Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 29: Anfang Mai

10

 

Captain Breitholmer hatte recht gehabt, als er Daniel sagte, daß Männer, die bei der Militärpolizei gedient hatten, bei NatSich rasch befördert wurden. Innerhalb von vier Jahren nach Dienstantritt war Daniel zum Lieutenant aufgestiegen und für die Sicherheit bei vier größeren Unternehmen verantwortlich. Breitholmer war jetzt Commander – oberster Rang bei NatSich – einer der Kommandogruppe, die für die gesamte Werksüberwachung verantwortlich war. Sie waren noch immer in der Hauptstadt stationiert und lebten noch immer auf der Pike Street.

Daniel wäre zufrieden gewesen, aber Breitholmer wurde sein Schreibtischposten rasch langweilig. Da er die meiste Zeit über hinter dem Schreibtisch verbrachte, ohne dienstlich irgendwohin gehen zu können, hatte er nach einem anderen Ventil für seinen Tatendrang Umschau gehalten. Idealerweise sollte Daniel mit von der Partie sein können. Unter Berücksichtigung der von beiden Männern geteilten Lebensauffassung war die Lösung offensichtlich.

Breitholmer war ein Planer. Auch ergänzten sich sein Interesse an den Mechanismen der Gewalt und die Besonnenheit seines Muts mit Daniels einfacherer Natur, dessen instinktiver Wut über die Geschehnisse in der Welt, und verliehen ihr Richtung, Zweck, Ansehen. Daniel verstand das und war dankbar darum. Jetzt, da er älter geworden war, glaubte er nicht mehr daran, daß die Armee einen Mann aus ihm gemacht hatte. Neun Jahre bei der Armee hatten einen Soldaten aus ihm gemacht. Vier Jahre mit Bert hatte es benötigt, aus ihm einen Mann zu machen.

Daniel hatte weitere Manien; Manien, die Bert nicht teilte. In seinem Bewußtsein gab es einen dunklen Bereich. Daniel vergaß ihn so vollständig, daß er nicht existierte. Er war nicht vorhanden. Er mußte ihn nie erklären oder rechtfertigen, weil er für ihn nicht vorhanden war. Außer daß er jäh, gelegentlich, doch vorhanden war.

Das Gute an Bert war, daß er keine Vergangenheit hatte. Er hatte mit ihrer ersten Begegnung angefangen zu existieren, er ein Sergeant, Daniel ein frisch gebackener Rekrut. Die Jahre davor – und davon gab es viele, Daniels gesamtes Leben und noch etwas darüber hinaus – zählten nicht. Seine Existenz hatte mit ihrer ersten Begegnung angefangen. Es war ein Trick, den Daniel noch immer zu lernen hatte.

Sie hatten einen Gig geplant, ihren dritten. Gigs benötigten Zeit zur Vorbereitung. Bert hatte eine zuverlässige Quelle für Sprengstoffe, aber um jedes Sicherheitsrisiko auszuschließen, arbeitete er über einen Strohmann, was bei jedem Unternehmen zusätzliche Wochen erforderte, und sie mußten sich auch noch Daniels Dienstplan anpassen. Bert setzte die Gigs am liebsten so an, daß sie in seine offizielle Arbeitszeit fielen, damit man keine Verbindung ziehen konnte, weil sie beide gerade frei hatten. Er ging kein Risiko ein: ihre Uniformen verschafften ihnen leichten Zugang für die Gigs, machte sie jedoch auch zu den Hauptverdächtigen, falls es jemand auf diese Weise betrachtete. Bert besorgte auch die Munition, wiederum über einen Strohmann. Es wäre ein Leichtes gewesen, NatSichs Listen zu fälschen – auf jeder Fahrt zum Schießstand ein halbes Dutzend Übungsrunden ausbuchen, und man hätte bald seinen Vorrat –, aber wie Bert sagte, hatten NatSichs Schießstände Taster, und Daniel diskutierte nicht weiter. Bert wußte es am besten.

Der geplante Gig führte sie nach Norden, in einen Ort nahe der Grenze, was von der Stadt aus eine vierstündige Fahrt bedeutete. Sie fuhren getrennt, Bert mit Wagen und Ausrüstung, Daniel mit einem Motorrad, und beide Fahrzeuge hatten falsche Kennzeichen. Der Frühling war weit vorangeschritten, das Wetter milde, die Abende lang. Es war ein Gig mitten in der Woche. Daniel hatte seinen freien Tag, Bert würde sich nach einer Besprechung auf den Weg machen, die, wie er wußte, früh enden würde.

Daniel und Bert, Bert und Daniel. So standen die Dinge.

Daniel fuhr am Nachmittag los. Er nahm einen Umweg, trug zivile Kleidung, die Uniform steckte in einer der beiden Satteltaschen, in der anderen befand sich eine leere Aktentasche. Er fuhr langsam am Ort des Gigs vorüber, prüfte den Eingang auf irgendwelche offensichtliche Veränderung seit ihrem letzten Besuch, daraufhin fuhr er zu einem Restaurant auf der anderen Seite des Orts weiter. Er parkte weiter unten in der Straße, stopfte Helm und Schutzbrille neben die Aktentasche und ging hinein, um etwas zu trinken und zu essen. Er sah gut aus, sagte Bert, und würde auf jeden Fall bemerkt werden. Aber das war gut so, auf diese Weise würde man ihn keinesfalls mit dem Motorrad oder dem Gig in Verbindung bringen. Der Gig fand bei einem Vertragsunternehmen von NatSich statt. Alle Gigs fanden bei einem solchen Unternehmen statt – so kamen Bert und Daniel ohne Fragen hinein und konnten vorher die Pläne des Architekten und die Zahl des Personals im Computer überprüfen.

Dieser Gig betraf eine Klinik – kein Forschungszentrum und somit keine Wissenschaftler, die zu jeder Tages- und Nachtzeit ein- und ausgingen. Daher der Zeitpunkt: einundzwanzig Uhr. Die Labortechniker waren längst verschwunden, und sobald die verdammten Patienten einmal zu Bett gebracht waren, würden sie auch dort bleiben, und das Nachtpersonal schrieb Fallberichte auf seinen Stationen. Einundzwanzig Uhr auch, weil die ersten beiden Gigs in den frühen Morgenstunden stattgefunden hatten, und Bert sagte, Muster seien gefährlich.

Daniel nahm ein leichtes Mahl zu sich, bezahlte bar, verließ das Restaurant und sah sich einige Minuten lang Schaufenster an, ehe er zum Motorrad zurückkehrte. Er fuhr zu einer zuvor ausgewählten Herrentoilette auf einem ruhigen Platz mit einem Musikpavillon in der Nähe einer Bushaltestelle, zog in einer der Kabinen seine Uniform an und streifte einen leichten zivilen Regenmantel darüber. Er legte die Sporttasche, die jetzt seine Zivilkleidung enthielt, in die Satteltasche zurück, nahm die Aktentasche heraus, legte seine Nat-Sich-Mütze hinein, verließ das Motorrad und nahm den ersten Bus in die gewünschte Richtung. In den Gehirnen der Polizei gingen Motorräder und Herrentoiletten einher mit Schwulen – keine Polizistin dächte daran, das Motorrad zu melden, selbst wenn es ihr auffiele. Homosexuelle waren rasch bei der Hand mit Anzeigen wegen Belästigung.

Daniel traf zwanzig Minuten zu früh am Ort des Gigs ein. Er hielt sich jedoch davon fern, ging absichtlich zwanzig Minuten lang um städtische Wohnblöcke herum. Er schwang die Aktentasche und lenkte keinerlei Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein netter Ort, eine pfiffige Mischung aus alt und modern, terrassenförmig angelegte hübsche Geschäfte in Bogengängen, Bäume, schmale Wohnblocks mit rosafarbenem Stuck und winterfesten Baikonen, hölzerne Laufstege über geheizten und gepflasterten Straßen, und die Klink befand sich in einem erstklassigen Viertel, ein kleiner, für PTG umgebauter Büroblock aus dem letzten Jahrhundert. Daniel schwang seine Aktentasche. Verdammte Weiber, es war doch völlig sinnlos – jeder Besuch an einem Ort wie diesem hier kostete ein kleines Vermögen, und die Chancen, daß es klickte, standen noch immer schrecklich schlecht. Einige Miezen kamen drei- oder viermal zurück, und es klappte noch immer nicht. Mehr Kosten, als sinnvoll war. Was bewiesen sie denn, verdammt noch mal? Widernatürlich, dieses ganze verfluchte Geschäft. Männer machten Babies. PTG-Kliniken bewiesen lediglich, daß irgendwelche verfickten Lesben es nicht erwarten konnten, die Männer für ihre perverse Brut abzuwichsen. Sie verdienten, was sie bekamen.

Die Sonne stand tief, das Licht war golden. Die meisten Bürger saßen daheim vor ihren Fernsehern. Daniel streifte auf einem verlassenen Straßenabschnitt den Regenmantel ab und tauschte ihn gegen seine NatSich-Mütze in der Aktentasche aus. Fünf vor neun stand er draußen vor der Klinik. Ein Blick die Straße hinauf und hinab – kein Anzeichen von Bert. Das war gut so. Während ihrer Gigs durften die Leute sie nie zusammen sehen. Sie könnten sich womöglich daran erinnern. In einem Schaufenster überprüfte Daniel sein Spiegelbild, richtete die Mütze und zog den Bauch ein. Er bekam Bauchschmerzen und zuckte zusammen. Das war immer der schlimmste Augenblick. So, als ob man vom Beckenrand springen würde und genau wüßte, wie kalt das Wasser war.

