11
Er zog mir die Quecksilberkugel aus dem Herzen und nahm mir die Fessel vom Hals. Die Fesseln an meinen Handgelenken und Knöcheln nahm er mir allerdings nicht ab. Dann fuhr er fort: »Du musst dich vorbereiten, denn du machst uns ein großes Geschenk. Wir möchten nicht, dass du schwach bist. Wie in jener Vorführung, letzte Nacht in der Arena. Mir gefällt diese Art von unnötigem Schaden nicht. Dein Blut ist wichtig für mich, und als ich sah, wie es auf dem Boden der Arena vergossen wurde... oh, das schmerzte mich. Du musst trinken.« Er gab den Wachtposten ein Zeichen, woraufhin sie eine junge Frau hereinbrachten, die nicht älter als neunzehn Jahre war. Sie war mit einer verdreckten Tunika bekleidet, ihr Haar sah wie ein verfilztes Vogelnest aus. »Sie wird genügen. Trinke dich gründlich an ihr satt.« Er nahm die Hand der jungen Frau. Obwohl sie sich gegen ihn wehrte, brachte er sie zu mir.
»Ich bin gar nicht durstig«, entgegnete ich und blickte mich im Raum um. Er enthielt mehrere Bücher und Schriftstücke. Sein Studierzimmer. Zu jener Zeit hatte ich noch nicht viele Bücher zu Gesicht bekommen, obwohl ich von den Manuskripten der Mönche und dem Zauberbuch der Magier gehört hatte. Hierbei handelte es sich um seine Zauberbücher. Seine Weisheit war in ihre Seiten eingeschlossen. Auf einem Sockel in der Mitte des Raumes lag ein dickes Buch, das mit einem hellen Ledereinband mit Prägung ausgestattet war. Silberkordeln hielten es geschlossen.
»Ist das deine Magie?«, fragte ich mit einer Kopfbewegung in Richtung des Buches.
Er warf einen Blick darauf. »Du interessierst dich für Alchimie?«
Ich beantwortete seine Frage nicht, sondern blickte die junge Frau neben mir an. »Bring sie fort. Ich werde nichts trinken.«
»Du benötigst aber Blut. Du bist schwach.«
Ich hielt meine mit Silber gefesselten Handgelenke in die Höhe. »Entferne sie, und ich werde nicht mehr so schwach sein.«
»Es ist dein Blut, das stark sein muss, nicht dein Leib.« »Zeig mir dein Gesicht, dann werde ich von ihr trinken«, erwiderte ich.
Die junge Frau wimmerte, als sie diese Worte vernahm, und rannte zur Tür. Ein Wächter packte sie am Arm und zerrte sie in die Kammer zurück.
»Mein Gesicht ist für dich nicht von Interesse«, erklärte Artephius.
»Ich will das Gesicht des Mannes sehen, der mich vernichten wird.«
Er trat nahe an mich heran.
Ich sah den Helm mit dem Visier an. »Alles, was ich von dir kenne, ist diese metallene Maske.«
»Ich werde dir diese Bitte gewähren, wenn du von ihr trinkst.«
Ich nickte.
Rasch schickte er die Wächter aus seinem Raum, die die junge Frau mitnahmen. Die Tür wurde geschlossen und abgesperrt.
Er griff zu seinem Visier hinauf und nahm es von dem Unterteil des Helmes ab.
Ich keuchte auf, als ich das Gesicht des großen Alchimisten erblickte, der Alkemara gestürzt und Merods Grabkammer eigenhändig konstruiert hatte.
Sein Gesicht unter dem Helm bestand aus nicht mehr als einem Schädel, der in dünne Streifen aus Stoff gewickelt war, als reichten diese als Fleisch aus. Seine Augen lagen tief in seinem Schädel, und Strähnen aus flachsfarbenem Haar drangen durch den dünnen Stoff, der irgendwie auf den graubraunen Schädel geklebt worden war. Sein lippenloser Mund teilte sich und sagte: »Unsterblichkeit ohne Jugend. Das habe ich von den Geheimnissen, die aus Alkemara gestohlen wurden. Das ist es, was mir Pythia durch ihre Liebe brachte, Falke. Sieh mich an, und wisse, was du ohne den Zauber deines Stammes wärest! Er schloss das Visier wieder und lachte über den Ausdruck auf meinem Gesicht. »Wir haben hier eine Stunde Zeit, bevor ich dich auf deine nächtliche Reise schicken muss. Ich hasse dich nicht, Falke. Weit gefehlt. Ich verstehe dich. Du hast Furcht und Größe in dir. Du bist ein Wesen, das auf diese Art zu studieren ich mir viele Jahre lang gewünscht habe. Ich würde noch viel mehr mit dir teilen, wenn ich könnte, mein Junge. Heute Nacht werde ich dir das erzählen, was zu wissen du ersehnst.«
Und dann erzählte er mir, wie er unsterblich geworden war.
