II

VON DER SPUR zUR FÄHRTE

1

 

»Ah, was haben wir denn da? Eine Waldschlüsselblume?«

Überrascht wirbelte Johanna zum Sprecher herum. Nachdem sie den Tag damit verbracht hatte, den Arbeitern bei der Ernte zu helfen, war sie nach Hause zurückgekehrt und hatte den Burghof voller Pferde und unvertrauter Männer vorgefunden. Einige waren Schwertkämpfer in Livree, andere trugen die grüne Kluft von Förstern. Die Stallburschen des Barons hetzten bald hierhin, bald dorthin und versuchten, dieses unerwarteten Ansturms lauter und ungeduldiger Fremder Herr zu werden. Die Hunde von Fadrenschloss hatten die Besucher gewittert; beide kläfften wild und ungestüm.

Der Mann, der sie angesprochen hatte, war beleibt, mittleren Alters und musste der Adelige sein, zu dem der Tross gehörte. Denn seine Reitkluft aus grünem Leder war von erlesenerer Güte als alles andere auf dem Hof, von den Sporen bis hinauf zu den Federn an seinem Hut. Am Gürtel trug er einen Falknerhandschuh, an einem juwelenbesetzten Bandelier hing ein silbernes Jagdhorn. Eigentlich sollte sie vor einem adeligen Besucher knicksen, doch etwas an der Art, wie er sie ansah, lähmte sie regelrecht.

Die Abendsonne loderte an einem Himmel so klar und blau, wie er sich sonst nur im Sommer präsentierte. Johanna war erschöpft und angenehm verschwitzt, denn das Einbringen der Ernte war eine vergnügliche Arbeit, an der jede gesunde Seele in oder rings um Fadrenschloss teilnahm, von kleinen Kindern bis zu rüstigen Greisen. Die Jungen arbeiteten ausnahmslos barbrüstig, was zu allerlei Flachsereien und Andeutungen, Liebäugeln und Versprechen führte, die später am Abend teils eingelöst wurden, teils nicht. Mädchen, die kaum älter waren als sie, wurde emsig der Hof gemacht.

»Nun?«, fragte der Edelmann. »Wie lautet dein Name, kleine Schlüsselblume?«
Ihr grünes Leinenhängekleid war von besserer Güte als die Gewänder der Bauernmädchen, trotzdem beileibe kein Kleidungsstück einer Fürstin. Ihr Haar, das sie mit einer Schleife zurückgebunden hatte, war vom Sommer flachsfarben gebleicht, weshalb ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, dass sie eher einem Gänseblümchen denn einer Schlüsselblume glich. Dann besann sie sich ihrer Manieren und knickste.
»Johanna Schale, Herr.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, ahnte sie bereits, dass sie ihm den falschen Titel verpasst hatte.
»Ein hübscher Name für ein überaus hübsches Mädchen. Was für liebreizende gebräunte Arme!« Er beliebte wohl zu scherzen, denn nur Bauern waren sonnengebräunt. Modebewusste Damen besaßen blasse Haut, je blasser, desto besser. Er streckte den Finger aus, um einen Träger des Kleids an der Schulter anzuheben und fügte hinzu: »Und blasse Schultern.«
»Herr!« Da sie wusste, dass er nicht nur an Schultern dachte, wich sie hastig zurück.
Missbilligend runzelte er die Stirn. »Wer ist dein Vater, Johanna?«
»Mein Vater starb vor zwei Jahren. Ich bin das Mündel des Barons … Herr.« Rings um sie tummelten sich Pferde und Menschen, aber niemand schaute in ihre Richtung, ganz so, als wäre sie unsichtbar oder in einem fernen, verborgenen Verlies mit diesem Mann eingekerkert. Sie konnten oder wollten sie nicht sehen.
»Wie alt bist du?«
»Vierzehn, Herr.«
»Lebst du hier in der Burg?«
Sie nickte. Mittlerweile war sie zutiefst verängstigt.
»Dann werden wir einander während meines Aufenthalts ja noch besser kennen lernen.« Seine vollen Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. »Du weißt nicht, wer ich bin, oder? Lass mich dir ein Bild zeigen. Hier! Erkennst du mich nun?«
Zwischen Finger und Daumen hielt er eine Münze hoch, einen funkelnden, goldenen Kru. Zwar hatte sie Krus schon zuvor gesehen, aber selbst der Baron musste sie nur selten verwenden. Dieser Kru sah frisch geprägt aus, trugjedoch ein altes Bildnis, da er einen wesentlich jüngeren Großherzog zeigte.
»Ich bitte Euer Hoheit um Verzeihung!« Damit versuchte sie in ihrem Bauernkittel einen Knicks, der eines Ballsaals würdig war.
Er beugte sich hinab, um sie aus dem Knicks zu erheben, indem er eine weiche Hand um ihren Oberarm schloss. »Dir ist bereits vergeben, Johanna. Ich hoffe, wir können Freunde sein, während ich hier verweile und die gefeierte Gastfreundschaft deines Vormunds genieße. Vielleicht überlasse ich dir dieses Bild von mir, wenn ich aufbreche, was hältst du davon? Gleichsam als Erinnerung an unsere glücklichen gemeinsamen Stunden?« Er ließ sie nicht los, sondern hielt sie dicht vor sich und lächelte.
Was für glückliche Stunden hatte er im Sinn, dass er ihr Gold dafür anbot? War sie etwa eine Gossendirne, dass er sie so beleidigte?
Bevor ihr eine passende, aber höfliche Antwort einfiel
– die es vielleicht ohnehin nicht gab – kam der Baron höchstpersönlich in aller Eile über den Burghof gewatschelt. Offenbar hatte er sich überhastet in seine besten Kleider geworfen, denn sein Wams war noch nicht geschnürt und die Hose zerknittert. »Königliche Hoheit!« Er lüpfte die Mütze, um eine Verbeugung zu vollführen, wodurch er schütteres weißes und völlig zerzaustes Haar entblößte. »Was für eine Ehre! Hätten Euer Gnaden uns vorgewarnt, hätte Fadrenschloss ein herrliches Fest vorbereitet, um – geh und mach dich zurecht, Mädchen! – ein solch herausragendes Ereignis gebührend zu feiern. Aber wenn Hoheit uns doppelt ehren, indem Ihr Euren Besuch ein paar Tage verlängert…«
Johanna riss den Arm los und flüchtete.

Für einen herzoglichen Besuch war nur das Beste gut genug, aber Johannas Bestes war höchst gewöhnlich. In zwei, vielleicht drei Jahren würde sie in die gesellschaftlichen Kreise eingeführt werden. Das hatte ihr der Baron ebenso versprochen wie eine üppige Aussteuer, um einen feinen Ehemann zu finden. Wenn die Zeit reif war, würde sie Kleider, Juwelen und edle Düfte besitzen. Aber jetzt noch nicht. Derzeit war ihr bestes Stück ein schlichtes, braunes Leinenkleid mit gebauschten Schultern und einfacher Spitze über einem rechteckigen Ausschnitt. Heidi, die ihr als Zofe diente, wenn sie nicht gerade als Zimmermädchen beschäftigt war, flocht ihr das Haar zu einem Zopf. Johanna setzte sich eine bescheiden gefiederte Toque auf den Kopf und begab sich auf die Suche nach ihrem Vormund. Sie brauchte Geleit im Umgang mit einem brünstigen Herrscher.

Der Wohnbereich von Fadrenschloss war als Neuer Flügel bekannt, wenngleich er uralt und durch wiederholte Umbauten recht verschlungen war. Der Baron hatte seinen Besucher gewiss in die Gästegemächer geführt, damit Seine Königliche Hoheit sich nach der Reise frisch machen konnte. Nachdem Rubin seine Körperpflege beendet hatte, würde er den Baron vermutlich für den Rest des Tages in Beschlag nehmen, wahrscheinlich auch die nächsten Tage, deshalb musste Johanna ihn um Rat fragen, bevor ihn seine Pflichten als Gastgeber zu sehr beschäftigten.

Zuerst eilte sie zum Sonnenzimmer, das sich am oberen Ende einer schmalen Treppe vom Bankettsaal aus befand. Da die Tür nur angelehnt war, spähte sie hinein und stellte fest, dass der Raum verwaist war. Lediglich eine staubige Flasche und zwei Kristallkelche auf einem Silbertablett warnten einsam davor, dass der Gast hier demnächst unterhalten würde.

Die einzige andere Tür am Ende der Treppe führte zum Schlafgemach des Barons und war verschlossen. Da er sich bereits umgezogen hatte, war es unwahrscheinlich, dass er sich darin aufhielt, dennoch klopfte sie. Eine ihr bereits bekannte Stimme bat sie einzutreten. Im selben Augenblick erblickte sie Baron von Fader, der sich hinter ihr die Treppe heraufmühte, die er von Wand zu Wand ausfüllte. O Graus! Er hatte sein Schlafgemach dem königlichen Gast überlassen, und Johanna klopfte gerade an die Tür des Herzogs.

Abermals forderte er sie auf einzutreten, vermutlich weil er seinen Kammerdiener, sein Gepäck, Rasierwasser oder etwas anderes erwartete. Was würde ihn doch für eine erfreuliche Überraschung erwarten, wenn er zur Tür käme, um nachzusehen! Der Baron plagte sich mit den Stufen und hatte Johanna noch nicht bemerkt. Hastig schlüpfte sie ins Sonnenzimmer. Es war ein kleiner Raum, voll mit großen, abgewetzten Stühlen, einem Schreibtisch und ein paar Dokumententruhen. Letztere waren stets verschlossen, da der Baron die Kammer auch als Kontor verwendete. Also blieb als einzig mögliche Zuflucht der Kamin, dessen verkohltes Mauerwerk im Sommer hinter einem Wandteppich hing. Dahinter war zwischen dem Ruß und der kalten Asche gerade genug Platz für Johanna, der durchaus bewusst war, dass sie soeben ihr bestes Kleid besudelt hatte.

Stimmen vor der Tür …

Dann im Zimmer. Oh, bei den Geistern! Ob sie ihr donnergleich pochendes Herz hören würden?
»… Rebhühner zuhauf dort oben«, erklärte der Baron. »Für Keiler ist es noch etwas früh, aber falls Euer Gnaden derlei Unterhaltung frönen …«
Der Herzog lachte. »Nein! Solchen Unfug überlasse ich den Jungen und Törichten. Aber die Rehe, die Ihr erwähnt habt…« Ein Stuhl knarrte unter jemandes Gewicht.
Eine Weile unterhielten die beiden Männer sich über Wild. Es hörte sich ganz so an, als beabsichtigte der Herzog, Fadrenschloss einige Tage als Jagdhaus zu verwenden. Als Lehnsherr des Barons stand ihm dieses Vorrecht zu. Gläser klirrten. Johanna war überzeugt, sich jeden Augenblick vor blankem Entsetzen übergeben zu müssen. Sie sollte den Großherzog und ihren Vormund nicht belauschen! Würde sie entdeckt, bliebe dem Baron keine andere Möglichkeit als anzuordnen, sie auszupeitschen – oder sie Rubins Gnade auszuliefern.
»Diese Mädchen, Ernst, mit dem ich mich unterhalten habe, ist ein hübsches Ding.«
»Wenn sie erwachsen ist, wird sie eine wahre Schönheit sein.«
»Das ist sie bereits. Haut wie Porzellan! Aber von niedriger Geburt, richtig?«
»Ihr Vater war mein bester Ritter, ein außerordentlich guter Mann. Ich schwor ihm an seinem Totenbett, dafür zu sorgen, dass seine Tochter gut und ehrbar vermählt wird.« Die Stimme des Barons hatte ihren trotzigsten Tonfall angenommen. »Natürlich ist sie noch so jung, dass erst in Jahren an eine Heirat zu denken ist.«
Das Lachen des Herzogs hörte sich metallisch und unangenehm an. »Ich möchte wetten, in Euren eigenen Küchen sind Mädchen ihres Alters zu finden, an deren Brüsten längst Säuglinge trinken, mein guter Baron.« Pause. »Selbstverständlich würde ich einen großzügigen Beitrag zu ihrer Aussteuer leisten. Ich kenne einige vielversprechende junge Männer, die auf Brautschau sind.«
»Euer Gnaden sind überaus freundlich, aber an Freiern wird es nicht mangeln, und für Johannas Aussteuer habe ich bereits Vorsorge getroffen. Ich muss gestehen, dass sie mir über die Jahre ans Herz gewachsen ist. Sie ist mir ein großer Rückhalt im Alter. Eure Hoheit brauchen sich um ihretwillen keine Gedanken zu machen.«
Eine längere Pause, während der Johanna sich bang fragte, welche Zeichen durch Augen, Augenbrauen und stumme Lippen ausgetauscht wurden.
Schließlich brach der Herzog das Schweigen. »Gewiss ist sie ein bemerkenswerter Rückhalt, wie?«
»Hoheit!« Von Faders Aufschrei mochte durchaus bis hinunter auf den Burghof zu hören gewesen sein. »Das ist eine höchst unwürdige Herabsetzung meiner Ehre.«
»Ach, Ernst!« Der Herzog gähnte. »Wir sind beide Männer von Welt. Ihr wisst, was ich will. Wenn Sie nicht Euer ist, kann sie ohne weiteres ein paar Tage mein zum Kuscheln sein. Ein wenig Erfahrung wird hilfreich sein, um sie auf die Ehe vorzubereiten und richtet keinen Schaden an. Außerdem braucht es niemand zu erfahren. Nennt einen Preis.«
»Mein Leben!«
Wieder eine Pause. Johanna hörte, wie ein Kelch abgesetzt wurde.
»Ihr zeigt Euch widersinnig überzogen. Ich fordere Eure Gefolgstreue ein!«
»In jeder Hinsicht der Ritterlichkeit können Eure Hoheit stets auf mich zählen. Ich habe meine Gesundheit viele Male für Euch und Euren Vater aufs Spiel gesetzt. Ich bin Euch in allen Belangen treu ergeben, mit einer Ausnahme: Ich werde mein Mündel nicht für eines Mannes Lust verschachern! Ein ehrenwerter Lehnsherr würde so etwas niemals verlangen.«
Abermals knarrte der Stuhl. Als der Herzog das Wort ergriff, klang seine Stimme aus weiterer Entfernung.
»Fordert mich nicht heraus, von Fader! Ich habe Wege und Mittel, um zu bekommen, was ich will.«
»Eher gehe ich aufs Schafott, als dass ich mich beuge.«
Ein raues Lachen … eine sich schließende Tür … die schweren Schritte des Barons … ein Bolzen, der verriegelt wird…
»Du kannst jetzt herauskommen«, sagte er.
Er schob den Wandteppich beiseite, und Johanna kroch unter aufstiebender Asche heraus. Immer noch auf Händen und Knien schaute sie bang zu ihm auf. Aus diesem Winkel erinnerte er an eine gewaltige Gewitterwolke; sein Gesicht war purpurn vor Zorn.
»Ekelhaft! Ich sollte dich gleich den Schornstein fegen lassen, da du schon einmal so aussiehst. Steh auf und bleib weg von mir!«
»Danke, Herr«, flüsterte sie und rappelte sich auf. »Ich will Euch keine Probleme bereiten.« Sie hatte Ernst von Fader noch nie so außer sich vor Wut erlebt.
»Du bist nicht das Problem!« Er wirbelte herum und stapfte zur gegenüberliegenden Seite der Kammer. »Du wirst mir jetzt einen Eid schwören, Johanna Schale! Den heiligsten Eid deines Lebens. Du wirst dich diesem widerwärtigen Wüstling nicht hingeben. Ganz gleich, was er dir anbietet oder womit er droht, du wirst dich ihm standhaft verweigern.« Dann kam er, nach wie vor fuchsteufelswild, zurück und funkelte auf sie herab. »Du wirst jederzeit höflich und respektvoll sein, aber du wirst dich ihm verweigern.« Bedrohlich ragte er über ihr auf. »Schwör es!«
Sie schwor, was er ihr verlangte.
Danach drehte er sich um und füllte ein Weinglas, ließ sie am Kamin zurück, während immer noch Asche von ihr rieselte. Sein Tonfall wurde leiser, mürrischer, beherrschter. »Rubin ist kein übler Herrscher. Besser als sein Vater oder Großvater. Aber er hat eine Schwäche für junge Mädchen. Jeder weiß es, und wahrscheinlich richtet es keinen großen Schaden an, solange das Mädchen und dessen Eltern einverstanden sind. Heiraten kann er nicht.« Ohne sie anzusehen, reichte der Baron ihr den Kelch. Diese Unterhaltung musste ihn zutiefst schmerzen, denn unter gewöhnlichen Umständen hätte er niemals ein schlechtes Wort über seinen Lehnsherr verloren oder fleischliche Belange mit einer jungen Frau besprochen. Aus dem, was sie von der Dienerschaft des Schlosses aufgeschnappt hatte, wusste Johanna mehr darüber, als er ahnte.
»Üblicherweise«, brummte der Baron, »beschränkt er seine Aufmerksamkeit auf die niederen Klassen, und dem Vernehmen nach ist er recht großzügig. In Krupa werden Mädchen als Bestechung verwendet, um Aufträge, Beförderungen, bevorzugte Behandlung oder hohe Ämter zu erlangen. Aber das Mündel eines Adeligen steht nicht zum Verkauf!«
»Warum? Ich meine, warum habt Ihr gesagt, dass Seine Hoheit nicht heiraten kann?« Der Wein zitterte unbeachtet in dem Kelch, den sie hielt.
Ernst drehte seinen fülligen Leib herum und stapfte zurück zum Fenster. »Weil Großherzoge von Krupina stets königliches Blut heiraten – gewiss, zumeist aus unbedeutenderem Hause, dennoch aus königlichem. In sehr jungen Jahren war Rubin zwei Mal verheiratet, und beide Gemahlinnen kamen unter merkwürdigen Umständen ums Leben. Das genügt, um den Herrscher eines kinderschuhgroßen Herzogtums vom Markt für Prinzessinnen auszuschließen. Auch seine Liederlichkeit ist wenig hilfreich, denn sie ist wohlbekannt. Mit seinem Onkel hat er einen geeigneten Erben und scheint zufrieden damit, es dabei zu belassen.« Der alte Mann drehte sich um und musterte Johanna mit düsterer Miene. »Ich kann ihn nicht aus dem Hausjagen, was jedem anderen blühen würde, der so mit dir redet, wie er es tat. Und dich kann ich auch nicht zu Nachbarn schicken – da er dich bereits kennen gelernt hat, käme das einer Beleidigung gleich. Wir werden ihn wohl ertragen müssen, bis er jemand anders ins Auge fasst. Ich werde die Kunde unter der Dienerschaft verbreiten und hoffen, dass eines der Mädchen anbeißt. In der Zwischenzeit schläfst du im Fuchsbau, und tagsüber darfst du nie ohne Begleitung sein.«

Zwei Wochen lang war Johanna nie allein, außer nachts, wenn sie davonhuschte, um im Fuchsbau zu schlafen.

Niemand wusste, wer den Fuchsbau gebaut hatte oder wann. Wäre er in der Lage gewesen zu sprechen, hätte er gewiss so manche haarsträubende Geschichte von Gehetzten, Flucht und Verrat zu erzählen gewusst, einige bereits Jahrhunderte alt, andere nicht. Selbst Suchende, die Grund zu der Annahme hätten, dass es einen solchen Ort gab, brauchten Wochen, um ihn zu finden, denn er war listig in der dicken Turmmauer verborgen. Obwohl Ernst selbst nie Anlass gehabt hatte, ihn zu verwenden, hielt er ihn gut in Schuss – die geheime Tür, die Warnglocke, die klug angeordneten Gucklöcher, durch die man das Geschehen draußen beobachten konnte. Der Fuchsbau war zwar beengt, aber er befand sich hoch im Turm, wodurch Johanna das Grauen vor Orten unter der Erde erspart blieb, das sie seit frühester Kindheit plagte.

Die Mahlzeiten waren schlimm, weil sie neben dem Herzog sitzen und seine Annäherungsversuche ertragen musste, aber an den meisten Tagen war er auf der Jagd. Am schlimmsten waren die Abende, wenn sie ihn im Sonnenzimmer bedienen musste und seine Anzüglichkeiten immer unverhohlener wurden, was zorniges Aufbegehren seitens des Barons zur Folge hatte. Für einen berüchtigten Verführer erwies sich Rubin als seltsam tollpatschig. Selbst sommersprossige Bauernjungen brachten weit bessere Floskeln zustande als Rubin, wie Johanna aus Erfahrung wusste. Er bot ihr Reichtum und Juwelen an, ließ Andeutungen auf Land und den Titel einer Freifrau fallen, die sie an einen Sohn vererben konnte, so sie je einen haben sollte. Sie sollte sich geschmeichelt fühlen, doch stattdessen fühlte sie sich beschmutzt. Ihm kam nie in den Sinn, sie zur Jagd mitzunehmen, zum Hof einzuladen oder etwas anderes als plumpe Bestechung zu versuchen. Leider schenkte er den hübschen Dienstmädchen keine Beachtung, die ihn liebäugelnd umschwirrten.

Da der Baron reich und höchst betagt war, bestand kaum Hoffnung, ihn durch Bestechung gefügig zu machen, aber er konnte ihm zusetzen, was er auch tat. Aus Krupa schwärmten weitere fünfzig Gefolgsleute herbei, die fraßen wie Heuschrecken, die Speisekammern des Schlosses rasch leerten und Seneschall Priboi zwangen, zu hohen Kosten Vorräte von nah und fern zu erwerben. Uralte Landansprüche und Klagen wurden aus den Staatsarchiven ausgegraben und gleich einem Henkersbeil über von Faders Reichtum und sogar Titel geschwungen. Dieses Vorgehen verängstigte Johanna zutiefst, weshalb sie den Baron unter vier Augen anflehte, sich dem Herzog unterwerfen zu dürfen, damit sie es hinter sich hätten. Doch dadurch wurde der betagte Mann nur um so wütender und störrischer. Er schwor, dass er nie und nimmer nachgeben würde.

Letztlich tat es der Herzog.

Gerüchte besagten, dass die Jagd an jenem Tag schlecht verlaufen war, was bedeutete, dass er beharrlicher als üblich sein würde – nach einer guten Jagd war er eher bereit, sich mit ein paar Flaschen Wein und früher Nachtruhe zu begnügen. Sobald gemeldet wurde, dass sein Tross die Straße hinaufritt, war Johanna in die Sicherheit der Küchen geflüchtet, wo sie versuchte, bei den geschäftigen Vorbereitungen zum Abendmahl nicht im Weg zu stehen. Dann berichteten die Tratschmäuler, dass der Herzog und der Baron sich im Sonnenzimmer verschanzt hätten. Johanna wartete auf den üblichen Ruf. Und wartete. Das Essen war bereit. Dann wurde das Essen kalt. Was ging nur vor sich?

Schließlich kam ein Page, um sie zu holen, aber als sie im Sonnenzimmer eintraf, stellte sie überrascht fest, dass der Baron allein war und aus dem Fenster starrte. Er drehte sich nicht um, als sie die Tür schloss.