Bis zu diesem Augenblick ging nur einer von ihnen ein Risiko ein, wenn er gestoppt wurde. Bert hatte Feuerwaffen und Sprengstoffe bei sich. Er wollte es so haben. Daniel war sauber. Er trug keine Waffe, hatte kein Gesetz übertreten. Jetzt riß er sich zusammen. Dies war der schlimmste Augenblick und der beste. Er zupfte keck am Saum seiner Uniformjacke und betrat durch die doppelt gepanzerten Glastüren die Klinik, ging an dem NatSich-Mädchen vorüber, das im Innern herumlümmelte. Er nahm ihren hastigen Gruß zur Kenntnis und trat an die Rezeption.

Vier Türen führten aus dem Klinikfoyer hinaus. Es gab zwei Aufzüge, und zwei geschwungene offene Treppenhäuser hingen an dünnen Kohlefaserdrähten. Daniel holte sich den Plan des Architekten vor Augen. Hinter ihm führten die Türen zur Straße hinaus, zur Linken war das Treppenhaus, vor ihm waren die Aufzüge, dann kam der Eingang zum Wartezimmer für Patienten und Pfleger, rechts davon lagen die Rezeption und der Personaleingang, und in der Wand des Foyers zur Rechten gab es eine Tür zum Wartungsbereich und zum Hinterausgang des Gebäudes. Die Aufzüge und das Treppenhaus führten zum Verwaltungszentrum der Klinik, und darüber lagen die Korridore des vermieteten Bürobereichs, der jeden Abend nach sieben Uhr leer war.

Das Foyer war in blauen Schattierungen gestrichen, dicke Teppiche lagen auf dem Boden, und ein großes, lichtreflektierendes abstraktes Gemälde hing hinter dem Treppenhaus. Gegenwärtig gab es genügend Tageslicht, daß das Gemälde zwischen Gelb- und Weißtönen schimmerte. Bald setzte das künstliche Licht ein, das sich langsam in zufälliger Abfolge verändern würde, um institutionelle Monotonie zu vermeiden, und das Gemälde würde in zarten Purpurtönen darauf antworten. Es war eine teure Ausstattung, für teure Kunden.

Vor der Rezeption schlug Daniel die Hacken zusammen und lächelte die Frau dahinter an.

»Guten Abend. Hallo. Mein Name ist Ryder. Lieutenant Daniel Ryder.« Er holte seine NatSich-Karte hervor und zeigte sie ihr. »Sie können Commander Breitholmer sagen, daß ich jetzt hier bin.«

Sie benutzten die eigenen Namen. Das machte alles einfacher.

Der Anstecker der jungen Frau identifizierte sie als Marie. Sie trug grünen Lidschatten und eine sehr enge Bluse. Sie suchte auf dem Bildschirm.

»Ich fürchte, hier ist kein Commander Breitholmer.«

Daniel blickte sich langsam im Foyer um. Es war leer, die NatSich-Wächterin hatte sich an der Tür aufgebaut, die Hand auf dem Funkalarm, wie im Handbuch vorgeschrieben. Er wandte sich wieder Marie zu.

»Commander Breitholmer. Von NatSich. Würden Sie das bitte überprüfen? Breitholmer.« Er buchstabierte es für sie.

Marie wartete höflich. Den Namen konnte sie kaum leicht mißverstehen. »Ich fürchte, es sind keine Nat-Sich-Officer im Haus. Nur die Wächterin hinter Ihnen und die mobile Bewachung irgendwo ums Gebäude herum.«

»Ah, ja.« Daniel runzelte die Stirn. »Meine Befehle lauten, mich hier mit Commander Breitholmer um einundzwanzig Uhr zu treffen.«

Die Empfangsdame blickte auf ihre Uhr. »Das ist es genau.«

Es war zwei Minuten später.

Daniel fing ihren Blick auf und lächelte wieder. »Kein Commander Breitholmer?«

»Kein Commander Breitholmer.«

»Wie es aussieht, hat er sich verspätet.«

»Wie es aussieht, hat er sich verspätet.«

Sie war eine auffallend junge Frau, und sie kam zu dem Schluß, daß ihr gefiel, was sie sah. Dumme Kuh.

»Ich warte besser. Obwohl, es sieht ihm nicht ähnlich…« Er schob seine Mütze ein wenig zurück und stützte sich auf ihren Schreibtisch. »Arbeitet so spät jemand?«

»Nur die Krankenschwestern. Nach der Besuchszeit ist es hier wie in einem Leichenschauhaus. Ich guck meistens Fernsehen.«

Sie deutete auf ihren Bildschirm, drückte ein paar Knöpfe, so daß sich ein Programm einschaltete, und wackelte rasch zu der Musik. Daniel blickte wieder auf die Uhr, dann durch die Glastüren hinaus. Gegenüber lag eine Bank, deren Türen und Fenster verriegelt waren. Die Straße war ruhig. Er wandte sich wieder an Marie.

»Ich rufe wohl besser an. Darf ich Ihr Telefon benutzen?«

Sie schaltete das Fernsehprogramm ab und schob ihm angeberisch das Telefon mit einem Finger über die Rezeption. Er senkte die Stimme und sagte: »Gelegentlich führen wir diese Überprüfungen durch. Das hält unsere jungen Frauen auf Trab.«

»Das ist nett. Ich hab um zehn Feierabend. Was ist mit Ihnen?«

»Hängt von Commander Breitholmer ab.«

»Verdammter Commander Breitholmer.«

»Das hörte NatSich aber gar nicht gern.«

»Commander Breitholmer vielleicht?«

Die Türen hinter ihnen wurden aufgestoßen. »Lieutenant Ryder?«

Endlich. Gott sei Dank. Daniel wandte sich schneidig um. »Sir?«

»Tut mir leid, daß ich zu spät dran bin. Verdammter Verkehr. Dann wollen wir mal weitermachen.« Bert trat an die Rezeption. »Ich bin Commander Breitholmer, meine Liebe.«

Marie unterdrückte ein Kichern und warf einen Blick auf seinen Ausweis.

»Gebietskontrolleur von NatSich. Ich bin hier, um Ihre Sicherheitsvorkehrungen zu inspizieren.«

Er hatte einen kleinen Diplomatenkoffer bei sich, den er auf die Rezeption legte und öffnete. Er holte die beiden Pistolen mit Schalldämpfer heraus. Daniel hielt inzwischen den Blick auf die Glastüren und die leere Straße dahinter gerichtet. Bert reichte ihm eine der Feuerwaffen und steckte die andere ins Halfter. Marie sah interessiert zu, wie er den Diplomatenkoffer schloß und sich prüfend im Foyer umschaute.

»Alles in Ordnung, Lieutenant?«

»Zwei Wachen, Sir. Eine mobile, eine vor Ort.«

»Ganz nach Vorschrift. Es überrascht mich, daß keine weiteren anwesend sind, Lieutenant. PTG ist eine Zone mit hohem Risiko.«

»Das ist in den großen Städten so, Sir.«

Auch war NatSich nicht gerade billig. Aber Bert und er hatten es bei ihrem ersten Gig mit einer dreimal so großen Einrichtung zu tun gehabt.

Bert grunzte, ging zur Wache an der Tür, fragte sie nach ihrem Namen und nickte. »Zeigen Sie mir doch bitte Ihr Funkgerät!«

Sie reichte es ihm. Er ließ den Blick darüber gleiten, nickte erneut und gab es nicht zurück. »Und Ihre Pistole.«

Sie reichte sie ihm ebenfalls. Er überprüfte sie und gab sie ihr zurück. Inzwischen hatte Daniel die Frau an der Rezeption aufgefordert, hinter ihrem Schreibtisch hervorzukommen, weg von dessen Alarmknopf. Angestellten von Firmen, die von NatSich geschützt wurden, war das Tragen eigener Alarmsysteme nicht gestattet: es könnte Interferenzen mit den von NatSich benutzten Frequenzen geben.

»Marie – würden Sie mir bitte den Notschalter für den Aufzug zeigen?«

Der Kasten an der Wand zwischen den beiden Aufzugtüren war deutlich gekennzeichnet, aber sie tat ihm den Gefallen. Gemeinsam untersuchten sie den Kasten, wobei sie ihre Hand auf seinen Arm gelegt hatte.

Bert war an der Tür fertig. »Halten Sie ein Auge auf hier draußen gerichtet, Lieutenant. Ich nehme die Wache mit und inspiziere den rückwärtigen Zugang.«

Sie schritten durch die Tür in den Zentralrechnerbereich. Daniel ging durch das Foyer zum Personaleingang hinüber und stieß ihn auf. Er hielt die Pistole, die Bert ihm gegeben hatte, beiläufig an seinem Bein.

Er fragte Marie: »Was ist mit den Labortechnikern?«

»Sie arbeiten nachts nicht. Sie sind alle nach Hause gegangen.«

Er blickte von der Seite durch die Tür und streckte die Hand aus. »Wer ist dann das da?«

»Was meinen Sie? Ist da jemand?«

Sie trat zu ihm und blickte neugierig in die Passage dahinter, und er schoß ihr hinter das linke Ohr. Das Geschoß war von niedriger Durchschlagskraft, das eine kleine Einschußwunde hinterließ, sich innerhalb des Schädels katastrophal aufblähte und nicht austrat. Es gab kein Blut, das Geräusch war gedämpft, kaum lauter als ein Furz, aber es würde mehr als einen Psycho-Engineerer benötigen, ihre mentalen Prozesse wieder in Gang zu bekommen. Er schob ihren Leichnam durch die Tür und verschloß sie mit dem Generalschlüssel, den NatSich bereitstellte. Daraufhin ging er zum Patienteneingang hinüber und schloß diesen ebenfalls ab. Wenn jetzt eine Krankenschwester versuchte, durch die Flügeltür zu kommen, und es gelang ihr nicht, so würde sie zu ihrer Station zurückkehren und bei der Rezeption anrufen. Die Rezeption würde keine Antwort geben. Die verwirrte Krankenschwester würde dann die Stationsschwester herbeirufen, die gleichfalls die Tür ausprobieren und sich dann dazu entschließen würde, Alarm auszulösen. Aber beide wären schon lange vorher tot, ehe es dazu käme. Sie und die meisten ihrer Patienten.

