesem ganzen Zeug und seinem männlichen Charme ebensosehr überwältigt war wie sie vorgab.

Und so gewährte sie ihm Nualas Ein-Achsel-Zucken und, fragte zögernd: »Na schön, aber wo denn dann?«

»Die Intergal ist nicht die einzige Gesellschaft, die etwas vom Geschäft versteht, Baby. Ich bin in den Dienst einer unabhängigen Firma getreten, die im Import-Export-Geschäft tätig ist. Schon mal davon gehört – Onidi Louchard?«

Bunny zuckte wieder die Schulter. Solange sie ihn zum Reden brachte, gab er möglicherweise irgend etwas Nützliches von sich.

Außerdem verschaffte ihr das Gespräch die Gelegenheit, einen Gegenstand, so spitz wie ein Eispickel, hinter dem Rücken in ihr Hosenband zu stecken.

»Vielleicht«, sagte sie in einem halbwegs interessierten Tonfall, um ihn am Reden zu halten. »Ich glaube, ein paar von den Soldaten haben den Namen mal erwähnt – aber nicht als Geschäftsmann…«

Er lachte und zeigte dabei eine Menge gelblich verfärbter Zähne –

zweifellos mit Hilfe der firmeneigenen Zahnmediziner kräftig und eben gehalten.

»Tja, und genau da liegst du falsch, Baby. Onidi versteht mehr von Angebot und Nachfrage als jede andere Frau auf der Welt.«

Langsam schien er in eine eigene Traumwelt abdriften zu wollen.

Bunny fiel auf, daß ein kleiner Läufer merkwürdigerweise einen Teil des ansonsten ungefegten und scheußlichen Bodens bedeckte.

»Ach ja!« sagte Bunny. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Sie ist eine Art Piratin, nicht wahr… eine Schwarzmarkthändlerin? Haben die nicht erzählt, daß sie die Aufständischen auf Bremport mit Gas und Waffen versorgt hat?«

Es schien ihm zu gefallen, daß Bunny sie wiedererkannte. »Ja, genau die meine ich.«

»Mann, und für die hast du gearbeitet! Das muß ja aufregend gewesen sein! Ich habe… diesen Planeten… nie verlassen«, sagte sie, und es gelang ihr dabei, wehmütig zu klingen.

»Oh, das läßt sich einrichten, Baby. Ich bringe dir ein paar Sachen bei, und außerdem kenne ich haufenweise Leute, die nur zu glücklich wären, ein süßes kleines Ding wie dich herumzuführen.«

»Wie ist das denn – da draußen?« fragte sie sehnsüchtig.

Sie meinte, Geräusche unter dem Fußboden gehört zu haben, glücklicherweise nur sehr gedämpft und undeutlich, denn Satok schien sie nicht zu bemerken.

Er nahm eine Flasche auf; kein petaybeeanisches Gebräu, wie Clodagh es herstellte, sondern etwas von außerhalb, das Bunny durchs ganze Zimmer riechen konnte. Er verriegelte die Haustür von innen, was sie noch nie bei irgend jemandem gesehen hatte – außer bei ihr selbst, wenn sie sich vor ihren Vettern hatte verbarrikadieren müssen.

Mit der Flasche in der Hand nahm er auf der Matratze Platz.

»Das meiste wüßtest du sowieso nicht zu schätzen«, sagte er mit lüsternem Grinsen; dann zuckte er die Schultern und gewährte ihr ein gräßliches Zwinkern. »Obwohl – wer weiß, bis ich mit dir durch bin, vielleicht doch.«

Bunny unterdrückte einen Schauer und setzte die Inspektion seiner Werkzeuge und des Computerschirms fort, während er ihr von Freudenhäusern auf Planeten in verschiedenen Galaxien erzählte, ohne die beeindruckenden Tricks auszusparen, wie er sie von humanoiden Alien-Künstlern mit einem breiten Spektrum von Geschlechtsorganen und -praktiken vorgeführt bekommen hatte.

Das Thema schüchterte Bunny etwas ein, vor allem der geifernde Genuß, mit dem Satok davon erzählte, und die Art, wie er sie die ganze Zeit dabei beäugte, als wäre sie bereits entkleidet. Sie erkannte, daß er es überhaupt nicht eilig hatte. Tatsächlich schien er diese Geschichten sogar in der Erwartung zu erzählen, daß sie vielleicht einige der Dinge würde ausprobieren wollen, die er ihr da schilderte.

Immerhin boten sie Bunny einen guten Vorwand für laute, schockierte Ausrufe, welche die Geräusche unter dem Teppich übertönten. Sie versuchte immer noch den Eindruck zu erwecken, fasziniert zu sein, und arbeitete sich rückwärts vor, während er aus seiner Flasche trank, bis Bunny eine Ecke des Läufers mit dem Fuß beiseite schieben konnte. Darunter lag eine rechteckige Falltür. Vielleicht würde der Schlägertyp sich ja auch in den Schlaf saufen.

Doch dieses Glück war ihr nicht beschieden. Nachdem er das Thema erschöpft hatte, klopfte er immer wieder auf die Matratze, um sich schließlich mit einem inzwischen wieder häßlich gewordenen Gesichtsausdruck zu erheben.

»Hör mal«, sagte Bunny hastig. »Warum hast du denn etwas so Tolles wie die Raumschiffahrt mit Onidi Louchard drangegeben, um nach Petaybee zu kommen?«

Er stand nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen wie zuvor, und seine Worte klangen ein wenig schleppend. »Als meine Schiffskameraden herausfanden, daß ich von Petaybee stamme, haben sie mir gesagt, was für Idioten wir doch sind, weil wir auf den größten Erzvorkommen im gesamten bekannten Universum hocken und so tun, als sei das alles gar nicht da. Ich habe ihnen geantwortet, daß die Firma uns hier alle barfuß und schwanger hält, um es mal so auszudrücken. Dasselbe habe ich schließlich auch die ganze Zeit zu hören bekommen, als ich hier aufwuchs. Und dann wurde mir plötzlich klar, daß ich schon als Kind an die ganze Petaybee-Nummer geglaubt habe: daß der Planet nicht will, daß wir dies nehmen, und daß der Planet nicht will, daß wir jenes nehmen.« Seine Stimme kippte über und wurde zu einem höhnischen Winseln. »Da habe ich mir gedacht, scheiß auf den Planeten! Früher oder später wird die Firma es ja doch tun, warum soll ich ihr da nicht zuvorkommen? Ich wußte schließlich, wie der Planet und seine Bewohner die Firma hintergehen und wie die Firma ihrerseits den Planeten und seine Bewohner hintergehen könnte, wenn sie nur genug Mumm hätte, hier zu landen und sich zu holen, was sie haben will. Also habe ich mir ein bißchen Firmentechnologie ›ausgeliehen‹, bin mal in einen, mal im anderen Dorf zu Fuß aufgekreuzt. Den Shuttle habe ich draußen auf der Tundra geparkt, habe weise aus der Wäsche geguckt und Erkundigungen eingezogen, wer wohl einen Schamanen brauchen könnte. McGees Paß war zum Opfer einiger der weniger netten Spielchen des Planeten geworden, und einen Schamanen hatten sie hier auch nicht. Da habe ich ein bißchen Aufklärung betrieben, habe meine Basis errichtet und für eine Katastrophe am örtlichen Versammlungspunkt gesorgt.«

Bunny versuchte, ihre Stimme im Griff zu behalten, um sich nur schockiert und nicht gleich wütend anzuhören, als sie fragte: »Aber wwarum? Warum hast du das getan?«

»Weil ich mich das erste Mal, als ich gesehen habe, wie das rohe Erz aussieht, daran erinnerte, wie ich es schon als Kind gesehen hatte.

Nur daß der Planet mich damals in Angst und Schrecken versetzte, weil ich mich nicht wirklich für all die vielen kleinen Psychotricks interessierte, die er den Leuten hier antut. Begreifst du es immer noch nicht? Es gibt einen guten Grund dafür, weshalb eure sogenannten Ältesten euch solange diesen ganzen Mist über die Versammlungsorte erzählen, bis ihr viel zu verängstigt seid, um sie auch mal alleine aufzusuchen.«

Bunny überlegte, daß er wohl einen völlig anderen Ältesten gehabt haben mußte als Clodagh, wenn er glaubte, daß es irgend jemandem verwehrt sein könnte, mit Petaybee zu sprechen, und zwar jederzeit, daß die Menschen sich aber die meiste Zeit mit dem begnügten, was sie auf der Oberfläche davon mitbekamen, bis es mal wieder an der Zeit für alle war, den Planeten aufzusuchen.

»Die Versammlungsräume sind auch das Tor zu den Leckerchen des Planeten. Herrje, Mädchen, man braucht nicht einmal besonders tief zu graben, ja nicht mal einen Tunnel muß man dafür in die Planetenkruste bohren. Das Erz starrt einen dort förmlich an, wenn man sich hinbegibt, um mit dem Gestein zu sprechen.«

»Wirklich?« fragte sie. Doch langsam gingen ihr die Themen aus, über die sie mehr erfahren wollte, und so versuchte sie sich zu überlegen, was sie ihn als nächstes fragen sollte, nur damit er weiterredete. »Na ja, ich habe da noch eine Frage. Warum ich? Gibt es nicht genügend Mädchen vor Ort…«

»Da liegt genau das Problem. Das sind alles Einheimische. Du dagegen stammst aus einer mächtigen Familie in Kilcoole, und die halten dich für etwas Besonderes, weil du ein Schnokel fährst. Deine Familie und deine Freunde in Kilcoole zerreißen sich die ganze Zeit das Maul darüber, wie schlimm die Minen doch für den Planeten sind.

Vielleicht werden sie ja ruhiger, wenn sie erst einmal erfahren, daß es für dich das Beste wäre. Wirklich«, sagte er, »hat echt Spaß gemacht, mit dir zu plaudern, Baby. Aber jetzt, da wir uns ein bißchen besser kennen, möchte ich dich auch gleich richtig gut kennenlernen. Also, kommst du jetzt her und leistest mir ein bißchen Gesellschaft, oder willst du mich in Versuchung führen, damit ich ein wenig grob werde?

Mir paßt beides in den Kram.«

Bunny wich vor ihm zurück, und so erhob er sich und beugte sich blitzschnell über den Tisch, den sie als Schild benutzt hatte.

Sie wich ihm aus und wollte davonlaufen, doch noch nie hatte sie so sehr in einer Falle gesessen. Sie wußte, daß sie sich seinem Griff nicht ewig würde entziehen können, und auch wenn sie eine Waffe hatte, war er doch größer und stärker als sie und immerhin noch einigermaßen fit. Sie wußte auch, daß sie in einem Handgemenge nicht die geringste Chance gegen ihn hätte, sondern nur dann, wenn sie ihm so lange wie möglich auswich. Sie sprang zu der Stelle zurück, wo die Falltür unter dem Teppich verborgen lag, und riskierte einen Tempotest, um an dem Ring zu reißen. Es gelang ihr, die Tür ein Stückweit zu öffnen, und sie hoffte schon wider besseres Wissen, daß sie würde hindurchgleiten können, bevor er sie zu packen bekam.

Doch die Tür war schwerer, als Bunny gedacht hatte, und er war um einiges schneller. Er packte sie am Haar und zerrte sie mit einem Ruck über die geöffnete Falltür zu sich, während sie aufkreischte, mit einer Hand auf ihn einhämmerte und mit der anderen nach dem Eispickel griff.

In der unteren Höhle war der Planet nicht mit Petraseal zu Tode versiegelt worden. Dafür hatte man hier aber Probebohrungen und Sprengungen vorgenommen. Es gab auch einen Teich, stinkend von Chemikalien und zähflüssig von den Rückständen der Schäden, die hier angerichtet worden waren.

Diego berührte die Planetennarben, und es kam ihm so vor, als würde er einmal mehr das Wrack betrachten, das sein Vater gewesen war: erfüllt von Trauer und Schmerz.

Krisuk, der an diesem Ort aufgewachsen war, sich im Laufe der Jahre aber nach und nach durch Satoks Manipulationen an seinen Tod gewöhnt hatte, berührte die gesprengten Stellen kurz und taumelte zurück, als hätten sie ihm einen Hieb verpaßt.

Zitternd standen die beiden Jungen an der Gabelung der beiden Gänge.

»Wie habt ihr nur zulassen können, daß er so etwas tut?« fragte Diego vorwurfsvoll.

»Wir haben doch überhaupt nicht gewußt, daß er hier drin irgend etwas tut!« erwiderte Krisuk. »Wir dachten, es wäre alles verschüttet, genauso, wie er gesagt hat. Du vergißt, daß es zwischen dieser und der äußeren Höhle eine Wand gibt, und dazwischen liegt eine ziemlich lange Tunnelstrecke. Die muß es einfach geben. Wir spüren zwar manchmal den Berg beben, aber es ist ja nicht so, als würde man irgend etwas hören.«

Die Richtigkeit dieser Feststellung wurde den Jungen aufs deutlichste vor Augen geführt, als sie aus der mit Petraseal versiegelten Innenhöhle in den Versammlungsraum traten, von dort durch das Gestrüpp und hinaus in den kalten Wind, der den Paß entlangpeitschte. Der Felsen, auf dem Bunny gesessen hatte, war leer.