»Ihr habt mich rufen lassen, Herr?«
»Ja«, antwortete er in Richtung der kleinen, diamantförmigen Fensterscheiben. »Das habe ich. Es gibt Neuigkeiten. Wir haben verloren, Liebes. Oder gewonnen, ich weiß nicht, was von beidem. Vielleicht hat auch seine Lust gesiegt.« Seine Stimme klang leicht lallend, und auf dem Boden lagen zwei leere Weinflaschen. »Mein Lehnsherr hat um die Hand meines Mündels zur Heirat angehalten, und ich sehe keine ehrbare Möglichkeit, sie ihm zu verweigern.« Damit drehte er sich um, wollte sehen, was sie darüber dachte.
Johanna war so erschrocken, dass die Worte keinen Sinn für sie ergaben. »Heirat?«
Mit finsterer Miene nickte der fettleibige Mann. »Eine vollwertige, rechtmäßige Heirat, keine Ehe zur linken Hand. Großherzogin Johanna. Er hat beschlossen, dass die Erbfolge doch eine Rolle spielt. Er behauptet, er will einen Erben. Dein Sohn wird das Herzogtum erben, Liebes.«
Hätte die Sonne ihren Lauf umgekehrt, um über die Hügel zurückgestürmt zu kommen, wäre Johanna kaum verblüffter gewesen. »Aber sind das nicht wunderbare, ja großartige Neuigkeiten, Herr?«
Der Baron grunzte. »Rubin ist sechsundvierzig Jahre alt und kein besonders aufregender Liebhaber. Ich vermute, damit können Frauen sich abfinden, andernfalls gäbe es nicht so viele Menschen auf der Welt. Aber ich bin sicher, dass er dem Schürzenjägertum nicht abschwören wird. Und weißt du eigentlich, was seinen ersten beiden Gemahlinnen widerfuhr?«
Flugs geriet die Sonne wieder außer Sicht. »Eigentlich nicht, Herr.« Sie hatte nur Andeutungen gehört.
»Die erste starb an einem Fieber. So wie viele andere in jenem Jahr, doch die Wohlhabenden konnten sich zumeist die nötigen Heilungen leisten. Leider war die Großherzogin empfindlich gegenüber Geistlichkeit, weshalb sie es zu lange hinauszögerte, die Beschwörer zu rufen. So wurde es zumindest berichtet. Seine zweite Gemahlin war noch jünger. Einen Monat nach der Vermählung erlitt sie einen Schwindelanfall und stürzte aus dem Fenster.«
»O nein! Das ist ja schrecklich!«
»Natürlich ist es das. Man kann verstehen«, meinte der Baron, »dass böse Zungen behaupten, sie wurde gestoßen oder sei gesprungen. Aber selbst wenn sie den Freitod wählte, kann es sowohl daran, dass sie von ihrem Gemahl misshandelt wurde, als auch an ganz anderen Gründen gelegen haben, die nichts mit ihm zu tun hatten. Glaub mir, Liebes, hegte ich auch nur den geringsten Verdacht, dass Rubin bei diesen beiden Tragödien die Finger im Spiel hatte, unterstützte ich sein Werben um dich keinen Lidschlag lang. Falls du Zweifel hast, dann sprich es jetzt aus, und ich teile Seiner Hoheit mit, dass du den Antrag ablehnst.«
Johanna wusste, dass der Ehrenkodex des Barons ihm gebot, seinem Herrscher das Zweifelsrecht einzuräumen. »War er bereits Großherzog, als es geschah?«
»Ja. Hätte es auch nur die geringsten Beweise für ein Verbrechen gegeben, hätte man bestimmt davon gesprochen, ihn abzusetzen und Fürst Volpe auf den Thron zu bringen. Doch die gab es nicht. Keine Spur.«
Johanna versuchte sich vorzustellen, wie Herzog Rubin eine Gemahlin aus dem Fenster stieß oder einer anderen vorsätzlich eine Behandlung vorenthielt, obwohl sie sterbenskrank war. Sie konnte es nicht. Er war ein törichter, besessener Schürzenjäger, kein Ungeheuer.
»Ich kann verstehen, dass ihm keine weiteren Prinzessinnen angeboten wurden«, meinte sie. »Aber selbst wenn er beide Gemahlinnen getötet hat, würde er es gewiss nicht wagen, eine dritte zu ermorden, oder? Das würde ihm keiner mehr durchgehen lassen!«
»Die Entscheidung liegt bei dir, Liebes.«
Johanna lachte laut auf. »Das ist wie im Märchen! Ich
– Großherzogin?« Ihre Hoffnungen waren nie über einen strammen jungen Bauern, einen Förster oder vielleicht einen wohlhabenden Händler hinausgegangen. Plötzlich wurden ihr Juwelen, prunkvolle Kleider angeboten und Menschen, die vor ihr duckmäuserten? Menschenmengen würden ihr zujubeln, wenn sie in ihrer vergoldeten Kutsche an ihnen vorüberfuhr. »Wie könnte ich so etwas ablehnen? O danke, danke, Herr!« Sie warf sich dem greisen Mann um den Hals.
Sonnengleiche Erleichterung vertrieb die letzten Schatten der Zweifel aus seinem Gesicht. »Ich bin so glücklich für dich … Aber jetzt bist du ja nicht mehr mein ›Liebes‹, richtig?« Er ließ sie los, damit er sich vor ihr verbeugen konnte. »Von nun an muss ich dich mit ›Königliche Hoheit‹ anreden.«
Johanna lachte vor Verzücken und umarmte ihn erneut.
2

Richtig glauben, was geschah, konnte sie erst ein paar Minuten später, als ihr Herrscher zu ihren Füßen kniete und ihr einen goldenen Ring mit einem Saphir von der Größe einer Eichel darbot.

»Ich wollte, dass er zu deinen Augen passt«, erklärte er, »aber im unmittelbaren Vergleich wirkt er so glanzlos! O meine Liebste, wunderbare Johanna, wenn ich dich die vergangenen zwei Wochen verängstigt oder beleidigt habe, tut es mir aus tiefster Seele Leid. Meine früheren Erfahrungen mit der Ehe waren so schmerzlich, dass ich gelobte, nie wieder zu heiraten, es sei denn, ich fände eine Frau, die wunderschön, beherzt, gesittet und rechtschaffen zugleich ist. In zwanzig Jahren bist du die erste, die all das erfüllt. Gewährst du mir Vergebung und die Ehre, meine Frau und Gefährtin zu werden, die an meiner Seite herrscht?«

Johanna brachte kein Wort heraus, und so konnte sie nur nickten. Was vollkommen genügte. Rubin lächelte, steckte ihr den Ring an den Finger und erhob sich, um sie zu küssen. Der Kuss schmeckte zwar nach Wein, doch er war überraschend zärtlich.

Bald darauf wurde die Verlobung in der Halle angekündigt und mit tosendem Beifall begrüßt. Die Zuneigungsbekundungen gingen weiter und weiter, bis die auserwählte Großherzogin sich zur Närrin machte und zu weinen begann.

Rubin, der Verlobte, entpuppte sich als so bezaubernd, wie Rubin, der Freier, abstoßend gewesen war. Er hatte den Wettstreit gewonnen und brauchte nur noch seinen Preis einzufordern, daher gab es kein Bedrängen mehr. Das einzig Drängende waren wichtige Staatsangelegenheiten, um die er sich kümmern musste. Johanna stünde es frei, die Hochzeitsvorbereitungen nach Belieben und ohne Rücksicht auf die Kosten zu treffen, meinte er. Blaskapellen, eine Reiterparade, Feuerwerke – was sie wollte. Wenn ihr danach sei, könne sie das gesamte Herzogtum einladen. Und gewiss sei er einverstanden, die Zeremonie in Fadrenschloss zu begehen. Seine einzige Bedingung war, dass diese am übernächsten Tag stattfinden musste – ungeachtet des Aufsehens und der Unannehmlichkeiten, die eine solche Hast zwangsläufig verursachen würde.

Der Baron rief Seneschall Priboi zu sich und trug ihm auf, eine Staatsvermählung und ein Bankett für fünfhundert Gäste binnen zwei Tagen vorzubereiten. Der gebückte, alte Diener zuckte kaum mit der Wimper.

Am folgenden Tag brach Rubin früh am Morgen nach Krupa auf, um seine Staatsgewänder zu holen und die Förmlichkeiten zu erledigen, die anfielen, wenn ein Herrscher sich vermählte. Er versprach, dass noch vor Einbruch der Dunkelheit Näherinnen in Fadrenschloss eintreffen und vor dem nächsten Morgengrauen Johannas Hochzeitskleid fertig stellen würden. Immerhin war er ein Herrscher, und seine Wünsche duldeten keinen Widerspruch. Erneut küsste er seine Braut und gelobte, so rasch wie möglich zurückzukehren.

Johanna fühlte sich irgendwie verloren. Alle anderen waren in heller Aufruhr, sie hingegen hatte keine Pflichten zu erfüllen.

»Das ist dein allerletzter Tag hier«, meinte der Baron. »Wie gedenkst du ihn zu verbringen?«
»Ich würde gern mit Euch ausreiten, Herr, und ein paar letzte Erinnerungen an Fadrenschloss horten.«
Sie rannte los, um sich umzuziehen. Als sie in den Turmhof kam, stand der Baron bereits neben den gesattelten Pferden und einem wartenden Stallburschen, sonst jedoch war weit und breit niemand zu sehen. Seine Miene wirkte verkniffen.
»Wir bekommen Besuch«, erklärte er. »Silber mit blauem Emblem, samt dem Oberhaupt.«
Als Tochter eines Ritters musste sie etwas von Wappenkunde verstehen. Ein blaues V auf weißem Hintergrund war das Wappen der Vamky-Bruderschaft und stellte als Symbol den Pilgerpass dar.
Niemand konnte sich Fadrenschloss über die lange Straße nähern, ohne von den Spähern gesehen zu werden. Da im Land Frieden herrschte, wäre es einer schweren Beleidigung gleichgekommen, die Tore zu schließen, und schon donnerten Hufe durch das Außenwerk. Auf den Hof strömte ein Trupp Ritter mit allem, was dazugehörte – Helmen, Kettenpanzern, Lanzen und Schilden. Bei der Ausbildung und um sich zu präsentieren, trugen die Brüder immer noch solch überholte Rüstungen, aber selbst sie kämpften kaum noch darin. Während sein Gefolge eine Linie quer über die gesamte Breite des Burghofs bildete, ritt der Anführer nah heran und zügelte das Pferd. Von seinem mächtigen Schlachtross spähte er auf Johanna herab, als schaute er durch die Schlitze eines Fensterladens im zweiten Stockwerk.
Der Baron verneigte sich. »Ihr ehrt mein Heim durch Eure Gegenwart, erhabener Probst.«
»Ist das die Schlampe?« Volpe glarte auf sie hinab wie ein angeketteter Falke auf eine Maus.
Der Baron bebte. »Liebes, darf ich dir …«
»Abschaum!«, brüllte Volpe. »Bauerndirne. In welchem Stall habt Ihr sie gefunden? Welcher Abstammung ist sie?«
»Ihr Vater war ein Ritter in meinen …«
»Von niederer Herkunft! Bei den Geistern des Todes! Was denkt sich ein Fürst Eures Ranges eigentlich dabei, Gossenflittchen an seinen Herrscher zu verschachern? Wo bleibt Eure Ehre, wenn Ihr die seine schon nicht achtet? Und versucht nicht, mir einzureden, diese Hochzeit wäre der Einfall meines Neffen gewesen. Dafür kenne ich ihn viel zu gut. Sobald er sich von einer Frau rollt, ist sie ihm egal. Eine Münze, ein Klaps aufs Hinterteil und weiter zur nächsten, das ist sein Stil.«
Von Fader schäumte vor Wut. Zu allem Überfluss folgten diese Beleidigungen zwei Wochen blanker Folter. Wären die beiden gleichen Ranges gewesen, hätte er den Probst vermutlich geschlagen. So jedoch sprach er stattdessen eine Herausforderung aus.
»Meine Ehre gebot mir, dafür zu sorgen, dass mein Mündel ehrbar vermählt wird, Herr, genauso wie sie mir nun gebietet, von Euch Genugtuung zu verlangen.«
»Alter Narr! Ich kämpfe nicht mit altersschwachen Dirnenhirten. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr politische Ziele verfolgt, indem Ihr Bettgespielinnen an Leute verhökert, die über Euch stehen? Viel Glück dabei. Seit Jahrhunderten entspringen die Herrscher dieses Landes königlichen Lenden, und Ihr wollt die Ausgeburt einer Kokotte auf den Thron von Krupina bringen!«
An der Stelle schritt Johanna ein, zum einen weil sie es war, über die der Probst herzog, zum anderen weil sie fürchtete, ihr greiser Vormund könnte einen Schlaganfall erleiden. »Wenn ich wäre, als was Ihr mich bezeichnet, Herr, wäre ich nicht zu Eurer künftigen Großherzogin erkoren worden.«
Erfreut stellte sie fest, dass ihre Stimme sich ruhig und fest anhörte. »Indem Ihr mich beleidigt, beleidigt Ihr gleichzeitig Euren Herrscher.«
Die Falkenaugen hefteten sich wieder auf sie. »Eine Ankündigung von einem halben Tag für eine Staatshochzeit? Ich kenne Hengste, die länger brauchen, um eine Stute zu begatten. Ihr wisst doch wohl, was den Gemahlinnen Eures Verlobten widerfahren ist? Oder hat dieser verlotterte alte Fleischkrämer vergessen, Euch zu warnen?«
Diese Stichelei saß, denn sie hieb mitten in ihre geheimen Ängste, und ihre Wut brandete auf. »Und wer hatte einen Vorteil aus dem Tod dieser Frauen? Mich werdet Ihr nicht so einfach aus dem Weg räumen wie sie, Fürst Volpe. Ich habe vor, lange genug zu leben, um Krupina einen Erben zu schenken, an dessen Händen kein Blut klebt.«
Eine kurze Pause entstand, ehe er auf diese Anschuldigung antwortete. »Ihr seid noch dümmer, als ich dachte. Ich wünsche Euch weder ein langes Leben noch Glück, denn beides wird Euch nicht beschieden sein. Kocht nicht zu viel Kohl für das Hochzeitsmahl, Tattergreis. Es werden keine Gäste kommen. Nur der Pöbel aus der Gegend.«
Einer der Ritter hinter ihm brüllte eine Warnung. Die Männer das Barons gerieten mit Armbrüsten entlang der Zinnen in Sicht. Es handelte sich gewiss bloß um eine Drohgebärde, aber es waren viele, und der Seneschall hatte sie beeindruckend schnell zusammengetrommelt.
Der Baron stürzte sich zurück ins Wortgefecht. »Besser ein Herrscher von gemeiner, aber aufrichtiger Herkunft als ein Schandmaul von einem Söldling.« Unabhängig davon, dass der Probst tatsächlich ein Söldner war, stellte es eine schwere Beleidigung dar, ihm jenes Wort ins Gesicht zu schleudern. »Dieses Land ist unbestreitbar besser bedient, wenn Ihr die Krone niemals tragen werdet, Herr – ein Berufssoldat, der nicht einmal gegen einen fast doppelt so alten Mann kämpft. Verlasst mein Anwesen. Erbrecht Eure Galle in Euren eigenen Zwinger.«
Volpe wendete das Pferd und führte seine Männer durch das Torvorwerk hinaus.

Seine Vorhersage über die Hochzeitsgäste erfüllte sich. Keine prunkvollen Kutschen rollten auf den Burghof. Johannas Schwester Voica traf wenige Minuten vor Beginn der Feierlichkeiten auf einem Esel mit schäumenden Nüstern ein. Die Vasallen und Hörigen des Barons strömten von nah und fern mit ihren Familien herbei, um das glückliche Paar zu bejubeln; doch aus Krupa kam niemand.

Der Baron führte die Trauung durch und erklärte seinen Lehnsherr und sein Mündel zu Mann und Frau.
Draußen im herbstlichen Sonnenschein waren aufgebockte Tische vor dem Hintergrund des efeuumrankten Turms und der goldgetünchten Hügel aufgestellt worden. Jene Untertanen, die sich als Zaungäste eingefunden hatten, wurden eingeladen, beim Vertilgen des Festmahls zu helfen, das eigentlich für den Adel vorgesehen war, und so kamen sie in den Genuss von Köstlichkeiten, von denen sie bislang noch nicht einmal gehört hatten. Während die Dienerschaft die unzähligen Gerichte auftrug und andere den Ochsen zerlegten, standen Braut und Bräutigam
– ein fuchsteufelswilder Bräutigam – unter einer mächtigen Buche und nahmen die Achtungsbezeugungen der an ihnen vorüberziehenden Gäste entgegen. Hätte Johanna einen Mann ihres Ranges geehelicht, hätten sich Geschenke – Strickwaren, Töpfe, Zinngeschirr, Pelze, Gewürze – zu ihren Füßen aufgehäuft, doch alle wussten, dass Johanna dergleichen im Palast Agathon nicht brauchen würde, und so hatten sie nur ihre guten Wünsche anzubieten.
Dann schlenderte ein Jüngling von etwa sechzehn Lenzen an die Spitze der Schlange, offenbar ein junger Edelmann, denn seine rote, grüne und goldene Reitkluft musste ein Vermögen gekostet haben, und an seiner Seite hing ein juwelenbesetztes Schwert. Niemand machte ihm das Vorrecht streitig, sich vorzudrängen. Sein Selbstvertrauen und sein Hochmut entsprangen gleichermaßen seinem Rang und seinem Wissen um das eigene, bemerkenswert gute Aussehen – gerade Nase, klare dunkle Augen und ein glattrasiertes Antlitz, das lediglich einige kleine Vernarbungen und der Staub der Straße verunzierten. Zunächst vollführte er eine tiefe Verbeugung vor dem Herzog, dann begutachtete er dessen Braut und warf erstaunt beide Arme hoch.
»Bezaubernd! Vollkommen! Das Gesicht eines Kindes und der Körper einer Frau. Krupa wird Euch zu Füßen liegen, Base.«
Verärgert über die derbe Äußerung und noch verärgerter, weil sie darob errötete, ersuchte Johannas Blick ihren Gemahl um eine Erklärung.
Rubin wirkte, so es möglich war, noch wütender als zuvor. »Das schwarze Schaf, Liebste. Ich schäme mich, dir meinen Vetter vorstellen zu müssen, Fürst Karl. Zweifellos ist er nur deshalb gekommen, weil ich ihn nicht eingeladen habe.«
»Stimmt nicht!«, widersprach Fürst Karl schmollend. »Hauptsächlich deshalb, weil mein Vater es mir verboten hat.« Er warf Johanna ein Lächeln zu, als wüsste sie, was er meinte. »Ich konnte einer Gelegenheit, beide zu verärgern, einfach nicht widerstehen. Tut mir Leid, dass ich spät dran bin. Mein holder Vater hat an jeder Straße Wachen aufgestellt. Ich musste um das halbe Herzogtum reiten, um hier her zu gelangen. Aber ich freue mich schon auf den Rest der Feier. Darf ich um den zweiten Tanz bitten?«
Vater? Er konnte nur Fürst Volpe meinen, dabei hatte Johanna stets gedacht, die Vamky-Ritter wurden zu Ehelosigkeit vereidigt. Demnach musste Karl unehelich gezeugt worden sein.
»Nein«, antwortete Rubin. Zwar sprach er wegen all der Umstehenden leise, trotzdem sah er aus, als meinte er es bitterernst. »Keine Tänze! Halte dich von diesem Wüstling fern, Liebste. Er ist ein Nichtsnutz und Tunichtgut.«
»Ah, dabei fällt mir ein!«, rief Karl aus und kramte in einer Tasche. »Ein Hochzeitsgeschenk für Euch, Base.« Er zog eine Perlenkette hervor und schickte sich an, sie ihr um den Hals zu legen.
Rubin riss sie ihm aus der Hand und starrte wütend darauf. »Wohl gestohlen, nehme ich an?«
Karl spielte den Gekränkten. »Selbstverständlich! Woher sollte ich wohl das Geld nehmen, um etwas Derartiges zu kaufen? Aber ich habe es von der Frisierkommode der Vorbesitzerin genommen, und sie würde niemals zugeben, dass ich in ihrem Schlafgemach war, also könnt Ihr die Kette unbesorgt tragen, liebste Johanna.«
»Wird sie nicht!« Rubin kochte vor Zorn. »Und du wirst Unsere Gemahlin gefälligst als ›Königliche Hoheit‹ anreden!«
»Gewiss doch!« Karl zuckte mit den Schultern und warf Johanna einen Blick zu, aus dem deutlich sprach, wie unmöglich es doch war, es älteren Herren recht zu machen.
Nun hatte Johanna Mühe, nicht zu lächeln, was alles andere als ratsam gewesen wäre. Sie fragte sich, ob Karl nicht eine Bereicherung für das Leben in einem staubigen, grauen Palast sein könnte. Andererseits musste er Anspruch auf den Thron besitzen, und seinen Augen entging nichts. Unter dem Mantel seiner Mätzchen mochte sich ein Dolch der Gemeinheit verbergen.
Der zweite Tanz ward ihm in jener Nacht nicht beschieden.
Weil es keine Tänze gab. Unmittelbar nach dem Bankett erklärte der Großherzog die Feier für beendet und führte seine Gemahlin nach oben, um sie in einigen Dingen des wahren Lebens zu unterweisen.
Neun Monate und einen Tag später gebar sie einen Sohn.
3

Eine Großherzogin war nie allein. Selbst wenn sie ihren Sohn an einem strahlenden Morgen in die frische Luft brachte und in Frederiks unsteter Geschwindigkeit einen Gang entlangbummelte, war Johanna in Begleitung dreier gelangweilter Zofen. Weiter hinten folgte ihnen zudem Frederiks Amme Ruxandra mit einem Beutel voll Notwendigkeiten. Frederik war mittlerweile fast drei Jahre alt und bestand darauf, alles zu erkunden. Wenn seine Mutter versuchte, ihn zu tragen oder seine Hand zu halten, bekam er Trotzanfälle. Weiter kamen sie nur durch zähes Verhandeln, untertäniges Flehen und allerlei Ablenkung. Er bremste den Gang des gesamten Palastes, weil die Dienerschaft sich verneigen oder knicksen und anschließend beiseite treten musste, bis der Thronfolger an ihnen vorüber war. Um diese Stunde waren kaum Vertreter des Adels anzutreffen, die wenigen jedoch fegten wie üblich an ihnen vorüber, ohne die Großherzogin eines Blickes zu würdigen. Johanna hatte sich längst daran gewöhnt. Soweit es den Adel Krupinas betraf, war sie nach wie vor Luft.