Daniel lehnte sich an die Flügeltüren. Die Pupillen in seinen Augen waren geweitet, und jäh raste sein Puls. Frauen an Orten wie diesen hier verdienten das alles, was sie bekamen.

Bert kam allein aus dem Zentralrechnerbereich zurück. »Hast du dich um den Alarm gekümmert?«

»Hätte nicht viel Zweck. Wir sind in einer Minute draußen.«

»Tu’s!«

Ihre Blicke krallten sich ineinander. Daniel brach als erster den Kontakt ab, ging hinter die Rezeption und schaltete den Alarm ab.

»Gut. So ist’s richtig.«

Bert ging zum Haupteingang, um ihn abzuschließen. Als er ihn erreichte, tauchte auf der anderen Seite eine Frau auf, die den Griff drückte und hereinkommen wollte. Er öffnete die Tür einen Spalt breit.

»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«

»Ich kam nicht weg.« Sie war erregt. »Ist die Besuchszeit vorüber?«

»Die Besuchszeit endet um acht, Ma’am.« Er öffnete die Tür ein Stück weiter. »Aber wir können eine Ausnahme machen.«

Fasziniert sah Daniel zu, wie Bert sie einließ. Sie war eine auffällige Erscheinung in den Vierzigern und trug teure Kleidung. Berts Aufmerksamkeit war auf die leere Straße gerichtet.

»Würden Sie mir bitte helfen, Lieutenant? Diese Dame möchte einen Patienten besuchen.«

Er wandte sich jetzt der Frau zu und lächelte sie an, und als Daniel herbeieilte, schoß er ihr in die Brust. Daniel war bereit, sie aufzufangen, aber sie fiel nicht. Sie stolperte und starrte Bert erstaunt an.

»Wie können Sie es wagen?« sagte sie. »Wie können Sie es wagen?«

Er schoß erneut auf sie, und bei diesem zweiten Versuch traf er sie ins Herz. Daniel zog sie hinter die Rezeption, während Bert mit zittrigen Händen die Tür abschloß. Dann eilte er zu seinem Diplomatenkoffer, der noch immer geöffnet auf der Rezeption stand. Er schwitzte. Daniel, der ihn beobachtete, war jäh ängstlich und unbehaglich zumute. Bert zitterte niemals, er war niemals in Eile, er schwitzte niemals.

»Beeilung, Lieutenant. Wir verschwinden!«

»Was ist mit der anderen Wache?«

»Diese verdammte Frau… Scheiß doch auf die andere Wache!« Er setzte den Zünder in Gang. »Sie ist irgendwo oben. Muß es sein.« Jetzt schlug er den Koffer zu. »Zwei Minuten, Lieutenant. Bleib, wenn du magst. Ich türme!«

Er schritt in Richtung auf den Zentralrechnerbereich und den Hinterausgang. Daniel zögerte. Bert benahm sich niemals so. Alles verlief nach Plan. Angenommen, die Wache wäre auf der Treppe, angenommen, sie hatte sie gesehen? Sie knallten stets jeden ab, der sie vor dem Weggang gesehen hatte. Bomben konnten Überlebende zurücklassen, und der Erfolg ihrer Gigs beruhte darauf, daß hinterher niemand sagte, sie seien von Nat-Sich gewesen.

Zwei Minuten. Die Lämpchen am Aufzug zogen Daniels Blick auf sich. Waren sie aufgeblitzt? Er ging rückwärts davon, nachdem er den eigenen Aktenkoffer vom Boden vor der Rezeption aufgehoben hatte, und eilte Bert nach.

Der auf ihn gewartet hatte.

Er hatte den Alarm am Hintereingang ausgeschaltet und wartete, an die Wand gelehnt, zwischen den Mülltonnen in der geöffneten Tür. Das tote Mädchen von NatSich lag in einer Ecke. Bert war völlig durcheinander. Er zitterte heftig und hatte die Hände über die Augen gelegt. So hatte ihn Daniel noch nie zuvor gesehen.

»Eine verfluchte Farce, Lieutenant. Diese verdammte Frau, diese verdammte Frau… Ist kein Gig, Lieutenant, ist ’ne verfluchte Farce!«

Daniel schlang ihm einen Arm um den Leib, half ihm durch die Tür hinaus und die Gasse hinab. Das war falsch – sie sollten getrennt gehen. Sicherheitswächter waren wie Postbotinnen: sie waren nie allein zu sehen. Zum Glück führte die Gasse in ein altes, mehrgeschossiges Parkhaus, das wohl genutzt wurde.

Sie mühten sich weiter. Bert erholte sich allmählich, er bekam wieder Luft. »Pläne, Lieutenant. Du entwirfst sie und klammerst dich an sie. Wenn ich eines hasse, verdammt noch mal, dann ist’s ein Halbtagsurlaub.«

Zwei Minuten gingen rasch vorüber. Die Explosion war gewaltig. Sie überschüttete sie mit Staub und Schmutz von der Parkfläche über ihnen. Einen Augenblick lang drückten sie sich erleichtert aneinander, umarmten einander überglücklich. Ihnen standen Tränen in den Augen. Dann strafften sie den Rücken und traten auf die Straße hinaus.

»Ich komm schon zurecht, Lieutenant. Ich bin kein Krüppel.«

Die Dämmerung war weit vorangeschritten. Auf jeden Fall befand sich niemand draußen auf der Straße, der sie hätte sehen können. Sie schritten flott aus – wären sie gerannt, hätten sie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Eigentlich sollten sie sogleich zu ihren jeweiligen Fahrzeugen zurückkehren, sich bis zur Pike Street nicht wiedersehen, aber Daniel hatte nicht den Eindruck, daß Bert bereits fahrtüchtig war. Zu der Zeit, da die Polizei rund um die Klinik Straßensperren errichtet hatte, hatte Daniel in einem halben Kilometer Entfernung eine schlecht beleuchtete Kellerbar gefunden. Sie waren jetzt in Hemdsärmeln, trugen ihre Jacken und Mützen in der Hand. Sie legten diese auf die Stühle in ihrer Nische, die Pistolen darunter.

Bert, der niemals Alkohol anrührte, trank Wodka pur. »Eine beschissene Farce«, sagte er. »Wenn ich eines hasse, Lieutenant, dann den beschissenen Halbtagsurlaub.«

Daniel ließ sich nicht zum Narren halten. »Du hast diese Frau gekannt«, meinte er.

»Erinnere mich daran, niemals mehr einen Gig am Abend anzusetzen, Lieutenant. Du rast dann herum wie der rollende Furz auf der Gardinenstange. Jedesmal nur noch die frühen Morgenstunden, und scheiß aufs Muster. Da gibt’s wenigstens keine Störungen.«

»Diese Frau hat dich nicht gekannt«, sagte Daniel, »aber du hast sie gekannt.« Einmal wenigstens war er Bert gegenüber im Vorteil. Das war der Frau zu verdanken. Er hatte niemals Bert gegenüber im Vorteil sein wollen, aber da es jetzt einmal so war, nutzte er es aus. Das war so, wenn man im Vorteil war. »Du hast sie gekannt. Seitdem bist du völlig von der Rolle.«

Bert hatte nicht stillsitzen können. Er hatte die Tischdecke geglättet, hatte sich gekratzt, war auf dem Hintern herumgerutscht, hatte die Bierreklamen eine nach der anderen gemustert. Jetzt hielt er still.

»Sie gekannt, Lieutenant? Ich werd dir was sagen – ich habe geglaubt, sie zu kennen. Ich werd dir noch was sagen – einen Augenblick lang hab ich geglaubt, sie wär meine Tochter. Erwachsen, meine ich. Aber sie war ihr nicht im geringsten ähnlich.«

»Deine Tochter?«

»Als ich sie eingelassen habe. Aber sie war ihr, verdammt noch mal, nicht im geringsten ähnlich.«

Daniel war verwirrt. »Also haben wir sie abgeknallt. Das ist dann doch in Ordnung.«

»Es ist nicht in Ordnung.« Erschöpft schloß Bert die Augen. »Was wir da so tun, verdammt. Denk mal drüber nach!«

Daniel versuchte es. Er sah jedoch lediglich, daß ihm der Vorteil, dem ihm die Frau verschafft hatte, allmählich entglitt. »Du hast nie was davon erzählt, daß du eine Tochter hast.«

»Genau.«

»Aber…«

»Ich habe eine gehabt, aber jetzt habe ich keine.« Er öffnete die Augen und betrachtete Daniel voller Schmerz. »Wir haben sie gerade abgeknallt.«

»Aber du hast gesagt…«

»Denk drüber nach!«

Ein unbehagliches Schweigen lag zwischen ihnen. Daniel gefielen die Widersprüche nicht, die Bert ihm vor die Nase knallte. Spielte er irgendein Spiel? Hatte er eine Tochter oder nicht? Hatten sie sie abgeknallt oder nicht? Er geriet wieder ins Hintertreffen, und das gefiel ihm nicht.