»Bunny?« fragte Diego. »Dinah?«

Auf dem Weg über ihnen ertönte ein Winseln.

Diego kroch den Weg hinauf, und beinahe wäre er über die am Boden liegende Dinah gestolpert. Er begann, die Hündin am ganzen Leib abzutasten, was sehr schwierig war, denn überall stieß er auf Blut. Dinah wirkte auf schreckliche Weise reglos, doch mit zunehmender Berührung erholte sich ihre Atmung ein wenig.

Dann rief er mehrmals nach Bunny, bekam sie aber nicht zu sehen.

Inzwischen rannte Krisuk den Berg zu seinem eigenen Heim hinunter und riß die Tür auf.

Diego nahm Dinah in die Arme und stolperte mit ihr hinter Krisuk den Berg herab. Krisuk hatte eine Laterne entzündet. Die Familie war noch nicht zu Bett gegangen, sondern saß zusammengekauert um den Tisch und musterte schuldbewußt die Tür.

Diego betrat das Haus und trug Dinah zum Tisch. An den Mienen der Connellys konnte er ablesen, daß sie ganz genau wußten, was mit den Pferden, mit der Hündin und mit Bunny passiert war.

»Was seid ihr bloß für Leute?«

»Stell ihnen bloß keine Fragen«, versetzte Krisuk angewidert.

»Bunny ist bei Satok. Darauf kannst du wetten. Er hat sie sich geholt.«

»Dann werde ich sie mir jetzt eben zurückholen«, erwiderte Diego.

»Das geht nicht!« warf Iva ein. »Er kann dich umbringen… kann uns alle umbringen… kann den Planeten vielleicht gegen uns aufwiegeln, daß er uns verschlingt. Er ist viel zu mächtig, als daß auch nur einer von uns gegen ihn etwas ausrichten könnte.«

»Das ist er ganz bestimmt, solange ihr nur dort rumhockt«, antwortete Diego. »Aber der Planet hat keine Veranlassung, ihn zu mögen. Wenn ihr nur ein paar Zoll über euren eigenen Tellerrand hinausblicken würdet, wüßtet ihr das auch.«

»Du gehst nicht allein«, sagte Krisuk.

»Nicht?«

»Nein. Komm schon, Pa, Mutter. Ihr da, Kinder«, fügte Krisuk hinzu, an seine jüngeren Geschwister gewandt. »Geht die Nachbarn wecken. Bringt sie zur Versammlungshöhle.« Sie sahen ihn wie betäubt an und rührten keinen Finger, bis schließlich seine fünfjährige Schwester Maire aufsprang.

»Ich gehe!«

»Ich auch«, stimmte einer der jüngeren Brüder ein.

Diego hatte eine der Steppdecken von den Betten genommen, um Dinah damit zuzudecken, während eine seiner älteren Schwestern damit begann, dem Hund die Wunde zu säubern.

Als Diego sich davon überzeugt hatte, daß die Hündin in guten Händen war, griff er sich ein Messer, das an einem Haken über dem Herd hing, und lief wieder aus der Tür, auf den Weg hinaus.

»Warte!« sagte Krisuk. »Diego, nicht dort entlang! Da bist du ein viel zu offenes Ziel.«

»Ich werde ihm Bunny nicht kampflos überlassen, nur weil ihr euch seinetwegen alle in die Hose macht«, schrie Diego zurück und ließ kein Deut in seinem Tempo nach, obwohl der Wind arg auf ihn einhämmerte. Er konnte nicht verstehen, was Krisuk ihm antwortete.

Diego näherte sich gerade dem Höhleneingang, als Krisuk ihn endlich eingeholt hatte und aufhielt.

»Hör mal, du kannst nicht einfach zu ihm gehen und ihn herausfordern«, brüllte er den Wind an. »Aber weißt du noch, der obere Gang? Ich wette, der führt zu seinem Haus hinauf.«

Diego hielt einen Augenblick inne. Er hatte jede Menge Bücher gelesen, und in vielen seiner Lieblingswerke kamen Geheimgänge und

-tunnels vor, was er sich bisher immer nur im Zusammenhang mit dem Ventilationssystem von Schiffen und Raumstationen vorgestellt hatte. »Vielleicht«, sagte er schließlich. »Aber wenn nicht, verlieren wir sehr viel Zeit. Wir wissen ja nicht mal, wieviel Zeit wir bisher ohnehin schon verloren haben.«

Krisuk meinte: »Pa hat erzählt, daß sie Bunny vor ungefähr einer Stunde haben rufen hören. Hör mal, ich kriege die schon dazu, mir in die Höhle zu folgen. Ich will ihnen zeigen, was Satok angerichtet hat.

Aber sie haben zuviel Angst, um zu seinem Haus zu gehen. Es ist ein gut befestigtes Haus, und er ist bewaffnet.«

Diego riß seinen Arm los. »Wenn du diesen Weg nehmen willst, dann tu das. Ich gehe geradewegs zum Haus. Ich werde Bunnys Leben nicht schon wieder aufs Spiel setzen, nur weil ihr nicht wollt, daß ich Satok die Stirn biete.«

»Also gut, dann werde ich es eben mit der Höhle versuchen, und sollte das nicht klappen, komme ich hoch und helfe dir. Tu also nichts Unüberlegtes, ja? Wenn du nicht gerade siehst, wie er… na ja, wenn Bunny deine Hilfe nicht ganz dringend braucht, dann platz nicht einfach da rein, bevor ich nicht bei dir bin.«

Diego hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. »Ich komme schon klar«, sagte er und machte sich an den Anstieg, den Berg hinauf, der zu Satoks Haus führte.

Vom oberen Ende des Weges aus war das Haus zu erkennen, ein Steingebäude, ungefähr eine halbe Meile entfernt zurückgesetzt auf einer Weide. Die Fenster waren beleuchtet, und als Diego näherkam, empfing ihn gespenstisches Geheul.

Satok preßte Bunny gegen die Matratze und grabschte nach ihrem Hosenbund. Sie versuchte, ihm einen Tritt zu verpassen, doch er drückte eins ihrer Knie mit seinem eigenen nieder. Ihr rechter Arm, der zwischen ihrem Rücken und der Matratze feststak, tastete nach der Waffe an ihrer Hüfte.

Da begannen die Hunde plötzlich zu heulen. Satok fluchte, erhob sich und griff nach einer Waffe, als er sich der Tür zuwandte. Wie beiläufig drehte er sich noch einmal zu Bunny um und schlug ihr mit der offenen Hand ins Gesicht, daß sie in einer schmerzlichen Explosion die Zähne in ihre eigenen Wangen schlug.

»Keine Bewegung«, sagte er und wackelte in vorgetäuschter Verspieltheit mit dem Finger.

Natürlich bewegte sie sich sofort, kaum daß er den Türriegel zurückgeschoben hatte. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, an ihm vorbei in die Nacht hinauszuhuschen, und die Falltür war zu weit entfernt, aber wenigstens konnte sie ihren Eispickel aus dem Gürtel ziehen.

»Seid still, ihr faulen Köter, sonst gibt es wieder eine Woche nichts zu fressen!« brüllte Satok, auf der Türschwelle stehend. Das Geheul wurde zu einem leisen Winseln. Er ließ den Blick ausgiebig umherschweifen; dann drehte er sich wieder zu Bunny um.

Da ihr keine raffinierteren Tricks mehr einfielen, sprang sie auf und rannte zur Falltür zurück. Dabei war sie klug genug, ihre Waffe nicht offen zu zeigen.

»Rühr mich bloß nicht noch einmal an, Freundchen«, sagte sie. Die aufgeplatzte Lippe ließ sie leicht lispeln.

Wieder begannen die Hunde zu heulen, doch diesmal ließ Satok sich nicht mehr davon ablenken. Es dauerte keine zwei Sekunden, da hatte er Bunny auch schon eingeholt, und sie mußte feststellen, daß sie plötzlich mit dem Rücken an der Wand stand, ohne jede Fluchtmöglichkeit – für jedes Tier eine sehr schlechte Situation.

Zudem stand Satok gerade auf der Falltür, als er auf sie zukam und ihr mit den Händen an die Gurgel ging.

Krachend schlug die Eingangstür auf, und ein kräftiger kalter Wind fuhr durch das Zimmer.

Bunny stieß mit ihrem Eispickel nach oben und spürte, wie die Spitze in Fleisch versank. Satoks Griff löste sich etwas, doch hatte er sich ein Stück von ihr abgewandt, um die Tür im Auge zu behalten, und so führte Bunny nicht den tödlichen Stich, den sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte gerade, ihren Hals aus Satoks Umarmung zu lösen und die Waffe aus der Wunde zu ziehen, als ein anderer Leib gegen die beiden krachte und Bunny fast stranguliert hätte, weil der Aufprall Satoks Arm mit einem Ruck gegen ihre Luftröhre preßte.

Als Satok herumfuhr, um sich dem neuen Angreifer zu stellen, huschte Bunny zur Seite und suchte sofort nach einer weiteren Waffe.

Diego war dem großen Mann auf den Rücken gesprungen und hieb mit einem Dolch auf ihn ein, doch Satok griff nach hinten und entriß dem Jungen die Klinge, als würde er einem Säugling die Rassel wegnehmen. Bunny stöhnte auf. Diego war zwar Spitze, wenn es um Bücher und Computer ging – aber ein Kämpfer war er nicht. Sie nahm eine Rohrzange auf und umtänzelte die beiden, versuchte mal hier, mal dort einen Schlag anzubringen, fürchtete aber gleichzeitig, sie könnte aus Versehen Diego treffen.

Satok wirkte zwar verärgert, aber kaum ernsthaft bekümmert. Er stand immer noch auf der Falltür, als er hinter sich griff und Diegos Kopf mit beiden Händen packte, um ihn über seine Schulter zu reißen.

Bunny ging in die Knie, ließ sich nach vorn fallen und schlug dem großen Mann mit der Rohrzange erst gegen die Knie und dann auf die Schienbeine, so hart sie konnte. Satok fuhr herum, Diegos Kopf noch immer im Schraubgriff, und Bunny knallte die Rohrzange in die Kniekehlen ihres Gegners. Er stürzte mit einem Krachen zu Boden, schleuderte Diegos Beine dabei gegen den Computertisch und ließ das Gerät kopfunter zu Boden fallen.

Doch durch ihren Vorwärtssturz gaben Satok und Diego die Falltür frei und damit auch das Hämmern, ebenso das Stampfen unter der Tür, das von dem Kampfgetöse übertönt worden war. Bunny kroch zur Falltür und riß an dem Ring. In dem sich weitenden Spalt erschienen Krisuks Arme und sein Kopf, und mit einem Ruck schob er die Tür gegen Satoks Waden. Satok war gerade damit beschäftigt, Diegos Kopf gegen den Boden zu knallen.

Der Anblick Krisuks, wie er aus dem Loch stieg, dicht gefolgt von seinem Vater, flößte Bunny Zuversicht ein, und so schoß sie auf Satoks Kopf zu und drosch mit der Rohrzange darauf ein. Wieder entwand sich der Mann im entscheidenden Augenblick, und so riß ihm Bunnys Rohrzange nur das hintere Drittel seines Ohrs ab, als auch schon eine dritte Person aus dem Geheimgang stieg.

Satok griff sich ans verletzte Ohr, erhob sich taumelnd und rannte los, Krisuk und die anderen auf den Fersen.

Bunny kniete neben Diego nieder. »Alles in Ordnung?« fragte sie.

Er blinzelte sie zweimal an, rieb sich den Hinterkopf und sagte wehmütig: »Ich bin gekommen, um dich zu retten.«

Sie küßte ihn trotz seiner blutigen Nase und sagte: »Das bist du wirklich. Hat es dich schlimm erwischt?«

Als er die Hand wieder hervorzog, war sie blutbeschmiert. »Nicht so schlimm, glaube ich. Mein Vater hat immer gesagt, daß mein Schädel das Widerstandsfähigste an mir sei.«

Inzwischen kniete Iva neben ihnen. »Komm schon, ich werde dich verbinden«, sagte sie. »Wir haben gesehen, was Satok dem Planeten angetan hat. Was für ein übler Schwätzer! Na, die anderen werden sich ihn schnappen. Dann erzählt der Mistkerl keine Lügen mehr.«

»Nein«, widersprach Diego. »Wir müssen zu Sean und Yana und ihnen mitteilen, was Satok getan hat.«

»Woher wußtest du denn, daß er ein Pirat war?« wollte Bunny wissen.