Das Märchen hatte sich anders als geplant entwickelt. Der Markgraf von Krupa war damit beschäftigt, mit den kleinen Fäusten gegen eine Zierrüstung zu hämmern und schenkte dem Klang marschierender Stiefel und klirrender Sporen keine Beachtung, als etwa ein Dutzend Vamky-Ritter um die Ecke vor ihnen bog. Der Mann an der Spitze hinkte leicht, wodurch er sofort als Volpe erkennbar war. In jenem Augenblick erspähte Frederik sein Lieblingsplüschpferd auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges und trottete los, um es zu begutachten. Johanna glaubte zwar, dass selbst Volpe nicht fähig wäre, ein Kind zu Tode zu trampeln, trotzdem rannte sie los, ergriff Frederik und brachte sie beide an der Wand in Sicherheit.
»Oh, sieh nur!«, rief sie, um dem sonst unvermeidlichen Zornesgeschrei vorzubeugen. »Schau mal, Soldaten!«
»Soldaten!«, stimmte Frederik ihr aufgeregt zu. Er mochte Soldaten.
Vamky-Brüder waren im Palast Agathon ein durchaus vertrauter Anblick. Für gewöhnlich trabten sie zu zweit oder zu viert in ihren weißen Gewändern mit dem blauen Vamky-V über dem Kerzen umher und gingen wusstendie-Geister-welchen Angelegenheiten nach, stets mit den Händen in den Ärmeln und den Gesichtern unter den Kapuzen verborgen. Weniger häufig tauchten sie in militärischem Aufzug auf, der von altmodischen Kettenpanzern bis zu Lederreitklüften reichte, doch selbst dann gelang es ihnen zumeist, die Gesichter teilweise zu verbergen, und immer trugen sie Schwerter. Heute setzte sich ihre Aufmachung aus Krempenhelmen, Brustharnischen mit Plattenhüftschienen und in lange Stiefel steckenden Beinkleidern aus Leder zusammen. Sie waren reichlich mit Frühlingsschlamm bespritzt, was darauf schließen ließ, dass sie eben erst mit ihren Pferden angekommen waren. Bei den Helmen fehlten die üblichen Wangenteile und der Nasenschutz, wodurch die staubigen, vom Wind gezeichneten Gesichter frei lagen.
Zu Johannas Erstaunen marschierten sie nicht geradewegs an ihr vorbei. Volpe befahl: »Abteilung … stillgestanden! Linksherum … Augen geradeaus! Prä … sentiert die Waffen!« Zischend schnellte Stahl aus Scheiden, und Johanna starrte auf dreizehn Schwerter, die lotrecht vor ihr zum Gruß erhoben waren.
Sie war so verblüfft, dass sie Frederik um ein Haar fallen gelassen hätte. Den Brüdern war verboten, mit Frauen zu sprechen oder Frauen auch nur anzusehen, es sei denn, es war unvermeidlich. Obwohl Probst Volpe von dieser Regel ausgenommen war, hatte er Johannas Dasein seit ihrer ersten Begegnung aus eigenen Gründen nie zur Kenntnis genommen. Es war sein Beispiel, dem der niedrigere Adel folgte, indem er sie schnitt, und seine Befehlsgewalt, die den Edelleuten den Mut gab, ihrem Herrscher zu trotzen.
Der Probst besaß denselben schweren, stämmigen Körperbau wie Rubin, in seinem Fall jedoch schien der ganze Leib nur aus Knochen und Muskeln zu bestehen. Sein Gesicht – Kiefer, Wangenknochen, dichte Augenbrauen – wirkte wie aus Eichenholz geschnitzt, die Haut schien ohne Fleisch an den Knochen zu kleben. Er war glattrasiert, was in Krupina selten war, und unter dem Helm lugte kein Haar hervor, als rasierte er sich auch den Schädel. Seine Augen waren außergewöhnlich, pechschwarz und makellos rund, und blickten stets mit einem durchdringenden Starren.
Schweigend musterte er sie, während ein leicht höhnisches Lächeln um seine Lippen spielte und er so tat, als belustigte ihn ihre Überraschung.
»Guten Tag, Onkel«, sagte sie. »Ich vermute, die Ehre gilt dem Markgrafen, nicht mir selbst?«
»Eine durchaus begründete Vermutung, wenngleich nicht unbedingt zutreffend. Er ist ein großer, kräftiger Knabe.«
Wozu Rubin wenig beigetragen hatte, dachte sie. »Mein Vater konnte seine Hellebarde auf Armeslänge mit einer Hand halten.«
»Ich habe bei mehr als einer Gelegenheit gesehen, wie er es tat. Auch ich kann es. Immer noch.« Zwar lockerte sich das raubtierhafte Starren keinen Deut, trotzdem dachte Volpe unverkennbar, dass diese Runde an ihn gegangen war.
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr meinen Vater kanntet!«
»Wieso solltet Ihr auch?« Zweiter Punkt.
Frederik beäugte neugierig die Soldaten, war jedoch vorerst durchaus damit zufrieden, in den sicheren Armen seiner Mutter zu bleiben.
»Begrüß Fürst Volpe, Frederik.« Eigentlich hatte sie erwartet, dass er das Gesichtchen an ihrer Schulter vergraben würde, doch ihr Sohn war in der Lage, sie ebenso zu überraschen wie Volpe.
»Guten Tag, Herr!«, sprach er mit süßer Stimme und zeigte sich von seiner besten Seite.
»Und möge der Zufall Euch stets gewogen sein, Hoheit«, antwortete Volpe feierlich. »Ich hoffe, dass sich demnächst die Gelegenheit ergibt, Euch ausgiebiger meine Aufwartung zu machen, nun aber muss ich mich, mit Eurer Erlaubnis, um Belange Eures Vaters kümmern.« Gebieterisch erteilte er Befehle. Die Männer steckten die Waffen zurück in die Scheiden, drehten sich um neunzig Grad und marschierten weiter den Gang entlang.
Mehrere Diener sowie die drei Schreckschrauben von Zofen hatten den Zwischenfall bezeugt. Alle Münder standen weit offen, und alsbald würde die Geschichte sich überall verbreitet haben. Oberflächlich hatte Volpe ein entscheidendes Zugeständnis gegenüber Johanna gemacht, indem er den Thronerben anerkannte. Da Frederik die gefährlichsten Jahre der Kindheit überstanden hatte, konnte nicht mehr einfach so über ihn hinweggesehen werden, und Volpe konnte ihm kaum den gehörigen Respekt erweisen, während er seine Mutter gleichzeitig als emporgekommene Bürgerliche mit Missachtung strafte. Dennoch fühlte es sich nicht an, als hätte sie einen Sieg errungen. Ein so verschlagener Mann wie der Probst konnte es sich ohne weiteres leisten, eine Schlacht verloren zu geben, um einen Krieg zu gewinnen. Was führte er nur im Schilde?
Palast Agathon glich einem Irrgarten, einem verrückten Gefüge von Ergänzungen, Instandsetzungen und Wiederaufbauten, dessen ursprünglicher Kern vor Jahrhunderten verloren gegangen war. Großherzöge hatten das Anwesen nacheinander über jede Vernunft hinaus zu verbessern versucht und es zu einem Albtraum von einem Gebäude gestaltet – jener Art Albtraum, bei der man endlos laufen konnte, ohne je irgendwohin zu gelangen. Treppen durchbrachen Hallen, Gänge führten zurück an ihren Beginn, Stallhöfe trennten Speisezimmer von Küchen. Es war Johannas Kerker. Von Beginn an hatte Rubin ihr verboten, ihn zu verlassen, damit sie von den Menschen nicht ausgebuht oder mit Gegenständen beworfen werden konnte. Sie war noch nie durch die Straßen von Krupa geschlendert.
Johanna kannte den Irrgarten wie ihre Westentasche, denn in den ersten Monaten ihrer Ehe, bevor Frederik geboren wurde, war es ihre Hauptbeschäftigung gewesen, ihn zu erkunden. Sie kannte die Fenster, die einen Ausblick über die Dächer der Stadt auf die fernen Hügel boten, die sie so sehr vermisste, und andere, durch die sie auf die geschäftigen Straßen sehen und echte Menschen dabei beobachten konnte, wie sie gewöhnliche Leben führten. Sie mochte die beiden abgeschiedenen, kleinen Gärten und hasste die düsteren, muffigen Räume, die gewundenen Treppen; vor allem aber hasste sie den Thronsaal, in dem sie manchmal neben Rubin sitzen und die abweisenden, finsteren Blicke einer Versammlung ertragen musste. Ja, sie saß auf dem Thron der Gemahlin neben dem größeren herzoglichen Thron, aber sie war nie formell eingeführt oder mit der silbernen Krone gekrönt, nie von den Menschen umjubelt worden. Hochstaplerin! schienen ihre Augen zu sagen. Eindringling! Emporkömmling! Bauernweib!
Von der Begegnung mit Volpe beunruhigt, kam sie von ihrem ursprünglichen Vorhaben ab, Frederik zum Spielen zur Wiese zu bringen, und ging stattdessen an ihren Lieblingsort, eine Galerie, die den Haupthof überblickte. Sie war schmal und führte nirgendwohin, weshalb nur Johanna und die Tauben sie nutzten. An sonnigen Tagen konnte sie dort sitzen und beobachten, wie das Palastleben sich gleich einem Tanz unter ihr abspielte – Pferde, Kutschen, Karren, Soldaten, Bäckergehilfen, Lakaien, Zimmermädchen, Spielmänner, Straßenmusikanten, Boten und Dutzende weitere, deren Zweck und Beschäftigung sie nur erahnen konnte. Frederik konnte dort gefahrlos spielen, denn die eherne Brüstung war eng geschmiedet. Außerdem war Johanna von dort deutlich zu sehen, und das war wichtig. Die Menschen sollten nie vergessen, dass sie eine Großherzogin hatten!
Als sie auf der Galerie eintraf, sah sie, wie Fürst Volpe und seine Männer sich unter allerlei Gebrüll und Hufgetrampel auf dem Hof zum Aufbruch vorbereiteten. Umstehende hechteten aus dem Weg, als die Brüder lospreschten. Johanna überraschte die Abreise, denn sie bedeutete, dass die Männer Angelegenheiten bereits vor der Begegnung mit ihr erledigt haben mussten, dabei waren sie so schlammverspritzt gewesen, dass Johanna vermutet hatte, sie wären eben erst eingetroffen. Wenn ihr Besuch so kurz und dessen Zweck so dringend gewesen war, weshalb hatte Volpe sich dann die Zeit genommen, um anzuhalten und Frederik zu begrüßen? Höchst seltsam!
Wie üblich befahl sie, einen Stuhl für sie am fernen Ende der Galerie aufzustellen, und nahm ihren Sohn und einen Sack voll Spielzeug mit, während sie die Schreckschrauben an der Tür zurückließ, wo sie häkeln und über Leute herziehen konnten. Smaranda, Eupraxia und Cneajna waren allesamt älter als sie, bürgerliche Töchter ehrgeiziger Mütter. Sie alle wollten Ehemänner und waren so hässlich, dass sie im Gegenzug für Unterstützung bereit waren, der falschen Herzogin zu dienen, was die adeligen Damen des Reichs glatt verweigerten. Johanna wünschte, sie könnte ihre Bemühungen beschleunigen, und träumte oft insgeheim davon, ihnen Preisschilder umzuhängen. Je schneller sie die drei unter die Haube brächte, desto mehr Auswahl hätte sie für ihren Ersatz. Vielleicht würde sie sogar eine verwandte Seele als Gefährtin finden. Leider aber erlagen ihre Zofen zu oft den Versuchungen des Palastes und mussten in Schimpf und Schande nach Hause geschickt werden. Was andere Mütter nicht gerade ermutigte, ihre Töchter anzubieten.
Und da sie gerade an Liederlichkeit gedacht hatte … Johanna hatte es sich eben erst gemütlich gemacht, und Frederik beobachtete noch zufrieden durch das Eisenwerk das Geschehen unten, als Cneajna, Eupraxia und Smaranda ihre Handarbeiten fallen ließen, damit sie aufspringen und vor dem begehrtesten Junggesellen des Herzogtums knicksen konnten, der auf den Balkon geschlendert kam.
Die Jahre hatten es nicht gut mit Karl gemeint. Er war gerade erst zwanzig geworden, dennoch verlor sich sein bemerkenswert gutes Aussehen bereits, und selbst die kostspieligsten Gewänder im Land konnten den Ansatz eines Spitzbauchs nicht mehr verbergen. Die Rechnungen seines Schneiders mussten horrend sein, sofern er sie je bezahlte. Selbst an jenem Tag, an dem es keinen besonderen Anlass gab, sich herauszuputzen, bot er einen aufsehenerregenden Anblick in seiner unpraktischen Kluft aus Brokat und Taft, allerlei Rüschen, Polsterungen und Schärpen, die in allen Regenbogenfarben schillerte. Sporen klirrten an knielangen, enganliegenden Ziegeniederstiefeln. Seine Handschuhe verfügten an den Fingern über Freilassungen für seine Ringe. Sein Umhang war pelzgesäumt, sein Bart aufwändig gelockt. Abgerundet wurde sein Erscheinungsbild von einem hohen, weichen Kronenbonnet. Keine der drei Zofen war hübsch genug, um ihn lange aufzuhalten. Er schlenderte auf Johanna zu.
Auch seine Moral hatte sich nicht gebessert. Hinter jener Haltung gleichmütiger Sinnlichkeit verbarg sich zumindest ein Teil der Gewaltbereitschaft seines Vaters, denn er hatte zwei Duelle bestritten und seinen Gegner jedes Mal getötet. Erzürnte Ehemänner forderten ihn nicht mehr heraus. Frauen, denen ihr Ruf am Herzen lag, machten weite Bögen um ihn.
Frederik, der zu jung war, um es besser zu wissen, liebte ihn abgöttisch. Nun tapste er ihm verzückt entgegen und zirpte »Herr, Herr, Herr!«
Karl hob ihn auf und kitzelte ihn, ohne dabei stehen zu bleiben. Es hatte zugegebenermaßen Zeiten gegeben, in denen Karl eine unterhaltsame Gesellschaft für eine einsame Herzogin gewesen wäre, doch Johanna war stets sorgsam darauf bedacht gewesen, den Mühlen der Klatschmäuler kein Mahlgut zu bescheren. Unlängst hatten seine Bemühungen, mit ihr zu scherzen, eine heftigere Note bekommen, was Johanna zutiefst verärgerte. Obwohl er so gut wie jeder andere wusste, dass es in einem Palast keine Geheimnisse gab, hatte er begonnen, sie mit Botschaften und Blumen zu belästigen und schickte ihr sogar Geschenke. Hier draußen hatte er ihre Ruhe noch nie zuvor gestört.
»Was wollt Ihr hier?« Sie versuchte, ihrer Stimme einen bedrohlichen Tonfall und ihren Zügen einen unverbindlichen Ausdruck zu geben. Selbst wenn sie laut mit ihm wurde, konnten Gerüchte ins Rollen geraten.
»Ich gräme mich!« Irgendwie gelang es Karl, sich gleichzeitig in eine mitleidhaschende Pose zu werfen und Frederik auf der Hüfte zu halten. »Fragt, weshalb die Biene die Blüten besucht. Fragt, weshalb das Meer nach dem Mond strebt.« Er drückte den Mund an Frederiks Hals an und ließ ein Geräusch erklingen, das niemand sonst im Palast zu verursachen gewagt hätte: Pffffft! »Fragt, weshalb die Lerche so traurig singt. Ihr wisst, dass ich Euch nicht fernbleiben kann.«
Frederik gluckste vor Vergnügen. »Weiter!«
»Eure Aufmerksamkeit ist weder willkommen noch glaubwürdig, Herr!« Johanna wusste, wie ein lüsterner Blick aussah, und Karls war wenig überzeugend. Er tat dies nur, um sie einzuschüchtern, so als risse man einer Fliege die Flügel aus, ohne sie jedoch zu töten. »Hat Euer Vater Euch damit beauftragt?«
Pffffft! »Mein Vater ist wahnsinnig. Zu viel Sonne auf dem Helm, Ihr versteht? Er hält Euch für eine verabscheuungswürdige, goldgierige Schlampe und mich für unwürdig, Euren Schatten zu küssen.«
»Mit Letzterem hat er Recht, aber er würde nur zu gern sehen, dass Ihr mich als Kokotte bloßstellt.«
»Oh, und ich erst!« Karl seufzte. »Ich könnte auf Eurem Körper spielen wie auf einer Harfe, Frau. Könnte Euch in Fluten der Verzückung ertränken. Ich sehne mich danach, Eure Brüste mit meinen Lippen zu liebkosen. Etwa so.« Pffffft!
Frederik schrie vor Freude auf.
Johanna erinnerte sich an eine aufgelöst heulende Helga, eine ihrer ersten Zofen und noch jünger als sie, die Karl binnen einer Woche nach ihrem Eintreffen am Hof zum Opfer gefallen war. Ich dachte, ersähe mich bloß an, Hoheit! Dann war es plötzlich zu spät.

»Ihr seid hier nicht willkommen. Lasst meinen Sohn los und geht.«
Pffffft! »Ihr wisst, dass Eure verhängnisvolle Schönheit mich magisch anzieht.«
»Geht! Ich werde mich bei meinem Gemahl über Euch beschweren.« Aber Johanna hatte bezeugt, wie Rubin seinem fehlgeleiteten Vetter befohlen hatte, den Palast zu verlassen und sich nie wieder blicken zu lassen. Zugegeben, Karl hatte sich hinaus auf die Straßen begeben, aber wenige Minuten später war er mit einer Dirne an jedem Arm zurückgekehrt. Es war gemeinhin bekannt, dass auch Volpe ihm zürnte, trotzdem blieb Karl unbeirrt Karl.
»Rubin? Weshalb sollte es ihn kümmern? Er erübrigt nie auch nur einen Gedanken für Euch, meine Liebste. Denkt Ihr wirklich, es würde ihn stören, wenn Ihr von Eurem nutzlosen Widerstand abließet und aufhörtet, uns beide zu quälen? Gesteht Eure Leidenschaft für mich, mein Honigkuchen, und findet Trost in meinen Armen. Das alte Mastschwein wird sich freuen, Euch wieder glücklich statt voll unerwiderter Liebe umherwandeln zu sehen.«
»Herr!«, quiekte Frederik. »Noch mal!«
»Du bist eine unersättliche unbelehrbare Nervensäge!«, stellte Karl vergnügt fest. Pffffft!
»Noch mal!«
Karl blies schrille Fanfarenstöße auf Frederiks Hals, während er auf die Knie sank und den Knaben auf den Boden stellte. »Jetzt ist’s genug! Johanna, Liebste, begreift Ihr denn nicht, dass wir füreinander geschaffen sind? Zwei einsame Waisen in einer übergroßen Scheune voller Rinder? Schon mein ganzes Leben schleiche ich trübselig durch dieses schreckliche Elendsviertel von einem Palast, und ich bin noch nie jemandem begegnet…«
Seine Leichtfertigkeit erzürnte sie. »Ihr seid keine Waise!«
»Glaubt Ihr?« Plötzlich musterte er sie mit einem fast so eindringlichen Starren wie Volpe. »Bezeichnet Ihr meinen Vater etwa als einen Vater? Nach allem, was er meiner Mutter angetan hat?«
Damit hatte er einen Punkt errungen. Wie Johanna vor geraumer Zeit herausgefunden hatte, war Karl ein ehelicher Sohn und somit erbberechtigt. Obwohl die VamkyBrüder zu Ehelosigkeit vereidigt wurden, hatten Staatsangelegenheiten Vorrang, und Volpe war mutmaßlicher Thronerbe gewesen. Er hatte eine Sondererlaubnis erhalten zu heiraten, doch nach Karls Geburt hatte er seine Gemahlin verlassen und das Kind mitgenommen.
»Vielleicht gehorchte er nur Befehlen, als er Eure Mutter verstieß?«
»Nein«, widersprach Karl voll Überzeugung. »Meine Mutter hat es nie gegeben, und mein Vater ist zu Keuschheit vereidigt. Ich bin ein Trugbild, eine Luftspiegelung. Ich wurde aus Nichts erschaffen!« Jäh schlug seine Verbitterung wieder in Spöttelei um. »Lasst mich beschreiben, wie ich Euch lieben werde. Zunächst liebkose ich Eure Nippel mit meiner Zunge. Wenn Sie sich dann aufrichten, beginne ich zärtlich, daran zu kauen …«
Johanna rang nach Luft, teils ob seiner Geschmacklosigkeit, teils vor Erleichterung, weil sie Rettung nahen sah. Sie schloss die Hände so fest um das Geländer, dass es schmerzte, und forderte ihn auf: »Sprecht lauter.«
Karl war zu gewieft, um sich so leicht in eine Falle locken zu lassen. Mit einer eleganten Bewegung erhob er sich, drehte sich um und verneigte sich.
Rubin stolzierte den Balkon entlang. Auch er hatte Johanna noch nie hier aufgesucht. Was war nur aus ihrer kostbaren Zuflucht geworden? Und würde er sie für Karls öffentliches Schäkern schelten? Frederik flüchtete hinter seine Mutter in Sicherheit. Im Vergleich zu Karl wirkte Rubin alt und zerstreut, was er war, zudem schäbig gekleidet, was er nicht war.
Johanna knickste. »Euer Gnaden ehren mich.«
»Ich finde dich in übler Gesellschaft vor, meine Süße. Ihr habt unsere Erlaubnis zu gehen, Vetter.«
Karl zeigte sich unerschrocken. »Dann wünsche ich Eurer Hoheit einen guten Tag. Wir sehen uns spätestens in Trenko wieder.« Ohne die letzte Bemerkung näher zu erklären, zog er sich zurück. Unterwegs hielt er für ein letztes Wort zu den drei Anstandsdamen inne, die ob des Aufmarsches königlicher Besucher völlig aus dem Häuschen waren.
»Ich versichere Euer Gnaden«, setzte Johanna an, »dass er nicht auf meine Einladung hin hier war.« Sie taumelte, als Frederik versuchte, ihren Rock zu erklimmen. Johanna streichelte ihm übers Haar, um ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Rubin schenkte seinem Sohn wie üblich keinerlei Beachtung. Oft fragte Johanna sich, ob er Frederik unter einem Rudel Zweijähriger überhaupt erkennen würde.
»Selbst wenn ich Zweifel an deiner Treue hegte, Liebste, was nicht der Fall ist, würde ich einen besseren Geschmack von dir erwarten.« Rubins Lächeln wirkte unecht und hölzern. Ihm spukten andere Dinge im Kopf herum. »Ion ist gestorben, Ladislas’ Sohn.«
Von Ion hatte sie noch nie gehört, aber Markgraf Ladislas herrschte in der Markgrafschaft Trenko, dem Land jenseits des Pilgerpasses. Damit erklärte sich Volpes eiliger Auftrag, aber was um alles in der Welt hatte das mit ihr zu tun?
»Ich bedaure, das zu hören«, erwiderte sie zögernd.
Traurig schüttelte er den Kopf. »Das gilt für uns alle. Er war sehr jung. Ich möchte an der Beerdigung teilnehmen und hoffe, du willigst ein, mich zu begleiten und mir die Reise zu versüßen.« Fragend zog er die sorgsam gestutzten Augenbrauen hoch.
War sie etwa vom Balkon gestürzt und hatte eine Gehirnerschütterung erlitten? Sie sollte endlich aus dem Kerker gelassen werden? Zumindest auf Bewährung. »Ich bedaure lediglich, dass mir ein solch trauriger Anlass solche Freude beschert, Euer Gnaden.« Er mochte hochgestochene Floskeln.
»Du kannst doch reiten, oder?« Seit dreieinhalb Jahren waren sie verheiratet, und er musste sie danach fragen?
»Ich reite sehr gut, Hoheit.« Doch sie war sicher, dass dies auf keine ihrer bürgerlichen Zofen zutraf. Würde dieses Pech sie ihres unverhofften Glücks berauben? Wenn Rubin das Problem angemessener Gefährtinnen für sie nicht erwähnte, würde sie es jedenfalls nicht tun.
»Also morgen dann«, meinte er leichthin. »Wir brechen bei Sonnenaufgang auf und reiten nach Vamky, wo wir die Nacht verbringen, ehe wir den Pass zu überqueren versuchen. Wenn das Wetter sich verschlechtert, können wir es womöglich nicht wagen, aber der Bote hatte keine Schwierigkeiten.«
»Ich freue mich schon sehr darauf. Wird Fürst Volpe uns begleiten?«
Rubin lächelte mit feuchten, bemalten Lippen. »Wenn er sich zu benehmen weiß. Bis dann, meine Liebe.« Und damit verließ er sie.
Frederik lugte an Johanna vorbei, um zu überprüfen, ob es wieder sicher war, sich sehen zu lassen.
Nun denn! Dies war der bemerkenswerteste Tag, den seine Mutter seit seiner Geburt erlebt hatte. Johanna ließ Frederik bei Ruxandra. Das Problem der Begleitung löste sie, indem sie ihm keine Beachtung schenkte und nur ihr Hauptdienstmädchen Arghira mitnahm, die so wie sie ein Mädchen vom Lande war und Pferde in- und auswendig kannte. Der Rest des Tages und die halbe Nacht verflogen mit emsigen Vorbereitungen. Johanna vermeinte, kaum geschlafen zu haben, ehe sie an der Seite ihres Gemahls durch die Palasttore hinausritt.
4

Der Tag war windig und sonnig. Das Volk der Stadt säumte die Straßen vor ihnen. Männer lüpften die Hüte und verbeugten sich, Frauen knicksten. Rubin entschied, den Fluss zu überqueren und die Straße nach Westen einzuschlagen, wobei er eine gemächliche Geschwindigkeit vorgab. Der Tross bestand aus zwei Frauen und dreißig Männern, denn ein Großherzog reiste nie ohne Herolde, Diener und Soldaten der Palastwache. Die meiste Zeit ritt er schweigend vor sich hin und dachte unbekannte Gedanken, doch bisweilen löste er sich davon, um sich zu unterhalten, und dann konnte er sich als bezaubernde Gesellschaft erweisen. Sie sprachen über das Land, umherspringende Lämmer, pflügende und säende Bauern. Dabei stellte sich heraus, dass er einiges über Landwirtschaft wusste, seine Haupteinnahmequelle für Steuern.

Rubin behandelte seine Gemahlin nie vorsätzlich schlecht, er konnte lediglich keine Beziehung zu jemandem aufbauen, der so viel jünger war und tiefer auf der gesellschaftlichen Leiter stand. Sie hatten keine gemeinsamen Freunde, keinen gemeinsamen Hintergrund, keine gemeinsamen Vorlieben. Für gewöhnlich zeigte er sich großzügig, wenn sie um etwas bat, aber da der Adel eine bürgerliche Herzogin ablehnte, nahm er sie nie zu Bällen oder Banketten mit, und Johanna vermutete, dass ihm jede Ausrede recht war, solchen Anlässen fernzubleiben. Seine einzige wahre Leidenschaft war die zwanghafte Hatz auf junge Mädchen, denen er nachstellte, indem er ihre Eltern bestach oder unter Druck setzte. Johanna war stets darauf bedacht gewesen, nicht gegen seine Untreue aufzubegehren, da ihm augenscheinlich mehr als an allem anderen daran gelegen war.