Verbissen kehrte er zum Anfang zurück. »Du hast eine Tochter gehabt, der diese Frau da nicht im geringsten ähnlich war. Wir haben diese Frau abgeknallt, und jetzt sagst du, du hättest keine Tochter. Das ergibt keinen Sinn.«

Bert leerte sein Glas und beugte sich, jäh gehässig, über den Tisch. »Die Flittchen, die du abmurkst, Lieutenant. In deinen freien Nächten. Ergeben die einen Sinn?«

Daniel sah ihn mit offenem Mund an, völlig überfahren von der wilden Heftigkeit seines Angriffs. Von der Bösartigkeit. Das Blut pochte ihm im Gesicht. Die Haarwurzeln stachen wie heiße Nadeln. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Er konnte nicht sprechen. Konnte sich nicht bewegen.

Bert beugte sich näher heran und bleckte die Zähne. »Das Flittchen vom vergangenen Jahr, Lieutenant. Von diesem Frühling. O Bert, ich war völlig von der Rolle, Bert. O Bert, ich konnte nicht anders, Bert. O Bert, die häßliche Welt hat mir häßliche Dinge angetan… Sinn, Lieutenant? Mach doch keinen Narren aus mir!«

Daniel konnte sich noch immer nicht rühren. Er sah Berts häßliche, speichelnasse Zähne, die festen, häßlichen Lippen. So etwas hatte er nie gesagt. Er leugnete es. So etwas hatte er nie gesagt. Keiner von ihnen beiden hatte so etwas gesagt. Niemals. Jene Nächte waren etwas völlig anderes.

Bert hatte dazu kein Recht. Jene Nächte waren etwas völlig anderes. Jemand völlig anderes.

Bert hatte dazu kein Recht.

Jene Nächte waren jemand völlig anderes.

Bert wich zurück. Er entspannte sich, musterte Daniel von oben bis unten, lächelte und sagte leise: »Laß dir mal was ins Öhrchen flüstern, Lieutenant! Du bist dumm. Strohdumm. Dennoch brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich liebe dich noch immer.«

Die Nachricht von der Explosion kam hinter ihnen durch den Fernseher der Bar. Die Klinik war eine Ruine. Die Zahl der Unfallopfer war unvollständig, doch ganz gewiß waren zwei NatSich-Wächter getötet worden. Man hatte sie anhand ihrer Uniformen identifiziert.

Daniel hörte zu. Er war ausgesprochen erleichtert, von den beiden toten Wächterinnen zu hören – gleich, was die zweite Wächterin gesehen hatte, es zählte nicht mehr. Und er mußte Bert nicht zuhören. Vielleicht hatte Bert eine Tochter, und vielleicht hatte er keine Tochter. Das zählte ebenfalls nicht mehr. Einen Aufstand deswegen zu machen war die Sache bestimmt nicht wert.

Und was die anderen betraf…

Er schlug einen weiteren Drink vor, um die beiden toten Wächterinnen zu feiern, aber Bert sagte nein – sie mußten allmählich in die Stadt zurückfahren. Es war eine lange Fahrt, insbesondere für ihn nach seinem Tag im Büro, der Fahrt hier herunter und dem Gig. Sie sollten nichts dem Zufall überlassen.

Daniel widersprach nicht. Ein weiterer Drink würde ihn nicht umhauen, aber er widersprach dennoch nicht. Er mochte dumm sein, vermutlich war er dumm, aber er hatte genügend Verstand, das zu tun, was ihm geheißen worden war. Die ganze Sache mit dem Vorteil war ein Irrtum gewesen. Es gab keine Tochter. Berts Existenz hatte mit der Militärpolizei begonnen. Ein Sergeant. Davor lagen keine Jahre. Die Sache mit Bert war, er hatte keine Vergangenheit. Das war ein Trick, den Daniel noch immer lernen mußte.

 

Harriet hörte die Nachricht vom neuesten Bombenanschlag auf eine Klinik am nächsten Morgen beim Frühstück.

»Davon werden wir noch ’ne ganze Menge mehr zu sehen kriegen«, meinte Liese zu ihr, während sie verbissen mit Anna kämpfte, die mit dem Löffel auf das Tischchen ihres Kinderstuhls einschlug. »Der Bevölkerungsrückgang setzt den Menschen allmählich zu. Sie können nicht mehr einfach so dahinleben und so tun, als ob nichts wäre. Sie wollen zurückschlagen.«

»Menschen?« Harriet blickte auf. Sie war gerade damit beschäftigt, Annas Müsli zusammenzumischen. »Männer, meinst du.«

»Nicht nur Männer.« Liese faltete die Morgenzeitung zusammen und steckte sie hinter die Teekanne. »Gestern habe ich von Mädchenbanden in Paris gelesen. Sie verprügeln allen und jeden. Wie Cohn-Bendit vor sechzig Jahren.«

»Cohn-Bendit hat nicht überdauert.«

»Cohn-Bendit wurde nicht die ganze Zeit über durch einen Bevölkerungsrückgang der Rücken gestärkt. Es ist wie eine Gruppenneurose. Eine Hysterie, und sie baut sich quer durch die westliche Gesellschaft auf.«

»Das ist Mediengeschwätz, Liese.« Es war auch sozioanthropologisches Geschwätz. Lieses Examensseminar holte sie wieder ein. »Diese Vorstellung, daß Gesellschaften« – sie hob die Stimme, um Gehör zu finden – »diese Vorstellung, daß Gesellschaften sich wie Individuen benehmen, ist noch nicht wirklich… o Scheiße!«

Geschlagen vom Radau, den ihre Tochter veranstaltete, gab sie auf. Anna war jetzt drei Jahre alt und konnte perfekt sprechen, wenn sie Aufmerksamkeit verlangte, aber auf Dinge einzuschlagen machte mehr Spaß. Gereizt klatschte Harriet das Müsli in eine Schüssel und stellte diese vor sie hin. Das Gehämmer ging weiter.

»Sie möchte eine Banane drin«, meinte Liese.

»Gestern aber nicht.«

»Gestern abend ja.«

»Warum, zum Teufel, sagt sie’s dann nicht, verdammt?«

»Sie hat von diesen Mädchen in Frankreich gelernt. Alle hören erst dann zu, wenn man Krach schlägt.«

»Ich höre zu.« Ernüchtert setzte sich Harriet neben ihre Tochter. »Ich höre zu, Annielein. Ich höre zu.«

Sie griff nach einer Banane in der Schüssel neben dem Spülbecken, störte dabei aber den alten Gnasher. Die Katze rutschte verärgert beiseite und setzte sich wieder. Harriet schälte die Banane und zuckte bei Annas fortwährendem Gehämmer zusammen. Sie hatte die vergangene Nacht durchgearbeitet, und es war einer dieser speziellen Morgende. Es machte ihr nichts aus, daß Liese für ihre Tochter sprach – nein, um ehrlich zu sein, sie haßte es, wenn Liese für ihre Tochter sprach, sie haßte es, daß Liese das Kind den ganzen Tag über erzog, fünf Tage die Woche, und alles von ihr wußte. Aber so war es halt eben. Einen Hausmann hätte sie ebenso gehaßt. Babies waren dafür da, daß Mütter alles von ihnen wußten… So war es halt eben nicht, aber so sollte es, in einer idyllischen Traumwelt, eigentlich sein.

Sie schnitt die halbe Banane in Annas Schüssel, und das Getrommel hörte auf.

»Und was wird mein Annielein heute tun? Du wirst heute zur Schule gehen, nicht wahr?«

Anna hatte ihren Löffel fallengelassen und schnappte sich eine Handvoll Banane. Harriet drückte ihr die Faust auf, kratzte den Schmier in die Schüssel zurück und vermischte ihn mit dem Müsli.

»Wir werden einen Ausflug unternehmen«, sagte Liese. »Wenn das Wetter anhält, organisiert die Schule eine Wanderung durch den Wald. Wir sammeln Farnkraut.«

»Eine Fahrt mit der Straßenbahn in den Wald, Annielein? Das wird aber Spaß machen.«

Harriet zog Anna die bananenverschmierten Finger vom Mund weg, wischte sie ab und legte sie über den Griff des Löffels. Sie führte den Löffel in die Schüssel. Anna konnte völlig selbständig essen, aber dies war einer dieser speziellen Morgende, da sie das Baby spielte.

»Warum kommst du nicht mit?« fragte Liese. Sie schenkte sich Tee nach. »Nimm einen Tag frei. Eltern aller Art sind eingeladen.«

»O Liese, ich wünschte, ich könnte es.«

»Du kannst es, Har’. Bloß einen Tag. Unikhem könnte einen Tag ohne dich überleben.«

Anna belud ihren Löffel, konzentrierte sich und fand den Weg zum Mund. Sie war ein bezauberndes Kind, hatte samtig-goldene Haut und dunkle, strahlende Augen, so rund wie die Augen eines schwarzen Babies, und das leichte Lächeln ihres Vaters. Sie zog den Löffel zurück. Ein großer Teil der Bananenmischung kam zusammen mit dem Löffel heraus und rutschte vorn an ihr herab. Harriet wischte alles auf und tat es zurück in die Schüssel.

»Ruf an«, sagte Liese. »Wenn du magst, tu ich es. Sag ihnen, du seist krank, Har’. Annie hätte dich liebend gern dabei.«

»Liese, nicht. Das ist so verlockend.«

Liese trank ihren Tee und gab keinen Kommentar ab. Sie war eine außergewöhnliche Frau, klug und freundlich. Der Tee, den sie trank, war typisch für jemanden wie sie: klug und freundlich. Sie liebte Anna, und im besten Sinne liebte sie Harriet gleichfalls. Und der nicht abgegebene Kommentar war in sich selbst ein Kommentar.