»Wenn wir die Höhle nehmen, kannst du…« Diego hielt inne und gaffte sie an. »Was soll das heißen, Pirat? Hast du gerade Pirat gesagt?«

»Er ist ein Schiffskamerad von Onidi Louchard«, erklärte Bunny.

»Ich glaube, er arbeitet immer noch mit ihnen zusammen, um Petaybee auszuplündern.«

»Mist! Wir müssen sofort die anderen warnen!«

»Nichts da«, versetzte Iva Connelly. »Du gehst nirgendwohin, bevor ich dir nicht die Wunden verbunden habe. Und du auch, junge Dame.«

Diego und Bunny bestanden darauf, die Lockenfelle ins Dorf hinunterzubringen. Inzwischen kehrten Krisuk und einige der anderen mit leeren Händen zurück.

»Satok ist entkommen. Kev Nyukchuk und seine Söhne versuchen, ihn mit Hilfe seiner Spuren und des Bluts im Dunkeln aufzustöbern«, teilte Krisuk ihnen mit.

»Wo ist dein Vater?« fragte Iva.

»Er ist dageblieben, um die Hunde zu füttern. Weißt du noch, wie Satok Tarkas Welpen weggenommen hat?«

»Ja.«

»Inzwischen sind sie halb verhungert und bösartig geworden, aber Pa hat sie wiedererkannt und wird versuchen, sie noch einmal zu zähmen. Die Lockenfelle waren auch in schlechtem Zustand.

Außerdem haben wir noch weitere Katzenschädel gefunden…«

Am nächsten Morgen, als das erste Licht am Himmel erschien, machten Bunny und Diego sich auf den Weg, der vom Fluß fortführte.

Die sorgfältig verbundene und in Decken gehüllte Dinah trugen sie mit sich. Angetrieben vom Wind Petaybees, bewegten sie sich in Richtung Fjord.

Matthew Luzon amüsierte sich köstlich darüber, daß Marmion Algemeine glaubte, sie könne ihn in ihre Gewalt bringen, indem sie seine Theorien widerlegte, Kontakte mit den Feinden der Firma pflegte und versuchte, ihm seine Mitarbeiter abspenstig zu machen.

Natürlich war sie unfähig, einen Mann wie ihn zu verstehen. Sie war schließlich nichts als eine überalterte Debütantin, deren ererbte Habgier ihr eine ausgeprägte Fähigkeit verlieh, noch mehr Reichtum anzuhäufen. Jemandem wie ihn konnte sie nicht einmal ahnungsweise erfassen, jemanden, dem es nicht um Geld oder Selbstdarstellung ging, sondern um eine große, völlig selbstlose Verpflichtung gegenüber der Wahrheit und dem Fortschritt der Wissenschaft.

Andere lachten zwar, wenn er sich als Wissenschaftler bezeichnete, doch Matthew hatte sich der Wissenschaft in einem Maße verschrieben, wie es nur bei wenigen Menschen der Fall war. Als ein Mann, der an das Wort glaubte, war er dennoch fasziniert von den Lügen, die die Leute sich selbst gern über das Universum erzählten, in dem sie lebten – allen Beweisen zum Trotz, daß der durchschnittliche Mensch lediglich von elektrochemischen Impulsen getrieben wurde, wie Computer von elektronischen, und daß das ganze Universum nur ein großer, gewaltiger Zufall war.

Die meisten Wissenschaftler und Soldaten der Firma dachten zwar so wie Matthew, doch nur wenige besaßen seinen Eifer, nicht nur an die Wahrheit zu glauben, sondern auch die Lügen und Selbsttäuschungen zu entlarven, die den mit Intelligenz und Bewußtsein ausgestatteten Verstand schwächten, ja jeden besiedelten Abschnitt des Universums und sogar die Firma selbst.

Es gab eine Art Hirnfieber, das sich die Leute zuzogen; wenn sie die Zivilisation erst einmal verließen. Matthew hatte es immer wieder erlebt, nicht nur unter den Bewohnern kolonialer Außenposten wie diesem hier, sondern auch auf Raumstationen und Schiffen, die schon zu lange keinen Hafen mehr angesteuert hatten. Petaybee warf einige Rätsel auf, die bisher noch nicht gründlich genug untersucht worden waren – und schon gelangten manche Leute zu dem Schluß, daß selbst die Dinge, um deren Beschaffenheit sie genau wußten, irgendeine merkwürdige Ursache haben mußten. Sie begannen an Mythen zu glauben, an vermenschlichte Maschinen und nichtintelligente Lebensformen; dann sprachen sie mit Pflanzen und mit Tieren. Albern zwar, doch so war das nun einmal. Matthew betrachtete sich selbst als eine Art Deprogrammierer, als Reformer und Aufklärer.

Er hatte die Feststellung gemacht, daß es fast immer einen Rädelsführer gab oder, genauer gesagt, einen Meinungsmacher, der im allgemeinen unter jener Borderline-Schizophrenie litt, die meist als

›Kreativität‹ durchging. Diese Menschen mußten stabilisiert und neu eingestellt werden – oder man mußte sie eliminieren. Die Eliminierung war nicht unbedingt die bevorzugte Option, aus dem ganz einfachen Grund, daß eine solche Person danach unweigerlich durch einen anderen Anführer ersetzt wurde; nutzte man dagegen die Macht, die solche Leute sich zumeist schon unter ihren Gefährten aufgebaut hatten, im Sinne der eigenen Absichten, gelangte man sehr viel schneller zu Ergebnissen.

Als Anthropologe, der sich besonders mit der Thematik befaßt hatte, zu welchen Glaubenssystemen sich Menschen hinreißen ließen, und in Anbetracht dessen, was er von Petaybee gehört hatte, war ihre Massenillusion für Matthew nichts sonderlich Ungewöhnliches.

Sie hielten ihren Planeten für ein bewußtes, empfindungsfähiges Wesen. Dabei schien es recht wahrscheinlich, daß alle diese scheinbar so ungewöhnlichen Vorfälle meteorologischer und geologischer Verschiebungen reine Zufälle waren, möglicherweise auch eine Spätfolge des Terranisierungsprozesses – und er warf es Whittaker Fiske vor, daß der sich nicht zu dieser Wahrscheinlichkeit geäußert hatte. Ganz bestimmt durfte man diese Naturereignisse nicht irgendwelchen gigantischen Mächten oder einer Art gewaltiger Alien-Lebensform zuschreiben, die mit sogenannten evolutionären Anpassungsprozessen herumstümperte.

Matthew Luzon war kein Narr. Er hatte die Autopsieberichte ebenso studiert wie das gesamte weitere ›Beweismaterial‹ der Kilcoole-Gruppe. Er neigte eher zu der Annahme, daß die Behauptungen den Charakter eines lokal begrenzten Glaubenssystems hatten, als daß sie ein gesamtplanetares Phänomen darstellten. Bei den Anpassungsprozessen, die schon ans Extreme grenzten, handelte es sich zweifellos um Mutationen aufgrund irgendwelcher latenter, auf dieser Welt vorhandener Toxine, die man bisher schlichtweg übersehen hatte. Die würde man natürlich beseitigen müssen – oder man müßte die Bewohner des Planeten evakuieren, was beides gleichermaßen den Absichten der Intergal entgegenkam.

Doch die Kommission würde dergleichen nicht allein auf der Grundlage von Matthews persönlicher Meinung entscheiden, solange er diese nicht entsprechend abgesichert hatte. So war es für ihn das Klügste, andere Meinungsmacher aufzuspüren, die eine andere Auffassung vertraten als die Bewohner Kilcooles, um der Kommission zu demonstrieren, daß man den regional begrenzten Aberglauben der einen Gruppe nicht mit einem gesamtplanetaren Phänomen verwechseln durfte.

Zu diesem Zweck forderte Matthew einen Hubschrauber für sich an, während Marmion draußen damit beschäftigt war, die Einheimischen um den Finger zu wickeln. Man teilte ihm mit, daß ihm ein Pilot namens Greene zugeteilt werden würde.

»Und um welches Ziel geht es?«

»Ich möchte die Siedlungen auf der südlichen Halbkugel bereisen«, antwortete Matthew. »Dazu brauche ich Transport und Unterkunft für mich selbst und drei Mitarbeiter.«

»Es tut mir leid«, sagte die Frau bedauernd. »Im einzigen zur Verfügung stehenden Fahrzeug ist nur Platz für den Piloten und zwei weitere Personen. Das ist alles.«

»Dann stellen sie gefälligst ein anderes Fahrzeug zur Verfügung.

Halten Sie meine Arbeit für so nebensächlich, daß Sie glauben, ich könnte ohne Assistenz auskommen?«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich.«

»Wie heißen Sie?« blökte Matthew.

»Rhys-Hall, Hauptmann Neva M. Rhys-Hall, Funkleitoffizierin. Ist nicht persönlich gemeint. Falls Sie den Namen des Piloten wissen wollen, er heißt John Greens. E fliegt um zwölf Uhr zwanzig ohnehin planmäßig nach Harrison Fjord. Dort kann er auftanken und Sie nach Süden bringen. Wenn Sie um diese Uhrzeit bereit und auf dem Flugfeld sein könnten, sparen Sie Zeit und sind noch vor Einbruch der Dunkelheit am Ziel.«

»Und die Unterkünfte?«

»Ich fürchte, Sie sind dort auf sich allein gestellt. Bis vor kurzem hielt die Firma diesen Planeten nicht für wichtig genug, um gleich zwei Depots und Befehlszentralen einzurichten. Ich an Ihrer Stelle würde einen Schlafsack und ein Überlebenszelt mitnehmen.«

»Danke für den Rat, Hauptmann. Ich werde es nicht vergessen.«

Und dich ebensowenig, du unverschämte Zicke, sagte er bei sich.

Also nur ein Assistent? Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer.

Braddock Makem, ein Mann, dessen Denken dem Matthews sehr ähnlich war, war der Assistent, dem er am meisten vertraute und der selbst am einfallsreichsten war. Er fand Braddock in seiner spartanischen Unterkunft vor, wo er gerade verschieden Berichte durchging, und teilte ihm mit, was von ihm verlangt wurde, in der sicheren Gewißheit, daß die Ausrüstung samt Braddock zur vereinbarten Zeit bereitstehen würden.

9. KAPITEL

Als Marmion vor dem – in einem wirklich furchtbaren Schlammgrün gestrichenen – Gebäude eintraf, wo Matthew Luzon sein Büro eingerichtet hatte, fand sie dort nur seine fünf Lakaien vor, die allesamt emsig Befehle eintippten, während ihre Monitore Kurven und Skizzen und Zahlenkolonnen wiedergaben. Marmion hatte für Statistiken nicht das geringste übrig: Die bewiesen doch immer nur, was die Statistiker sich wünschten. Bonitätsberichte und Firmenanalysen waren natürlich etwas völlig anderes.

Immerhin waren sie wohlerzogen genug, um sich zu erheben, als Marmion in den Raum kam, und so lächelte sie die Männer an, während sie betont auffällig den Blick umherschweifen ließ.

»Ich kann Dr. Luzon nicht finden, und dabei hätte ich so gern ein Wort mit ihm gewechselt«, sagte sie und strahlte den nächststehenden Assistenten an. »Sie sind doch…« Angestrengt rief sie sich Sallys Hinweise ins Gedächtnis zurück, wie sie diese Leute voneinander unterscheiden konnte. »Ivan, nicht wahr?«

»Jawohl, gnädige Frau.«

»Und wo ist Dr. Luzon?« Marmion fiel auf, daß einer fehlte –

Braddock Makem. Langsam wurde ihr klar, daß sie Matthews hinterhältige Emsigkeit möglicherweise unterschätzt hatte. Wie peinlich. »Ist er etwa auf Abenteuer in die Wildnis gezogen und hat Sie alle hier zurückgelassen, um sich mit dem langweiligen Kleinkram abzuplagen?«

Alle diese fitten jungen Männer begannen nacheinander zu räuspern.

»Aha. Wie ich sehe, hat er das tatsächlich getan. Das ist wirklich zu schade, denn ich habe mit Hauptmann O’Shay vereinbart, daß er uns alle Zwecks einer Vor-Ort-Begehung zu dieser ach so rätselhaften Höhle bringt. Matthew legt ja allergrößten Wert auf Vor-Ort-Ermittlungen«, warf sie ein und zog eine leicht enttäuschte Schnute,

»und das hier ist eine der allerwichtigsten, wie mir Whittaker Fiske versicherte.« Sie hielt inne, um ihrer Enttäuschung ein wenig nachzuhängen. Dann hellte ihre Miene sich wieder auf, und sie ließ den Blick in die Runde schweifen. »Aber das heißt ja nicht, daß Sie nicht mitkommen können. Es ist ja so schwierig, einen Hubschrauber aufzutreiben, der uns alle zusammen befördern kann. Tatsächlich wäre seine Transportkapazität mit uns schon erschöpft. Also, kommen Sie!