 
»Ich wurde, kleiner Falke, in einem Land geboren, das weit entfernt liegt, in einer Zivilisation, die blühte und gedieh und von Weisheit und Wissen erfüllt war, lange bevor sich diese barbarischen Königreiche entwickelten, und auch bevor deine Vorfahren von den Römern geschändet und abgeschlachtet wurden, bevor selbst Rom entstand; und in dem fruchtbaren Tal, in dem ich geboren wurde, waren wir die Herren der Welt. Ich war der Sohn einer Tempelpriesterin. Als ich neun Jahre alt war, wurde ich zu den Priestern eines Gottes geschickt, der aus einer Lüge bestand, wie ich in diesem Alter bereits wusste. Denn ich hatte die Tricks und Kniffe gesehen, die meine Mutter und die anderen Priesterinnen vorführten, um die Wunder der Gottheiten zu zeigen. Dennoch war ich klug genug, um nichts darüber zu sagen, als die älteren Priester meine Kenntnisse über göttliche Angelegenheiten und die heiligen Künste des Landes prüften. Meine Mutter hatte mich auf diese Prüfungen vorbereitet, da sie selbst einem Leben entflohen war, das aus Schinderei bestanden hatte. Die meisten Menschen unseres Landes konnten diesem Schicksal nicht entrinnen, und viele von ihnen waren Bedienstete der königlichen Familie. Nur wenige besaßen selbst Macht. Meine Umrgroßtante war einst Königin dieses Landes gewesen, doch als ihr Ehemann ihre Untreue entdeckte, wurde sie lebendig begraben – ebenso wie viele meiner Verwandten. Aber diejenigen, die sich versteckt hielten, sprachen niemals außerhalb der Feuerstelle der Familie von ihrer Schmach, und auch dort nur im Flüsterton. Doch ich war von königlichem Blute, und meine Mutter und ich hatten beide die Absicht, dem Überfluss der Wohlhabenden so nahe zu kommen, wie wir nur konnten.
In meiner Jugend war die Hingabe an die Götter für einen Priester oder eine Priesterin der bevorzugte Aufgabenbereich, und viele konnten sich glücklich schätzen, zu dieser Arbeit bestimmt zu sein. Es war unsere Aufgabe, Tag und Nacht die Riten zu befolgen, die von den Göttern festgelegt wurden. Wir arbeiteten in Tempeln, die großartiger waren als diese düsteren und trostlosen Schlösser und tausend Mal schöner als irgendeine Kathedrale der Christenheit.
Wie ich bereits erzählte, wurde ich von den Priestem eines bestimmten Gottes geprüft. Meine Mutter bestach den Anführer einer Bande von Grabräubem, mich in ein besonderes Grab zu schmuggeln, das inmitten der Grabstätten der großen Könige meines Landes lag. In diesem Grab hatten die Räuber einen großen Teil ihrer Schätze gelagert, und an den Wänden war über zahlreiche Leagues die Geschichte des Gottes niedergeschrieben. Dies erschien mir wie ein Wunder. Ich hatte Gefallen am Lernen gefunden und konnte die Bildworte lesen, die beinahe dreihundert oder sogar noch mehr Jahre vor meiner Geburt dort eingeritzt worden waren. Dort verbrachte ich die ganze Nacht mit einer Fackel in der Hand und las von dem Land der Toten. Dieser Gott war der Herr der Toten, und seine zahlreichen Geheimnisse standen überall in dem Labyrinth aus Räumen an den Wänden.
Doch als ich schließlich in jenen Raum gelangte, in dem der König, seine Familie und sein Hofstaat ruhten, da war ich sogar noch aufgeregter. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich eine ganz besondere Art von Priester werden wollte.