Es war nicht fair. Sie hatte ihre Arbeit aufgegeben, weil sie es so gewollt hatte. Ihr gefiel die Wohnung, und sie hielt diese sauber und aufgeräumt. Ihr gefielen anstrengende, jedoch einfache Aufgaben mit raschen, klaren Erfolgserlebnissen. Sie wollte gern gefallen. In einem anderem Zeitalter wäre sie ein wundervoller Gatte, eine wundervolle Ehefrau, ein wundervoller Butler, Hausmeister, eine wundervolle Zofe einer Dame gewesen, ganz im Gegensatz zu Harriet. Harriet trank ordinären Kaffee.

Sie brachte Anna durch das Frühstück, wusch das Kind und setzte es mit seinem Dreirad auf den Balkon. Schnaufend und ernst fuhr Anna die drei Meter hin und zurück. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf den südöstlich gelegenen Balkon.

Harriet sammelte ihre Notizen aus der vergangenen Nacht vom Klavier und stopfte sie in ihre Tasche. Wie oft kam sie dieser Tage zum Spielen? Fast nie. Dort draußen gab es erstaunliche neue Musik, aber Liese gefiel es, wenn sie bei Chopin blieb.

»Es wird heiß werden«, sagte sie zu Liese. »Du nimmst besser ein Mückenschutzmittel mit.«

Liese hatte mit Sahnekäse und Salami gefüllte Brioche-Sandwiches gemacht. Sie reichte sie ihr zusammen mit einem Apfel. »Wie üblich zurück?«

»Wüßte nicht, warum nicht.«

»Viel Glück mit Fovas.«

Harriet hielt gekreuzte Finger hoch. »Ich werd kühlen Kopf bewahren.«

Professorin Andrea Fovas war Harriets Chefin, Leiterin von Unikhems Syndrom-Forschungsabteilung. Von den Körperöffnungen her gesehen eine Frau, ansonsten jedoch kaum.

Harriet ging auf den Balkon hinaus. »Tschüs, Annielein. Sei brav bei Tante Liese. Einen schönen Tag.«

Anna sah nicht auf. Sie schnaubte unentwegt weiter. Harriet kehrte in die Küche zurück, nahm ihre Aktentasche und küßte Liese auf die Wange.

»Ich werde auch brav sein«, sagte Liese.

Unikhem hatte einen Protzbau mitten in die Stadt gestellt, nahe der alten Stadtmauern – Spiegelglas-Verkleidung, Atrium-Foyer mit Dschungelblattwerk und einer zehn Meter hohen Fontäne. Auf einem vom Fußboden bis zur Decke reichenden Bildschirm, durch den man hindurchtreten mußte, wenn man hineinwollte, stand SYNDROM-FORSCHUNGSABTEILUNG. Auf der anderen Seite und jenseits des Foyers und einem letzten Paar schicker automatischer Flügeltüren endeten Teppiche und Glamour und Glimmer. Keine Musik: gemusterte Linoleumfußböden, Robotschienen für die interne Kommunikation, und klare, leuchtend helle Farben zeigten die verschiedenen Abteilungen an.

Harriets Abteilung – Molekulargenetik – war dunkelgrün. Ihr eigener Arbeitsbereich lag hinter luftdicht schließenden Türen und wies eine blaßgrüne Schattierung auf, die eine semikontrollierte Umgebung anzeigte. Die Temperaturen lagen niedrig, und zumindest der gröbere Dreck des Alltags war ausgeschlossen.

Harriet arbeitete an diesem Tag allein. Sie richtete menschliche DNA-Bruchstücke für das Computer-Scannen sowie die Mikrofotographie her. Genkartographie als grundlegendes Forschungswerkzeug war out. Das Weltprogramm zur Kartographie des gesamten menschlichen Genoms war längst ad acta gelegt worden, Opfer von Zuschußkürzungen angesichts wachsender Ausgaben für AIDS-bezogene Forschung. Außerdem war die Öffentlichkeit bezüglich der Ziele des Programms sehr mißtrauisch geworden. Genetische Überprüfung auf Erbkrankheiten (Huntigtons Chorea, zystische Fibrose, Hämophilie) war schön und gut, aber Überprüfung auf bloße Anlagen (Depression, Schizophrenie, Alkoholismus) roch zu sehr nach genetischer Diskriminierung. Das Bild einer Unterklasse von Menschen, die aus genetischen Gründen nicht vermittelbar waren, wurde an die Wand gemalt, und die Unterstützung für das Projekt schwand dahin. Auf der anderen Seite waren Untersuchungen genetischer Profile von aufstrebenden Präsidenten und Managern auf der obersten Etage anscheinend Grund für endlose juristische Streitereien, einfach nur eine weitere mögliche Gelegenheit, im Dreck zu wühlen.

Die Syndrom-Forschung folgte vielen verschiedenen Pfaden. Unikhem ging das Problem unter der Annahme an, daß verstärkte UV-Strahlung, verbunden mit dem Ozonabbau, eine Rolle spielte, und suchte nach diese These unterstützenden Beweisen. Eine Weile lang hatte der immunitätsunterdrückende Effekt der UV-Strahlung den Verdacht ausgelöst, dieser sei für AIDS verantwortlich, aber als die Forschung in dieser Richtung nirgendwohin führte, blieb das Feld für Arbeiten an DNA-Veränderungen weit offen. Niemand wußte mit Sicherheit, ob das Syndrom auf der DNA-Ebene lag und deshalb erblich war – Töchter der daran Leidenden waren nach wie vor Opfer, aber das mochte auch an einer erneuten Ansteckung liegen –, aber falls vergleichende Studien von Vor- und Nach-Syndrom-DNA deutliche Unterschiede ergäben, wäre dies ein starker Beweis für einen vererbungsbedingten Faktor. Die Identifikation des defekten Gens würde dann die biochemischen Wege zeigen, über die es seine Zerstörung bewirkte.

Harriet hatte während der vergangenen zehn Monate an Schnipseln der verfaulten Tiefgefrorenen der nächstgelegenen Kryobank gearbeitet. Einige der Kadaver, die in den neunziger Jahren so voller Optimismus tiefgefroren worden waren, befanden sich in einem schrecklichen Zustand und erfreuten sich bei ihren überlebenden Verwandten einzigartiger Unbeliebtheit. Ihre DNA war zuverlässig frei vom Symptom, und Harriet verglich sie mit heutigen Proben. Es war eine langwierige, mühevolle Arbeit, bei der vielleicht 100.000 Genpaare zu untersuchen waren, aber sie hatte nach der Promotion auch molekulargenetisch gearbeitet, und ihr war niemals langweilig.

Wissenschaftlich gesehen zählte es nicht, daß sie persönlich der Theorie der UV-Strahlung als auslösendem Faktor keinen großen Glauben schenkte. Eine Nichtübereinstimmung, irgendeine Nichtübereinstimmung zu finden wäre ein Durchbruch. Persönlich gesehen spielte es schon eine erheblichere Rolle. Nach zehn Monaten Arbeit wurde sie unruhig. Sie spürte, daß sie einen Nebenfluß hinaufpaddelte, während der Hauptstrom brüllend an ihr vorüberfloß.

Enzyme hatten die aufgetaute DNA zerschnitten. Die Schnipsel wurden in Gel aufgefangen und auf automatische Objektträger gebracht. Ein Band nahm die Objektträger zum Mikroscanner und weiter zur Computeranalyse mit. An diesem Morgen war mitten im Programm das Band ausgefallen, hatte sich an einer Seite des Führungskanals festgeklemmt. Statt den Labortechniker anzurufen, der die ganze Einheit auseinandernähme, behob Harriet den Schaden selbst. Die Materialtemperatur lag nahe beim Nullpunkt, und sie drückte das Band mit einer chirurgischen Pinzette auf seine Rollen zurück. Da die Kälte das Metall zusammenzog, hatte sie es in ihr Taschentuch gehüllt.

»Sie sehen aus, als ob Sie ein weiteres Paar Hände gebrauchen könnten.«

Harriet fuhr zusammen, ließ die Pinzette los, fing sie jedoch auf, ehe sie in das Trockeneis fallen konnte, das die Bandeinheit umgab. Über den Apparat gebeugt hatte sie Professor Fovas nicht hereinkommen hören.

»Lassen Sie mich helfen, Harriet. Ich glaube, ich sehe, wo das Problem liegt. Reichen Sie mir das Metallineal herüber!«

Gemeinsam hebelten sie das Band auf seine Führungsrollen zurück. Harriet schaltete wieder den Motor an. Die automatischen Objektträger nahmen ihre Wanderung zum Mikroscanner wieder auf. Sie schaltete ab. Der Zeittakt war durch das Anhalten unterbrochen worden und mußte neu eingestellt werden.

Vorsichtig wandte sie sich der Professorin zu. »Vielen Dank! Ich hätte wohl stundenlang herumfummeln können.«

Fovas lachte. »Zwei kostspielig ausgebildete Wissenschaftlerinnen, ein Teil der am weitesten entwickelten wissenschaftlichen Ausrüstung der Nation, und wir sticheln wie Bauernknechte darin herum.«

Harriet traute dem Gelächter nicht, der Vertraulichkeit. Sie stopfte das Taschentuch in die Tasche ihres Overalls zurück. »Ich habe gedacht, es ginge schneller«, meinte sie, »als einen Techniker herbeizurufen.«

Fovas lachte erneut. »Ist ja nichts passiert.« Sie hielt inne. »Obwohl wir einen Wartungsvertrag haben. Eigeninitiative schön und gut, aber wir wollen doch die Garantien nicht verfallen lassen.«

Harriet gab keine Antwort. Fovas war eine Kuh mit verkniffenem Gesichtsausdruck. Sie hatte der Vertraulichkeit zu Recht mißtraut.