Speichern Sie alle Ihre wichtigen Programme ab, meine Herren, schnappen Sie sich Ihre Anoraks, und dann wollen wir mal los…« Als einer von ihnen – ach ja, der Blonde, dieser Hans – einen Einwand vorbringen wollte, fuhr sie ihm in die Parade: »Nichts da, Hans! Ich höre mir keine Ausflüchte von Ihnen an! Das hier ist genauso wichtig wie diese ganzen Zahlen, weil es nämlich subjektiv ist und nicht objektiv. Damit beweisen Sie der Kommission, wie gründlich Sie sämtliche Aspekte dieser Untersuchung in Angriff nehmen.«

Sally und Millard waren geschmeidig hinter Marmion in den Raum geschlüpft und begannen, den Männern Oberkleider auszuhändigen.

Die waren so sehr daran gewöhnt Autoritätspersonen blind zu gehorchen, daß sie sofort taten, was man von ihnen verlangte. Ehe sie sich versahen waren sie auch schon aus der Tür und saßen plötzlich in dem Mannschaftstransportfahrzeug, das sie holpernd zu dem großen Hubschrauber beförderte.

Rick O’Shay hieß sie eilig einsteigen und wies ihnen die Sitzplätze so an, daß sich seine Fracht möglichst gleichmäßig über die Maschine verteilte. »Freut mich sehr, daß Sie die Zeit für diese Spritztour gefunden haben, denn vom Shuttle aus bekommt man nicht allzu viel zu sehen. Kaum hat man einmal mit den Augenlidern geklimpert, schon sind die interessanten Punkte vorbeigerauscht. Frau Algemeine, Sie sitzen bitte vorn… He, wo ist denn Dr. Luzon?« Rick sah sich um; seine Miene war eine Mischung aus Überraschung und Bestürztheit.

»Ich dachte immer, er wäre derjenige, der unbedingt mitkommen wollte.«

Marmion hätte dem jungen Mann am liebsten einen Kuß gegeben –

er war sowieso recht attraktiv –, denn es war nicht zu übersehen, daß Ivan und Hans bereits die ersten Zweifel über die Ratsamkeit dieses Ausfluges kamen.

»Ach, herrje.« Rick schüttelte den Kopf und blickte fassungslos drein. Dann hellte seine Miene sich wieder auf, und er atmete tief durch. »Na schön, dann können Sie ihm ja wenigstens einen vollständigen Bericht darüber abliefern, was ihm alles entgangen ist.

So, das war’s, und jetzt – alles anschnallen!«

Der große Hubschrauber stieg auf und nahm Kurs Nordost. Die Turbulenzen konnten ihm kaum etwas anhaben.

Sally saß eingekeilt zwischen Hans und Marcel, Millard am Fenster, gegenüber Ivan, George, Jack und Seamus Rourke, den Marmion als ihren Expeditionsführer vorgestellt hatte. Seamus war ein Vorschlag Clodaghs gewesen. »Abgesehen von Sean oder mir können Sie sich keinen besseren wünschen«, hatte Clodagh ihr versichert.

»Sind Sie schon oft in dieser Höhle gewesen, Rourke?« fragte Sally im Plauderton, als sie die erste bange Andeutung von »Was haben wir eigentlich hier zu suchen?« in Jacks wohlgebräunter, attraktiver Miene bemerkte. Da Marmion außer Hörweite weiter vorn in der Maschine saß, fühlte Sally sich dafür verantwortlich, die Dinge hier hinten in Gang zu halten.

»In dieser Höhle eigentlich nicht. Frau Sally«, antwortete Seamus freundlich, wobei er die Daumen drehte: Herumzusitzen und nichts zu tun, während er eine große Entfernung zurücklegte, war für ihn eine neue Erfahrung. »An der Ostküste kenne ich die meisten. Habe sie immer gesehen, wenn die Leute uns dort zu einem Latchkay einluden.

Wir bewirten uns immer gegenseitig, wir in Kilcoole und die an der Küste, einmal im Jahr. Feine Sache, Latchkay«, fuhr er fort, als er Sallys fragenden Blick bemerkte. »Da kommen die Leute aus der Nähe und von weit her, je nach Wetterlage, um sich zu überlegen, wie sie die Probleme in den Griff bekommen sollen, die seit dem letzten Treffen aufgetreten sind.

Außerdem gibt es eine Menge schöner Lieder zu hören. Zu schade, daß Sie nicht beim letzten Treffen dabei waren. Hervorragende Lieder von Majorin Maddock und dem jungen Diego. Die Art von Liedern, die das Herz beschwichtigen und die Seele beruhigen. Vielleicht könnten wir ja noch mal ein Treffen veranstalten… sozusagen, um Sie alle auf Petaybee willkommenzuheißen«, fügte er hinzu. »Bei dem frühen Tauwetter hätten wir vor dem Juni zwar kein weiteres Treffen planen können, aber ich sehe eigentlich nicht ein, warum wir ihnen nicht ein bißchen von unserer petaybeeanischen Gastfreundschaft vorführen sollen, wenn Sie schon mal hier sind. Sie tanzen doch gern, oder?« Er fragte es mit soviel Zweifel in der Stimme, daß einer von Luzons Männern einfach antworten mußte.

»Ich glaube schon«, sagte Hans.

»Natürlich würden wir von Ihnen nicht erwarten, daß Sie uns etwas vorsingen. Es sei denn«, fügte Seamus hastig hinzu, weil er niemanden beleidigen wollte, »Sie hätten ein Lied, das Sie uns gern vortragen möchten.«

Luzons Männer sahen völlig überfordert aus. Sally und Millard schafften es, einfach nur aufmerksam dreinzublicken, wagten es aber auch nicht, einander dabei in die Augen zu sehen.

»Na ja, macht nichts, Sie können ja auch zuhören«, fuhr Seamus fort, »und ein paar wirklich tolle Sachen essen. Und natürlich macht Clodagh das beste Gebräu auf ganz Petaybee.«

»Was für ein Gebräu?« Hans sprang auf den Begriff an.

Alle wandten sich Seamus zu.

»Selbstgebrannter, der ist hier Tradition«, antwortete Seamus, der sich für sein Thema zu erwärmen begann. »Ob kalt, ob warm, ob heiß, immer tröstet er das Herz. Raubt einem nicht den Verstand, wie All-Koh-holli-ka das tun…« Er runzelte die Stirn. »… und hinterher hat auch niemand einen Kater, wie ihn die Leute auf dem Raumhafen von dem Darmschmirgler bekommen. Man könnte sagen…« – die nächsten Worte wägte er genau ab. – »… daß es ein Anregungsmittel für alles ist, was einem zu schaffen macht. Gibt man es den Kindern, wenn sie sich schwach fühlen – schon sind sie am nächsten Tag wieder auf den Beinen. So ziemlich das einzige, was man damit nicht heilen kann, ist Frostbrand. Aber es würde mich nicht wundern, wenn Clodagh das bald auch noch in den Griff bekäme.«

Sally und Millard tauschten vielsagende Blicke. Marmion Algemeine würde jede Einzelheit dieses Gesprächs erfahren müssen.

»Ist ihr Selbstgebrannter auch gut gegen Verdauungsstörungen?«

fragte Sally und nahm sich, nur um sicherzugehen, den häufigsten Beschwerdegrund als Gesprächsthema vor.

»Na klar, und ebensogut bei Wehen wie bei Blähungen, Sodbrennen und allgemeinem Bauchschmerz«, versicherte Seamus und wandte ihr dabei das Gesicht zu, so daß sie die einzige war, die sein kräftiges Zwinkern mitbekam.

»Verwenden Sie hier viele… einheimische Heilmittel, Herr Rourke?« fragte Ivan, den scharfen Blick auf das Gesicht des alten Mannes geheftet.

»Wir haben hier ja nicht viel anderes, was wir verwenden könnten, mein Junge«, erwiderte Seamus und legte die Hände unter der leicht herabsackenden Speckfalte seines Bauchs auf die Oberschenkel. »Und ich kann es den Leuten auf dem Raumhafen auch nicht verübeln, wenn sie ihre Medikamente für sich behalten. Wir haben unsere eigenen, und das genügt uns. Petaybee sorgt wirklich sehr gut für uns, müssen Sie wissen.«

»Genau, um das zu entscheiden, sind wir hier«, versetzte Hans, das Kinn stur vorgereckt.

Sally stöhnte innerlich. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, diese jungen Männer Matthews strenger Autorität zu entziehen. Jedenfalls entwickelte sich das ganze langsam zu einer Katastrophe, Seamus Rourke zum Führer zu haben, da er bereits die Existenz einer fragwürdigen Substanz in dem »Selbstgebrannten«

angedeutet hatte. Mit dem Zwinkern hatte er zwar zeigen wollen, daß er nur scherzte, doch Leute wie Matthew Luzon hatten nun mal keinen Humor, und Sally wußte genau, daß Luzon vor Freude jauchzen würde, von den »Wundereigenschaften« des Selbstgebrannten zu erfahren, um daraus Munition für die Möglichkeit »drogeninduzierter Halluzinationen« zu gewinnen. Sobald sie wieder auf dem Raumhafen waren, würde sie sich etwas von dem Selbstgebrannten beschaffen müssen, um ihn einer gründlichen Analyse zu unterziehen, nur um ganz sicherzugehen. Manchmal konnten selbst harmlose Ingredienzien, wenn sie erst miteinander vermischt würden, starke, wenn nicht gar tödliche Wirkungen haben.

Als Sally Millard einen Blick zuwarf, erkannte sie, daß er genau dasselbe dachte.

Glücklicherweise machte sich der Hubschrauber bereits an den Landeanflug, bevor noch weitere gefährliche Themen zur Sprache kommen konnten. Die Klippe ragte immer höher über ihnen auf; nur um Haaresbreite entkamen sie Felsrissen, die wie an den Himmel zeigende Krallen aussahen, bis Rick Arnaluk O’Shay die Maschine sauber und genau auf seiner letzten Landespur absetzte.

Dann kam die Hektik des Ausstiegs, wobei Rick und Millard Handfackeln verteilten, eine Decke – ›als Unterlage während der Vorführung‹ – sowie Rationspakete, weshalb Sally keine Gelegenheit bekam, Marmion Bericht zu erstatten. Als Seamus sie dann begeistert bedrängte, ihm in die Höhle zu folgen, blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzugehen, ja, sie konnte nicht einmal ein Stück zurückbleiben, weil Rick die Nachhut sicherte.

Einer von Luzons Jungs sprach in ein Handdiktiergerät, doch als Sally dicht genug herankam, um ihn zu verstehen, stellte sie fest, daß er nur etwas über die Zusammensetzung der Felsformationen murmelte und sich eine Notiz machte, über lumineszierende Gesteinsarten nachzulesen.

Und plötzlich standen sie in einer Höhle, die sich in sämtlichen Richtungen unendlich weit ausdehnte, während Seamus sie aufforderte, sich einen gemütlichen Sitzplatz zu suchen, für den Fall, daß es länger dauerte.

»Wie? Kein Selbstgebrannter?« fragte einer der Jungs.

»In einer Höhle brauchen wir keinen Selbstgebrannten, mein Junge«, konterte Seamus streng. Mit angewidertem Schniefen nahm er auf einer bequemen Felsrundung Platz.

»Was ist denn das für ein › Selbstgebrannter‹?« fragte Marmion, an Sally gewandt.

»Ein einheimisches Getränk«, erwiderte Sally. Da bemerkte sie den Nebel, der vom Wasser aufstieg, und sie begann verstärkt auf ihre Umgebung zu achten. »Marmion, das ist ja genau wie…«

Marmion unterbrach ihren erstaunten Ausruf, indem sie Sally die Hand auf den Arm legte. »Genauso, wie Whittaker Fiske und dieser ungläubige Thomas von einem Sohn berichtet haben… Wir werden später sprechen.«

Marmion pflegte stets in aufrechter Haltung dazusitzen, und das schaffte sie sogar auf dem harten Höhlenboden, die Beine untergeschlagen, die Hände locker auf die Knie gelegt. Sally fand, daß diese alte Meditiationsstellung recht angebracht schien, und so ahmte sie selbige nach, während der Nebel um sie herum immer dichter wurde und zu strudeln begann.

Sie erinnerte sich, wie sie tief einatmete und sich fragte, ob die Luft vielleicht irgendeine Art Halluzinogen enthalten mochte. Doch falls dem so gewesen sein sollte, war es jedenfalls nichts, was ihr jemals irgendwo begegnet wäre. Und sie war praktisch schon überall gewesen, wo auch die Intergal war.

Alle hörten das Tschuk-tschuk des Hubschraubers, das über den Fjord hallte. Yana stürzte aus der Küche, wo sie beim Zuschneiden des Gemüses für die Abendmahlzeit geholfen hatte. Sie schirmte die Augen gegen die im Westen stehende Sonne ab und sah, wie die Sonnenstrahlen sich an den Rotorblättern brachen.