Nun hatte er etwas gefunden, das er mit ihr teilen konnte, nämlich einen Staatsbesuch in Trenko. Er hätte keine Bedenken, dass man sie auch dort ablehnen würde, meinte er. Das käme einem schwerwiegenden diplomatischen Vorfall gleich. Sie fragte nicht, ob es denn kein diplomatischer Fehltritt wäre, eine Gemahlin niederer Herkunft zu einem Staatsbegräbnis mitzubringen.

»Würdet Ihr mir etwas über Trenko erzählen, Euer Gnaden?«, bat sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Etwa genauso groß wie Krupina, aber noch recht jung im Vergleich zu unserer langen Geschichte. Wir haben wenig gemein – unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Landwirtschaft, unterschiedliches Klima. Ein paar Mal waren die beiden Staaten unter einem Herrscher vereint, aber niemals lang. Es scheint besser für uns, getrennte Wege zu gehen und zusammenzuarbeiten, indem wir den Pass für den Handel öffnen und für Armeen schließen.«
Allmählich näherten sich zu beiden Seiten die Hügel, brachten erst Weinhänge, dann Weiden und schließlich Wälder mit sich. Spät am Tag kamen sie an Fadrenschloss vorbei. Johanna sprach es nicht aus, aber sie wusste, dass der Turm von einigen Stellen entlang der Straße zu sehen war und wartete auf diese, um dem Ort im Geiste Kusshände zuzuwerfen. O welch glückliche Erinnerungen!
Ihrem Gemahl fiel es auf. »Hältst du Verbindung zu von Fader?«
»Wir schreiben uns gelegentlich, Hoheit.«
»Aber gesehen hast du ihn seit dem Tag unserer Hochzeit nicht mehr?«
»Am Morgen danach.«
»Natürlich.« Der Herzog lächelte, als schwelgte auch er in glücklichen Erinnerungen. »Jetzt haben wir keine Zeit, aber falls du ihm auf dem Rückweg einen Besuch abstatten möchtest, habe ich nichts dagegen.«
Fraßen Stuten Hafer?

Auf der vor langer Zeit vom Kaiserreich gebauten Altenbrücke ritten sie über die Asch, und von dort aus sahen sie im Norden vor dem Hintergrund verschneiter Gipfel Vamky bedrohlich aufragen. Der Pilgerpass galt als eine der großen Handelsverbindungen im Osten Euraniens, und niemand überquerte ihn, ohne unter jenen finsteren Türmen vorbeizureisen.

Alsbald traf die Straße nach Westen auf die Straße nach Osten und begann, stetig durch einen Wald anzusteigen und die Asch zu verlassen, die in einer tiefen Schlucht vor sich hingurgelte. Nach etwa einer Stunde brach die Straße aus den Bäumen hervor und wand sich steil einen unbewaldeten Hang empor. Das Kloster kauerte auf Felsen darüber. Johanna war nie klar gewesen, wie gewaltig es war – dunkle Steinmauern, bedrohliche Zinnen und Türme mit spitz zulaufenden, bleiumhüllten Dächern, ein düsteres Bauwerk, das sich einen Felskamm entlang erstreckte, der das Tal so gut wie versperrte.

»Du weißt doch«, meldete Rubin sich unvermittelt zu Wort, »dass es den Brüdern verboten ist, mit Frauen zu sprechen, oder?«

»Das weiß ich, Hoheit.«
»Du und dein Dienstmädchen werden willkommene Gäste sein, und ihr könnt um jede Annehmlichkeit ersuchen, die nicht bereits bereitgestellt ist, aber man wird Euch nur mit Gesten oder in Notfällen sogar schriftlich antworten.«
»Ich verstehe.«
»Natürlich wird Abt Minhea dich begrüßen.« Der Großherzog lächelte. »Und der Probst, dafür sorgen wir schon.«
Ob der neu erlangten Freiheit verwegen, verriet Johanna: »Fürst Volpe hat gestern angehalten und ein paar Worte mit mir gewechselt, Hoheit.«
»Ah, gut. Als die Kunde von Ions Tod in Vamky eintraf, ritt mein Onkel in aller Eile nach Krupa, um mich davon zu unterrichten und anzubieten, mich bei der Beerdigung zu vertreten. Er schien mir seltsam erpicht darauf, Trenko zu besuchen, verdächtigt erpicht sogar. Ich teilte ihm mit, dass ich selbst hinreisen würde, er uns jedoch begleiten könne, wenn er dich mit dem Respekt behandelt, den dein Rang verlangt.«
»Ich danke Euch, Hoheit!«
»Du warst überaus geduldig, meine Liebe«, murmelte Rubin. »Aber allmählich muss ich sicherstellen, dass mein Thronfolger anerkannt wird, und das bedingt, dass man seine Mutter als meine Gemahlin anerkennt. Sobald ich Volpe gebeugt habe, folgt der Rest der Narren von allein.«
Johanna fragte sich, ob sie soeben eine Art Prüfung bestanden hatte, vielleicht eine Ausdauerprüfung. Immerhin war sie aus keinem Fenster gesprungen, also wollte er wohl das Beste aus der Lage machen. Zweifellos müsste sie sich undankbar fühlen, weil sie solche Gedanken hegte, doch dem war nicht so. Sie verspürte lediglich Groll darüber, nicht schon längst die Anerkennung erhalten zu haben, die ihr gebührte.

Erschöpfte Pferde brachten sie auf die Kuppe des Felskamms, eine steinige Ebene mit atemberaubender Aussicht auf die Berge vor ihnen und Krupina hinter ihnen. Im Norden, Süden und Westen fiel das Gelände steil ab. Östlich ragte ein hohes Torvorwerk auf, dahinter erstreckte sich der Rest des Klosters und stieg leicht an, da der Rücken mit einem Gebirgsarm verschmolz. Eine Ehrengarde berittener Ritter in Plattenharnischen säumte die Straße zum Tor. Die Lanzen standen am Boden und staken kerzengerade und ebenmäßig wie die Zähne eines Kamms gen Himmel. Johanna konnte sich nicht vorstellen, wie die Männer den heulenden, bitterkalten Wind ertrugen. Es musste unglaublicher Übung und unvorstellbaren Könnens bedürfen, die Pferde bei solchen Böen ruhig zu halten, aber weder Männer noch Tiere zuckten auch nur mit einem Muskel, während die Besucher langsam zwischen den Reihen entlangritten. Warum rasselten die Rüstungen eigentlich nicht?

Johanna fühlte sich steif und wund von den ungewohnt langen Stunden im Sattel. Auf dem großen, düsteren Hof glitt sie erleichtert auf einen Aufstiegsbock, von dem Rubin ihr höchstpersönlich herunterhalf. Gemeinsam begaben sie sich zur Begrüßungsgesellschaft, wo acht mit Schwertern bewaffnete Brüder warteten, alle in weißen Roben mit Kapuzen und dem blauen Vamky-V. Der Wind peitschte ihre Gewänder so heftig, dass ab und an der eine oder andere Mönch leicht taumelte; andernfalls wäre Johanna geneigt gewesen, sie für strohgestopfte Vogelscheuchen zu halten. Sechs standen mit geneigten Häuptern, verborgenen Gesichtern und den Händen in den Ärmeln da. Zwei hatten die Kapuzen zurückgeschlagen und wagten es, ihren Gästen in die Augen zu blicken. Einer war natürlich der granitgesichtige Volpe. Ja, er schor tatsächlich seinen gesamten Kopf. Abgesehen von zwei schwarzen Moosstreifen – den buschigen Brauen über den starrenden Augen – war dieser glatt wie ein Mauerstein.

Der andere, ältere und kleinere Mann war Abt Minhea. Der weiße Stoppelsaum um seine Tonsur war weiß, das Antlitz darunter glattrasiert, unverwittert und zutiefst ausdruckslos. Seine Verbeugung war nur angedeutet, sein Lächeln erreichte nie die Augen, und seine Worte erklangen im Sturm fast unhörbar. »Eure Hoheit ehren uns. Vamky steht Euch voll und ganz zur Verfügung. Und selbstverständlich ist Eure verehrte Fürstin ebenso willkommen.«

»Wir danken Euch, Herr Abt«, gab Rubin zurück.

Danach war Volpe an der Reihe. »Willkommen, lieber Neffe.« Seine Verneigung erwies sich als respektvoll und annehmbar. »Auch Ihr, Königliche Hoheit.« Damit verneigte er sich tief vor Johanna, und als er sich aufrichtete, schenkte er ihr sogar ein kleines, süßsaures Lächeln, so als gestünde er eine Niederlage ein.

Hochgefühl! Johanna knickste, wenngleich nicht zu tief.
Der Rest der Begrüßungsgesellschaft wurde ihnen nicht vorgestellt. Mittlerweile waren Dutzende weißgewandete Brüder aufgetaucht, um sowohl die Besucher als auch die Ehrengarde beim Absteigen zu unterstützen – und Johanna wurde klar, dass es kein einfaches Unterfangen sein konnte, einem Ritter in voller Rüstung von einem gepanzerten Pferd zu helfen. Rubins Herolde griffen die Kammerdiener und Lakaien, darunter auch Arghira, aus dem Gewirr und scheuchten sie zum Großherzog hinüber. Anschließend wurden die Gäste von namenlosen, weißgewandeten Führern zu ihren Gemächern geleitet.
Der Weg war lang, verlief über sanfte Rampen den Hang des Rückens hinauf und blieb selten längere Zeit gerade. Die Bogengänge wirkten kalt und finster, und die Krümmung der Decke spiegelte sich in den oberen Hälften der Fenster und Türen wider, wodurch sie auf seltsame Weise wie Tunnel anmuteten. Obwohl das Kloster hoch gelegen war und sie sich darin stetig emporbewegt hatten, konnte Johanna weder dem Zittern ihrer Hände Einhalt gebieten, noch den Knoten der Angst in ihrer Magengrube vertreiben. Es fühlte sich an, als befänden sie sich unter der Erde, und davor graute ihr bereits, solange sie zurückdenken konnte.
Schließlich brachte ihr Führer sie in einen großen Raum mit einer Tonnendecke und Fenstern mit Läden. Der Putz der Steinmauern war geweißt, der Bohlenboden mit Stroh bedeckt, die Einrichtung höchst schlicht. Obwohl das Bett groß genug für zwei war, sah die Matratze dünn und klumpig gefüllt aus. Als Ausgleich für diese Mängel knisterte in einem riesigen Kamin ein mächtiges Feuer aus Holzscheiten, das sogar jene kärglich ausgestattete Kammer warm und behaglich wirken ließ. Ein großer Kupferkrug auf dem Kamineinsatz bot reichlich heißes Wasser. Johanna eilte zum Fenster, um einen Laden zu öffnen und sich zu vergewissern, dass sie sich hoch auf einem Berg und nicht in einer tiefen Gruft befanden. Der Wind hieb wie eine Axt aus Eis auf sie ein, dennoch füllte sie die Lungen mit der kalten, süßen Luft.
Arghira zeigte sich beeindruckt, jedoch etwas besorgt angesichts des einzigen Betts. »Schlafe ich bei Euch, Herrin?«
»Das bezweifle ich«, antwortete Johanna. Rubin mochte mehr als einen Grund haben, sie auf die Reise mitzunehmen, aber sie ahnte den wichtigsten. Außerdem warteten ihre beiden mit Kapuzen vermummten Führer draußen vor der offenen Tür und blickten geduldig zu Boden. »Wo schläft meine Begleiterin?«, fragte sie.
Der größere Bruder schritt auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges zu einer kleineren Kammer mit einem kleineren Feuer. Es würde reichen. Er öffnete eine weitere Tür, hinter der ein Kleiderschrank zum Vorschein kam. Weitere Brüder trafen mit Gepäck ein, das sie abstellten und anstarrten, während sie darauf warteten zu erfahren, welches Johanna gehörte. Allmählich verursachten ihr diese gesichtslosen Marionetten Gänsehaut.
Nachdem sie sich erfrischt, umgezogen und Arghira fortgeschickt hatte, um dasselbe zu tun, fühlte sie sich verloren. Sie vermisste Frederik, denn sie war noch nie zuvor von ihm getrennt gewesen. Nach einer Weile beschloss sie, die Einrichtung auf die Probe zu stellen und öffnete die Tür. Davor stand zu jeder Seite ein Schwertkämpfer mit Kapuze – als Wächter oder Kerkermeister?
»Ich wünsche, einen Brief zu schreiben«, verkündete sie. »Ich brauche Papier, Tinte.«
Der kleinere der beiden verneigte sich mit einer Geste in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Auch der andere verneigte sich, dann stapfte er den Gang entlang davon. Zehn oder fünfzehn Minuten später klopfte jemand heftig gegen die Tür. Johanna öffnete sie und ihr wurde ein Tablett mit Papier, Federkielen, einem Messer, einem Tintenfass, einem Sandstreuer und sogar einem Wachsstab überreicht. Sie verfasste eine Nachricht an den Baron, in der sie ihm mitteilte, wo sie sich aufhielt und dass sie hoffte, Fadrenschloss in ein paar Tagen bei der Rückreise aus Trenko zu besuchen. Als sie fertig wurde, drang kein Licht mehr durch die Läden, folglich konnte die Botschaft erst am Morgen abgeschickt werden. Dennoch versiegelte Johanna sie, versah sie mit der Anschrift und begab sich hinaus auf den Gang, wo sie darum ersuchte, den Brief so bald wie möglich zustellen zu lassen. Der Bruder, der ihn entgegennahm, hatte altersfleckige Hände. Derjenige, der ihr das Papier gebracht hatte, besaß die Hände eines Knaben.
Bald darauf schlenderte der Großherzog höchstpersönlich zur Tür herein, rasiert, umgezogen und strahlend guter Laune.
»Alles zu deiner Zufriedenheit, mein Täubchen?« Er sah sich um.
»Ich fühle mich bei den Brüdern sehr willkommen, Hoheit.«
Er nickte und sah sich abermals um. »Gut, gut! Ich werde in der Halle speisen. Für dich wäre es schicklicher, hier zu essen.«
»Mit Freuden.«
Wieder nickte er. »Bis später also?« Damit ging er. Er warnte sie stets vor, wenn er sie zu besuchen beabsichtigte. Was selten geschah. Eigentlich nur zwischen zwei Geliebten oder wenn seine augenblicklich bevorzugte Mätresse unpässlich war, doch heute war zweifellos eine jener Nächte, in der seine Gemahlin reichen musste, so alt sie auch sein mochte. Zwar fühlte sie sich nach dem langen Ritt wund, dennoch gedachte sie, ihn nicht zu enttäuschen. Er war stets zärtlich – die Geister wussten, Übung hatte er genug! – und heute hatte er sich eine Belohnung redlich verdient.

Am folgenden Morgen wurde Johanna das Frühstück auf einem Tablett zur Tür hereingereicht. Daneben lag eine Antwort des Barons, der ihr mitteilte, sie wäre höchst willkommen. So früh im Monat erhellte kein Mond die Nächte, folglich musste jemand den ganzen Weg nach Fadrenschloss und wieder zurück in pechschwarzer Finsternis geritten sein.

Nach Sonnenaufgang brachen die Reisenden auf und mussten gegen einen eisigen Wind ankämpfen. Die Palastgarde blieb in Vamky zurück und wurde durch Probst Volpe sowie zwanzig seiner Brüder ersetzt, die sinnvollerweise Leder- und Pelzgewänder trugen. Bewaffnet waren sie nur mit Schwertern. Auf der Nordseite des Rückens fiel der Pfad fast ebenso steil ab, wie er auf der Südseite angestiegen war, bis er wieder auf die Asch stieß, die sich nun als wesentlich schmalerer Strom milchigen Wassers präsentierte und gurgelnd durch einen Wald verlief. Allmählich stieg das Gelände wieder an. Bäume wurden rarer und verschwanden gänzlich. An der Kuppe des langen Anstiegs bildete der Weg vor ihnen ein V aus blauem Himmel zwischen mächtigen, gletscherbedeckten Gipfeln: der Pilgerpass.

Auf der steinigen Ebene lag immer noch Winterschnee, und an manchen Stellen verengte die Straße sich in dem Gewirr der Felsblöcke so sehr, dass die Pferde nur noch hintereinander Platz hatten. Wenn die Reiter sich wieder nebeneinander gesellten, wechselten sie häufig die Gefährten, und Johanna fand sich letztlich neben Karl wieder.

»Wie strahlend die Gletscher Eure ruhmreiche Schönheit widerspiegeln, o Perle der Berge.«
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr bei uns seid, Herr.«
Er hatte sich so sehr gegen den Wind vermummt, dass sein übliches spöttisches Grinsen kaum zu sehen war. »Und nun kennt Eure Freude keine Grenzen.«
»Nun ist mir die Freude an der Reise verdorben.« Sein Vater hatte sie anerkannt. Ihr Gemahl nahm sie zu einem Staatsbesuch mit. Endlich war sie eine echte Großherzogin und brauchte sich den Hohn dieses Nichtsnutzes nicht mehr gefallen zu lassen.
»Aber nein, Ihr solltet jeden Augenblick genießen, Schönste. Sobald Ihr nach Krupina zurückkehrt, heißt es wieder Teller waschen und Böden schrubben!«
Wollte er damit andeuten, dass Volpe wieder in sein altes Ich schlüpfen würde, nachdem er sein Ziel in Trenko erreicht hatte, worum es sich dabei auch handeln mochte? Johanna erwiderte nichts.
»Lasst mich Euch aus der Spülküche entführen, Geliebte! Flieht mit mir ins fernste Skyrria und lasst Eure Schönheit die sagenumwobenen Edelsteine des Morgenlands überstrahlen.«
»Wenn Ihr nichts Sinnvolles von Euch geben könnt, dann geht und langweilt jemand anderen.«
»Oooh, das schmerzt! Erwartet Ihr etwa von mir, ernst zu sein?«
»Ja. Erzählt mir von Eurer Mutter. Ich weiß nur, dass Ihr Name Tatjana war. Starb sie, als Ihr noch klein wart?«
»Falls sie überhaupt je gelebt hat.«
Johanna ritt schweigend vor sich hin. Er versuchte es mit ein paar weiteren dummen Bemerkungen, auf die sie nichts erwiderte.
»Oh, na schön! Aber es ist eine Verschwendung des prächtigen Morgens. Damals war mein Vater noch nicht Probst. Er war mutmaßlicher Erbe, aber unverheiratet und darauf vereidigt. Rubin war nicht in der Lage, lange genug verheiratet zu bleiben, um einen rechtmäßigen Sohn zu zeugen. Aber Krupina brauchte einen weiteren Erben. Also bekam es mich.«
»Wie?«
»Na, auf die übliche Weise, vermute ich.«
Schweigend ritt sie weiter. Als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme nicht wie sonst schnippisch, sondern so gereizt, dass er vermutlich die Wahrheit sprach. »Vamky-Ritter tun, was ihnen befohlen wird. Zu jener Zeit braute sich ein hübscher Krieg zusammen, und der König von Drasia brauchte dringend Hilfe. Er hatte eine verwitwete Schwester, Prinzessin Tatjana, die zu alt für eine ordentliche königliche Ehe war, aber nicht zu alt, um mit der richtigen Unterstützung einen königlichen Balg zu werfen. Volpe wurde befohlen, sie zu heiraten, mich zu zeugen und den Krieg zu gewinnen. All das erledigte er unverzüglich. Danach kehrte er nach Hause zurück und brachte mich mit. Tut es Euch nicht Leid, dass Ihr danach gefragt habt?«
»Von wem befohlen?«
»Keine Ahnung. Fragt doch ihn.« Karl trieb das Pferd in eine schmale Spalte zwischen schartigen Felsen.
Johanna folgte ihm und gelangte zu dem Schluss, dass sie ihrem schuftigen Schwiegervetter ausnahmsweise glaubte, überwiegend weil die schreckliche Geschichte erklärte, weshalb sie noch nie Einzelheiten darüber erfahren hatte. Wenn er tatsächlich von Dienern im unmenschlichen Irrgarten des Palasts Agathon aufgezogen worden war, schien seine Verbitterung durchaus verständlich.
Als der Pfad sich wieder weitete, wartete er auf sie.
»Den ersten Teil verstehe ich«, sagte sie. »Ein Land braucht einen Herrscher. Aber Euch Eurer Mutter wegzunehmen – hatte Euer Vater denn dabei gar nichts zu sagen?«
Karl zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, es war sein Vorschlag. Sie war wesentlich älter als er. Jedenfalls ist sie mittlerweile tot, also spielt es ohnehin keine Rolle mehr, oder?«
»Wäre sie meine Mutter gewesen, würde es für mich eine große Rolle spielen.«
Darauf erwiderte er nichts. Sie teilten sich, um jeder auf einer Seite eines großen Felsblocks vorbeizureiten.
»Wieso sind alle plötzlich so versessen auf Trenko?«, fragte sie, als sie einander wieder trafen. »Warum seid Ihr und Fürst Volpe so erpicht darauf, an einem Begräbnis teilzunehmen?« Oder auch Rubin.
Überrascht schaute Karl sie an. »Hat Euer Gemahl es Euch denn nicht erzählt?«
»Nein.«
»Und dann denkt Ihr, mein Vater würde es mir sagen?« Er grinste. »Jedenfalls muss mehr daran sein. Er reist nie aus reinem Vergnügen.«
Inzwischen war er wieder in sein spöttisches Gebaren verfallen, doch nun betrachtete Johanna ihn in einem anderen Licht und war zu ein paar Zugeständnissen bereit. »Habt Ihr denn gar keine Vorstellung?«
»Jede Menge Vorstellungen, aber Ihr verweigert Euch mir ja, meine Rosenknospe, mein Honigkuchen. Ich vermute, die Thronfolge bereitet ihnen Kopfzerbrechen. Der Markgraf hat keine weiteren Söhne und ist kränklich. Wer soll das nördliche Ende des Pilgerpasses halten, nachdem er zu den Elementen zurückgekehrt ist?« »Und was führt Euch nach Trenko, Herr?«
»Ebenfalls Geschäfte.« Er seufzte. »Da Ihr mein Werben verschmäht, will ich der liebreizenden Margarita den Hof machen!«
»Wem?«
»Aha! Ihr seid nicht vorgewarnt? Wie ungerecht!« Karls höhnisches Lächeln war kaum zu sehen, aber deutlich in seinem Tonfall zu hören. »Ladislas’ einziges überlebendes Kind ist seine Tochter Margarita. Der Leichnam ihres Bruders ist noch kaum erkaltet, trotzdem bin ich überzeugt, dass bereits Anträge um ihre Hand eintrudeln. Ich dachte, ich lasse mich mal auf die Liste setzen.«
»Ich wünsche Euch viel Glück, Herr.« Was Pech für die Erbin verhieß. Möge sie ihn von den Beinen fegen und auf dem Boden halten! Dennoch wäre er eine naheliegende Wahl. Und die Anbahnung einer Vermählung mochte Fürst Volpes Eifer erklären, die Reise anzutreten.
»Und was meint Ihr wohl, könnte das Ansinnen Eures werten Herrschers und Gemahls sein?«, grübelte Karl. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass er je zuvor an einer Beerdigung teilgenommen hätte. Für gewöhnlich ist er sogar zu beschäftigt, um jenen seiner Ehefrauen beizuwohnen. Ob er wohl geschäftlich oder zum Vergnügen hinreist?«
»Für einen Herrscher kann man es getrost als geschäftlich bezeichnen, wenn er sich nachbarschaftlich zeigt«, meinte sie mit heiterer Miene, doch sie ahnte, was folgen würde. Sie konnte den Schmerz bereits spüren.
»Nein, ich glaube eher, es muss zum Vergnügen sein«, meinte Karl bedächtig. »Es heißt, Margarita besäße Locken heller als Flachs und Brüste gleich süßen Kirschen. Sie ist dreizehn und ein höchst zierlicher königlicher Leckerbissen.«

Wo der lange, absteigende Pfad sich um einen von einer Quelle genährten Teich wand und eine Böschung Schutz vor dem Wind bot, ließ Fürst Volpe den Tross innehalten, um zu rasten und die Pferde zu tränken. Natürlich mussten sämtliche Gäule und insbesondere ihre Hufe überprüft werden. Johanna war durchaus in der Lage, dies selbst zu tun, doch das war keine Aufgabe für eine Großherzogin, also wartete sie darauf, wer ihr dabei helfen würde. Ihr Gemahl nahm bereits die Erfrischungen in Augenschein und überließ sein Pferd dem jungen Ritter, der ihm für diese Reise als Knappe zugewiesen worden war.