»Dennoch bin ich nicht zum Kritteln hier.« Fovas blickte sich in Harriets Arbeitsbereich um, blies die Wangen auf und klopfte versuchsweise mit den Fingernägeln auf den Rand eines gläsernen Meßbechers.

Weswegen sind Sie hier? fragte sich Harriet. Andrea Fovas glaubte an das Prinzip der Führung von oben. Auf den unteren Ebenen ließ sie sich nicht häufig blicken.

Die Professorin wanderte ziellos umher, verschob Dinge, öffnete Schubladen ein kleines Stück und schloß sie rasch wieder. Sie war eine ältliche Frau, hager und gerade, mit Bürstenhaarschnitt, die einen makellos weißen Kittel trug. Harriet hätte sich nicht gewundert, wenn sie auf der Suche nach Staub mit dem Finger über eine Kante gefahren wäre.

An der Tür blieb Fovas stehen. Sie fragte den Türrahmen: »Wie kommen Sie hier voran, Harriet? Irgendwelche Probleme? Sind Sie glücklich?«

Jäh fiel bei Harriet der Groschen. »Eigentlich möchten Sie wissen, Professor Fovas, was ich letzte Nacht drei Stunden am Zentralrechner getan habe.«

»Ganz und gar nicht. Ich bekomme alle Zugriffscodes zu Gesicht. Ich weiß, was Sie getan haben.«

»Und Sie wollen mir das untersagen.«

Fovas wandte sich um. »Das hier ist keine Schule, Harriet. Ich bin nicht Ihre Klassenlehrerin.«

Harriet lehnte sich zurück. Sie hatte sich auf die Kante ihres Labortischs gekauert. »Nein? Sind Sie nicht?«

»Ich lasse mich von Ihnen nicht provozieren, Harriet. Das ist zu kindisch. Ich habe Ihnen eine völlig vernünftige Frage gestellt.«

»Sie haben mich gefragt, ob ich glücklich sei…« Harriet verschränkte die Arme. »Professor Fovas, während meiner ersten beiden Jahre hier hat Unikhem mich bei zwei- bis achtzelligen Embryonen im Vorstadium das Geschlecht bestimmten lassen, und ich habe die männlichen Embryonen für die Auflösungstest herausgepickt. Ich habe eine vierzig Jahre alte Polymerasekette benutzt, weil sie zu knauserig waren und kein Geld für etwas anderes ausgeben wollten. Eine Arbeit, die ein Laborant im zweiten Lehrjahr hätte erledigen können. Seitdem…«

»Sie zeichnen ein schmeichelhaftes Bild unserer Laboranten, meine Liebe.«

»Seitdem, Professor, bin ich bei Ihrem Gen-Vergleichsprogramm. Das ist nicht gerade die faszinierendste Arbeit, aber ich bin hier noch immer ziemlich neu, und ich werde mich gewiß nicht beklagen. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich glücklich sei…« Harriet seufzte. »Der Punkt ist, und das habe ich zuvor schon gesagt, der Punkt ist, daß ich nicht mehr wirklich an UV-Strahlung als auslösenden Faktor glaube.«

»Nein, Harriet, ich fürchte, das ist nicht der Punkt.« Fovas trat näher, nahm Harriets Hände in die ihren und sagte sanft, von Frau zu Frau: »Der Punkt ist, meine Liebe, daß die Forschungsrichtung hier auf die UV-Strahlung zielt, und das haben Sie bei Ihrem Arbeitsantritt akzeptiert. Wir fangen mit dem bekannten unterdrückenden Effekt von UV-Strahlung auf das Immunsystem an und unterstellen eine Beteiligung der DNA. Und wir wissen ebenfalls, welche Schäden UV-Strahlung bei einzelnen Genen anrichten kann, also wissen wir, wonach wir suchen müssen.«

Ihre Hände verursachten Harriet eine Gänsehaut. Sie schüttelte sie ab. »Das ist kein Herpes Simplex, um Gottes willen!« Sie beherrschte sich. Fovas wußte das ebenso gut wie sie. Sie war nicht dumm. Ihr Problem war, daß sie andere Frauen für dumm hielt. »Sehen Sie, wenn wir UV-Strahlung als Auslöser nachweisen wollen, warum suchen wir dann nicht nach Zentren, die im letzten Jahrhundert schwerer UV-Bestrahlung ausgesetzt waren? Als die Wogen um die UV-Bestrahlung hochschlugen und diese ganzen Ängste um Hautkrebs auslösten? Wenn eines dieser Zentren mit der Ausbreitung des Syndroms zusammenfällt, dann…«

»Dr. Ryder.« Die Professorin hatte sie lange genug an der langen Leine gelassen. Frau-zu-Frau war vorüber. Es war an der Zeit, sie wieder heranzuholen. »Dr. Ryder, Sie haben vergangene Nacht am Zentralrechner nicht nach Zentren hoher Bestrahlung gesucht. Sie haben Ihren eigenen Forschungsstrang verfolgt. Das haben Sie zuvor schon getan. Sie haben Zugriff auf die regierungsamtlichen Gesundheitsaufzeichnungen des Jahres I genommen.«

»Genaugenommen die weltweiten Gesundheitsaufzeichnungen.« Ertappt wechselte Harriet den Kurs. »Sie sind in einem furchtbaren Zustand. Vor dreißig Jahren standen vielen Ländern keine geeigneten Systeme zur Verfügung. Und das Sammeln der Informationen war schrecklich. Aber das Syndrom muß irgendwo angefangen haben, also…«

»Nein. Nein…« Professor Fovas wandte sich erregt ab, tat einige Schritte und kam zurück. »Wenn Sie mit ›irgendwo‹ einen einzigen und besonderen Ort meinen, Dr. Ryder, dann muß das Syndrom nicht irgendwo angefangen haben. Es hat sich viel zu rasch ausgebreitet. Es muß mehr oder weniger gleichzeitig an vielen verschiedenen Orten angefangen haben.«

Harriet starrte sie an. Es war ein altes Argument. Sie hatte keine Antwort. Noch nicht. Sie wußte einfach bis ins tiefste Innere, daß die Leute mit der Theorie des vielfachen Ursprungs irrten. »Ich hätte nicht den Zentralrechner benutzen sollen«, sagte sie bescheiden. »Das ist kostspielig. Sie müssen mir die Zeit vom Gehalt abziehen.«

»Darum geht es gar nicht. Die Abteilung kann es sich leisten, ein bestimmtes Ausmaß privater Recherche zu finanzieren. Es geht um das Engagement. Wenn Sie nicht an das glauben, was Sie hier tun, dann…«

»Wenn Sie mit meiner Arbeit unzufrieden sind…«

»Ganz und gar nicht. Nicht mit Ihrer Arbeit. Ihre Arbeit ist ausgezeichnet.«

Aha. Verdammt! Da hatte die verdammte Fovas also Ringelreihn mit ihr gespielt und eigentlich auf das hier hinausgewollt.

»Ihnen mißfällt, was ich im Fernsehen gesagt habe?«

Seit der Sendung waren vierzehn Tage vergangen. Sie selbst hatte weitergemacht, die Sache mehr oder weniger vergessen. Nicht jedoch Unikhem. Unikhem hatte offensichtlich soviel Zeit benötigt, sich über seine Reaktion klarzuwerden. Jetzt hatten sie die arme alte Fovas geschickt.

Die Professorin hielt die Hände steif vor dem Leib verschränkt. »Sie haben alles Anrecht auf Ihre Meinung, Dr. Ryder.«

»Und darf sie auch öffentlich kundtun?«

»Auch das… vorausgesetzt, natürlich, Sie verleumden weder Unikhem, noch brechen Sie die Vertraulichkeits-Klausel Ihres Vertrags.«

»Das habe ich auch nicht getan. Mein Angriff ging gegen das Prinzip der Tierversuche. Das habe ich absolut klargestellt. Absolut klar.«

»Allerdings.« Sie gestattete sich Harriet gegenüber ein kühles Lächeln. »Ich habe mir die Aufzeichnung angesehen. Sie haben es so absolut klargestellt, daß man den Zuschauern vielleicht verzeihen kann, wenn sie glaubten, Sie hätten genau das Gegenteil gemeint.«

»Das ist deren Problem.«

»O nein. Es ist Unikhems Problem. Und deswegen, Dr. Ryder auch Ihr Problem.« Sie griff in ihren Kittel und holte einen Nachrichtenausdruck hervor, den sie auf dem Labortisch ausbreitete. Die Schlagzeile berichtete vom erfolgreichen Bombenattentat auf eine PTG-Klinik oben im Norden.

Sie lehnte sich schwer auf den Tisch. »Die Zeiten sind launisch. Es war keine Unikhem-Klinik, aber es hätte gut eine sein können. Es liegt Ärger in der Luft, und nicht nur in Europa. Wir haben weltweit Anlagen und viel örtliche Unterstützung. Ihre Bemerkungen, Dr. Ryder, sind zu Kulturen hinausgegangen, für die ist Ihre Sorge um den Tierschutz beleidigend, wenn gleichzeitig die Gefahr besteht, daß die Männer aussterben. Selbst hier bei uns haben Ihre Worte ganz klar für Zündstoff gesorgt.«

»Ich soll also kündigen?«

»Da ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Angst am Werk, Dr. Ryder. Verwirrung. Oftmals Panik. Männer haben Angst. In dieser Stadt hier stellen sie Streikposten vor Samenbanken auf, bei denen Frauen leitende Positionen bekleiden… Ihr Angriff könnte sehr leicht eine heftige Reaktion provoziert haben.«

»Ich habe Sie gefragt, ob ich kündigen soll.« Sie setzte der armen Frau zu, das wußte sie, und es war ihr gleichgültig. Sollte Fovas sie doch feuern! Unternehmen wie Unikhem hatten sich zu lange wichtig gemacht.