Fingaard und einige andere Männer eilten den Fluchtweg hinunter auf die großräumige Terrasse der Hafenanlage. Sean war an diesem Morgen mit den Fischern ausgefahren. Yana kehrte dem anfliegenden Hubschrauber den Rücken zu, blickte den von hohen Felsenwänden eingesäumten Fjord entlang und hielt nach heimkehrenden Fischerbooten Ausschau. Sie war bestürzt gewesen, als sie gesehen hatte, wie leicht die Curraghs gebaut waren: nur ein paar auf einem Rahmen aus Latschenkiefernholz gespannte Häute mit einem breiten Brett, das in der Mitte durchbohrt war, um einen schmalen Mast hineinstecken zu können, an dem ein kleines Segel hing. Die Strömung beförderte sie mit der Ebbe hinaus und mit der Flut herein; ansonsten war es langwierige, harte Paddelarbeit den Fjord hinauf, wenn der Wind gerade nicht aus der richtigen Richtung blies, um das Segel benutzen zu können.

Yana seufzte erleichtert, als sie am Horizont schwarze Flecken erblickte, die soeben weiße Segeldreiecke hißten, um den Fjord hinaufzukommen. Dann wandte sie sich wieder dem nahenden Hubschrauber zu. Gerade hatte sie den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als Nanook ihr wie beiläufig den Weg abschnitt.

»Komm schon, ich muß mit Johnny sprechen, Nanook!«

Die große schwarzweiße Katze gab ein Geräusch von sich, das halb ein Knurren, halb ein Befehl war. Bunny hatte gesagt, daß Nanook zu jenen sprechen konnte, von denen er wollte, daß sie ihm zuhörten.

Sein Kommentar bedurfte keiner Worte. Nanooks Warnung war völlig unmißverständlich.

»Stimmt irgend etwas mit dem Hubschrauber nicht, Nanook?«

fragte Yana.

Nanook nieste und nahm Platz, versperrte ihr immer noch den Weg die Treppe hinauf.

Sie sah etwas genauer hin und stellte fest, daß vorn im Hubschrauber zwei Männer saßen. Aber nur einen davon wollte sie gern sehen.

»Hoppla!« Sie machte kehrt und eilte ins Haus zurück.

Nanook folgte ihr. Das überraschte sie nun wirklich. »Ich werde schon nicht hinausgehen, wenn du es nicht möchtest«, teilte sie ihm mit.

Er nieste wieder und ließ sich am Herd nieder.

»Ardis, besteht vielleicht die Möglichkeit, Johnny Greene anzudeuten, daß ich hier bin und daß Sean mit den Curraghs ausgefahren ist? Sie sind gerade auf der Heimfahrt.«

»Klar, wenn das nötig ist«, erwiderte Ardis grinsend, während sie ihre Schürze abnahm. »Möglicherweise hat Johnny einen Brief für mich, von meiner Schwester oben in New Barrow. Sie ist guter Hoffnung – mal wieder.«

Die letzte Katze in McGees Paß hieß Shush, weil sie in ihrer Jugend ein sehr lautes Kätzchen gewesen war. Das war schon lange her.

Shush wäre nicht die letzte überlebende Katze im Paß gewesen, wenn es ihr an Diskretion gefehlt hätte. Sie war so leise wie der Rauch, so schnell wie ein Feuerfunke und sehr, sehr diskret. Die Diskretion hatten sie gelernt, kurz nachdem Satok gekommen war, um bei den Leuten zu leben. Der Schädel auf seinem Stab hatte einst die Schultern ihres Vaters geziert.

Sie war es gewesen, die den Katzen von Kilcoole die Nachricht hatte zukommen lassen, daß die Leute von McGees Paß für den Erzabbau stimmen würden, wozu Satok sie gedrängt hatte. Offen gestanden wußte sie selbst nicht so recht, ob sie es tatsächlich tun würden oder nicht, aber darüber offen zu sprechen, hätte Satok nur herausgefordert. Dumm von den Katzen von Kilcoole, nur zwei Halbwüchsige vorbeizuschicken! Und jetzt hatte Satok das Mädchen auch noch in seiner Gewalt. Vielleicht würde auch ihr Schädel ihm schon bald als Schmuck dienen.

Shushs Familie war ermordet worden. Und was aus ihrer Sicht noch kritischer war – sämtliche Kater waren ebenfalls getötet worden. Eine Hitze nach der anderen hatte Shush allein durchlitten, und sie hatten lieber den Tod in den Wäldern riskiert, nur damit Satok ihre Schreie nicht hörte. Gelegentlich hatte Krisuk Connelly Mitleid mit ihr, doch allen anderen hatte man eingebleut, daß die Katzen Spione seien; was sie ja auch tatsächlich waren, denn schließlich war es nur zu natürlich, umherzuschleichen und zu spionieren und die eigene Neugier zu befriedigen.

Bis Shush von den Katzen von Kilcoole erfuhr, hatte sie sogar geglaubt, die allerletzte Katze auf ganz Petaybee zu sein.

Na ja, zumindest die allerletzte richtige Katze. Natürlich gab es da die Luchse und die Wildkatzen, und ab und zu hatte sie auch den Jagdschrei einer Schneekatze vernommen. Doch ihre Mutter hatte ihr beigebracht, daß diese Art von Kreaturen einen auf der Stelle auffressen konnten, wenn sie einen schlechten Tag hatten oder gerade nicht zu einem Schwätzchen aufgelegt waren.

Und so war Shush jahrelang allein geblieben, hatte sich durchgeschlagen, das Dorf ausspioniert und sich jedesmal rar gemacht, wenn Satok in die Nähe kam. Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet, die Menschen der Katzen von Kilcoole zu der Höhle zu führen, aber irgendwie hatte sie sich gedacht, daß diese Leute Satok nicht klein beigeben würden, weil sie eben von woanders her kamen.

Als das Mädchen eingefangen wurde, war niemand da, bei dem Shush sich hätte ausweinen können. Der Hund lag da, von Satoks grausamem Stock niedergestreckt, wie Shushs eigene Familie einst dagelegen hatte. Krisuk und der Junge aus Kilcoole befanden sich an dem toten Ort. Nicht einmal, um ihren eigenen Wurf zu retten, hätte Shush sich dort hingetraut.

Statt dessen rannte sie in die Gegenrichtung davon, den Weg hinunter und aus der Stadt hinaus, verfolgte die Hufabdrücke der großen Pferde zurück, die sich im Schnee schon fast verloren hatten.

Wenn sie ermüdete, ruhte sie sich aus, leckte sich den Schnee von den Pfoten und dachte nach. Die Katzen von Kilcoole hatten Kontakt zu ihr aufgenommen, aber Shush wußte nicht, wie sie das getan hatten.

Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, einen Hasen auszunehmen und hatte mit der Pfote auf dem halbaufgetauten Boden gescharrt, als plötzlich eine Stimme in ihrer eigenen Sprache zu ihr redete – in ihrem Geist. Sie hatte die Stimme gefragt, wer sie war, hatte daran gedacht, daß es sich vielleicht um einen Geist eines ihrer Verwandten handeln könnte, hatte gefragt, ob es sicher sei, dort ein weiteres Leben zuzubringen, doch die Stimme hatte geantwortet, daß sie zwar eine Katze sei, genau wie Shush selbst, aber aus dem Dorf Kilcoole.

Die Stimme hatte einem Kater gehört. Da war Shush sich ganz sicher. Die Frage war nicht sehr genau gefaßt gewesen. Der Kater hatte wissen wollen, ob die Leute von McGees Paß für die Firma Bergbau betreiben würden oder nicht. Shush hatte geantwortet, daß sie es bestimmt tun würden, wenn man es ihnen sagte. Es waren keine schlechten Leute, aber Satok hatte sie der Partnerschaft mit dem Planeten und mit Kreaturen wie ihr selbst beraubt, hatte sie für seine eigenen Zwecke mißbraucht und gegen sie gerichtet.

Der Kater hatte nichts davon gesagt, daß Menschen vorbeikommen würden, doch Shush hatte schon gespürt, daß Besuch anrückte. Und tatsächlich waren sie gekommen! Und jetzt war Satok dabei, sie zu teilen und zu vernichten, wie er schon so viel von dem Dorf vernichtet hatte.

Deshalb war Shush fortgegangen, da sie nichts mehr hatte, worauf sie noch hätte warten können. Sie sprang von einem Hufabdruck zu nächsten. Wenn die Spur verschwunden war, schnüffelte sie eben. Sie spürte, wie der heulende Wind ihr Fell gegen den Strich zauste.

In jener Nacht, es war schon spät gewesen, hatte sie die Stelle gefunden, wo Pferde- und Hundefährten auf weitere Spuren trafen, darunter auch jene, die Shush die Lippen heben ließ, als sie die Fährte erkannte. Eine Wegkatze, höchstwahrscheinlich eine Katze aus Kilcoole, da die Leute auch aus Kilcoole gekommen waren. Eine Große. Und weitere Pferdefährten, wie auch menschliche. Sie hatte mit den Krallen an den Katzenspuren gekratzt, hatte den Kopf dagegen gerieben, sie mit ihrem Duft markiert. Den anderen Düften nach zu urteilen, die sich mit dem der großen Katze vermengt hatten, war sie in Gesellschaft von Artgenossen gewesen, so daß es unwahrscheinlich schien, daß die große Katze Shush auffressen würde.

In dem Glauben, daß die Leute möglicherweise dicht vor ihr lagern könnten, folgte Shush den Spuren. Doch sie war klein und der Weg lang, und Satok hatte wieder einmal gesiegt. Sie heulte, damit die Katzen von Kilcoole ihr antworteten, doch es blieb still.

Schließlich, bei Tagesanbruch, hatte sie ein paar Stunden geschlafen, um sich dann wieder auf den Weg zu machen, obwohl die Fährten inzwischen älter und sehr viel schwieriger zu verfolgen waren. Aber was blieb ihr schon anderes übrig?

Matthew Luzon war beleidigt und wütend über die Haltung des Piloten. Er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, daß dieser Hauptmann Greene ihn und seinen Auftrag nicht ernst genug nahm.

Greene strahlte keine positive Einstellung aus. Außerdem schien er ein ungewöhnlich schlechter Pilot zu sein, denn gleich, in welcher Höhe sie flogen – er ließ kein einziges Luftloch aus, flog mal viel zu dicht an Berggipfeln vorbei, mal in undurchsichtige Wolkenbänke hinein.

Und das war alles geschehen, nachdem sie endlich vom Fleck gekommen waren. Der Mann hatte schier endlos viel Zeit damit vertrödelt, verschiedenste Gegenstände im Frachtnetz hinter den Sitzen zu verstauen. Tatsächlich wäre der Hubschrauber durchaus groß genug gewesen, um sämtliche Assistenten Matthews mitzuführen, hätte der Pilot nicht diese Fracht aufgenommen.

»Sagen Sie mal, können Sie das Zeug nicht hierlassen?« hatte Matthew schließlich gefragt, als er mit der Geduld am Ende gewesen war, doch der Pilot hatte nur gelächelt und geantwortet: »Nein, auf keinen Fall. Die Dorfbewohner am Fjord brauchen das Zeug. Bin gleich bei Ihnen.«

Und dann hatte dieser gräßliche Flug begonnen, und Braddock hatte sich über den ganzen Fußboden erbrochen, so daß sie auf dem ersten Teil der Reise auch noch mit dem Gestank zu kämpfen hatten.

Nach der Landung in Harrisons Fjord, einem hübschen kleinen Ort, war Luzon ausgestiegen, um Braddock Gelegenheit zu geben, seinen Mist wieder zu beseitigen. Er hatte sich einen windgeschützten Felsen gesucht, wo er mit seinen Notizen fortfahren konnte. Der Pilot hatte alle Fenster und Türen geöffnet, um den Rest des Gestanks zu vertreiben.

»Müssen erst noch abladen, Dr. Luzon«, sagte der Mann, obwohl Matthew ein Gebaren an den Tag gelegt hatte, das nur zu deutlich seine Ungeduld zeigte. »Und auftanken. Sie können ruhig was essen gehen.« Dann hatte er etwas leiser gesprochen, damit Braddock ihn nicht hören mußte, der rücklings auf einem Stück Moosboden lag, die Beine an den schmerzenden Bauch gezogen. »Die machen hier guten Bratfisch.« Mit einer wegwerfenden Geste hatte Matthew ein derart fettes Essen abgelehnt. »Und«, fuhr der Pilot fort, auf Braddock zeigend, »man sollte ihm eine Pille gegen Luftkrankheit besorgen. Er hätte eigentlich Bescheid sagen sollen, daß er Probleme hat, bevor wir losgeflogen sind.«

Matthew nickte und fragte sich, weshalb der Pilot nicht die Höflichkeit besessen hatte, sich vor ihrem Abflug vom Raumhafen danach zu erkundigen. Dann trafen die Dorfbewohner ein, um beim Löschen der Fracht behilflich zu sein, und der Pilot hatte sich einer Frau in der Gruppe zugewandt, um sie zu begrüßen. Sie war ein etwas anderer bäuerlicher Typ als jene, die Matthew in Kilcoole zu Gesicht bekommen hatte. Sie plauderte liebenswürdig mit dem Piloten, während er mit einigen der Männer den Hubschrauber entlud.