Denn in diesem Raum befanden sich Gefäße, die mit Organen gefüllt waren, welche man sorgsam in Salz eingelegt und eingewickelt hatte, während in der Gruft, die für den König, seine Frau, seine Bediensteten und sogar die Katzen und Schakale bestimmt war, die Leichname in Stoff eingehüllt und behandelt worden waren, um sie zu konservieren. Ich wickelte einen der jüngeren Diener aus und erkannte trotz seines Alters, das Hunderte von Jahren betrug, das Gesicht eines Knaben, der mir nicht unähnlich war.
Als ich am Morgen zu meinen Prüfungen ging, stellten mir die Priester tausend Fragen. Es hieß, dass die Kinder, die von den Göttern am meisten geliebt würden, von geheimem Wissen erzählten. Doch in meinem Fall bekamen die Priester mehr zu hören, als sie gedacht hatten. Ich konnte einen großen Teil dessen vortragen, was ich in der vorangegangenen Nacht gelesen hatte. Und noch mehr als das: Ich kannte sogar die Todesblüte, mit der die Leichname ausgestopft worden waren, sowie die Gestalt der Gefäße für die verschiedenen Organe des Leibes. Ich kannte die Sterne am Himmel, die den Eingang in das Reich der höheren Götter beschrieben, ebenso wie die Orte der Erde, an denen der Durchgang in die Unterwelt begann. Denn auch diese waren an den Wänden der Grabstätte markiert worden. Und ich verkündete Prophezeiungen, welche nur diese Priesterschaft kennen konnte, denn selbst die Grabräuber in der Gruft waren nicht gelehrt worden, die Bildworte zu entziffern.
Und so begann meine Ausbildung. Hauptsächlich beschäftigte ich mich mit dem Wissen über die letzten Tage der königlichen Familie, darüber, welche Vorbereitungen ich dafür zu treffen hatte, wie die Leiber gereinigt wurden, was für die lange Reise ins Jenseits für sie bereitgelegt werden musste, wie das Hirn durch die Nase gezogen wurde und wie das Herz auch beim Einlegen in Salz frisch und prall gehalten werden konnte. Ich wuchs auf, um ein Priester meines Landes zu werden, und fand heraus, dass ich außerdem ein Talent für Erfindungen besaß. Denn ich begann mit den Architekten zu arbeiten, die die Gruft meines Königs erbaut hatten, und ich ersann Methoden, um Grabräuber am Eindringen zu hindern und die Schätze so zu verstecken, dass sie nicht gefunden werden konnten. Ich stieg im Rang auf und lebte bald im Palast selbst, inmitten jener Priester und Berater, bei denen es sich um die engsten Vertrauten des Königs handelte. Von denjenigen, die den Himmel beobachteten, lernte ich nicht nur den Einfluss der Sterne auf unser Leben, sondern auch, wie man die Richtung und Entfernung misst. Von den Baumeistern lernte ich weitere Dinge über Gebäude und Konstruktion. Wir leben in ignoranten Zeiten, Falke, und das ist bereits seit Jahrhunderten so – denn in jenen Tagen bereisten unsere Forscher die Welt und wussten viel über die Dinge, die von den Ländern des Westens erst noch wiederentdeckt werden müssen. Unsere Forscher überquerten den Ozean, und diejenigen, welche diese Reise überlebten, kehrten mit ganz unvergleichlichen Reichtümern zurück. Sie brachten nicht nur Gold mit, sondern auch Farben, Tiere und Pflanzen, von denen wir viele nie zuvor gesehen hatten. Es war ein großartiges Leben für einen jungen Mann, der ohne große Aussichten auf Erfolg in diese Welt hineingeboren worden war. Ich kann dir sagen, ich pries meine Mutter oft für ihren Weitblick, da sie mich die Bilder zu lesen und ihre Bedeutung zu verstehen gelehrt hatte.
In einer Trockenzeit stand die Frau des Königs an der Schwelle des Todes, und ich wurde gebeten, mit ihr über den Herrn der Toten zu sprechen, um sie auf ihr Schicksal durch seine Hand vorzubereiten. Doch als ich ihr begegnete, erkannte ich, dass sie dem Tode überhaupt nicht nahe war – sie litt bloß an Schwermut und war des Lebens überdrüssig. Wir verliebten uns, oder besser: Ich verliebte mich. Da ich allerdings begriff, dass mein Tod mit dem Tode meiner Schwestern und meiner Mutter einhergehen würde, falls ich in den Armen der Königin entdeckt werden sollte, schickte ich nach Giftmischern, um ihre Kunst zu erlernen. Ich beabsichtigte, den König und seine Kinder zu ermorden, so dass meine Geliebte an der Stelle ihres Mannes zur Herrscherin werden würde, wie es bereits mehr als einmal zuvor geschehen war. Dies waren meine Pläne. Bedenke, ich war damals nicht viel älter als du, als dir dein Leben genommen wurde. Ich verstand die Welt oder die Folgen solch schrecklicher Entscheidungen nicht.