Professor Fovas betrachtete sie nachdenklich, ging zum Schreibtisch neben dem Computerterminal hinüber und setzte sich. Sie seufzte und entspannte dadurch die fest wie Violinsaiten gespannten Muskeln in ihrem Hals.

»Einige Forscher sind glücklich, wenn sie das Labor nie zu verlassen brauchen«, meinte sie. »Für so jemanden halte ich Sie nicht. Ich habe Sie an den Labortisch gefesselt, und ich habe mich geirrt. Ich schlage Ihnen vor, zur klinischen Seite Ihrer Arbeit zu wechseln. Zu den Abteilungen unseres medizinischen Flügels drüben auf der Wehl Street.«

Harriet ließ nicht locker. »Und mein Fernsehauftritt?«

»Ich hab’s bereits gesagt, Harriet. Ich soll Sie wie Ihre Klassenlehrerin behandeln, aber das werde ich nicht tun. Ich habe Sie auf die möglichen Konsequenzen kontroverser Statements in den Medien hingewiesen. Alles übrige liegt bei Ihnen.«

Eine scharfe Antwort. Sie brachte Harriet dazu, auf der Stelle innezuhalten. Wollte sie das wirklich, eine Klassenlehrerin, die sie in die Schranken wies? Jemanden, auf den sie sich verlassen und den sie hassen konnte? So jemanden hatte sie nie gehabt. Liese versuchte sich darin.

Sie machte weiter. »Und mein neuer Job?«

»Ist eine Beförderung. Sie sollen die Leitung des Embryonen-Implantationsprogramms übernehmen. Damit verbunden ist eine direkte Arbeit mit Mitgliedern der Öffentlichkeit, weiblichen Freiwilligen.«

»Und mein Vorgänger?«

»Dr. Hildebrand ist über das Ruhestandsalter hinaus. Wir haben schon einige Zeit nach einem Ersatz für ihn gesucht.«

Wenn es um Männer ging, war das Ruhestandsalter Unsinn. Hildebrand wurde aus anderen Gründen an die Luft gesetzt. Wollte sie seinen Job? Ihr war Unikhems Implantationsprogramm bekannt. Sie befruchteten gespendete Eier in vitro, implantierten die männlichen Embryonen Frauen, die sich freiwillig gemeldet hatten, und schauten, wie lange sie die Embryonen halten konnten. Mit ein wenig Glück böte ihr dies die Möglichkeit, einige ihre eigenen Ideen zu verfolgen.

»Die Freiwilligen erfahren unangenehme Nebeneffekte«, murmelte Fovas. »Sie benötigen viel Unterstützung durch den Programmdirektor.«

Sie hatte verstanden. Fovas war vielleicht nicht die größte Wissenschaftlerin, aber sie verstand etwas vom Personalmanagement. Harriet war Ärztin, und Ärzte sollten verarzten.

»Wenn Sie interessiert sind, schlage ich vor, Sie gehen schnurstracks hinüber. Dr. Hildebrand erwartet sie. Über die Modalitäten der Stelle können wir später sprechen.«

Mehr Geld wäre hilfreich. Liese beklagte sich nie, aber das Leben war nicht leicht. Harriet hatte Fovas dazu gedrängt, ihr den Laufpaß zu geben, und ihr ging jäh auf, wie schlimm es gewesen wäre, wenn sie es getan hätte. Nicht nur wegen des Geldes – sie benötigte Unikhems Unterstützung. Es mochte nicht viele Harriet Ryders im Pool geben, aber es gab auch nicht viele Unikhems. Sie ließen ihr Raum. Sie war eine undankbare Kuh.

»Ich dachte, man unterstellte mir fehlendes Verantwortungsgefühl für die Firma.«

»Das war in einigen Ecken der Eindruck.« Fovas griff nach dem Nachrichtenausdruck, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche zurück. »Aber ich kann ihnen die Tatsache, daß Sie den Posten annehmen, als beruhigende Entwicklung verkaufen.«

Harriet schritt zur Tür. »Ich gehe zu Hildebrand. Dann hören Sie wieder von mir.« Sie blickte über die Schulter. »Und vielen Dank.«

 

Dr. Hildebrand war von alter Schule, glatt und geschniegelt, mit gewelltem, silbrigen Haar. Er leitete zehn Vierbettzimmer, zwei Operationssäle sowie einen großen Laborausrüstungsapparat. Seine Laboranten befruchteten in vitro und wählten die männlichen Embryonen aus, und ein unter Vertrag stehender Chirurg vom staatlichen Krankenhaus implantierte die Embryos. Hildebrand kümmerte sich um die Vor- und Nachbereitung der Operation, die Anästhesie und die anschließenden immunreaktionsunterdrückenden Therapien. Diese kamen von ganz oben und waren häufig drastisch. Zwar war noch keine Patientin daran gestorben, aber es hieß, eine sei sehr nahe daran gewesen. Jeder Fötus, der die Unterdrücker überlebte, zeigte nichtsdestoweniger umfangreiche Anomalien und wurde routinemäßig nach sechzehn Wochen abgetrieben.

Dr. Hildebrand sang ein Loblied auf den Mut der Freiwilligen: ihr Aufenthalt konnte bis zu vier Monaten dauern, die Bedingungen waren ähnlich einer Behandlung auf der Intensivstation und die Nebeneffekte der Unterdrücker reichten von akutem Brechreiz bis hin zum völligen Verlust des Haars. Die Frauen litten freudig, denn sie glaubten an die Sache.

Harriet fragte, welchen Fortschritt er erzielt habe.

Er schnippte Staub von seinem Ärmel. »Völlig negativ, Doktor. Wir sammeln eine beeindruckende Liste ineffektiver Wirkstoffe. Wir lernen eine Menge über die Verletzbarkeit des Fötus. Wir können ebenso den Augenblick vorhersagen, wann die den Embryo schützende Membran zusammenbricht… Aber der Abstoßungsmechanismus, das Objekt der Übung, ist uns nach wie vor ein absolutes Rätsel.«

»Wer beurteilt die Ergebnisse?«

»Ich selbst.« Er ließ die Schultern unter seiner teuren Jacke zusammensacken. »Unter der Oberaufsicht«, gab er zu, »des Programmleiters.«

Harriet nickte. Amour propre war hier das Thema, eine Frage von Geschlecht und Generation. Sie, mit siebenundzwanzig, wäre weitaus glücklicher mit Andrea Fovas’ Oberaufsicht als Dr. Hildebrand mit über siebzig.

»Das muß schwierig sein«, meinte sie.

»Ganz und gar nicht. Fovas ist die Wissenschaftlerin. Ich bin bloß der bescheidene Arzt.«

Harriet nickte erneut. Bescheiden?… »Darf ich mit Ihren Patientinnen reden?«

»Aber gerne. Es sind sowieso jetzt Ihre Patientinnen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Oder sie werden es um siebzehn Uhr sein.«

Sie dankte ihm lächelnd. Er hörte sich militärisch an, war jedoch gar nicht so schlimm. Ihr wurde klar, daß er vierzig Jahre vor dem Bevölkerungsrückgang geboren worden sein mußte. Eine erstaunliche Spanne. Menschen nach dem Bevölkerungsrückgang neigten zur Annahme, die Geschichte habe mit ihnen ihren Anfang genommen. Welche Kriege hatte er erlebt? Er würde sich an die nukleare Abrüstung erinnern. Das hatten Männer ausgehandelt – sie waren nicht alle so von Grund auf verdorben, wie Mama sagte.

Sie verließ Hildebrand und ging den langen Korridor zu den Krankenzimmern hinab. Mama. Bei ihrem Bruder Daniel hatte sie es aufgegeben, aber Mama besuchte sie noch immer. Da war dieser Besuch mit Oma nach Annas Geburt gewesen. Sie waren von Omas Insel hergekommen: eine Osterbrook-Gemeinde hatte sich dort gegründet, und Mama sah sie sich an. Harriet hatte dagegen argumentiert: sie fand den Gott-die-Mutterismus schrill. Mama hatte sie nicht beachtet. Bei Harriets nachfolgenden Besuchen auf der Insel hatten sowohl Mutterismus als auch Mama in fortschreitendem Maß weniger schrill gewirkt.

Die medizinischen Abteilungen des Flügels in der Wehl Street waren beeindruckend. Harriet mußte einen sterilen Ganzkörperschutz tragen und eine Luftschleuse überwinden, ehe sie zur Pflegestation kam. Die normal gekleideten Krankenschwestern absolvierten dreitägige Schichten innerhalb des Komplexes. Harriet sah nicht so recht, wie sie durch ihr Kunststoffoutfit den Patienten etwas Nützliches erzählen konnte, aber die meisten der Frauen waren an Besucher in Anzügen gewöhnt. Sie sprach mit ihnen.

Ihr Hauptthema war die Woche, in der sie sich befanden.

»Ich bin in der achten, Doktor. Zweiundfünfzig Tage. Die Schwester sagt, er macht sich gut.«

»Er?«

»Das Baby.«

Dieses Gefühl, im Leib eine Person zu haben, machte Harriet besorgt.