Matthew hielt die Strapazen des Fluges, die er hatte durchmachen müssen, in seinen Notizen fest, um sicherzustellen, daß sie Eingang in die Personalakte des Piloten fanden. Er bemerkte, daß irgend jemand Braddock eine Decke gegeben hatte, um den kalten Wind abzuhalten, den die im Leerlauf kreiselnden Propellerblätter erzeugten.

Mit einem Blick auf das Dorf gelangte Matthew zu dem Schluß, daß die Fischerei hier wohl die wichtigste Industrie sein dürfte. Zweifellos wäre dies sicherlich eine interessante Subkultur für die Feldforschung gewesen, da Küstenvölker, die gemäßigtere Zonen bewohnten, sicherlich andere Sitten, Gebräuche und Überlieferungen besaßen als die Bewohner des Landesinneren. Matthew machte sich eine Notiz –

da Braddock nicht in der Verfassung war, um ein Diktat aufzunehmen

–, später noch einmal zu einer ordentlichen Untersuchung hierher zurückzukehren.

Als er wieder den Blick über das Dorf schweifen ließ, kurz bevor er den mittlerweile von seiner Fracht befreiten Hubschrauber besteigen wollte, sah er zu seinem Erstaunen eine sehr große Katze, die in einem Türeingang in der Sonne döste. Von der ungefähren Größe eines Panthers, schätzte er, nur daß sie nicht den gleichen Körperbau aufwies wie diese geschmeidigen, räuberischen und mittlerweile beinahe ausgestorbenen Tiere. Sie war zwar sehr groß, glich aber doch eher einer riesigen Hauskatze mit ziemlich gewöhnlicher Schwarzweißfleckung. Möglicherweise eine der Wegkatzen, von denen er schon so viel gehört hatte: Eines jener Wundertiere, die bei der Bergung der Fiskes geholfen und bei der Heilung von Frank Metaxos eine herausragende Rolle gespielt haben sollten.

Er stand auf, schloß sein Notepad und überlegte, ob es wohl klug sei, sich dem Tier zu nähern. Es schien keinen Herrn zu haben. Wenn es sich um ein herrenloses Exemplar handelte, könnte er es vielleicht für das Labor requirieren, um es eingehend zu untersuchen. Gerade wollte er dem Piloten befehlen, das Tier solange in einen Käfig zu sperren, bis er es abholen würde, als dieser ihn bedrängte, zu ihm zu kommen, und ihn schließlich ziemlich grob an Bord hievte. Braddock saß bereits angeschnallt in seinem Sitz. Glücklicherweise wirkte er eher schläfrig als krank. Bevor Matthew die Katze erwähnen oder gegen den überstürzten Abflug protestieren konnte, setzten sich auch schon die Rotorblätter wirbelnd in Bewegung, und das Luftfahrzeug schoß über das tiefe Gewässer des Fjords, hoch über den Masten einiger primitiver Segelboote.

Merkwürdigerweise war der Flug zum südlichen Kontinent weitgehend frei von den Turbulenzen, denen sie über Land begegnet waren. Matthew versuchte, den Lärm in der Kabine zu übertönen, um eine Frage über das Dorf zu stellen, das sie soeben verlassen hatten.

Schließlich behalf er sich damit, Greene an der Schulter anzufassen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch der Mann lächelte nur liebenswürdig, tippte an seine Kopfhörer und zuckte die Schultern.

Matthew ließ sich wieder in seinen Sitz sinken und schnallte den Gurt enger – dann mußte er ihn wieder etwas lockern, damit er keine Durchblutungsstörungen im Oberkörper bekam. Er mochte die Strapazen des Reisens nicht und fragte sich, warum es eigentlich nur einen Satz Kopfhörer an Bord gab. Und so unternahm er eine gewaltige Anstrengung, sich im Laufe dieser tristen, wahrscheinlich sehr langwierigen Reise zusammenzureißen. Glücklicherweise überdeckten die kalte Luft und der Geruch von Maschinenöl die leise Duftspur von Braddocks Mißgeschick.

Jedesmal, wenn Matthew mit einem dieser Vehikel flog, beschloß er, Flugstunden zu nehmen, denn die Prozedur schien ihm lächerlich einfach zu sein; doch irgendwie schien er nie die Zeit für eine förmliche Ausbildung zu finden. Einmal hatte ein schon lange nicht mehr aktuelles Mitglied seiner Assistentenschar, ein möglicherweise doch etwas zu leicht zu beeindruckender junger Mann, ein gewisses Fliegertalent an den Tag gelegt. Doch kaum hatte er das Fliegen erlernt, als seine Persönlichkeit sich leider einschneidend veränderte und er nicht mehr jene Qualitäten rückhaltloser Loyalität und bedingungslosen Gehorsams aufwies, die Matthew seinen Assistenten abverlangte.

Matthew hegte den Verdacht, daß der Mann, der diesen Hubschrauber flog, ebensowenig von jenem Kaliber war, wie man es von einem Adjutanten erwartete. Matthew sah seine Meinung bestätigt, als er einen Bericht aus seinem Aktenkoffer holte und dabei, unter seinem Sitz verstaut, den Satz Kopfhörer entdeckte, den Greene ihm eigentlich schon von Anfang an hätte anbieten müssen. Sofort stöpselte er sie in die Buchse an seiner Armlehne und setzte sie auf.

Die explodierende Statik in seinen Ohren ließ ihn die Kopfhörer hastig wieder abreißen.

Gebieterisch tippte er dem Piloten auf die Schulter und zeigte auf das Gerät. Der Pilot schüttelte grinsend den Kopf, schob das Mikrofon beiseite und beugte sich vor, um zu sagen: »Kaputt!«

Matthews Reaktionen waren ein Gemisch aus Erstaunen, Zorn, Frustration und grenzenlosem Ekel über die Ineffizienz und das Desinteresse, das die Bewohner dieser Welt an den Tag legten. Im ganzen Weltall waren Menschen verstreut; einige von ihnen lebten in einer hochentwickelten, vollkommenen ausgesteuerten Umwelt, von der Intergal skrupulös gewartet. Aber ausgerechnet er mußte auf einer unglaublich primitiven Welt landen, mit einem Satz Kopfhörer, wie er sie schon zu Hunderten benutzt hatte, der nicht funktionierte –

sicherlich wegen einer technischen Kleinigkeit, die man mühelos hätte beheben können.

Natürlich stellte diese Sorte Luftfahrzeug nur eine geringfügige Verbesserung gegenüber seinem uralten Gegenstück dar. Die alten Maschinen hatten weder große Geschwindigkeit noch Reichweite gehabt und waren auch in ihrer Flughöhe eingeschränkt gewesen.

Dieses Gerät hier war mit seinen unberechenbaren Ausfällen alles andere als auf der Höhe der Zeit; es besaß nicht genug Schubkraft, um die Planetenatmosphäre zu verlassen, und außerdem war es ohrenbetäubend laut.

Dafür bedurfte es allerdings nur einer sehr geringen Landefläche, konnte in der Luft schwebenbleiben, ja, konnte zur Not sogar nachts ohne die Hilfe von Landefeuern einigermaßen sicher landen. Die Fähigkeit, überlegte Matthew, als er den Kartenüberblick in seinem Armbandgerät überprüfte, war auch dringend erforderlich.

Er wollte den Piloten eigentlich fragen, ob es häufig Flüge zum südlichen Kontinent gab. Das mußte doch bestimmt so sein. Dieser Planet war schon seit langem, vom Norden bis zum Süden, zur Rekrutierung von Soldaten genutzt worden, eine Betätigung, die diese sogenannte intelligente Welt nicht zu verhindern schien. Ach ja, da fielen ihm seine Notizen wieder ein, und er qualifizierte diesen Gedanken: Es waren die Jungen die sich zum Militärdienst meldeten, also jene Bewohner, die noch nicht durch irgendwelche Toxine im Boden dermaßen mutiert waren, daß sie jene Drüsendeformation und die Deponien von ›braunem Fett‹ entwickelt hatten, die es den älteren Mitgliedern der Population angeblich gestatteten, diese extremen Temperaturen zu überleben.

Die Harrisons Fjord auf dem Südkontinent nächstgelegene Stadt war Bogota an der Mündung des Lacrimas. Die große Halbinsel, auf der sich die Stadt befand, ragte wie ein großer, klobiger Daumen ins Meer hinaus. Natürlich hatte Matthew die Landkarte dieses Gebiets studiert, in dem gerade die Winterjahreszeit einsetzte. Die meisten Populationszentren – als ›Städte‹ konnte man sie ja wohl kaum bezeichnen – befanden sich auf den Küstenebenen in der Nähe größerer Flüsse: Bogota am Lacrimas, Kabul an der östlichen Abzweigung des Neuen Ganges, sowie Lhasa am Sierra Sangre. Ein weiteres Dorf mit dem Namen Sierra Padre lag ein Stück den Sierra Sangre hinauf am Fuß des Sierra-Padre-Gebietes. Es gab noch eine weitere Siedlung namens Kathmandu, die sich isoliert in einem anderen Gebirgszug befand, dem man die optimistische Bezeichnung Shambalas verliehen hatte.

Es schien wahrscheinlich, daß Kathmandu der geeignete Ort war, um nach einer Kultur zu suchen, die nicht von den aberwitzigen, pseudomystischen Theorien der Einheimischen des Nordens verfälscht worden war. Als größtes und zugänglichstes Populationszentrum dürfte Bogota dagegen höchstwahrscheinlich davon beeinflußt worden sein.

Stundenlang, nachdem sie den warmen Hafen von Harrisons Fjord verlassen hatten, flogen sie über das kalte Grau des Ozeans, flankiert von der eisverkrusteten Restküste des nördlichen Kontinents. Dies aber deprimierte Matthew nicht sonderlich, da kaltes Grau eine seiner Lieblingsfarben war. Riesige Eisbrocken trieben in diesem Wasser, so groß wie Inseln oder kleinere Kontinente. In den früheren Berichten war die Vermutung geäußert worden, daß der Südrand des nördlichen Kontinents von zahlreichen Gletschern beherrscht wurde, die ständig in die ungedämmten Ozeane kalbten, die den Planeten umgürteten.

Die Sonne schlug Saphire aus den Rissen im Eis, und das Grau des klaren Salzwassers wurde von umherflitzenden Fischen durchbrochen.

Ganze Delphinscharen folgten dem Schatten des Hubschraubers durch den Meerbusen. Matthew beachtete sie ebensowenig, wie er den wasserspeienden und trompetenden petaybeeanischen Röhrenwalen Aufmerksamkeit schenkte: Die hatten ihren Namen der Tatsache zu verdanken, daß ihre Vorfahren aus gefrorenen Zellen bestanden hatten, die man später in Reagenzgläsern inkubiert hatte. Nachdem sie unter kontrollierten Umweltbedingungen bis zur Reife herangewachsen waren, hatte man die großen, kräftigen Säugetiere in den frisch ausgeformten Ozean des Planeten entlassen. Die Wale schienen, genau wie die Delphine auch, von der Unvertrautheit des Hubschraubers angezogen zu werden.

Gegen Abend gelangten sie endlich in Sichtweite der Südküste. Es war ein derart spektakulärer Anblick, daß selbst Matthew sich gezwungen sah, ihn zu bewundern.

Wenn auch der Hafen, genau wie sein Gegenstück in Harrisons Fjord, Wasser enthielt, das von den geothermalen Quellen und Flüssen erwärmt wurde, über die der Planet reichlich zu verfügen schien, war der Rest der Küstenlinie doch von Gletschern geprägt. Riesige Eisklippen glitzerten weiß und kristallin: von tiefstem Indigo in den Einbuchtungen bis zu einem strahlend hellem Kobaltblau, wo die untergehende Sonne die Risse traf. Kalbende Gletscher zersplitterten zu riesigen Klumpen, die mit Getöse ins Meer krachten und aus den schäumenden Wassermassen wieder an die Oberfläche trieben, wo sie ihre neugewonnenen Konturen zur Schau stellten. Auf anderen Packeisschollen aalten sich Robben und Otter und Walrösser mit großen Hauern, wenn sie sich nicht gerade im eisigen Meer tummelten.

Als sich der Hubschrauber dem südlichen Kontinent näherte, ging die Sonne langsam unter und brannte über dem Wasser, um die ganze Szene in Schattierungen von Malve bis Mandarine einzutauchen.

In etwas größerer Nähe erblickten sie Karibu-Herden, die über die Küstenebenen rannten, und riesige weiße Bären, die über das Eis schlichen oder in den Seen schwammen, die sich über das Flachland verteilten wie Korallensplitter.

