Betreff: Test
Hallo Emmi, kommt das bei dir an? Leo.
30 Minuten später
RE:
Ja, das kommt an. Aber soll ich dir was verraten, lieber Leo? Du bist schon besser bei mir angekommen als in den vergangenen Tagen. Was ist mit dir? Wo warst du? Was testest du? Was machst du da für Sachen? Warum hetzt du mir den Systemmanager auf den Hals? Ich dachte schon, du hättest dich wieder nach Boston abgesetzt.
Zwei Minuten später
AW:
Tut mir leid, Emmi. Tut mir so leid! Da gab es offenbar einen gröberen Softwarefehler. Die hatten versehentlich mein Outlook abgemeldet. Vielleicht habe ich eine Frist versäumt. Seit drei Tagen scheinen keine Eintragungen mehr auf. Hast du mir geschrieben?
Zwölf Minuten später
RE:
Ja, Leo. Ich habe dir geschrieben. Ich habe dich etwas gefragt. Ich habe zweieinhalb Tage auf deine Antwort gewartet. Ich habe um dich gebangt, wie in den besten Stunden vor deiner Amerikaflucht. Ich habe dich sogar angerufen, ich hätte nicht mit dir gesprochen, ich wollte nur deine Stimme hören, aber unter deiner alten Nummer gab es »keinen Anschluss« mehr. Ich habe dir Tränen ohne Flüssigkeit nachgeweint. Ich habe dir hysterisch nachgelächelt. Ich dachte, was nie begonnen hat, ist nun bereits zum zweiten Mal vorbei. Das waren die Höhepunkte meines wenig erquicklichen Daseins während deines gröberen Softwarefehlers. Als gäbe es real nicht schon genügend Trennungsgründe, setzt das System, das unsere Steuerung übernommen hat, immer noch eins drauf. Gruselig, auf welchem Terrain wir uns da bewegen. Jetzt bin ich einfach nur erschöpft. Gute Nacht. Schön, dass du wieder da bist. Schön und beruhigend.
Drei Minuten später
AW:
Liebe Emmi, es schmerzt mich, dir wehgetan zu haben, das kannst du mir glauben. Es war höhere Gewalt: Computertechnik. Wie schnell sie verbindet, so schnell trennt sie. Dagegen sind wir mit unseren Gefühlen machtlos. Verzeih mir. Und schlafe gut, meine Liebe.
Am nächsten Morgen
Betreff: Deine Frage
Guten Morgen, Emmi. Ich habe gerade mit einem »Spezialisten« telefoniert: Das »System« ist wieder in Ordnung. Ich hoffe, du bist ausgeschlafen. Ach ja, du sagst, du hast mich etwas gefragt. Was wolltest du wissen? Alles Liebe, Leo.
Eine Stunde später
RE:
In verknappter Form: Heute, 15 Uhr, Messecafé?
30 Minuten später
AW:
Ja, aber (...). Nein, kein Aber. Ja!
20 Minuten später
RE:
Schön! Und für diese interessante Kausalkette hast du dreißig Minuten gebraucht, mein Lieber? NUR dreißig Minuten? Darf ich analysieren? Zuerst ein »Ja« der scheinbar entschlossenen Zusage. Dann ein Komma der zu erwartenden Beifügung. Dann ein »Aber« der angekündigten Einschränkung. Dann eine runde Klammer der schriftlichen Formalkunst. Dann drei Punkte der geheimnisumwitterten Gedankenvielfalt. Danach Disziplin genug, um die Klammer zu schließen und das anonyme Wirrnis zu verpacken. Danach ein wertkonservativer Punkt, um im inneren Chaos die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dann plötzlich ein trotziges »Nein« der scheinbar entschlossenen Absage. Wieder ein Komma der bevorstehenden Ergänzung. Danach ein »Kein« der kompromisslosen Ablehnung. Dann ein neuerliches »Aber«, ein sich auflösendes, ein »Aber«, das nur da ist, um aufzuzeigen, dass es keines mehr gibt. Alle Zweifel angedeutet. Kein Zweifel ausgesprochen. Alle Zweifel abgeschoben. Am Ende steht ein tapferes »Ja« mit trotzigem Ausrufezeichen. Nochmals zusammengefasst: »Ja, aber (...). Nein, kein Aber. Ja!« Was für ein prächtiges Rondo deiner Wankelmütigkeit. Welch faszinierender Rundgesang deiner offen ausgetragenen Entscheidungsfindung. Dieser Mann weiß genau, dass er nicht weiß, was er will. Und dieses Wissen versteht er wie kein anderer an jene Person weiterzureichen, die es betrifft. Und das alles in läppischen dreißig Minuten. Genial! Dafür hat man dich Sprachpsychologie studieren lassen, lieber Leo.
Drei Minuten später
AW:
Und du weißt, was du willst?
30 Sekunden später
RE:
Ja.
40 Sekunden später
AW:
Was?
RE:
Dich. (Noch einmal auf einen Kaffee treffen.) ((Du siehst, auch ich beherrsche das Spiel der Klammern.))
30 Sekunden später
AW:
Wozu?
Eine Minute später
RE:
Weil ich das Gleiche tue, was du tust, wenngleich du es dir, Klammer auf, und mir, Klammer zu, offenbar nur im betrunkenen Zustand eingestehen kannst.
40 Sekunden später
AW:
Und das wäre?
30 Sekunden später
RE:
Mich für dich interessieren.
40 Sekunden später
AW:
Ja, liebe Emmi. Kein Aber, keine Punkte, keine Klammern. Einfach nur: Ja. Richtig. Gut erkannt. Ich interessiere mich für dich.
Eine Minute später
RE:
Bestens, lieber Leo. Dann sind die Voraussetzungen für einen zweiten gemeinsamen Kaffeehausbesuch erfüllt, meine ich. Um drei?
20 Sekunden später
AW:
Ja. Klammer auf. Ausrufezeichen. Ausrufezeichen. Klammer zu. Um drei.