»Ich weiß, es ist dumm, Doktor, aber so lange er dort ist, nenne ich ihn Thomas.«

Das machte sie noch besorgter. »Ihnen ist klar«, sagte sie freundlich, »daß Sie sich auf einen Abbruch einstellen müssen?«

»Sagen Sie das nicht, Doktor. Es schadet nichts, das Beste zu hoffen.«

Harriet gab keine Antwort. Die Bemerkung war nicht als Frage ausgesprochen worden, also mußte sie auch keine Antwort geben. Teil einer guten Behandlung war das Wissen, wann die Wahrheit nicht erwünscht war.

Anschließend sprach sie mit der diensthabenden Schwester. »Viele Patientinnen glauben anscheinend, daß man ihnen gestattet, den Embryo voll auszutragen.«

»Ich weiß.«

»Man sagt es ihnen nicht, stimmt’s?«

»Nicht genau.«

»Nicht genau?«

Die diensthabende Schwester war eine ostentativ beschäftigte Frau, die ihre Aufmerksamkeit stets auf etwas gerichtet hatte, das gerade über Harriets Schulter hinweg dringend erledigt werden mußte. »Unsere Patientinnen sind Freiwillige, Doktor. Sie unterzeichnen eine Verzichtserklärung, aber nur wenige lesen sie. Sie wollen lieber hoffen. Wir würden viele von ihnen verlieren, wenn wir ihnen das nicht erlauben würden.«

»Die Unehrlichkeit macht Ihnen nichts aus? Macht Ihren Schwestern nichts aus?«

»Sie richtet keinen Schaden an. Und es ist für eine gute Sache.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Doktor…«

Harriet ließ sie gehen. Es war jetzt nicht an der Zeit für Diskussionen darüber, was besser war. Die Patientinnen waren glücklich, die Krankenzimmer makellos, die Forschung verlief reibungslos – was konnte sie da mehr verlangen? Hildebrand, und vermutlich Fovas über ihm, hatten ein gutes Gewissen. Harriet Ryder hatte das unangenehme Bedürfnis, ihre Rechtschaffenheit wie ein Banner vor sich herzutragen. Wenn sie den Job annahm und hier Veränderungen notwendig wären, würde sie diese so unauffällig wie nötig durchführen.

Würde sie den Job annehmen? Von dem Augenblick an, da ihn Fovas ihr angeboten hatte, hatte sie gewußt, daß sie ihn annehmen würde. Er vergrößerte ihre praktische Erfahrung und sähe gut in ihrem Lebenslauf aus. Auch würde er ihr Denken befreien, weil er sie aus Unikhems bedrückendem Laborforschungsprogramm herausbrächte. Sie könnte ihr Geld annehmen, und es sich anständig verdienen, und gleichzeitig ihren eigenen Ideen nachgehen.

Welchen Ideen? Sie sprach sie nicht gern aus. Sie suchte nach einem Virus. Sie war keine Virologin. Viren waren sowieso aus der Mode gekommen, Retroviren ebenfalls, aber irgend etwas sagte ihr, daß dort der Durchbruch zu erzielen wäre. Deshalb ihre Arbeit an den WHO-Aufzeichnungen. Weise einen einzigen geographischen Geburtsort für das Syndrom nach, und es gäbe viel triftigere Gründe für ein Virus.

Etwas war merkwürdig. Warum hatte Professor Fovas, die ihr heikles Gewissen kannte, sie nicht vor der jämmerlichen Selbsttäuschung der Freiwilligen gewarnt? Zunächst die Sache mit dem Fernsehen, und dann das hier. Vielleicht wurde sie getestet. Vielleicht wollte Unikhem sie loswerden, getraute sich aber nicht, sie zu feuern, und hoffte darauf, daß sie von alleine ginge. Sie würde sie enttäuschen.

Nach einem Schwatz mit Professor Fovas ging sie früh nach Hause. Sie hatte gute und schlechte Neuigkeiten für Liese. Es würde beträchtlich mehr Geld geben, aber keine Laborstunden mehr von neun bis fünf. Der vertraglich verpflichtete Chirurg setzte die Implantate außerhalb seiner Krankenhausarbeit ein, oftmals des Abends, und er erwartete von Harriet, daß sie assistierte. Sie würde viel lernen, aber sie würde das regelmäßige Beisammensein mit Anna verlieren, das Bad, die abendliche Zubettgeh-Geschichte. Liese, die ja einen Abschluß in Erziehung hatte, hielt so etwas für wichtig.

Harriet, voll von ihren Neuigkeiten von Unikhem, hatte ebenfalls vergessen, nach dem Waldspaziergang zu fragen. Und sie mußte ihre Aufmerksamkeit auf das verschrumpelte Bündel Farnkraut in einem Topf auf dem Küchentisch lenken lassen. Harriet, die keinen Abschluß in Erziehung hatte, war nicht sehr gut gewesen.

Liese wartete, bis Anna im Bett lag.

Dann sagte sie: »Du mußt dir das gründlich überlegen, Har’, ehe du diesen neuen Job annimmst.«

»Ich habe überlegt.« Sie waren im Wohnzimmer. Harriet hatte die Füße aufs Sofa gelegt. »Sehr gründlich.«

»Wir können ohne das Geld auskommen. Das weißt du.«

Sie wußte es. Sie wollte den Job.

»Leicht zu sagen, Liese, Liebes. Du bist eine Heldin. Du vollbringst Wunder. Aber…«

»Übrigens wird Annie in einem Jahr auf einer richtigen Schule sein.« Liese sagte nichts dagegen, eine Heldin zu sein. »Nur ein paar Stunden, aber ich könnte einen kleinen Job annehmen.«

Harriet runzelte die Stirn. Das Thema, einen kleinen Job anzunehmen, tauchte häufig auf. »Wenn du Zeit brauchst, wo du keine Löffel abtrocknest, könntest du dir die leicht nehmen, wenn ich mehr verdiene.«

»Ich hab mein Lebtag noch keinen Löffel abgetrocknet.« Liese war beleidigt, anders ließ es sich nicht ausdrücken. »Ich möchte einfach nur nicht, daß du von dem bißchen Zeit, das du zu Hause mit Anna verbringst, noch etwas abknappst, nur um weitere Güter zu verbrauchen, die keiner von uns benötigt.«

Harriet streckte die Hand nach Liese aus. »Streiten wir doch nicht, Liebes. Ich möchte diesen Job für mich. Du weißt das. Was jedoch nicht bedeutet, daß du nicht davon profitierst.«

»Ich habe nicht an dich und mich gedacht.« Liese konnte unnachgiebig sein. »Ich dachte an Anna.«

Harriet spürte, daß sie einen Wutanfall bekam, hielt die Luft an und zählte bis zehn. War Liese neidisch auf ihre Arbeit? Verständlich wäre es ja.

»Am besten wäre es wohl, wenn ich einen Halbtagsjob bekäme. Dann könntest du richtig an deine Arbeit zurückkehren. So sollte gemeinsame Erziehung sein.«

»Lächerlich. Damit willst du mir doch nur den Mund stopfen.« Stimmte genau. »Du würdest sterben, wenn du halbtags arbeiten würdest, Har’. Du weißt, das würde ich nie zulassen.«

»Ich würde nicht sterben.« Harriet legte sich zurück und sah zur Decke hinauf. »Ich würde ein wenig erschlaffen…«

»Und wozu sind erschlaffte Mamas für ihre Kinder gut?«

»Erschlaffte Mamas?« Harriet sah sie von der Seite her an. Ihre Blicke trafen sich. »Erschlaffte Mamas…?«

Gelächter rettete sie oftmals. Jetzt auch wieder. Es entstand aus einem widerwilligen Lächeln, wurde zu einem Keuchen und Augenwischen, und schließlich fielen sie einander in die Arme. Erschlaffte Mamas. Es entschied nichts, aber es gab auch nichts zu entscheiden. Harriet würde den Job annehmen. Das hatte nie zur Debatte gestanden.

Das Telefon klingelte. Liese hob ab, schaute nach, ob der Bildschirm abgeschaltet war, und antwortete. Sie hörte zu und bedeckte daraufhin die Sprechmuschel.

»Ist für dich. Ein Journalist.«

»Sag ihm, er soll verschwinden. Journalisten bringen mich in Schwierigkeiten. Ich hasse Journalisten.«

»Er ist von Science News.«

»Das sind die schlimmsten.« Harriet war aufgesprungen und ging in die Küche. Gnasher erhob sich von der Sofalehne und folgte ihr. »Sie wissen mehr über mein Gebiet als ich.«

»Er hat den Artikel über deinen Fernsehauftritt geschrieben. Sein Name ist Mark Kahn.«

Harriet blieb stehen. »Den habe ich gelesen. Er war schmeichelhaft.«

Der Schreiber hatte ihr nicht sklavisch beigepflichtet, sondern war erfreut darüber gewesen, daß endlich eine bedeutendere Wissenschaftlerin ihr Wort erhoben hatte. Harriet hatte insbesondere Gefallen an der ›bedeutenderen Wissenschaftlerin‹ gefunden.

Sie kam ins Zimmer zurück. »Was will er?«

»Er hat von deinem neuen Job gehört. Er möchte dir gratulieren.«

»Er möchte, daß ich etwas Indiskretes sage, das er, aus dem Zusammenhang gerissen, zitieren kann.« Harriet streckte die Hand aus. »Ich werde mit ihm reden. Das sollte Spaß machen. Wie, hast du gesagt, war sein Name?«