Verglichen mit diesen spektakulären Panoramen, war der Anblick Bogotas selbst eine einzige Enttäuschung.

Die Siedlung bestand aus einer Doppelreihe von barackenähnlichen Bauten, kaum einen Kilometer lang; einem Landeplatz, neben dem in gefährlicher Nähe ein Stapel Treibstoffässer stand; sowie eine Anzahl kleiner Fellboote, nicht unähnlich jenen, die Matthew schon in Harrisons Fjord zu Gesicht bekommen hatte. Sie flogen dicht genug über die Kleinstadt hinweg, um jene ihrer Bewohner beobachten zu können, die gerade müßig umher standen. Die einheimische Tracht schien aus abgelegten Uniformteilen des Firmenkorps zu bestehen.

Das Eintreffen des Hubschraubers bot offensichtlich keinen besonders aufregenden Anblick, denn nur wenige Köpfe richteten sich nach oben, um seinem Vorbeiflug zu beobachten.

Mit großer Feinfühligkeit setzte der Pilot den Hubschrauber direkt neben den Treibstoffkanistern auf, stellte die Maschinen ab und kletterte wortlos hinaus, um sich ans Auftanken zu machen.

Merkwürdigerweise kam niemand herbei, um die Maschine zu überprüfen, obwohl Matthew keine hundert Meter entfernt Leute bemerkte, die das Geschehen beobachteten. Während Greene auftankte, stieg Matthew aus und verlangte ein paar Auskünfte, nun, da der Mann nicht mehr so tun konnte, als würde er ihn nicht verstehen.

»Müßte nicht irgend jemand Ihre Landung registrieren oder so was, Greene?«

»Wozu? Die kennen den Hubschrauber und wissen auch, daß ich es bin, der ihn fliegt. Hätte ich irgend etwas abzuliefern gehabt, hätte ich die Scheinwerfer aufblitzen lassen. Dann wäre jemand vorbeigekommen, um es abzuholen.«

Matthew verdaute diese Erklärung erst einmal – ein weiteres Beispiel für die Hemdsärmeligkeit und das Desinteresse, die auf diesem Planeten so überreich zu beobachten waren und die ganz bestimmt ein Ende finden würden, gleich wie die ganze Angelegenheit ausgehen mochte.

»Ist das die ganze Stadt?« Er wies mit einer Geste auf die Landebahn und die beiden Barackenreihen.

»Bogota? Ja. In Bogota leben nicht viele Leute.«

»Weshalb nicht?«

»Es ist instabil. Sie haben die Gletscher ja gesehen. Die sorgen dafür, daß der Boden sich ständig bewegt. So wird man jede Nacht in den Schlaf gewiegt, obwohl das Wiegen manchmal sehr viel heftiger ist als zu anderen Zeiten. Und dann sind da die Bären. Die ernähren sich zwar hauptsächlich von Fisch, aber wenn ihnen mal nach Abwechslung im Diätplan zumute ist, schnappen sie sich alles, was sie kriegen können, einschließlich Menschen.«

Braddock, dem nun, da die Wirkung der Pille nachgelassen hatte, wieder übel zu sein schien, war aus dem Hubschrauber gestiegen. Mit einiger Anstrengung unternahm er den Versuch, einen Teil seiner üblichen Assistentenpflichten wieder aufzunehmen, wobei er sorgfältig auf einen neutralen Gesichtsausdruck achtete. »Empfehlen Sie uns, diesen Ort als Ausgangsbasis zu nutzen?«

Der Pilot kratzte sich am Kopf und schob sich die Mütze tiefer in die Stirn. »Na ja, dieser Ort ist auch nicht schlimmer als alles andere auf diesem Kontinent. Er hat den Status eines Depots; nicht, daß er alle Annehmlichkeiten besäße, die der Raumhafen zu bieten hat.

Eigentlich ist es in erster Linie ein Umschlagplatz, um Rekruten einzusammeln und Soldaten aus diesem Gebiet nach ihrer Entlassung zurückzubefordern. Ehrlich gesagt, bin ich hier noch nicht so viel herumgeflogen, bis auf Bogota und Sierra Padre. Die warmen Flüsse machen das Gelände im Sommer zum Sumpf und sorgen während des restlichen Jahres für mächtige Turbulenzen. Außerdem kommt man nicht weit, bis man auch schon in den Bergen ist. Sierra Padre ist ein kleines bißchen größer, ein kleines bißchen behaglicher, und es ist der Ort, den viele Leute aus dem Süden ihr Zuhause nennen. Natürlich sind hier sehr viele Leute nicht permanent seßhaft, sondern ziehen umher, je nach Jahreszeit, vom Jagdlager zum Fischereilager und zurück.«

»Danke, Hauptmann Greene«, erwiderte Matthew. »Wenn dem so ist, haben wir keine Zeit zu verlieren, um Sierra Padre noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Steigen wir also wieder ein und setzen wir den Flug fort.«

Es gelang Braddock nicht gänzlich, ein Stöhnen zu ersticken, und Matthew warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er hatte eigentlich geglaubt, daß sein Hauptassistent aus härterem Holz geschnitzt sei.

»Na ja, eins muß ich Ihnen sagen«, antwortete Johnny Greene. »Das wird mir Ärger im Hauptquartier einbringen. Ich habe nämlich noch eine weitere Mission zu fliegen, sobald ich zurück bin.«

»Darf ich Sie daran erinnern, daß ich im Augenblick Ihre Mission bin, Hauptmann, und daß mein Auftrag die allerhöchste Priorität genießt?«

»Jawohl. Machen wir uns also gleich auf den Weg. Dann setze ich Sie in Sierra Padre ab, bevor ich mich auf den Rückflug begebe.«

»Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß Sie hierbleiben und während dieser außerordentlich wichtigen Untersuchungsmission als unser Transportflieger fungieren, mein Herr.«

»Meine Befehle lauten lediglich, Sie hierherzufliegen und zu meinem nächsten Auftrag nach Norden zurückzukehren. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Es dürfte nicht sehr lange dauern.

Warum richten die Herren sich nicht in Sierra Padre ein, erkunden ein bißchen das Land per Schnokel und unterhalten sich mit den Leuten?

Dann kann ich in ein paar Tagen zurückkehren, um Sie wieder abzuholen.«

»Ich würde es vorziehen, wenn Sie etwas präziser werden könnten, Hauptmann.«

»Ja, ich auch, mein Herr, aber im Augenblick ist doch alles ziemlich durcheinander. Sie haben doch bestimmt ein tragbares Funkgerät dabei, nicht wahr?«

»Braddock hat eins. Natürlich.«

»Schön. Falls ich also nicht in der Nähe sein sollte, sobald Sie bereit sind, zu einem der anderen Dörfer weiterzufliegen, brauchen Sie nur die Station anzufunken. Dann werden die entweder mir Bescheid geben oder jemand anders schicken.«

»Im Notfall werde ich diese extreme Unbequemlichkeit schon auf mich nehmen, Hauptmann Greene. Doch obliegt es Ihrer Verantwortung, und zwar ausschließlich Ihrer, dafür zu sorgen, daß mir in drei Tagen eine Transportmöglichkeit zu meinem nächsten Ziel zur Verfügung steht. Sollte ich durch Ihre Abwesenheit auch nur die geringste Unbequemlichkeit erleiden, können Sie in nullkommanichts bestenfalls noch mit Papierfliegern spielen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»O ja, mein Herr. Ich weiß schon, wie töricht es wäre, einem so wichtigen Mann wie Ihnen in die Quere zu kommen«, antwortete Greene in einem Tonfall, der Matthew alles andere als unterwürfig genug vorkam.

Plötzlich erwachte Braddock zum Leben. »Einen Moment mal.

Greene? Wie lautet denn Ihr Vorname?«

»Johnny natürlich, mein Guter. Und Ihrer?« erwiderte Greene und schlug dabei die Augenlider auf außerordentlich höhnische und impertinente Weise auf.

»War da nicht«, fragte Braddock, an Matthew gewandt, »ein Hauptmann John Greene, der den Hubschrauber mit Dr. Fiske steuerte, als er in dem Vulkangebiet abstürzte?«

Matthew war erleichtert. Seine Entscheidung, Braddock mitzunehmen, hatte sich als richtig erwiesen. Der Junge mochte zwar winseln und kotzen, doch sein Verstand blieb unbeeinträchtigt von seinem körperlichen Unbehagen. Matthew hätte selbst auf diesen Namen stoßen müssen, aber er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, neue Daten aufzunehmen.

Doch bevor er die Frage ausformulieren konnte, die er als nächstes stellen wollte, ergriff der Hauptmann wieder das Wort.

»Jawohl, mein Herr, der bin ich, und um die Wahrheit zu sagen, Dr.

Fiske hat mich als eine Art Geste der Höflichkeit an Sie ausgeliehen.

Normalerweise stehe ich ausschließlich zu seiner Verfügung.«

Matthew lächelte. »Ja, dann, Hauptmann Greene! Bitte danken Sie doch meinem alten Whittaker für seine Freundlichkeit und teilen Sie ihm mit, daß ich Sie ihm noch eine Weile vorenthalten möchte, damit Sie mir bei meinen Ermittlungen behilflich sind. Wenn Sie uns bitte nach Sierra Padre bringen würden, können wir unsere Zeit dort wenigstens dazu nutzen, unsere Untersuchungen fortzusetzen. Aber stellen Sie auf jeden Fall sicher, daß Sie auch zurückkehren!«

Greene salutierte zackig.

Shush wachte auf, erlegte eine Wühlmaus und vertilgte den Nager, bevor sie sich wieder auf den Weg machte, der Spur der Lockenfelle und der Wegkatze von Kilcoole folgend.

Sie befand sich weit außerhalb ihres Reviers, unter wilden Wesen, die sie ebenso beiläufig töten und verputzen würden, wie sie es mit der Wühlmaus getan hatte. Doch je weiter sie sich von dem Paß entfernte, um so wohler fühlte sie sich. Schon der bloße Schlamm und Schnee unter ihren Pfoten schien ihnen neue Sprungkraft zu verleihen, so daß ihr Tritt leichtfüßiger, ihr Gang schneller wurde.

Kurz nachdem Shush den Marsch wieder aufgenommen hatte, entdeckte sie auch die frühere Lagerstelle der Menschen: kalte Asche, aufgewühlter Schnee und Matsch, über den Boden verteilte Grashalme von der Pferdefütterung, dazu ein paar kleinere Knochen der Katzenspeisung. Ein zaghaftes, furchtsames Schnüffeln, und sie stellte erleichtert fest, daß es Hasen- und keine Katzenknochen waren. Shush beschnüffelte die Duftmarke der großen Katze und trottete weiter.

Sie dachte über Satok nach, über ihre massakrierte Rasse und über das Mädchen, während sie weiterzog, doch mußte sie darauf achten, daß sie sich nicht allzusehr in Tagträumerei verlor. Einmal bemerkte sie gerade noch rechtzeitig, wie ein Wolf sie aus dem Gestrüpp beobachtete. Glücklicherweise konnten Wölfe nicht auf Bäume klettern, sie dagegen schon. Diese Nacht verbrachte sie schlafend auf dem Baum und setzte ihren Marsch am Morgen fort.

Am Abend pirschte sie sich an ein Eichhörnchen heran, und als sie es ansprang, im Purzelbaum durch die Luft sausend, nahm sie gerade noch rechtzeitig die Witterung eines Fuchses auf, der nur wenige Fuß entfernt war. Es lenkte sie ab, und so konnte das Eichhörnchen in seinen Bau zwischen den Baumwurzeln flüchten, und Shush schoß hinterher und zog gerade noch die Schwanzspitze ein, als auch schon die Nase des Fuchses in der Öffnung erschien.

Während sie keuchend dalag, ohne noch auf das Eichhörnchen zu achten, das sich ein Stück tiefer ins Erdreich eingegraben hatte, hätte sie am liebsten losgeheult. Es war einfach zu viel. Es war zu weit. Es gab zu viele Dinger hier, die sie auffressen wollten, und sie war ganz allein; und außerdem hatte sie das Gefühl, daß sie schon bald wieder rollig werden könnte.

Ich bin ganz allein, rief sie, und etwas antwortete ihr: Aber ich habe dich doch erschaffen, um allein zu sein.

Nicht die ganze Zeit, widersprach sie, und es sagte: Nein.

Ich habe Angst, jammerte sie. Menschen würden mich umbringen, Raubtiere würden mich auffressen, und die Katzen von Kilcoole sind weit weg. Und dabei sind ihre Leute zu Satoks Beute geworden.

Hat da jemand die Katzen von Kilcoole erwähnt? fragte eine Stimme – eine andere Stimme. Eine große Stimme, eine Katzenstimme, eine Katerstimme – auf jeden Fall eine große Stimme.

Wer bist du, kleine Schwester?