Eine Weile schenkte niemand ihr Beachtung, doch als eben jener Ritter mit dem Pferd des Herzogs fertig war, kam er herüber und begann ohne ein Wort oder einen Blick in ihre Richtung mit der Arbeit an dem ihren. Johanna empfand es als verstörende Erfahrung, für junge Männer unsichtbar zu sein.

»Ritterbruder Nikolaus, richtig?«, fragte sie zuckersüß. Er tat, als gäbe es sie nicht. Der junge Mann verfügte über ein bewundernswertes Profil, und zweifellos rührte seine plötzliche Röte vom kühlen Wind her. Als er den ersten Huf losließ, meldete sich hinter Johanna eine Stimme zu Wort.

»Ich kümmere mich um Ihre Hoheit, Nikolaus.« »Herr!« Der Jungspund salutierte und schritt davon. Fürst Volpe tätschelte den Hals der Stute und bückte

sich, um ihr rechtes Vorderbein anzuheben.
»Wieder ehrt Ihr mich«, stellte Johanna fest. »Guten
Tag, Herr.«
»Euch auch, Hoheit.« Er klemmte den Huf zwischen
die Knie.
»Eure Höflichkeit ist überaus willkommen. Ihr müsst
Euch jedoch keineswegs erniedrigen.«
Mit der Parierstange seines Dolchs kratzte Volpe
Schnee aus dem Hufeisen. »Für einen Ritter ist es keine
Erniedrigung, sich um ein Pferd zu kümmern.« »Mein Gemahl wird sich freuen zu sehen, was Ihr tut.« »Ihr versteht nicht, wie ein militärischer Verstand arbeitet, Mädchen«, sprach er, ohne den Kopf zu heben.
»Ich bin der größte, berühmteste Krieger in ganz Euranien. Staaten haben schon Kriegserklärungen zurückgezogen, weil ich mich bei ihren Feinden verpflichtete.«
Er duckte sich unter den Zügeln hindurch, um den linken
Huf zu begutachten. »Ich habe mich noch nie ergeben,
und das werde ich auch nie. Taktische Rückzüge hingegen habe ich schon viele gemacht.«
»Ich verstehe. Nachdem Ihr Eures Sohnes Verlobung
verhandelt habt, stehen demnach wohl wieder gezielte
Flegeleien auf der Tagesordnung, richtig?«
Volpe ließ den Huf los, den er gerade anheben wollte,
richtete sich auf und starrte sie an. »Nachdem ich was
getan habe?«
Offenbar hatte Johanna ein Geheimnis aufgedeckt. Bei
jedem anderen hätte sie eine Kehrtwende in Erwägung
gezogen, nun jedoch trieb sie ein Anflug boshafter Freude weiter.
»Fürst Karl teilte mir mit, dass er mitkommt, um Fürstin Margarita den Hof zu machen. Unterstützt Ihr sein
Werben etwa nicht?«
Volpe prustete, ein Laut, der sich gefährlich nach einem Lachen anhörte. Danach beugte er sich wieder über
seine Arbeit. »Er hat es mir gegenüber nicht erwähnt. Ich
habe sogar mit dem Gedanken gespielt, selbst um sie zu
freien. Nein, hauptsächlich wollte ich mitreisen, um zu
verhindern, dass mein Neffe sich völlig zum Hampelmann macht.«
Verhöhnte er sie oder war diese Bemerkung ein Hinweis auf den eigentlichen Grund, weshalb er diese Unterhaltung begonnen hatte? Sie kannte ihn zu wenig, um
seine Beweggründe zu erraten. Und überlisten könnte sie
einen Krieger seines Ranges niemals.
»Dann sind wir bei diesem Unterfangen Verbündete«,
meinte sie. »Was kann ich tun, um zu helfen?« »Haltet Ihn ordentlich auf Trab, obwohl ich aufrichtig
davon überzeugt bin, dass er selbst jetzt noch unersättlich
ist. Mit siebzehn, da … Aber egal. Hat Karl es ausnahmsweise einmal ernst gemeint?«
»Ich weiß es nicht, Herr.«
Volpe richtete sich auf und steckte den Dolch zurück
in die Scheide. Seine Raubtieraugen starrten sie über den
Hals der Stute hinweg an, sodass sie sich wie eine Maus
fühlte, die jeden Augenblick das Zeitliche segnen würde. »Wie ich höre, hat er Euch in Krupa belästigt.« »Ja, das hat er.« Hatte Rubin sich bei ihm beschwert,
oder verfügte der Probst am Hof seines Neffen über Spitzel? Mit Sicherheit sogar. Aber bespitzelten sie seinen
eigenen Sohn? Warum sollten sie nicht?
»Quält er Euch nur zum Vergnügen, oder hat er vor,
Euch in ernste Schwierigkeiten zu bringen?«
»Was versteht Ihr unter ›ernste Schwierigkeiten^« »Euch ein Kind und somit Schande anzuhängen.« »Falls er das versucht, wird ihm kein Erfolg beschieden sein, das versichere ich Euch!«
Statt sich am Sattel und Bauchgurt der Stute zu schaffen zu machen, blickte Volpe prüfend über die Senke und
beobachtete die Reisenden. »Unsere Familie ist die älteste in ganz Euranien, habt Ihr das gewusst?«
»Ich weiß nur, dass sie höchst angesehen ist«, antwortete sie verwirrt.
»Außerdem ist ihre Geschichte gut belegt. Im Verlauf
der Jahrhunderte hat sie zahlreiche seltsame und einige
verrückte Gestalten hervorgebracht. Sogar ein paar so
berühmte Krieger wie mich. Rubins triebhaftes Verhalten
taucht alle paar Generationen auf. Ein Großherzog legte
sich ein Gefolge aus über zweihundert Zwergen zu. Ein weiterer setzte es sich in den Kopf, tausend Kinder zu zeugen. Unsere Ahnen haben eine Eigenschaft gemeinsam, die so unverkennbar wie eine missgebildete Lippe oder eine weiße Stirnlocke ist.« Die mitternachtsschwarzen Augen hefteten sich abermals auf sie. »So faul und feige Euer Gemahl sein mag, sein Erfolg bei Frauen ist
außergewöhnlich, findet Ihr nicht auch?«
Johanna fragte sich, wohin seine Ansprache führen
sollte. Wenn Volpe versuchte, sich umgänglich zu zeigen, war er fast schlimmer als von seiner verächtlichen
Seite.
»›Widerwärtig‹ wäre zutreffender.«
Höhnisch lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nicht solange er seine Aufmerksamkeit auf Leute beschränkt, die
keinen Ärger verursachen können. Ich reise nach Trenko,
um dafür zu sorgen, dass er keine unschicklichen Annäherungsversuche bei Margarita unternimmt. Als er in die
Falle der Ehe mit einem Flittchen niederer Geburt tappte,
das war widerwärtig. Wir stammen von vierzehn Herrschergenerationen ab. Euer Sohn hingegen ist das Kind
eines Bauernweibs. Niemand von Rang und Ruf wird ihn
je heiraten. Unser Netz königlicher Bündnisse wird geschwächt werden und Krupina in Gefahr geraten.« »Eine Kreuzung mit frischem Blut stärkt die Linie«,
widersprach sie erbost. »Sie könnte die Anzahl der Verrückten in Zukunft verringern.«
Volpe überging ihre Bemerkung. »Wisst Ihr, ein Krupina hat immer Erfolg. Welches Ziel er sich im Leben
auch setzt, er wird es erreichen, ausnahmslos.« »Auch der mit den tausend Kindern?«
»Er begann vielversprechend, starb aber jung. Das ärgert mich an Karl so. In seinem Alter hatte ich bereits in
drei großen Schlachten gefochten. Sein einziges Ziel
scheint es zu sein, kein Ziel zu haben, und das finde ich
unerträglich. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat,
Euch zu verführen, nur um Rubin zu ärgern, gehört ihm
der Hintern versohlt. Und er sollte nicht ohne meine Erlaubnis über eine Vermählung plappern. Überprüft den
Sattel selbst.« Damit hinkte Fürst Volpe davon. Frederik war der einzige geistig Gesunde der ganzen
Familie.
5

Trenko erwies sich als von Bergen umgebenes Juwel, als Perle bunter Gebäude auf bewaldeten Hängen, die zu den Ufern eines jadegrünen Sees hin abfielen. Da sowohl in der Stadt als auch im ganzen Land Trauer um den jungen Prinzen herrschte, gab es während Johannas kurzen Aufenthalts keine Feierlichkeiten, dennoch war es eine glückliche Zeit für sie. Der Palast war so überfüllt, dass sie und Rubin sich ein Gemach teilen mussten. Rubin machte das Beste daraus und erweckte in ihr die Hoffnung, Frederik könnte aus dieser seltenen Gelegenheit ein Brüderchen oder Schwesterchen beschieden werden.

Vertreter zahlreicher Nachbarstaaten waren zur Beerdigung gekommen und hatten größtenteils ihre Gemahlinnen mitgebracht. Die Männer neigten dazu, sich wie Spinnweben in Ecken zusammenzurotten, Bündnisse zu schmieden und den Sturz von Gegnern zu planen. Ähnlich wetzten die Frauen in kleinen Gruppen die Krallen, zerstörten so manchen Ruf und spannen Ränke über die künftige Ehelandschaft Euraniens. Zum ersten Mal fühlte Johanna sich in feiner Gesellschaft anerkannt. Zwar wäre sie des Klatsches alsbald überdrüssig geworden, doch für eine kurze Zeit war er eine willkommene Abwechslung. Der Wein und die Kuchen schmeckten köstlich.

Selbstverständlich stand die liebreizende Margarita ganz oben auf der Tagesordnung, war jedoch selbst weit und breit nicht zu sehen. Sie wurde von der Außenwelt abgeschirmt, da sie sowohl der Tod ihres Bruders als auch die Verantwortung bekümmerten, die dadurch auf sie übergegangen war. Das Werben um die Hand der schönen Maid würde heftig ausfallen. Zumindest meinten die erlauchten Damen das.

Wenn sie Blicke in jede Richtung außer die ihre entdeckte, lernte Johanna, an dieser Stelle des Maskenspiels in den Angriff überzugehen. »Sehr weise! Das Kind ist noch zu jung für öffentliche Pflichten.«

Weitere Blicke. Erst dreizehn, pflichteten die Klatschmäuler ihr stets bei. Und sie verspräche, eine große Schönheit zu werden!

»Mein Gemahl bekundete Interesse«, verkündete Johanna dann immer und tat dabei so, als entginge ihr die Entrüstung, obwohl Rubins Ruf ihm offenbar vorausgeeilt war. »Aber wir wurden uns einig, dass der Altersunterschied erheblich zu groß ist.« Weitere Bestürzung. »Frederik ist erst drei.« Aha!

»Aber da ist noch Fürst Karl, oder?«, hatte eine Schreckschraube mit hennagefärbtem Haar sich einmal zu Wort gemeldet. »Euer Gemahl hat ihn mitgebracht?«

»Nein, er ist uns gefolgt«, hatte Johanna vergnügt erwidert. »Wir haben vergessen, ihn zu Hause anzuketten.«
»Ich hörte, er hatte einen Unfall auf der Reise?«
»Nichts Ernstes. Er ist nur vom Pferd gestürzt.« Johanna hatte den Vorfall nicht bezeugt, aber gesehen, wie Karl mit schlammverschmiertem Mantel und einem so geschwollenen Gesicht in Trenko eingetroffen war, dass er sich unverzüglich zwecks einer Heilung zur Beschwörungsstätte im Ort begab. Niemand war so taktlos gewesen, sich zu erkundigen, wie es ihm gelungen war, den Rücken seines Mantels zu beschmutzen und gleichzeitig auf dem Gesicht zu landen. Das Leben steckte voller kleiner Geheimnisse wie diesem. An jenem selben ersten Abend hatte sie während der Begrüßungsformalitäten neben Fürst Volpe gestanden und sich gefragt, wie er sich die Knöchel so übel aufgeschrammt hatte. Vielleicht war auch er vom Pferd gefallen. Jedenfalls besprach sie derlei Familienangelegenheiten nicht mit den Waschweibern.
Als nächstes folgte für gewöhnlich etwas wie: »Ihr Vater vergöttert sie. Der Markgraf besteht darauf, dass Margarita ihre Wahl aus Liebe trifft.«
Worauf Johanna stets erwiderte, sie hielte das für eine ausgezeichnete Vorgehensweise. Sie war sicher, Rubin und Volpe wären damit aus dem Spiel, vermutlich auch Karl. Natürlich besaß Karl ein ansprechendes Äußeres und war von edler Geburt, weshalb er Aussichten auf Erfolg haben mochte, wenn er seine Manieren bessern könnte. Sofern ihm nicht der Vorzug gegenüber den anderen Brautwerbern eingeräumt worden war, erhielt er während jenes Besuchs keine Gelegenheit, seine Schlichen bei der jungen Dame auszuprobieren. Denn als es für Großherzog Rubin und sein Gefolge an der Zeit war, nach Krupina zurückzukehren, hatte die schöne Margarita sich immer noch nicht blicken gelassen. 6

Gute Neuigkeiten und schlechte Neuigkeiten gingen Hand in Hand, hieß es.

Die guten Neuigkeiten waren neun Tage zuvor eingetroffen und hatten Fadrenschloss in aufgeregte Vorfreude versetzt – die Großherzogin kam zu Besuch, das ausgeflogene Vöglein kehrte endlich ins Nest zurück. Die Köche planten ein großes Festmahl, die Spielmänner und Musikanten probten unablässig, und Seneschall Priboi veranlasste das größte Putzen und Aufräumen, das das alte Schloss seit Jahrhunderten erfahren hatte. Ernst selbst stapfte überall umher, überprüfte hier etwas, mischte sich dort ein, billigte dieses oder jenes und erfreute sich einer wunderbaren Zeit. Das Leben war schon zu lange eintönig gewesen, und er durfte nicht damit rechnen, dass ihm in seinen verbleibenden Jahren noch viele glückliche Ereignisse beschieden sein würden.

Die schlechten Neuigkeiten kehrten mit Priboi heim. Da sämtliche Vorbereitungen abgeschlossen waren, hatte Ernst dem alten Seneschall bereitwillig einige Stunden Freizeit gewährt. Es war ja nicht so, hatte Ernst zu ihm gemeint, dass er jedes Jahrzehnt darum ersuchte, dennoch sollte er es sich nicht zur Gewohnheit werden lassen. Als er zurückkehrte und berichtete, was er in Vamky erfahren hatte, wandelte sich Freude in blankes Entsetzen. Vor Johannas Eintreffen jedoch konnte Ernst den greisen Seneschall nur noch zu Verschwiegenheit verpflichten und ihm auftragen, dafür zu sorgen, dass der Fuchsbau gesäubert und mit Vorräten aufgefüllt wurde.

Am Morgen darauf sah der Späher ihren Tross herannahen, zwei Frauen und ein Trupp der Palastgarde. Die gesamte Dienerschaft fand sich auf dem Burghof ein, um die Großherzogin zu begrüßen, wobei der Jubel beinahe die von den Zinnen schmetternden Fanfaren übertönte. Ernst höchstpersönlich hob sie vom Pferd und wollte vor ihr niederknien, doch sie hielt ihn davon ab, umarmte ihn und verbot es ihm. Zugleich lachend und weinend begrüßte sie all die alten, vertrauten Gesichter.

Das verschreckte Kind, das vor dreieinhalb Jahren in der herzoglichen Kutsche verschwunden war, hatte sich zur Frau gemausert, zu einer anmutigen, königlichen Schönheit. Sie meinte zu ihm, er hätte sich kein bisschen verändert. Bloß fetter und hässlicher geworden, erwiderte er, aber stolz darauf, geistig rege wie eh’ und je zu sein. Es sei wundervoll, zu Hause zu sein, meinte sie, doch der Blick, mit dem sie Ernst nach jenen ersten, glücklichen Momenten bedachte, verriet es ihm: Sie ahnte bereits, dass ihm etwas Unheilvolles auf der Seele lastete.

Es dauerte eine Stunde, bis das erste Schwelgen in Erinnerungen und das Austauschen von Nettigkeiten vorüber waren. Erst dann konnte er sich ungestört mit ihr unterhalten. Die beiden machten es sich im Sonnenzimmer gemütlich, und alsbald wandte das Gespräch sich ernsteren Dingen zu. Er gestand, wie sehr er sie immer noch vermisste und beglückwünschte sie dazu, wie schön sie geworden war. Sie gab zu, dass sie nicht mehr solches Heimweh nach Fadrenschloss hatte wie einst. Johanna erwähnte nicht, wie sehr ihr tatsächliches Eheleben von jenem ihrer Vorstellung abwich, doch das brauchte sie auch nicht. Obwohl der Baron keine Persona grata mehr am Hof war, hatte er immer noch Freunde in Krupa, überwiegend Söhne und Enkel von Männern, neben denen er in seiner Zeit im Heer gekämpft hatte. Er wusste, wie sehr sie gedemütigt und geschnitten worden war. In ihren Briefen hatte sie sich nie darüber beklagt, aber als sie von Trenko erzählte – den Menschen, den Häusern, dem Land selbst, alles neu für sie – und besonders darüber, dass ihr dieselben königlichen Ehren zuteil geworden waren wie Rubin, da strahlte ihr Antlitz vor Glück.

Allmählich begann der Zeitpunkt, Sinn zu machen. »Also hat sich dir Fürst Volpe letztlich gebeugt?«
»Er hat sich die ganze Zeit über kühl, aber gebührlich verhalten.« Kurz flackerte das süßsaure Lächeln auf, an das von Fader sich noch so gut erinnerte. »Er hat jedoch angedeutet, dass dieser Zustand bloß vorübergehender Natur sein könnte.«
»Er ist ein seltsamer Mann.« Ernst rief sich Volpe als Kind in Erinnerung, als verbitterten, verschlossenen, wehmütigen Knaben. Schon damals war offenkundig gewesen, dass er ein wesentlich besserer Großherzog geworden wäre als Rubin, sein Neffe und Spielgefährte, es je sein könnte. Als der Junge mit der Bruderschaft in den Krieg geritten war, hatte Ernst ein Alter erreicht, in dem er bereit war, die Lanze an den Nagel zu hängen, folglich hatten ihre militärischen Pfade sich nur kurz gekreuzt. Bereits als Grünschnabel hatte Volpe sich den Ruf erarbeitet, verwegen und rücksichtslos zu sein.
»Der größte Krieger in ganz Euranien, meinte er.« Johannas Tonfall ersuchte um Bestätigung.
»Jedenfalls gewiss der gefragteste Söldner. Die meisten Söldlinge streichen ihren Sold ein und verdienen ihn sich nie. Sie marschieren und taktieren und tanzen Gavotten mit ihren Gegnern, tun alles lieber, als ihre Haut in Gefahr zu bringen. Volpe war nie so. Für ihn war es eine Frage der Ehre, sich so bald wie möglich in den Angriff zu stürzen. Mit der Macht der Beschwörer von Vamky im Rücken verlor er nie eine Schlacht und hielt noch jede Festung. Nur wenige Herrscher konnten sich seine Preise leisten, aber er lieferte einen angemessenen Wert dafür.«
»›Lieferte‹? Hat er sich etwa zur Ruhe gesetzt?«
»Es scheint so. Weder letztes Jahr noch das Jahr davor ist er ins Feld gezogen.« Der Mann musste mittlerweile fünfzig sein! Unglaublich! Wo hatten sich all die Jahre nur versteckt?
»Warum hinkt er? Eine alte Verletzung?«
»Ein missgebildeter Fuß«, klärte Ernst sie auf. »Als er ein Kind war, kam es noch deutlicher zur Geltung.« Und jener Makel hatte dem empfindsamen, verwaisten Knaben unendlich heftiger zugesetzt, als sich nun der Veteran zahlreicher Schlachten daran störte. »Wenn er ein Schwert trägt, merkt man es weniger.«
»Also, Herr!« Strahlend blaue Augen, denen nichts entging, schauten ihn an. »Ich habe genug geredet. Sagt mir, was nicht stimmt.«
»Ach, Frauenzimmer! Wir Einfaltspinsel von Männern können einfach keine Geheimnisse vor euch bewahren.« Und dieses musste er ihr sogar mitteilen. »Ja, Liebes. Aber bitte halte dir vor Augen, dass es Auskünfte aus dritter oder vierter Hand sind, an denen nichts Wahres sein muss.«
»Fahrt schon fort!« Den Befehlston hatte sie eindeutig gelernt.
»Erinnerst du dich an Harald?«
»Welchen Harald?«
»Pribois Harald.«
Sie nickte. »Wir haben ihn ›Winzling‹ genannt. Wie geht es ihm?« Die beiden waren gleich alt.
»Erwuchs zum größten Burschen des Wurfs heran. Mittlerweile ist er ein Novize im Kloster. Alle sechs Monate ist ihm ein Besucher gestattet. Sein Vater ritt erst gestern zu ihm und fand ihn völlig außer sich vor.«
»Das wäre wohl jeder, der dort leben muss. Weshalb also?«
»Unter Umständen ist es eine Probe«, warnte Ernst sie.
»Sie stellen die Novizen auf seltsame Weise auf die Probe, und es wäre nur allzu einfach, ein Gerücht in die Welt zu setzen, um zu beobachten, ob der Junge es seinem Vater verriete. Was Harald tat, weshalb er jeden Augenblick mit wunden Füßen hier auftauchen könnte – ausgestoßen und vertrieben.«
»Was für ein Gerücht?«, bohrte sie ungeduldig weiter.
»Ein geplanter Staatsstreich.«
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Volpe? Wie? Wann?«
»Keine Ahnung«, gestand Ernst. »Ich kenne keine Einzelheiten. Aber es wäre leicht! Selbst ohne Truppen in fremden Diensten nach Hause zu beordern, könnte er mühelos vierhundert Ritter aufbringen. Er könnte einfach so nach Krupa reiten und die Macht an sich reißen. In ein paar Stunden wäre alles erledigt.«
»Die Palastgarde würde sich ausgestreckt vor ihm auf den Boden werfen«, bestätigte sie. »Wie habt Ihr immer gesagt – ›Waffen runter, Hände hoch?‹«
Johanna wusste, dass dies keine Angelegenheit war, die Scherze duldete. Sie versuchte nur, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Obwohl Rubin mittlerweile als fähiger Herrscher galt, konnte ein Mann mit seinen moralischen Unzulänglichkeiten nie wahrhaft beliebt sein. Das Volk würde sich jedenfalls nicht erheben, entrisse der Kriegsheld dem Wüstling die Krone.
»Würde Rubin abdanken, wenn Volpe ihm ein Schwert an die Kehle setzte?«, fragte Ernst.
»Er würde in Ohnmacht fallen.« Johanna schauderte, schlang die Arme um sich und starrte zu Boden. »Das eigentliche Wunder ist wohl, dass Volpe es nicht schon längst versucht hat.«
»Das liegt wahrscheinlich an seiner Söldnerehre, würde ich meinen. Ein Schwur ist ihm heilig, und er ist Rubins vereidigter Vasall.«
Johanna schaute auf – zwei Saphire in weißem Marmor blickten den Baron an. »Worüber mag in Trenko wohl verhandelt worden sein, frage ich mich? Herr, mich kümmert kaum, was aus meinem Gemahl wird. Mein eigener Rang und Titel sind mir einerlei. Aber ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn um sein Geburtsrecht betrogen wird!«
Hatte sie eigentlich schon an Mord gedacht? Und unerwünschte Witwen konnte man getrost in die Gosse stoßen, aber rechtmäßige Erben waren anfällig für grässliche Unfälle. Unzählige Male in seiner Laufbahn hatte Volpe bewiesen, dass er gewissenlos war. Wenn er nun entschied, seine Lehnstreue in den Wind zu schlagen, würde Frederik sterben müssen.
»Wann wird es geschehen?«, wollte sie wissen.
Ernst breitete die Hände aus. Fleischige, weiche, nutzlose Greisenhände. »Bald, könnte ich mir vorstellen, wenn sogar ein Novize schon davon gehört hat. Aber bedenke, vielleicht ist es gar nicht wahr!«
»Trotzdem muss mein Gemahl gewarnt werden.«
»Ich hätte eine Botschaft an den Hof schicken lassen, wenn er… Ist er zurück nach Krupa gereist?«
»Ich denke schon. Er verließ das Kloster heute Morgen vor mir.« Von plötzlichen Zweifeln erfüllt, biss sie sich auf die Lippe. »Zumindest hat man mir das gesagt.«
»Das hört sich ganz und gar nicht nach ihm an.« In Fadrenschloss hatte er regelmäßig bis um die Mittagsstunde geschlafen.
Johanna sprang auf. »Ich muss zu meinem Sohn!«
Dies war nicht mehr das scheue, unsichere Kind, das der Herzog geehelicht hatte.
Von Fader mühte sich auf die Beine. »Volpe könnte vor dir eintreffen.« Und das Kind tot sein?
»Ich muss wissen, ob es ihm gut geht!«
»Vielleicht stimmt die Geschichte ja auch gar nicht. Rubin könnte ohne weiteres im Palast sein und seinem üblichen Treiben nachgehen.«
»Und falls nicht? Angenommen, Rubin hat von den Neuigkeiten erfahren und ist geflohen? Gebt mir einen Rat, Herr!« Zorn loderte in ihren Augen wie Sonnenschein. Warum suchten die Geister des Zufalls einige Menschen so häufig heim?
Ernst hatte die ganze Nacht darüber gegrübelt. »Die Sicherheit deines Sohnes muss an oberster Stelle stehen. Kannst du ihn aus dem Palast schmuggeln?«
»Ich kann es versuchen. Bis ich dort eintreffe, wird es dunkel sein. Die Tore werden bei Sonnenuntergang geschlossen.«
»Und die Wachen sind nachts eher auf der Hut. Falls Rubin dort ist, warne ihn. Falls nicht, warte bis zum Morgengrauen. Leg Dienstmädchenkleider an, häng dir einen Korb an den Arm und Frederik in einem Tuch auf den Rücken. Plaudere beim Hinausgehen mitjemandem, dann würdigen die Wachen dich keines zweiten Blicks.«
Johanna nickte.
»Ich kann dich auf der Stelle in meiner Kutsche hinfahren …«
»Nein! Ein Pferd ist schneller.«
Er seufzte. »Dann ist alles, was ich anbieten kann, eine sichere Zuflucht. Erinnerst du dich an Hunyadi, der früher hier gearbeitet hat? Er betreibt jetzt eine Herberge in der Kupferschmiedstraße, unmittelbar vor der Biegung. Du kannst ihm vertrauen, wahrscheinlich auch seinen Männern, falls er nicht da ist. Er kann dich nach Fadrenschloss bringen. Hier bist du in Sicherheit.«

Aldea war zurzeit von Johannas Verlobung zum ersten Mal nach Fadrenschloss gekommen, damals als Soldat der Palastgarde. Mittlerweile war er Hauptmann, hatte jedoch wenig dazugelernt. Er war ein großer, stumpfsinniger Mann, der mürrisch wurde, als die Großherzogin ihm die Planänderung mitteilte. Er begann, daraufhinzuweisen, dass sie gemäß den Befehlen drei Tage bleiben sollten. Belustigt beobachtete Ernst, wie Johanna ihn zurechtstutzte. Obwohl es ihr an Rang und Befehlsgewalt mangelte, die Rubin ihr hätte verschaffen sollen, wusste sie inzwischen, wie man sich durchsetzte.