Ich bin Shush, die letzte meiner Rasse zu McGees Paß, antwortete sie. Und wer bist du?

Nanook. Was weißt du von den Leuten, die unter dem Schutz der Katzen von Kilcoole stehen?

Ich weiß, daß sie in Gefahr geraten sind. Satok wird sie umbringen, so wie er uns umgebracht hat. Er hat ein Mädchen gefangen.

Sicherlich wird er auch den Jungen töten oder ihn unterwerfen, wie er alle, die unter meinem Schutz standen, unterworfen hat.

Aha. Und der Hund? Da war doch eine Hündin? für eine Hündin war sie eigentlich recht gut.

Die ist tot. Und du… weit weg? fragte sie.

Ein Katzensprung von zwei Tagen, gerechnet von der Stelle, wo wir den Jungen und das Mädchen zurückgelassen haben.

Ich bin bereits seit zwei Tagen unterwegs.

Deine Beine sind auch kurz.

Ich habe Angst. Ich bin allein.

Ich komme, sagte Nanooks Stimme. Und fügte noch hinzu: Ach, übrigens: Ich fresse meine kleinen Vettern und Basen nicht auf.

Bunny und Diego erblickten zwar die Katzenspuren im Schnee, waren aber zu sehr in ihre Gedanken versunken, um sie sonderlich zu beachten. Beide hatten sie schlecht geschlafen, doch als sie das Dorf erst einmal hinter sich gelassen hatten, brütete Diego vor sich hin, während Bunny nicht mehr zu reden aufhören konnte.

Diego beachtete sie gerade genug, um zu bemerken, daß ihre Hände an den Zügeln zitterten.

Ihr Gesicht war, genau wie seins, zerkratzt und zerschunden, der Mund aufgedunsen, so daß sie ständig an der Lippe nagte. Er wußte nicht, ob sie den gleichen hämmernden Kopfschmerz hatte wie er. Sie redete viel, doch von einem Kopfschmerz hatte sie nichts gesagt, wie sie überhaupt ihre Schmerzen nicht erwähnte. Vor allen Dingen war sie wütend und schimpfte darüber, daß diese Leute Satok so etwas hatten durchgehen lassen können! Wie hatte er ihnen nur so etwas angetan, ja, wie konnte er dem Planeten nur so etwas antun?

Diego antwortete nicht. Mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit hörte er ihr zwar zu, mit dem anderen jedoch war er damit beschäftigt, ein Lied zu verfassen. Wieder sehnte er sich nach einem Instrument, wollte ein Lied mit zorniger Musik erschaffen, das nicht einmal die größte Pauke würde hinreichend untermalen können.

Als sie das Nachtlager aufschlugen, begann er sein Lied aufzuschreiben, während Bunny neugierig zuschaute und immer noch redete. Ihre Stimme erschien ihm inzwischen wie das Prasseln von Regen oder das Dröhnen einer Schiffsmaschine. Er nickte und grunzte, doch vor allem war es das Lied, das seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Lebendig begraben, schreiend,

Der Stein verkohlt

Die Wurzeln erwürgt,

Der Boden verkohlt

Weißer Tod wie

Deine Schneehaut

Von jemandem, ähnlich einem

Und doch unähnlich

Einem Sohn.

Diego hörte auf zu schreiben. Der Planet sollte ein Lied für jenen Teil bekommen, den man von ihm ermordet hatte. Aber das hier war nicht vollständig, war noch nicht richtig. Er brauchte ein besseres Lied als dieses. Diego sang es Bunny zwar vor, und sie fand es gut, doch der kritischere Teil seines Verstandes erinnerte ihn daran, daß sie ja auch schon stolz auf ihr Geträller über die Schnokellizenz war. Dieses Lied dagegen mußte das allerbeste von allen werden, denn es handelte von schrecklichen Wunden, die der Heilung bedurften.

Am nächsten Morgen, als sie in Richtung Harrisons Fjord weiterritten, blieben beide stumm.

Du bist kein Katzenjunges und kannst auch nicht bis in alle Zeiten mit mir im Heim leben, sagte Coaxtl zu Ziegendung.

»Ich verstehe schon, weshalb du mich nicht haben willst«, antwortete Ziegendung, »denn ich bin ein Nichts und ein Niemand.

Aber wenn ich nicht bei dir leben darf, dann friß mich doch sofort auf.

Denn ich möchte lieber von einem Freund aufgefressen werden als von fremden Tieren, und zum Heulenden Hirten gehe ich nicht mehr zurück.«

Habe ich etwa gesagt, daß du das tun solltest, du törichtes Junges?

Es gibt schließlich doch andere in dem Dorf an der Mündung dieses Flusses.

»Die werden mich zurückschicken«, erwiderte sie furchterfüllt, doch Coaxtl sagte, daß sie eine Weile warten würde, und wenn die Leute es versuchen sollten, würde sie, Coaxtl, sie umbringen und Ziegendung in ein anderes, weiter entferntes Dorf begleiten.

Da ließ sich also nichts machen. Ziegendung unterwarf sich dem Willen der Katze, wie sie sich letztendlich stets dem Willen anderer unterworfen hatte, bis auf ein einziges Mal. Coaxtl lief neben ihr her, doch auf der freien Ebene, wo nur noch kaltes Wasser den Fluß speiste, legte Ziegendung sich auf Coaxtls Rücken, die Hände in ihre Mähne gekrallt, die Knie gegen die Rippen der Katze gepreßt, damit sie schneller ans andere Ufer kamen.

Der Himmel war noch immer fahlrosa von der untergehenden Sonne, als sie den Herzschlag eines der Kolibriluftschiffe der Firma bemerkten. Coaxtl wollte davonlaufen, doch die Ebene war riesig und das Luftschiff noch viel schneller als die Sprünge der großen Katze.

Ziegendung beobachtete staunend, wie das Luftschiff näher kam.

Sie hatte schon andere Luftfahrzeuge am Himmel gesehen, und der Hirte hatte ihnen erzählt, daß es die Schutzengel der Rechtschaffenen seien, die von der Firma gesandt wurden, um über sie zu wachen. Ein Kolibriluftschiff hatte sie jedoch erst einmal gesehen, als es eines schrecklichen Winters Vorräte ins Tal brachte, nachdem eine Gruppe der Männer nach Bogota gewandert war, um dort Hilfe zu erbitten.

Der Heulende Hirte hatte nur zögernd eingewilligt; Ziegendung hatte gehört, wie er sich mit seinen Beratern stritt. Doch sie hatten auch gewußt, daß sie ohne fremde Hilfe verhungern müßten. Als das Luftschiff dann kam, war alles ganz wunderbar gewesen. Essen – viel mehr Essen, als sie seit Monaten gehabt hatten – und sogar warme Kleidung und Spielsachen für die Kinder.

Deshalb fürchtete Ziegendung sich auch nicht, als das Luftschiff über ihnen schwebte, dicht genug, um die beiden Männer zu erkennen, die sich in der Glasblase stritten, die das einzige Auge des Kolibris bildete.

Sie stieg von Coaxtls Rücken, spürte die sanfte Wärme des Katzenfells durch die Risse in ihrer Kleidung. Die Füße hatte sie inzwischen in ungegerbtes Hasenfell gehüllt, mit der behaarten Seite nach innen; die Felle stanken zwar, dafür blieben die Füße warm.

Benommen vor Faszination beobachtete sie, wie das Luftschiff niederging.

»Ist das nicht wunderbar, Coaxtl?« fragte sie die Katze. Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um und sah, wie die Katze über die Tundra floh.

Aus der Ferne vernahm sie einen geflüsterten Gedanken.

Deine Leute sind da. Gute Jagdbeute und warme Nachtlager, Junges!

»Gute Jagdbeute und warme Nachtlager, Coaxtl«, flüsterte sie zurück, halblaut, doch gleichzeitig beobachtete sie den stattlichen Piloten, wie er aus dem Luftfahrzeug stieg, und den großen, hageren Mann mit der hohen Stirn und dem langen weißen Pferdeschwanz, der auf sie zukam. Im hinteren Teil des Luftschiffs stand ein weiterer Mann in der Ausstiegsluke.

»Bemerkenswert!« sagte der weißhaarige Mann und starrte sie dabei an. »Schauen Sie sich nur ihre Kleider an! Sie müßte doch eigentlich erfrieren. Noch dazu ganz allein, bis auf ein wildes Tier, das sie wahrscheinlich aufgefressen hätte, wäre es hungrig geworden.

Erstaunlich! Die Katze hätte ich mir allerdings gern etwas genauer angeschaut. Sie sieht so gänzlich anders aus als die anderen, die ich bisher bemerkt habe.«

Der Pilot antwortete nicht. Statt dessen trat er vor und kniete vor ihr nieder. Ausgerechnet vor ihr, die einer solchen Ehre doch völlig unwürdig war! Er sah ihr sogar in die Augen und sprach mit einer gütigen Stimme, die sie fast in Tränen ausbrechen ließ.

»Sieht so aus, als wärst du ziemlich weit weg von zu Hause, alanna.

Hast du dich verirrt? Gehörte das alte Mietzekätzchen zu denen, die ihr Leute hier unten verwendet?«

Ziegendung sank vor ihm auf die Knie und senkte den Kopf. »Bitte verzeih der Gefährtin dieses unwürdigen und

verabscheuungswürdigen Kindes, o Hauptmann der Engel. Coaxtl hat sich aus Mitleid meiner erbarmt, doch nun, da meine eigene Art hier ist, ist sie aus Furcht vor den Rechtschaffenen geflohen. Denn sind nicht alle Tiere dazu bestimmt, den Firmenmenschen als Fleisch zu dienen und ihnen ihr Fell zu lassen?«

»Wo hast du denn so einen Blödsinn aufgeschnappt?« antwortete der Hauptmann in angewidertem Tonfall. Damit hatte Ziegendung nicht gerechnet.

»Habe ich es falsch gesagt?« fragte sie furchtsam. »Verzeih mir, wenn ich den Heulenden Hirten falsch zitiert habe. Ich bin das dümmste aller Mädchen, wie es schon oft von mir gesagt wurde.«

»Wenn du mich fragst, bist du diejenige, die von allen Kindern am meisten Schwein gehabt hat«, sagte der Pilot. »Und wir haben Schwein gehabt, daß wir dich gefunden haben, bevor du zu Tode erfroren bist. Und jetzt komm an Bord, Liebes, und hör auf zu heulen.

Nein, dir wird schon niemand etwas tun.« Und er sah mit einem Gesichtsausdruck zu dem großen weißhaarigen Mann zurück, den Ziegendung in den sich senkenden Schatten nicht ausmachen konnte.

»Bestimmt wird dir niemand etwas tun, mein Kind«, antwortete der weißhaarige Mann. Und während der Pilot sich völlig korrekt zurückgehalten hatte, einen Abschaum wie sie zu berühren, nahm der weißhaarige Mann ihre Hände in die seinen und hob Ziegendung in die Arme, trug sie hinüber dem Flugzeug. »Du wirst mit uns nach Sierra Padre kommen.«

»Du wirst mich doch nicht zwingen, ins Tal der Tränen zurückzukehren?«

»Nicht, wenn man euch dort beibringt, so über euch selbst zu reden.

Vor allem nicht, wenn du wegen all dieser Prellungen und Schnittwunden weggelaufen bist, die ich da an dir sehe. Nein, wir bringen dich nicht zurück«, erklärte der Pilot.

»Was und wo ist denn dieses Tal der Tränen?« erkundigte sich der weißhaarige Mann.

»Du bringst mich doch nicht dorthin zurück, Herr? Ich habe es nicht verdient. Ich bin davor geflohen, die Braut des Heulenden Hirten zu werden.«

»Braut? Du bist doch fast noch ein Säugling!« empörte sich der Pilot.

Der weißhaarige Mann aber sagte: »Wir werden jetzt nach Sierra Padre fliegen, wo ich meine Arbeit aufnehme. Und du, meine Liebe, bekommst ein heißes Bad, saubere Kleidung und eine ordentliche Mahlzeit, und danach kannst du dich erst einmal ausschlafen.«

»Das wird sie«, versicherte der Pilot. »Eine alte Schiffskameradin von mir, Lonciana Ondelacy, wohnt mit ihren Kindern und Enkelkindern in Sierra Padre. Loncie wird die Kleine gern aufnehmen.«

Der weißhaarige Mann lächelte sie an, dann half er ihr in das große Flugzeug neben den anderen Mann, der jedoch nicht lächelte. Das beruhigte sie mehr als alles andere, was

der Pilot gesagt hatte. Denn es war schließlich nur schicklich, da sie es nicht verdient hatte, angelächelt zu werden. Und dann ließen der Hauptmann der Engel und der weißhaarige Patriarch das Kolibrischiff in die Lüfte aufsteigen, wo für die Dauer dieser Nacht alles ganz wundersam wunderbar war, genau wie sie es verkündet hatten.