»Muss ich mich wirklich bei meinem Gemahl darüber beschweren, dass Ihr Euch meinen ausdrücklichen Befehlen widersetzt habt? … Mit welchem Recht stellt Ihr meine Entscheidungen in Frage? … Es tut mir Leid, wenn Ihr es nicht eilig habt, zu Eurer Familie zurückzukommen, Hauptmann. Aber wollen Eure Männer nicht zu den ihren? Wenn wir nicht unverzüglich aufbrechen, werden wir bei Einbruch der Nacht immer noch auf der Straße sein.« Und so weiter.

Der Burghof war voller bestürzter Menschen. Das Festmahl, die Musik, all das Zierwerk … Ihre Königliche Hoheit brach auf!

Aldea begehrte erneut auf, als Johanna ihrem Dienstmädchen befahl zurückzubleiben, um auf das Gepäck aufzupassen, und verkündete, der Baron würde dafür sorgen, dass sie am nächsten Tag nach Hause begleitet würde. Ernst hatte nichts dergleichen zugestimmt. Natürlich würde er ihr den Gefallen trotzdem gern tun.

Johanna brannte vor Ungeduld, während die Pferde herausgebracht und gesattelt wurden. Als endlich alles bereit war, schenkte sie ihm eine Abschiedsumarmung und widersprach, als er mit den Händen eine Räuberleiter bildete, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Doch er bestand darauf.

Ihr Ross tänzelte aufgeregt, doch sie hielt das Tier im Zaum.
»Können wir bei Sonnenuntergang dort sein?«, fragte sie.
Aldea schaute zum Himmel. »Wir könnten, Hoheit.«
»Dann kann ich es auch. Reitet los!«
Obwohl er mit weniger Vorstellungskraft als eine Walnuss geschlagen war, verwunderte Aldea die eigenartige Dringlichkeit allmählich. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich kann es nur kaum erwarten, mein Kind wiederzusehen, das ist alles. Ich meinte lediglich, dass Ihr Euch meinetwegen nicht zu zügeln braucht. Ich vermag, Euch alle in Grund und Boden zu reiten.«
Jäh einsetzendes Gehüstel rings um sie kündete von allgemeinem Argwohn. Trotzig blickte Johanna die Männer an.
»Dann holt mich doch ein!«, rief sie und galoppierte zum Tor hinaus.

Sie waren allesamt große Männer und trugen Halbrüstung. Johanna war wesentlich leichter und hatte zudem ein hervorragendes Pferd. Kurz nach Sonnenuntergang bogen sie auf die Krupa-Brücke, und sie wusste, wo sie sich befanden. Ihre Ungeduld bewog sie, die Fersen in die Flanken des Rosses zu stoßen, um es ein letztes Mal anzutreiben. Sie ließ die Männer hinter sich und preschte allein zu den Toren vor. Diese waren geschlossen. Niemand antwortete auf ihr Rufen. Sie musste absteigen, um am Glockenseil zu ziehen, und dann weigerte sich das dumme, behaarte Gesicht, das zum Fenster herauslugte, standhaft zu glauben, wer sie war. Großherzogin? Er hieß sie eine Schnapsdrossel und bespuckte sie. Erst als ein wutentbrannter Aldea herbeiritt, öffneten die Wachen die Nebenpforte.

Sofern sie noch Zweifel gehegt hatte, bewies der Zwischenfall, dass sie Frederik nachts unmöglich aus dem Palast schmuggeln konnte. Bei Tagelicht hingegen sollte es einfach sein. Sie hatte schon allerlei lichtscheu wirkendes Gesindel beobachtet, das unbehelligt ein und aus ging.

Seine Königliche Hoheit war noch nicht aus Trenko zurückgekehrt, doch selbst dies in Erfahrung zu bringen, bedurfte einiger Mühe und Selbstbeherrschung. An sich hatte Rubins Abwesenheit wenig zu bedeuten. Er verschwand häufig für mehrere Tage, wenn er ein liebreizendes Nymphchen in die Enge getrieben hatte. Angesichts dessen, was ihr am Morgen im Kloster und später vom Baron mitgeteilt worden war, erfüllten die Neuigkeiten sie diesmal jedoch mit blankem Entsetzen.

Eilig begab sie sich auf die Suche nach Frederik und fand ihn bei Ruxandra, die ihn gerade fürs Zubettgehen vorbereitete. Frederik verfiel sofort in einen lautstarken Trotzanfall.

»Er bestraft Euch nur, weil Ihr fort wart«, beschwichtigte Ruxandra und knuddelte ihn. »Wo ist denn der brave Junge plötzlich geblieben?« Sie war eine pummelige, großmütterliche Frau, unerschütterlich wie eine Schneebärin. Da sie ihr Leben damit verbracht hatte, anderer Leute Sprösslinge großzuziehen, wusste sie wesentlich mehr über Kleinkinder als Johanna. Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, dass sie fand, die Großherzogin verbrachte viel mehr Zeit mit ihrem Kind, als gut für die beiden war. Im Augenblick schien Frederik einer Meinung mit ihr.

Letzten Endes verlor er den Kampf jedoch. Sein Kinderbett wurde zurück in Johannas Kammer geschoben, er ließ sich widerwillig von seiner Mutter umarmen, und schließlich unterlag er auch seinem nächtlichen Ringen mit dem Schlaf. Genau wie seine Mutter. So besorgt sie auch war, heimgesucht von der Furcht, Volpe und seine Mörder könnten bereits unterwegs sein, hatte sie doch zwei anstrengende Tage im Sattel verbracht. Sie fiel ins Bett und folgte dem Beispiel ihres Sohnes.

Sie wurde von einer Stimme geweckt, die aus scheinbar weiter Ferne ihren Namen rief. Licht auf ihrem Gesicht… Bettvorhänge wurden aufgezogen … Mondlicht ergoss sich durch die geöffneten Läden … ein Mann stand neben ihr, hielt eine Laterne … Von unten beleuchtet, wirkte sein Antlitz verzerrt und sonderbar, bis sie den Spitzbart und die hängenden Züge ihres Gemahls erkannte.

»Johanna, wach auf! Mein Veilchen, mein Faun! Wach auf!«
Verwirrung. »Herr! Ihr seid zurück!«
»Dasselbe könnte ich über dich sagen. Du solltest doch wohlbehalten in Fadrenschloss sein.«
»Wohlbehalten? O ja, ja! Eine Verschwörung! Von Fader hat mich gewarnt. Fürst Volpe …«
Rubin kicherte. »Ich weiß alles über die törichten Pläne meines Onkels, meine Rosenknospe. Seine Rechnung wird nicht aufgehen, das verspreche ich dir, aber wir müssen den Palast eine Weile verlassen. Ich bin zurückgekommen, um Freddie zu retten. Ich hatte jedoch nicht erwartet, dich ebenfalls hier anzutreffen. Komm, mein Turteltäubchen. Wir müssen uns beeilen. Es droht Gefahr.« Dabei hörte er sich rundum unbeschwert an. Und diese sonderbaren Kosenamen verlieh er ihr sonst nur, wenn sie einander liebten.
Der Schlaf fiel von ihr ab. Sie setzte sich auf und zog sich die Laken ans Kinn. Rubin trug einen Reiseumhang mit einer Kapuze und darunter eindeutig ein Schwert. Sie hatte ihn noch nie zuvor bewaffnet gesehen.
»Mein böser Onkel ist unterwegs, Täubchen. Zieh dich an und bring unseren Schatz mit. Wir müssen uns sputen.«
Johanna glitt aus dem Bett und stolperte durch die Kammer. Sie hatte sich noch nie vor ihm angezogen und war sich seiner auf ihr weilenden Augen unangenehm bewusst. Doch Scham schien gänzlich fehl am Platz, wenn ihrer aller Leben in Gefahr schweben konnte.
Frederik wimmerte ob der Unruhe kurz in seinem Bettchen in der Ecke, dann verstummte er wieder.
»Ruxandra!«, rief Johanna, während sie sich mit ihren Strümpfen plagte. »Nein, lasst sie mich besser holen.« Mit hinter ihr herwehenden Schnüren rannte sie in den Vorraum und weiter zum Schlafzimmer der Amme.
Ruxandra riss den Mund auf und japste nach Luft, als ihre Herrin sie wachrüttelte und anbrüllte, aber selbst aufgeregtes Gerede von Aufruhr vermochte nicht, sie aus der Fassung zu bringen. »Lasst ihn noch schlafen, Hoheit«, meinte sie so ruhig, als sprächen sie über Bauchschmerzen. »Ich packe erst eine Tasche für ihn.« Damit begann sie, Kleider in einen Kissenbezug zu stopfen. Johanna lief los, um ihre Juwelen zu holen.

Sie hetzten dunkle Gänge entlang, wobei ihre Laternen gespenstische Schatten rings um sie tanzen ließen. Rubin lief voraus – mit aufgesetzter Kapuze, weil er meinte, sein Anblick in wilder Flucht mitten in der Nacht könnte eine Panik auslösen. Johanna hielt ihren in Decken gehüllten Sohn an sich gepresst und versuchte, sein schlaftrunkenes Murren zu beruhigen, da sie schreckliche Angst hatte, er könnte in Wutschreie ausbrechen. Ruxandra folgte ihnen und trug den Beutel sowie zusätzliche Decken. Über Hintertreppen hinab, durch eine verwaiste Küche … Als sie auf den frostigen Stallhof hinaustraten, trafen sie dort auf Männer, die Pferde vor zwei Kutschen spannten. Im Fackellicht kräuselte sich Atemnebel. Ein riesiger Mond trieb zwischen silbrig schimmernden Wolken hindurch.

Johanna hielt auf die große achtspännige Herzogskutsche zu.
Rubin ergriff ihren Arm. »Nein! Wir nehmen die andere.« Er führte sie zu dem kleineren Gefährt hinüber und stieg als erster ein, damit er Frederik entgegennehmen konnte. Der Markgraf von Krupa erschrak und schrie. Johanna kletterte hinterher, um ihn an sich zu drücken und zu trösten, woraufhin er noch lauter brüllte. Ruxandra wurde von einem Stallburschen hineingeholfen, der sie nachgerade emporhieven musste. Danach wurde die Tür zugeworfen. Eine Stimme gellte, eine Peitsche schnalzte, und die Staatskutsche begann, sich unter Hufgeklapper und dem Knarren kalter Achsen in Bewegung zu setzen. Eisenbeschlagene Räder polterten donnergleich über Kopfsteinpflaster und drohten, die ganze Stadt aus dem Schlaf zu reißen. Dann folgte die zweite Kutsche.
Frederik heulte unbeirrt weiter. Johanna reichte ihn Ruxandra, auf dass sie es versuchte.
Ihr Gemahl schlang den Arm um sie. Erschrocken wich sie zurück, bis er von ihr abließ. Zwar drang nur wenig Licht durch die horngetäfelten Fenster, dennoch war es im Inneren nicht gänzlich dunkel. Liebesbezeugungen vor einer Dienerin waren unschicklich.
»Nun denn, Euer Gnaden«, sagte sie. »Bitte berichtet mir, was geschehen ist.«
»Volpe hat sich zum Verräter gewandelt, mein Täubchen. Er plant diesen Umsturz bereits seit geraumer Zeit. Zum Glück ist mir Abt Minhea treu geblieben, sodass ich unterrichtet wurde. Nun sind Volpe und mehrere hundert Ritter aus Vamky hierher unterwegs, um mich abzusetzen. Wir sollten aus der Stadt sein, bevor er eintrifft. Aber keine Sorge, wir kommen zurück.« Holpernd und klappernd rollte die Kutsche schmale Gassen entlang, in die kaum Mondlicht vorzudringen vermochte. »Und wohin fahren wir jetzt?«
»Lass dich überraschen. Ich habe Pläne.« Seine Stimme hörte sich in der Düsternis selbstgefällig an.

Die Kutsche rumpelte und holperte übelkeiterregend über die rauen Straßen. Johanna wünschte inbrünstig, sie wären stattdessen geritten, wenngleich Frederik mittlerweile zu groß war, um ihn einfach in einer Schlinge zu tragen. Auch er mochte die Kutsche nicht. Kaum hatte er sich in den Schlaf geweint, ruckelte sie und weckte ihn wieder, sodass selbst Ruxandra machtlos war. Die Straßen wurden immer holpriger und steiler, führten bald bergauf, bald bergab. Bisweilen prasselte Regen aufs Dach und sickerte rings um die Fenster herein.

Schließlich nahm Rubin seinen Sohn, was er noch nie zuvor getan hatte. Unglaublicherweise hörte Frederik auf zu brüllen. Entweder wusste er die Ehre zu schätzen, oder er war bloß zu verdutzt, um sich zu wehren. Jedenfalls wimmerte er noch ein paar Mal, dann versank er in tiefen Schlaf. Bald darauf stellte Johanna fest, dass sie im Begriff war, es ihm gleichzutun.

Ruckartig erwachte sie und war unsicher, wo sie sich befand. Rubin hielt immer noch seinen Sohn. Ruxandra schnarchte. Die Kutsche erklomm einen steilen Hang.

»Wir fahren nach Norden?«, fragte sie.

»Ganz recht. Die andere Kutsche fährt nach Süden, nach Zolensa, und ich hoffe, mein niederträchtiger Onkel jagt sie höchstpersönlich und fällt dabei vom Rand der Welt.«

»Aber wohin? Doch nicht zurück nach Trenko?« Selbst wesentlich später im Jahr wäre die Überquerung des Passes in diesem Gefährt ein höchst gewagtes Unterfangen. Sie würden gewiss frische Pferde brauchen. Und sie müssten an Vamky vorbei, dem Hort des Verräters.

Rubin stimmte wieder jenes sonderbare Kichern an. »Ich hoffe, so weit müssen wir nicht, aber der Markgraf versprach mir tatsächlich seine Unterstützung, sollte etwas wie dies geschehen. Nein, ich habe dir doch gesagt, Minhea ist mir treu geblieben. Wir tauschen Tisch und Bett mit dem Abtrünnigen. Volpe kann den Palast haben. Indes sichern wir unsere Herrschaft im Kloster!«

»Wunderbar!«, stieß Johanna hervor und war erstaunt über sein Selbstvertrauen. Diese gelassene Beherztheit war eine Seite an ihm, die sie nie für möglich gehalten hätte. »Geschah zurzeit Eures Großvaters nicht etwas Ähnliches?«

»Zu seiner Zeit geschah alles nur Erdenkliche. Mach dir keine Sorgen, Honigschnittchen. Alles wird gut.«
Ruxandra war erwacht. »Hier, Frau«, sagte der Herzog. »Kümmere dich um den Jungen. Nimm ihn und … Was? …«
Die Kutsche war wieder etwas schneller geworden, aber plötzlich wieherten die Pferde aufgebracht. Der Kutscher riss an den Zügeln, Schotter knirschte unter blockierten Rädern, und die ganze Welt schien sich zu neigen. Johanna schrie auf und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus. Rubin fiel auf sie, anschließend fielen Kind und Amme auf sie beide. Die Kutsche rollte sich überschlagend abwärts, fiel, prallte gegen Bäume, rollte holpernd weiter, zerbarst und ergoss ihren Inhalt über den Felshang.
7

Nach einer scheinbaren Ewigkeit begann der Himmel über den Gebirgsketten im Osten aufzuhellen. Die Welt war düster, feucht und sehr kalt. Johanna konnte sich nicht entsinnen, aus dem Wrack geschleudert worden zu sein. Entweder hatte sie Frederik an sich gerissen, bevor es geschah, oder sie hatte ihn später in der Finsternis gefunden. Doch sie erinnerte sich weder an das eine noch an das andere. Sie kauerte an einer dürren Kiefer, die alles war, was sie davor bewahrte, einen überaus steilen Hang hinabzurollen und über dem Rand des Abgrunds am Ende der Böschung zu verschwinden. Frederik war in eine dreckige, grasbefleckte Decke gehüllt und schlief in ihren Armen .Sein Gesicht war voller Schlamm und Blut, aber er atmete. Johanna selbst hatte an zu vielen Stellen Schmerzen, um auch nur den Versuch zu unternehmen, sie einzuordnen. Über ihr verriet eine Schneise von geknickten Bäumen, Trümmerteilen und toten Pferden, wo die Kutsche den Hügel herabgestürzt war. Die Überreste hatten sich an einem Baum ein Stück unterhalb von ihr verkeilt. Ein Rad und ein totes Pferd hingen über dem Abgrund zur Asch, die in ihrer Schlucht rauschte.

Irgendwie musste sie Hilfe finden. Es dauerte eine Weile, bis sie das begriff. Sie hatte ihre Schuhe verloren. Ein unbeherrschbares Zittern hatte Besitz von ihr ergriffen. Die vertrauten Umrisse der Umgebung verrieten ihr, dass sie sich unweit des Vamky-Klosters befand, westlich des Flusses stromabwärts der Altenbrücke. Folglich musste Fadrenschloss ganz in der Nähe sein, aber sie würde barfuß dorthin laufen und Frederik dabei tragen müssen.

Bevor sie die Straße erreichte, hörte sie Stimmen brüllen. Sie sparte sich die Mühe zu antworten, da Frederik bereits den nötigen Lärm veranstaltete. Zwei Männer kamen durch die Büsche und Bäume heruntergeklettert. Einer jung, der andere älter. Vater und Sohn. Holzfäller. Hilfe. Der Ältere nahm Frederik auf seinen Arm, der Jüngere hob ebenso mühelos Johanna.

Später befand sie sich in einer Hütte. Frauen versorgten sie. Weitere Menschen waren dort und schließlich sogar der Baron, riesig und abgehärmt. Sein Antlitz war so bleich wie sein Bart. Nur ein paar Schrammen, beharrte sie. Man teilte ihr mit, dass sie mehrere Schnittwunden hatte, die schlimmste davon am Bein, aber es würden keine Narben zurückbleiben. Sie beide hatten großes Glück gehabt. Frederik war nahezu ungeschoren davongekommen. Die Knochen kleiner Kinder waren geschmeidig wie grüne Zweige. Sie erfuhr, dass anderen weniger Glück beschieden gewesen war. Johanna wusste, dass sie dem Baron etwas Wichtiges sagen sollte. Aber sie konnte sich nicht besinnen, was es war.

Ernst ließ seine Kutsche kommen und verstaute sie alle darin. Frederik tat seine Meinung über Kutschen mehr als lautstark kund, doch ihm wurde kein Gehör geschenkt.

Als sie in Fadrenschloss eintrafen, löste Johanna sich allmählich aus ihrem Dämmerzustand, und das Grauen stieg ihr wie Galle in die Kehle. Der Baron rühmte sich, etwas von Kräuterkunde zu verstehen. Er holte die alte Heilkräutertruhe seiner Mutter hervor und braute einen Trank, der die Wirkung der Axt eines Holzfällers hatte.

Zum Schlafen legte man Johanna in ihr altes Bett.

Beim ersten Tageslicht appellierte Frederiks Wehklagen an ihre mütterlichen Instinkte und weckte sie. Sie fand ihn im Zimmer nebenan, noch bevor die Frau, die bei ihm schlief, die Augen aufschlug. Der Baron hatte die Anweisung erteilt, dass er zu rufen sei, sobald Johanna wach war.

Nachdem sie den Jungen wieder in den Schlaf gewiegt hatte, gesellte sie sich im Sonnenzimmer neben einem Kiefernholzfeuer zu dem alten Mann. Dort trank sie aus einem Silberkelch Glühwein und verschlang Brot, Käse und Wurst, als hätte sie seit einem Monat nichts mehr gegessen. Ihr Gesicht war geschwollen, zudem trug sie mehrere Verbände und hatte ausreichend Schmerzen, um eine ganze Armee zu quälen, aber keine Zeit, sich darum zu kümmern. Der greise Baron sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

»Es ist schön, dich wieder hier zu haben, Johanna«, meinte er. »Ich wünschte nur, die Umstände wären glücklicher.«
»Ich auch.«
Damit waren die Nettigkeiten gesagt. Ernst schienen

die Worte zu fehlen, und Johanna wollte überhaupt nicht sprechen.

Schließlich seufzte er. »Geht es Euch gut genug, um zu reden, Hoheit? Ich will Euch keineswegs bedrängen, aber wir … wir müssen uns über wichtige Dinge unterhalten.«

Sie nickte. »Ich fühle mich noch ein bisschen zittrig, aber bitte fahrt fort.«
Er zupfte an seinem Bart, was er stets zu tun pflegte, wenn er besorgt war. »Sagt mir, wenn es zu anstrengend wird!«
»Mache ich. Ich kann mich an kaum etwas über den Unfall erinnern.«
»Gestern habt Ihr wirres Zeug geredet, das wenig Sinn ergab. Petre und sein Sohn haben Euch gefunden, als Ihr mit dem Markgrafen auf den Armen den Hang hinaufgeklettert seid. Der Leichnam des Kutschers lag unweit der Straße. Der Mann wurde vom Bock geschleudert und zerquetscht, als die Kutsche über ihn schlitterte. Außerdem wurde eine ältere Frau in Dienstmädchengewändern gefunden. Ebenfalls tot, fürchte ich. Wer war sonst noch in der Kutsche?«
»Nur mein Gemahl. Fürst Volpe hatte seinen Staatsstreich in die Wege geleitet, genau, wie Ihr es vorhergesagt habt. Rubin weckte mich und meinte, wir müssten unverzüglich fliehen. Was wir auch taten.«
Der Baron grunzte und zupfte wieder an seinem Schnurrbart.
»Wo ist Rubin?«, wollte sie wissen. Warum hatte sie eigentlich nicht schon längst danach gefragt?
»Es wurden keine weiteren Leichen gefunden, Liebes.«
Der Abgrund! Ihr Gemahl. Der Herzog. Frederiks Vater und Beschützer.
Von Faders fleischige Züge hatten den gestrengen Ausdruck angenommen, an den Johanna sich aus Zeiten erinnerte, zu denen sie ihn beobachtet hatte, wenn er hier in Fadrenschloss Gericht hielt. Als Baron hatte er das Recht, über seine Untertanen und Vasallen zu richten, wobei er stets stolz darauf gewesen war, ein aufrichtiger und gerechter Richter zu sein, der peinlich darauf achtete, sämtliche Tatsachen zu berücksichtigen, bevor er ein Urteil verkündete und bisweilen sogar zu seinen eigenen Ungunsten entschied, wenn das Gesetz oder das Brauchtum es verlangten – etwas, was die meisten Fürsten niemals taten.
»Johanna, Liebes, bist du sicher, dass der Mann in der Kutsche dein Gemahl war?«
Eine solche Frage musste ein Scherz sein. Sie widerstand der Versuchung zu lachen, weil Gelächter einfacher zu beginnen als zu beenden gewesen wäre. »Natürlich bin ich sicher, Herr! Wieso auch nicht? Er sagte, er hätte seit Wochen über die Verschwörung Bescheid gewusst und eigene Pläne geschmiedet. Leider scheint es so, dass der Zufall Volpe begünstigt hat. Er hat gewonnen, und ich muss mit Frederik in die Verbannung fliehen. Ist es das, was Ihr mir sagen wollt?«
Von Fader schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht. Zunächst hatte der Zufall nichts damit zu tun. Der Unfall war kein Unfall, sondern vorsätzlicher Mord.«
»Nein!«
»Bitte, Hoheit, hört Euch die Beweise an, bevor Ihr das sagt!« Manchmal war sie die Großherzogin, dann wieder bloß das Kind, das er großgezogen hatte, und die Jahre dazwischen waren vergessen. Er lehnte sich zur Seite, um an einem Glockenseil zu ziehen. »Die Stelle dort ist gefährlich für jeden, der sie nicht kennt. Der Pfad macht eine unerwartete Biegung und ist ungeschützt. Dadurch rinnt Schlamm darüber und macht ihn rutschig. Aber wir können das Unglück zu unserem Vorteil verwenden. Herein!«
Das zerfurchte Affenantlitz, das zur Tür hereinspähte, gehörte Manfred, dem Förster des Barons, von dem es hieß, er könne der Fährte einer Krähe über einen See folgen. Er musste auf den Ruf gewartet haben. Johanna kannte ihn von früher und begrüßte ihn mit einem Lächeln, obwohl jedes Lächeln schmerzte.
»Schließ die Tür«, brummte der Baron. »Sag Ihrer Hoheit, was du gesehen hast.«
Der Förster umklammerte mit beiden Händen seinen Hut und erklärte sichtlich unruhig: »Es hatte geregnet, Königliche Hoheit, dann hörte es auf. Die Spuren waren sehr deutlich. Jemand hatte dort einen Karren abgestellt, der die Straße versperrte. Der Kutscher hatte keine Möglichkeit anzuhalten oder auszuweichen.«
Ein Karren? Johanna erwiderte nichts, weigerte sich, die Folgerungen zu akzeptieren.
Er wand sich unter ihrem starren Blick. »Ein Karren und ein Mann auf einem Pferd, Königliche Hoheit. Sie kamen aus dem Norden. Auf dem Hinweg ritt der Mann auf dem Pferd voraus, genau wie später, als sie aufbrachen.«
»Sie sind nach dem Unfall verschwunden?«, fragte der Baron.
»Ja, Herr. Die Spuren waren sowohl unter als auch über jenen der Kutsche. Der Karren stand eine ganze Weile da. Jede Menge Tropfspuren.«
»Und das Pferd?«, half der Baron ihm auf die Sprünge.
»Ein sehr großes Pferd. Wahrscheinlich ein Schlachtross. Es trug noch Winterhufe mit Stollen.«
Von Fader musterte sein einstiges Mündel und beobachtete, wie Johanna die Neuigkeiten aufnahm.
»Die Bruderschaft?«
Zustimmend nickte er. »Eine höchst naheliegende Vermutung. Zwar können wir nicht sicher sein, dass der Reiter aus Vamky kam, aber es ist sehr wahrscheinlich. In Krupina gibt es nur wenige Schlachtrösser, und nur jene der Brüder tragen Hufe mit Stollen. Die überwachen den Pass. Erzähl ihr, was sich ereignet hat, Manfred.«
»Karren und Pferd, Hoheit … Der Reiter ritt ein wenig umher, der Kutscher wendete und stellte den Karren an der gewünschten Stelle ab, etwa in der Mitte der Straße, sodass zwar eine Lücke blieb, diese aber zu schmal für ein Gespann war. Und der Reiter ließ einige Krähenfüße fallen.« Manfred holte einen Krähenfuß hervor, den er in seinem Hut gehalten haben musste, denn in der Hosentasche hätten die Stacheln ihn gepiesackt. Ein widerwärtiges, hässliches kleines Ding. »Nicht viele. Gerade genug, um das Gespann in Panik zu versetzen und sicherzustellen, dass es nicht rechtzeitig anhalten würde. Diesen hier habe ich aus einem der Hufe der Pferde.«
»Sind alle Pferde tot?« Vier prachtvolle Pferde!
Manfred nickte. »Nach dem Unfall sammelte der Reiter die übrig gebliebenen Krähenfüße ein – seine Spuren waren obenauf. Er trug Reitstiefel, keine Sabots.«
»Fußpanzer«, erklärte der Baron.
Johanna schauderte und versuchte zu begreifen, dass eine derart kaltblütige Gemeinheit ihr und ihrem Kind gegolten hatte. Sie war jetzt Witwe. Die Vorstellung schien zu gewaltig, um irgendwo hineinzupassen …
»Jemand wusste, dass ihr kommen würdet«, ergriff der Baron das Wort. »Ein schnelles Pferd kann eine Kutsche überholen. Es könnte über die Straße nach Osten von Krupa nach Vamky und über die Brücke zurück galoppiert sein. Dadurch wäre Zeit geblieben – wenn auch nur knapp –, den Hinterhalt einzurichten.«
»Rubin hat seihe Staatskutsche nach Süden geschickt, um Verfolger auf eine falsche Fährte zu schicken. Er wurde verraten!«
»Nicht unbedingt.« Von Fader seufzte pfeifend. »Ich fürchte, da ist noch mehr … Hoheit.«
»Nein!«, rief sie scharf aus und stand auf. Es durfte nicht noch mehr geben! Sie hatte sich noch nicht einmal an den Gedanken von Mord gewöhnt. Händeringend humpelte Johanna gleichsam als Flucht vor der Wahrheit zum Fenster hinüber. Der Himmel war hell, kündigte das Morgengrauen an. Frühe Blätter zeichneten sich wie schwarze Federn an den Bäumen ab. Dieser Raum war vertraut, unverändert, ein Zuhause. Dennoch konnte sie nicht bleiben. Jemand hatte versucht, Frederik zu töten. Und dieser jemand konnte einen neuen Anlauf nehmen. Die Zukunft glich einer blanken Mauer quer über ihren Pfad. Wohin konnte sie sich wenden? Wer würde ihr Zuflucht gewähren? Nichts in ihrem Leben oder ihrer Erziehung hatte sie auf eine solche Zwangslage vorbereitet.
Sie drehte sich um und stellte fest, dass der Baron sie mit zutiefst besorgtem Blick beobachtete, aber war das Mitleid in den Augen des runzligen Försters? Sie würde kein Mitleid dulden. Mit diesem Entschluss kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück.
»Nun denn, Herr. Welche weiteren grausigen Neuigkeiten habt Ihr für mich?«
»Manfred hat dieses Medaillon gefunden. Sag ihr wo.«
Johanna hatte ihr Edelsteinkästchen bei sich gehabt. Nicht die Staatsjuwelen, nur einige Schmuckstücke, die Rubin und der Baron ihr geschenkt hatten, außerdem Perlen, die ihrer Mutter gehört hatten. Nun konnte die Asch in ihrer Schlucht mit all dem hübschen Tand spielen.
Der Förster redete bereits. »… einem Busch am Rand des großen Abgrunds, Königliche Hoheit. Viele geknickte Zweige, ein bisschen Blut, Reste von Damast und Seide, ein paar Haare.« Er holte einige Überbleibsel aus seinem Hut hervor. Johanna nahm sie nicht entgegen. Sie konnte sich nicht erinnern, was Rubin getragen hatte. Nichts Besonderes, nichts, das sie erkennen würde.
»Also wurde ein Körper in den Busch geschleudert und fiel durch ihn hindurch in den Fluss?«, half der Baron ihm weiter.
»So sah es zumindest aus, Herr.«
»Könnte es auch vorgetäuscht worden sein?«
Der kleinwüchsige Mann zögerte, aber nur, um die richtigen Worte zu wählen. Als er schließlich sprach, schwang in seiner Stimme kein Zweifel mit. »Das glaube ich nicht, Herr. Keine Fußabdrücke im Schlamm. Ich wüsste nicht, wie es jemand hätte vortäuschen können.«
Johanna kannte seinen Ruf, und der Baron nahm Manfreds Ansichten offenbar als unfehlbar hin. Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, das die beabsichtigte Wirkung verfehlte.
»Die Frage vor Gericht also lautet, Liebes, wer stürzte in die Asch und ließ dieses Medaillon zurück? Seine Hoheit? Ein Goldmedaillon in Herzform an einer goldenen Kette. Teuer. Gehörte es ihm? Gehört es dir?« Er reichte es Johanna.
»Ich habe es noch nie gesehen«, erklärte sie. Darin befand sich ein schmeichelhaftes Bildnis von Rubin, das ihn vom Kopf bis zu den Schultern zeigte. »Nein, meines ist es nicht.«
Vermutlich hatte Rubin es in der Vergangenheit der einen oder anderen Freundin geschenkt, doch dies vor Manfred auszusprechen, hätte sich wie Verrat angefühlt. Man sollte nicht schlecht über Tote reden. Warum schnitt der Baron Grimassen?
»Ich bezweifelte, dass es ihm oder Euch gehören würde. Ihr müsst wissen, Hoheit, es handelt sich um einen Zauber jener Art, der als Trugbann bezeichnet wird. Mach dich auf einen Schreck gefasst, Liebes. Manfred, leg es an. Zeig der Großherzogin, was es bewirkt.«
Es verwandelte Manfred in Rubin. Als Johanna es versuchte und ihr Spiegelbild in ihrem Kelch betrachtete, war sie plötzlich Rubin.
Offenbar hatte sie sich bei dem Sturz den Kopf angeschlagen und den Verstand verloren.
Jemand anders war gestorben? Rubin lebte noch?
Von Faders teigige Züge wirkten vor Elend ganz schlaff. »Danke, Manfred. Das war der größte Dienst, den du mir in dreißig Jahren erwiesen hast.«
Nachdem der Förster gegangen war, meinte Johanna verbittert: »Ihr denkt, ich hätte versucht, mit jemandem auszureißen.« Die ganze Welt würde das denken. Johanna war am Ende.
»Dafür kenne ich dich zu gut, Liebes. Ich habe dich früher an jenem Tag gesehen, und da hattest du solchen Unfug nicht im Sinn. Du würdest deinen Sohn niemals um sein Geburtsrecht betrügen.« Abermals spielte er an seinem Bart. »Aber andere könnten es durchaus so auslegen. O bei den Toten! All dieses Übel ergibt einfach keinen Sinn für mich! Gewiss ist man nur in Vamky in der Lage, dieses Schmuckstück zu verhexen, außerdem wurde der Hinterhalt von Männern aus Vamky vorbereitet. Wäre in jener Kutsche dein Gemahl gewesen, hätte der Mörder ohne weiteres hoffen dürfen, sowohl ihn als auch seinen Sohn zu töten, wodurch Volpe zum unumstrittenen Großherzog und Karl zu seinem Erben geworden wären. Es wurden schon Männer aufgrund wackeligerer Beweise gehängt.
Aber dieses Medaillon ändert alles! Jemand hat sich als dein Gemahl ausgegeben. Was versuchte der Hochstapler damit zu erreichen? Am ehesten eine Entführung. Aber wollte er deinen Sohn, dich oder euch beide entführen? Sind sich zwei Verschwörungen in die Quere gekommen? Sagte er, wohin er euch bringen wollte?«
»Er meinte, nach Vamky.« Hätte sie jene düstere Festung je wieder verlassen? »Oder wollte er mich bloß in Verruf bringen? Wäre ich mit einem anderen Mann durchgebrannt, hätte Rubin sich von mir scheiden lassen können.« Und hätte ungehindert die betörende Margarita von Trenko ehelichen können.
»Dafür hätte es einfachere Wege und Mittel gegeben!«, widersprach der Baron.
Johanna mied seinen Blick. »Der Hochstapler kannte bestimmte, sehr persönliche Kosenamen, die mein Gemahl mir bisweilen gab. Nur er konnte sie kennen!«
Der Baron grunzte. »Verzeih meine Taktlosigkeit, Johanna, Liebes, aber du warst vielleicht nicht die einzige Frau, bei der er sie verwendet hat.«
»Aber natürlich!« Immerhin hatte es Hunderte in seinem Leben gegeben. Das hätte sie erkennen müssen. Mit dem Medaillon hätte der Betrüger jeder sein können, sogar eine Frau. Margarita von Trenko womöglich? Eine ihrer eigenen Zofen? »Er hat Frederik gehalten!«
»Tut Rubin das sonst nicht?«
»Seit den Feierlichkeiten zu Frederiks Taufe habe ich nicht mehr gesehen, dass er seinen Sohn berührt hat.« Und dann sein Lachen. Es war nicht Rubins Lachen gewesen. Das Lachen eines Menschen konnte oft sehr speziell sein. War sie diesem Lachen schon einmal begegnet?
»Dein Gemahl hätte seinen Sohn nicht in Gefahr gebracht.«
»Oh, niemals. Erst vor ein paar Tagen erwähnte er, dafür sorgen zu wollen, dass Frederik als sein Erbe anerkannt würde.«
Nach einem Moment der Stille wurde ihr klar, dass der Baron es eigentlich als Frage gemeint hatte. Schließlich war sie nun die Fachfrau, was Rubins eheliches Verhalten anging. Aber Rubin würde seinem Sohn nichts antun, es sei denn…? Es sei denn, er hatte bereits zwei Gemahlinnen ermordet und wollte sich einer dritten entledigen, damit er die schöne Margarita ins Bett bekam, die adeligen Blutes und somit nur durch eine rechtmäßige Eheschließung zu haben war …? Als Johanna den alten Baron anstarrte, sah sie in seinen Augen das Grauen, das nicht ausgesprochen werden durfte. Niemand würde einen Mann verdächtigen, den eigenen Sohn zu ermorden, nur um ein unerwünschtes Eheweib loszuwerden. Ganz zu schweigen von drei unschuldigen Unbeteiligten. Aber wenn der Großherzog nicht in der Kutsche gesessen hatte, konnte er dann der Mann auf dem Pferd gewesen sein?
»Wollt Ihr etwa sagen«, fragte sie, obwohl Ernst bewusst nichts sagte, »dass die Absicht darin bestand, mich und Frederik zu töten?« Nein, das war nicht richtig … Ernst hatte einen ganzen Tag Zeit gehabt, darüber nachzudenken. »Oder nur Frederik zu töten? Dass ich eigentlich hier in Fadrenschloss und gar nicht in der Kutsche sein sollte? Dass es ein Plan Volpes war, um Frederik zu beseitigen, damit Karl wieder an zweiter Stelle der Thronfolge stünde?«
Gewiss war das Unsinn. Wenn Volpes Vorstellung von Ehre es ihm verbot, seinen Neffen abzusetzen, wie konnte er dann ein unschuldiges Kind ermorden, um einen lasterhaften Sohn zu fördern, den er verachtete?
Steckte demnach Karl dahinter? Er hätte durch Frederiks Tod am meisten zu gewinnen. Immerhin wäre er wieder an zweiter Stelle der Thronfolge. Lächerlich! Karl war nicht in der Lage, mehr als einen schäbigen Verführungsversuch in die Wege zu leiten.
Also?
Also kam Johanna wieder auf den Umstand zurück, dass sie nur zufällig in Krupa gewesen war. Sie hätte nicht im Palast sein sollen, folglich war der falsche Herzog gezwungen gewesen, sie ebenfalls mitzunehmen. Es war Frederik gewesen, durch den die Gefahr eines Umsturzes heraufbeschworen wurde. Hätte Volpe seinen früheren Platz als mutmaßlicher Erbe wieder, wäre die Bedrohung eines Staatsstreichs vorbei. Rubin war nicht gerade der Mutigste. Er hasste alles, was sein stilles Leben ausgewählter fleischlicher Genüsse störte, und was nach seinem Tod aus Krupina wurde, kümmerte ihn keinen Deut. Aus diesem Winkel betrachtet, wäre Frederik ein Fehler gewesen, vielleicht ein Fehler, den es zu berichtigen galt. Natürlich hatte der falsche Herzog keine Ahnung von dem Hinterhalt gehabt.
Johanna schüttelte sich, um die Albträume zu vertreiben. Der Baron musterte sie. Er wirkte um zehn Jahre älter als noch zwei Tage zuvor.
»Gebt mir einen Rat, Herr«, forderte sie ihn auf.
»Das kann ich nicht«, antwortete er verärgert. »Ich bin zu alt, um ein solches Gewirr aufzulösen. Ich sehe so viele mögliche Erklärungen! Gab es zwei Verschwörungen? Oder war es eine Doppellist? Wer war das beabsichtigte Opfer? Vielleicht wusste Rubin tatsächlich von einem geplanten Staatsstreich, bei dem er gestürzt werden sollte. Also schickte er dich und deinen Sohn in Sicherheit, ohne zu ahnen, dass Volpe so weit gehen würde, der Kutsche aufzulauern. Aber wo steckt dein Gemahl jetzt? Und wer herrscht in Krupa?«
Und wagte sie es, dorthin zurückzukehren?
»Ich bin noch nicht in der Lage zu reisen«, sagte Johanna.
»Natürlich nicht.« Der Baron stemmte seinen massigen Körper aus dem Stuhl und watschelte zum Fenster, um hinauszustarren. »Tageslicht!« Er seufzte. »Weder der Kutscher noch die Frau konnten identifiziert werden. Die Kutsche war nur noch Feuerholz. Aber die Pferde trugen das Brandzeichen des Großherzogs. Als wir die Leichen gestern holten, war es bereits zu spät, um noch eine Botschaft nach Krupa zu schicken, verstehst du? Zumindest kann ich das behaupten. Aber ich wage nicht, es noch länger hinauszuzögern. Heute muss ich eine Nachricht in den Palast senden. Sofort! Noch vor Einbruch der Dunkelheit wird jemand hier sein. Und wenn dein Verschwinden bereits bekannt ist, könnte noch früher jemand hier auftauchen. Dies ist der erste Ort, an dem man nach dir suchen wird.«
Johanna erkannte, dass nicht nur sie selbst in Gefahr schwebte. Sie verbreitete die Gefahr wie eine Seuche. »Ihr dürft meinetwegen kein Wagnis eingehen, Herr.«
Der Baron stand am Fenster wie ein steinernes Denkmal und blickte hinaus auf die Berge. »Es ist kein Wagnis. Nur sehr wenige Menschen wissen, dass du hier bist, und sie mussten mir allesamt Verschwiegenheit schwören. Immerhin könntest du auch durch die Wälder irren oder in der Hütte eines Köhlers Zuflucht gesucht haben.«
»Nein!« Jäh stand sie auf, wodurch sie unverzüglich an ihre Wunden und Abschürfungen erinnert wurde. »Ihr dürft Euch nicht in Gefahr bringen!«
Mit gerunzelter Stirn drehte er sich zu ihr um. »Sei nicht töricht, Johanna. Für ein paar Tage ist es keine Gefahr. Dein Gemahl hat dir gesagt, dass Aufwiegler im Begriff wären, den Palast zu stürmen. Du wurdest von einem Unbekannten entführt. Dein Gemahl ist tot. Er hat versucht, dich zu töten. Sein Onkel hat versucht, dich zu töten. Zwar können nicht alle diese Aussagen zutreffen, aber jede davon reicht als Grund, dich zu verstecken, bis es nachweislich sicher ist, um sich wieder an die Öffentlichkeit zu wagen. Ich habe den Fuchsbau schon vorbereiten lassen.«
»Aber die Gemahlin des Großherzogs vor ihm zu verstecken, muss doch mindestens Hochverrat sein!«
»Unfug. Sie vor Aufwieglern zu verstecken, zeugt von wahrer Gefolgstreue. Fadrenschloss wird dir Zuflucht gewähren, und ich dulde keine Widerrede.«
Nun war sie wieder das Kind. Sie ging zu ihm hinüber und umarmte ihn innig.
8

Der Fuchsbau hatte sich nicht verändert. Er war bereits vor ihrer Ehe ihre Zuflucht gewesen, und nun würde er ihr denselben Dienst erneut erweisen. Frederik fand den seltsamen, gewundenen, düsteren kleinen Raum durchaus einen Besuch wert – aber nur, solange es dauerte, zur Pritsche am fernen Ende und wieder zurück zu tapsen.

»Wir werden eine Weile hier bleiben, Liebling«, erklärte ihm seine Mutter. »Sieh nur, wie hübsch alles für uns geputzt und vorbereitet wurde! Bist du hungrig? Durstig? Wir haben Essen hier. Und ich glaube, in dieser Kiste sind Spielsachen. Wir haben alles, was wir brauchen.«

»Muss aufs Töpfchen«, tat der Markgraf entschieden kund.
Erschrocken sah Johanna sich um. Fast alles.
Nachdem der Notfall bereinigt war – die Lösung befand sich unter dem Bett –, war Frederik rundum zufrieden damit, seine Mutter für sich allein zu haben und nicht in einer Kutsche zu sein. Die eigenen Blutergüsse und Abschürfungen störten ihn, hingegen fand er ihr geschwollenes Auge sehr lustig. Fortwährend versucht er, darauf zu hauen. So wie kleine Jungs eben sind.
»Ich hoffe aufrichtig, du legst das mit der Zeit ab«, meinte sie, während sie ihn abwehrte.
So ziemlich das Einzige, was den Fuchsbau an Feinde verraten konnte, wäre der Tobsuchtsanfall eines Zweijährigen gewesen, den keine Steinmauer der Welt gänzlich zu dämpfen vermocht hätte. Doch nachdem Frederik ein, zwei Stunden die Spielsachen durch die Gegend geworfen hatte, nahm er auf dem Schoß seiner Mutter Platz, um einer Geschichte zu lauschen. Er schlief ein, bevor sie zu Ende war. Was sich als Glück erwies, denn Johanna hatte ihn kaum zu Bett gelegt und zugedeckt, als auch schon leise die Glocke läutete. Sie eilte zum nächstgelegenen Guckloch, von denen es drei gab. Durch eines sah man auf die Straße, die zum Torvorwerk führte, durch eines auf den Burghof und durch das dritte in den großen Saal. Da durch keines etwas Aufsehenerregendes zu sehen war, kehrte sie zu jenem zurück, das auf die Straße zum Schloss wies und wartete dort.
Der Kurier, der an jenem Vormittag losgeritten war, konnte Krupa noch nicht erreicht haben, folglich konnte erst recht keine Antwort in Fadrenschloss eintreffen, aber Vamky lag nur ein paar Stunden entfernt. Wer immer nahte, musste auf der Suche nach der verschwundenen Großherzogin sein, und wie von Fader gesagt hatte, war dies der wahrscheinlichste Ort, um damit zu beginnen. Alsbald geriet eine Kavalkade in ihr Sichtfeld: Herolde, Standartenträger, ein Trupp der Palastgarde, der einen Mann in weltlicher Kleidung begleitete. Keine Rüstungen, kein Blau auf Weiß. Kurz darauf erkannte sie in der Vorhut des Trosses das herzogliche Banner. Also musste es Rubin sein. Eine Woge der Erleichterung erfasste sie. Ihr Eheleben war zwar alles andere als vollkommen gewesen, doch hätte es sich bei dem Neuankömmling um Volpe gehandelt, wären Verbannung und Armut ihr Los gewesen.
Die Reiter verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Johanna eilte zum nächsten Guckloch und beobachtete den Burghof. Der Großherzog ritt zu den Stufen. Der Baron wartete, um die Zügel entgegenzunehmen. Gleich darauf gingen die beiden Männer zusammen hinein.
Zweifellos würde Ernst zu Beginn lügen, was das Zeug hielt. Er würde erst zugeben, dass Johanna hier war, wenn er überzeugt wäre, dass die Absichten ihres Gemahls ehrenwert waren. Es würde ein schwieriges Unterfangen werden, dies herauszufinden. Er konnte weder einen Staatsstreich noch einen Hochstapler oder ein verzaubertes Medaillon erwähnen, ohne preiszugeben, dass er mehr wusste, als er sollte. Johanna musste auf sein Zeichen warten. Die Soldaten stiegen ab und ließen die Pferde in der Obhut der Männer des Barons. Es war eine ziemlich große Begleitgarde.
Gewiss hatten Gastgeber und Gast sich in das Sonnenzimmer begeben, um sich ungestört zu unterhalten, und Johanna würde erst etwas erfahren, nachdem Rubin wieder fort war. Falls er misstrauisch war, mochte er durchaus eine oder zwei Wochen bleiben. Oder Fadrenschloss von seinen Männern durchsuchen lassen. Natürlich wäre das so, als bezeichnete er den Baron unverhohlen als Verräter und käme somit einer tödlichen Beleidigung von Faders gleich, aber es war Rubin ohne weiteres zuzutrauen. Ohne große Hoffnung schlich sie halb die schmale Treppe hinab zu dem Guckloch, das den großen Saal überblickte. Wieder war ihr Sichtfeld eingeschränkt, umfasste kaum mehr als den Thron auf dem Podest am fernen Ende des Raumes und den Raum unmittelbar davor. Sonnenstrahlen fielen in schrägem Winkel ein, wirkten durch den Staub in der Luft silbrig. Uralte Banner hingen reglos von Sparren.
Die beiden Männer kamen tatsächlich in ihr Sichtfeld und steuerten auf den Thron zu. Der Baron stapfte auf seinen Stock gestützt dahin und wirkte unnatürlich verkürzt. Und Rubins rechtes Bein hinkte leicht! Oh, bei den Geistern! Entsetzt starrte Johanna hinab, versuchte durch blanke Willenskraft, jenes Hinken hinfort zu wünschen, doch je besser ihr Sichtwinkel wurde, desto deutlicher kam es zur Geltung. Wo ein verzaubertes Medaillon herstammte, konnte es weitere geben. War es dem Baron aufgefallen? Und falls nicht, würde er es rechtzeitig bemerken? Dann jammerte Frederik, und Johanna lief die Treppe hinauf, um ihn zu trösten, bevor er ihre Abwesenheit bemerkte und aufschrie.
Nun wusste sie, wie es dem Großherzog gelungen war, an diesem Vormittag so schnell von Krupa nach Fadrenschloss zu reiten – er hatte es gar nicht getan. Statt dessen kam er aus Vamky. Und es war nicht der Großherzog.
Es dauerte eine Weile, bis die gesamte Dienerschaft von Fadrenschloss zusammengerufen war und sich im großen Saal einfand. Als alle anwesend waren, konnte Johanna nur beobachten, was vor sich ging. Hören konnte sie nichts. Der Baron stellte den Großherzog vor, wenngleich so gut wie jeder im Schloss lange genug hier beschäftigt war, um sich gut an ihn zu erinnern. Es folgte bestenfalls höflicher Jubel.
Anschließend hielt der verkleidete Fürst Volpe eine kurze Ansprache. Johanna konnte sich die Worte ausmalen, sie wusste bloß nicht, wie viel sie wert war und konnte die Zahl nur raten. Bald darauf gingen die beiden Adeligen, und die Versammelten begaben sich zurück an die Arbeit. Wie viele Menschen kannten den Fuchsbau? Wie viele würden sich kaufen lassen? Schon ein einziger würde genügen.
Mittlerweile war Frederik wieder aufgewacht und wollte essen.
»Du solltest stolz auf dich sein«, meinte sie, während sie ihm Butter aufs Brot schmierte. »Noch keine drei Jahre alt, und schon gibt es einen Preis auf deinen Kopf.«
Grinsend betastete er mit beiden Händen seine Locken und versuchte, den Preis zu finden.
Selbstverständlich würde es nicht als Preis bezeichnet. Gewiss war das Wort »Belohnung« verwendet worden, in Wahrheit aber handelte es sich um Blutgeld. Findet den armen, kleinen Thronerben, der in den Wäldern umherirrt, und gewinnt ein Vermögen. Ein falscher Großherzog brauchte sich keine Sorgen um seinen Ruf als Ehrenmann zu machen, denn der Ruf würde ihm nicht lange anhaften. Sobald das Ärgernis in der Thronfolge beseitigt war, konnte erden offiziellen Tod seines Vorgängers einfädeln und beginnen, unter dem eigenen Namen und Gesicht zu herrschen.
Johanna fragte sich, ob Rubin bereits tot war. Wahrscheinlicher jedoch, beschloss sie, schmorte er irgendwo in Gefangenschaft, bis sein Sohn ebenfalls aus dem Weg geräumt werden konnte. Die Stärke einer Monarchie lag darin, dass es keine Lösung war, ein gekröntes Haupt abzuschlagen: Der Großherzog ist tot, lang lebe der Großherzog! Frederik musste vor oder unmittelbar nach seinem Vater sterben. Und da eine geringe Möglichkeit bestand, dass seine Mutter ein Brüderchen oder Schwesterchen im Leib trug, sollte sie besser auch ins Jenseits befördert werden. So wäre alles geregelt.

Gegen Mittag ritt der Hochstapler mit seinen Soldaten die Straße hinab davon, aber die Glocke gab kein Zeichen, dass alles wieder sicher war. Damit hatte Johanna gerechnet. Wenn Volpe eine Belohnung für ihre Ergreifung ausgesetzt hatte, wie sie vermutete, hatte er bestimmt einige Männer zurückgelassen, die darauf warteten, dass jemand den Köder schluckte und sie verriet. Dann konnten sie die Gesuchten in Gewahrsam nehmen. Johanna wünschte, sie hätte sein Gefolge gezählt, als es eintraf, doch sie musste sich damit abfinden, mit einem zum Brüllen gelangweilten Frederik einen Tag, vielleicht sogar mehrere allein zu verbringen.

Mit drei Jahren würden die Trotzanfälle enden, hatte Ruxandra versprochen, doch bis dahin waren es noch ein paar Monate, und Trotzanfälle waren seine einzige Möglichkeit, Unzufriedenheit auszudrücken. Er konnte nicht verstehen, dass böse Menschen durch das Schloss schleichen und auf ein schreiendes Kleinkind lauschen mochten. Tatsächlich schien er zu spüren, dass Wutausbrüche ihm an jenem Tag mehr Aufmerksamkeit als üblich bescherten, denn er setzte sie häufiger ein. Es gab Zeiten, in denen Johanna vermeinte, ihr Sohn triebe sie in den Wahnsinn. Gleichzeitig aber wusste sie, dass sie längst den Verstand verloren hätte, wenn er nicht bei ihr gewesen wäre.

Als letztlich die Dunkelheit einsetzte, schloss sie die Läden vor den Gucklöchern, damit sie gefahrlos eine Kerze anzünden konnte. Frederik schlief ein und träumte vermutlich von einem weiteren chaotischen Tag. Johanna versuchte, ein Buch zu lesen, gab es auf, ließ die Laterne brennen und legte sich voll bekleidet hin, da sie wusste, der Ruf konnte jederzeit während der Nacht kommen. Zu ihrer Überraschung schlief sie, als es so weit war. Sofort war sie hellwach, ergriff die Laterne und humpelte die enge Treppe hinunter, wobei sie ob der Schmerzen in ihren steifen Muskeln mehrfach zusammenzuckte.

Der Eingang zum Fuchsbau führte über die Oberseite eines Schranks. Sie kniete nieder, um die Riegel aufzuschieben und die Falltür zu öffnen, die so schmal war, dass der Baron die letzten vierzig Jahre nicht mehr vermocht hätte, sich nach oben hindurchzuzwängen. Aber er konnte noch auf einem Stuhl stehen, wenngleich wackelig. Sein Kopf tauchte neben ihren Knien auf.

»Alles in Ordnung, Liebes?« Er sprach mit Flüsterstimme.
»Uns geht es bestens. Es war Volpe! Habt Ihr sein Hinken bemerkt?«
»Habe ich. Er bot eine Belohnung von je tausend Hyrischen Dukaten für euch beide.«
»Das ist alles?«, fragte Johanna entrüstet. »Ein ziemlich geringer Preis für ein Herzogtum!«
»Aber ein gewaltiges Vermögen für einen schwer schuftenden Arbeiter oder Küchengehilfen.«
»Gewiss«, pflichtete sie ihm traurig bei. Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre ihr der Betrag selbst wie ein gewaltiges Vermögen erschienen.
»Er hat sechs Männer hier gelassen«, verriet er ihr. »Wir lassen sie von Mädchen ablenken, trotzdem kann ich nicht lange bleiben. Braucht ihr etwas?«
»Morgen, falls wir noch hier sind – mehr Spielzeug, frisches Wasser und einen frischen Nachttopf.« Sie verkniff es sich, der Aufzählung einen Knebel für ihren Sohn hinzuzufügen; dies war nicht die rechte Zeit für Scherze.

Frederik weckte sie. Er wimmerte nur und heulte nicht, mit ein wenig Glück würde er also wieder einschlafen. Johanna rollte sich zur Seite, stöhnte dabei ob ihrer Schmerzen und Blutergüsse und wollte gerade den Kopf unter dem Kissen vergraben, als ihr zu Bewusstsein kam, dass die Glocke läutete. Es war eine sehr kleine Glocke, die nur ein ganz leises Klingeln vernehmen ließ. Unaufhörlich. Einmal Läuten für Alarm, drei Mal für alles in Ordnung – das waren die vereinbarten Zeichen, nun jedoch rüttelte jemand ohne Unterlass an dem Seil. Sie setzte sich auf.

Aus der Ferne ertönten hämmernde Geräusche. Johanna wälzte sich aus dem Bett, ergriff die Laterne und lief die Treppe hinab, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Jemand pochte gegen die Falltür, versuchte, sie zu wecken.

Dann roch sie Rauch.
Fadrenschloss war uralt; es würde brennen wie Zunder. Sogleich waren alle ihre Wehwehchen vergessen, und sie stürzte zurück hinauf in die kleine Kammer … sammelte Mantel, Schuhe und ihren Sohn in seiner Decke … hetzte im Dunklen wieder die Treppe hinab … und Frederik begann angesichts eines weiteren, unsanften Erwachsens lauthals zu weinen. Nun war der Lärm lauter und ließ auf die heftigen Schläge eines Hammers schließen, die ihre Füße durch den Steinboden sogar spüren konnten. Noch bevor sie sich daran machen konnte, die Riegel aufzuschieben, gaben sie nach, und die Falltür wurde aufgeschleudert. Grelles Licht und ein Schwall Rauch, der in den Augen brannte, drang nach oben. Die Menge des Hustens unter ihr legte nahe, dass ein beträchtliches Empfangskomitee auf sie wartete.
»Nehmt ihn!«, rief sie und legte ihren Sohn in die auftauchenden Arme. Selbst wenn sie Volpe höchstpersönlich gehörten, war es kein Ausweg, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Dann verdrängte sie alle Scham, steckte die Füße durch die Lücke und spürte, wie zahlreiche starke Hände sie ergriffen und hinunterhoben. Johanna trug nur ein Nachtkleid, einen Mantel und ihre Schuhe; die Hände verweilten etwas länger als nötig auf ihr.
»Hauptmann Aldea, Königliche Hoheit«, stellte sich eine zufrieden klingende Stimme vor.
Groß, kräftig, unbeirrbar und mit der Vorstellungskraft einer Stechmücke geschlagen. Jeder Versuch, Aldea zu erklären, dass der Mann, den er für seinen Herrscher hielt, in Wahrheit ein Thronräuber mit einem verzauberten Medaillon war, schien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Johanna hatte ein ebensolches Medaillon dabei, doch sich plötzlich selbst in Rubin zu verwandeln, war nun auch keine Lösung mehr. Sie hustete, als der Rauch in ihre Lungen drang.
»Kommt mit!«, forderte Aldea sie auf. »Wir sollten schnellstens hier raus. Allmählich wird es gefährlich.« Damit packte er sie am Arm und zerrte sie auf den Gang hinaus.
Johanna setzte sich zur Wehr. »Lasst mich gefälligst los!«
»Nein.« Offenbar besaß Aldea doch genug Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass sie versuchen könnte, in den Wirren zu fliehen. Er zwang sie, in Bewegung zu bleiben. »Der Baron sagt, das gesamte Schloss wird gleich in Rauch und Flammen aufgehen.«
Mit seinen Fingern gleich Stahlbändern um ihren Arm eilte sie neben ihm her. Inmitten des Hustens vor ihr hörte sie Frederiks Geschrei. Außerdem vernahm sie ein entsetzliches Gebrüll, das an das Tosen eines Wasserfalls erinnerte, und sie fürchtete, es stammte vom Feuer selbst.
»Hat der Herzog Euch ermächtigt, Fadrenschloss in Brand zu stecken?«, fuhr sie ihn an.
»Das war nicht unser Werk, Hoheit. Der Baron glaubt, dass eine Feuerfliege ihr Unwesen treibt. Oh … bei den Toten!«
Sie hatten die Tür zum großen Saal erreicht. Eine Seite davon glich einer Feuerwand, die durch dichten Rauch schimmerte.
»Da können wir nicht rein!«, schrie ein anderer Mann.
»Kennt Ihr einen anderen Weg nach draußen, Hoheit?«, fragte Aldea.
»Ja. Lasst meinen Arm los.« Sie wartete, bis er es tat. »Und jetzt folgt mir!« Sie drängte sich durch die Menge, ergriff eine Laterne und lief voraus, wobei sie auf Frederiks Geschrei lauschte, um sich zu vergewissern, dass man ihr mit ihm folgte. An der Tür zum Keller zögerte sie kurz. Ihr graute vor dem Gedanken, sich dort hinunter zu begeben, unter das gesamte Gewicht des Schlosses, aber sie konnte ihren Sohn nicht dem Feuertod überlassen. Gefolgt von dem Trommelwirbel zahlreicher Stiefel stolperte Johanna die Treppe hinab in kühle, frischere Luft. Als sie sich mit einer Tür plagte, griffen Männerhände an ihr vorbei und rissen diese förmlich aus den Angeln. Wieder hinauf. Sie gelangte auf den Burghof und stieß vor Bestürzung einen spitzen Schrei aus.
Unter der Flammensäule, die vom Neuen Haus – das bei weitem nicht den jüngsten Teil der Anlage darstellte
– in den Himmel ragte, war die Nacht taghell. Selbst auf diese Entfernung war die Hitze schier unerträglich. Ungeachtet aller Bemühungen der Stallknechte waren mehrere Pferde in Panik geraten und hatten sich losgerissen; nun tobten sie wie wahnsinnig über den Hof und brachten jeden in Gefahr. Hinter ihr explodierte der große Saal in einer riesigen Rauchwolke. Feuerbälle quollen aus jedem Fenster und schleuderten Trümmer durch die Gegend.
»Dort entlang!« Sie zerrte an dem Mann, der Frederik trug, und umklammerte seinen Arm, als sie zum kleineren Torvorwerk rannten. Zeitweise mussten sie sich eng an die Mauer drücken, während die zu Tode verängstigten Gäule an ihnen vorbeidonnerten. Der Boden war von glimmendem, rauchenden Schutt übersät. Mit der freien Hand hielt sie den Saum ihres Nachtkleids hoch, da sie fürchtete, es könnte sonst in Brand geraten.
»Halt!«, gellte jemand. »Da ist sie! Bleibt stehen! Die Fliege! Bewegt euch nicht.«
Die Männer vor ihr hielten so unvermittelt inne, dass Johanna an ihren Rücken zurückprallte.
»Lauft! Lauft! Lauft!«
»Nein!«, brüllte Hauptmann Aldea. »Alles stillgestanden. Redet nicht einmal.«
»Was ist das für ein Wahnsinn?«, schrie Johanna. Rings um sie waren die Flüchtenden zu Salzsäulen erstarrt. Frederik schluchzte. Sie versuchte, sich zwischen zwei Männern hindurchzuzwängen, doch abermals schlossen Aldeas stählerne Finger sich um ihren Arm.
»Steht still!« Er hörte sich an, als versuchte er zu sprechen, ohne den Mund zu bewegen. »Es ist die Feuerfliege.«
Sie schaute hin, wo alle anderen hinstarrten, und sah … einen Funken? Einen Stern? Was immer es sein mochte, es überstrahlte selbst die gewaltige Feuersbrunst des Neuen Hauses dahinter. Der Schein war so grell, dass es in den Augen schmerzte. Das Ding kreiste über dem Burghof, als würde es an einem unsichtbaren Seil geschwungen. Es war kaum zu verfolgen, da es helle Linien und Kreise auf ihren Netzhäuten hinterließ. Lebte es etwa? Ein lebendiges Feuer, das sich an den Wirren erfreute, die es angerichtet hatte?
»Wie tötet man das Ding?«, murmelte ein Soldat.
»Das kann man nicht«, murmelte Aldea, ohne die Lippen zu bewegen. »Der Baron sagt, sie leben nicht lange.«
Brauchten sie auch nicht. Aus unerfindlichem Grund stürzte die Feuerfliege nun trudelnd auf die Pferde zu, die in der Ecke neben dem Verbindungsflügel in der Falle saßen, wo sie sich wild aufbäumten und um sich traten. Erst kreiste sie dicht über ihnen, als nähme sie Maß, dann schnellte sie mitten in die Herde. Ein Pferd explodierte unter Dampf und Feuer zu einem Schauer verkohlten Fleisches. An seiner Stelle tänzelte wieder die Feuerfliege. Mit ähnlichem Ergebnis traf sie ein weiteres Tier.
»Bewegt euch!«, befahl Aldea. »Aber langsam. Bloß nicht rennen. Wir müssen hier raus.«
Diese Aufforderung bedurfte keiner Wiederholung. Der Rauch, die Hitze und die herabprasselnden Trümmer wurden unerträglich. Es war kaum noch Luft zum Atmen vorhanden. Johanna drängte sich dicht an Frederik, der in seiner Decke nach Leibeskräften schrie, während die gesamte Gruppe die Mauer entlangschlich und dabei das grauenhafte Gemetzel an den Pferden beobachtete. Als fünf oder sechs der Tiere vernichtet waren, schien die Feuerfliege des Spielchens überdrüssig zu werden. Sie stieg auf und verharrte einen Augenblick schwebend, dann fuhr sie in kreisendem Sturzflug und geradewegs durch eine Mauer in den Verbindungsflügel. Mit einem Schlag waren alle Fenster hell erleuchtet.
Das Dach des großen Saals stürzte ein und sandte unvorstellbare Funkenwolken zu den Sternen.
»Jetzt!«, rief Aldea, aber es rannten ohnehin bereits alle. Sie drängten sich zur Nebenpforte, dann ließen sie Johanna und den Mann mit Frederik vorauslaufen. Sie wankte hinaus in Dunkelheit und frische, klare Luft. Sogleich nahm sie ihren Sohn an sich, drückte ihn und murmelte ihm tröstende Worte zu, um sein Entsetzen zu lindern.
»Kommt, Hoheit«, forderte Aldea sie auf. Zwar hielt er sie nicht mehr fest, aber er blieb in Griffweite. »Wir sind immer noch zu nah.«
Er und seine fünf Untergebenen umringten sie und trieben sie über die Wiese zur Straße. Sonst kam niemand mit ihnen. Eine Reihe Obstbäume hinter der Straße schimmerte, als hätte ein strahlender Sonnenuntergang sie erfasst. Dort standen zahlreiche Leute und bezeugten den Tod von Fadrenschloss, obwohl selbst auf diese Entfernung noch lodernde Trümmer herabregneten und die Bäume zu wenig Blätterwerk hatten, um Schutz zu bieten.
Als sie bei der Menge eintraf, drehte sie sich um und starrte auf die Verheerung. Der uralte Turm ragte inmitten eines Flammenwalds auf. Wäre sie im Fuchsbau geblieben, wäre sie wie Brot gebacken worden, selbst wenn der Turm nicht eingestürzt wäre, was er vermutlich noch würde. Ganz Fadrenschloss brannte lichterloh. Immer mehr Dächer brachen in sich zusammen und sandten wilde Funkenwirbel himmelwärts in die Nacht.
Irgendwo in der Nähe musste auch der Baron sein. Johanna graute bei dem Gedanken, ihm ihr Mitgefühl für eine solch allgewaltige Katastrophe ausdrücken zu müssen. In gewisser Weise war es ein Glück, dass er so alt war und keine Erben hatte.
»Schwört Ihr, dass dies nicht Euer Werk war?«, verlangte Johanna von dem Hauptmann zu erfahren.
Aldea schaute auf sie herab – er war ein sehr großer Mann. »Ihr habt die Feuerfliege mit eigenen Augen gesehen, Hoheit.«
»Und woher kommen Feuerfliegen?«
Er verzog den Mund zu einem sonderbaren Lächeln. »Von Beschwörern, erzählt man sich gemeinhin.«
»Von Fürst Volpe womöglich?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Aber ich behaupte es! Und wessen Befehlen gehorcht Ihr?«
»Denen des Großherzogs, Euer Gnaden.« Misstrauisch verengte er die Augen zu Schlitzen, vermutlich weil er ihre Frage verwirrend fand. Ssssurr! »Häh?«, stieß Aldea verdutzt hervor und kippte vornüber.
Eine abgehackte Armbrustsalve, ein paar Schreie, und sechs Männer lagen auf dem Boden. Aus einigen ragten grässliche Stacheln des Todes. Frederik hatte das Gesicht an ihrer Schulter vergraben, folglich hatte er es nicht gesehen.
Selbst wenn, hätte er es nicht verstanden. Johanna wusste, dass sie entsetzt sein sollte, doch sie war vom Übermaß der Schrecken rings um sie wie betäubt.
Eines der Opfer versuchte, sich auf Hände und Knie zu rappeln. Der Baron trat mit einem beidhändigen Breitschwert vor und schlug ihm den Kopf so sauber ab wie ein geübter Scharfrichter.
»Sie haben nur Befehle befolgt!«, begehrte Johanna halbherzig auf.
»Und das hätten sie auch weiterhin!« Der Baron glich einer wilden, hutlosen Gestalt in nicht zusammenpassenden, halb zugeknöpften und geschnürten Kleidern. Das schüttere, weiße Haar und der Bart standen in alle Richtungen ab; seine Augen leuchteten im Schein des Feuers wie die eines Wahnsinnigen. »Sie wären uns gefolgt. Wir müssen fort. In Vamky hat man das Feuer bestimmt gesehen. Los doch!«
»Wohin? Gewiss überwachen sie die Straßen.«
»Sie haben Straßensperren errichtet«, knurrte von Fader. »Sie wollten dich ausräuchern. Aber in diesen Wäldern fängt mich niemand! Manfred, nimm das Kind. Gunter, wirf diese Leichen ins Feuer. Komm, Johanna, wir haben ein paar Kleider gerettet, die dir passen sollten.«