Aber all meine Pläne wurden von meiner Geliebten selbst vereitelt. Sie entschloss sich, den König zu warnen, und wir wurden beide verhaftet. Sehr bald sollten wir eingesperrt werden, und zwar in genau jene Gruft, die ich selbst entworfen hatte.
Noch schlimmer aber war die Tatsache, dass wir nicht in der Grabkammer getötet, sondern dort eingeschlossen werden sollten. Wir sollten dem Durst und Hunger überlassen werden, bis unser letztes Stündlein geschlagen hätte. Ich liebte sie wahrhaftig, mein Freund. Ich liebte sie wie niemanden sonst. Wir sprachen über die Götter, obwohl ich selbst damals nicht an deren Existenz glaubte. Aber ich schwor ihr, dass ich sie von diesem Ort fortbringen würde. Ich schwor ihr, dass wir entkommen und zusammen im Exil leben würden, bis zum Ende der Zeit. Und sie glaubte mir. Wahrscheinlich glaubte ich selbst diese Worte. Ich sagte zu ihr, wenn ich den Hauptraum ausfindig machen könnte, von dem aus ich den Weg nach draußen finden konnte – denn ein solcher wurde in jede große Grabstätte eingebaut, nachdem ein Baumeister versehentlich in seinem eigenen Bau eingeschlossen und erst Jahre später wiedergefunden worden war, also lange nachdem der König zu Grabe getragen wurde -, so würde ich zu ihr zurückkehren und sie retten.
Als ich den Hauptraum dann fand – eine kleine Kammer, kaum groß genug für einen Mann – und den Weg nach oben und nach draußen ins Tageslicht erblickte, war ich furchtbar durstig. Da kam mir der Gedanke, ich sollte bloß nach draußen gehen, um etwas Wasser zu holen, und dann mit Nahrung und Wasser zu ihr zurückkehren. Dann würde sie sich wieder erholen, so dass wir daraufhin fliehen könnten. Ich hätte umkehren, sie suchen und zu jenem Raum bringen sollen, aber ich nehme an, mein eigener Durst war mir wichtiger als ihr Leben. Als ich nämlich hinausgelangt war und das Tageslicht erblickte, kroch ich an dem Graben der Grabstätte entlang und stürzte vor Erschöpfung ab.
Als ich erwachte, war es beinahe Abend. Ein Arbeiter von den Grabstätten hatte bereits damit begonnen, mir mit Honig gesüßtes Wasser in die Kehle zu träufeln. Ich hatte große Angst um meine Liebste und kehrte, sobald ich in jener Nacht genügend Kräfte gesammelt hatte, zu den Grabstätten zurück – wo ich allerdings entdecken musste, dass sie den Tod bereits gefunden hatte. Bevor sie starb, hatte sie noch versucht, ihr eigenes Blut zu trinken, um Feuchtigkeit aufzunehmen, und dann hatte sie die Klinge zu tief und zu oft ins Fleisch gegraben, um sich von ihren Verletzungen noch erholen zu können.
Ich nehme an, dass ich in diesem Augenblick wahnsinnig wurde. Nun begann ich, durch die Welt zu ziehen. Ich lebte als Bettler, und viele Menschen hatten Mitleid mit mir. Ein Lehrer auf einer ägäischen Insel nahm mich auf. Er lebte dort im Exil und arbeitete bei dem König des Landes, indem er Arenen und Tempel baute, die mit besonderen geheimen Durchgängen und ungewöhnlichen Eingängen ausgestattet waren. Wie ich, so hatte auch er zahlreiche Geräte gebaut, und er hatte einen Architekturstil entwickelt, der vollkommen auf den Sternbildern und ihrer Stellung zueinander basierte. Ich verbrachte zwanzig Jahre mit meiner Arbeit bei ihm, wobei ich die ganze Zeit sein Lehrling war, denn ich verspürte kein Bedürfnis nach einer besseren Stellung. Es war während dieses Aufenthaltes, dass ich durch ihn von jener Essenz der Unsterblichkeit erfuhr, die überall um uns herum existiert, auch wenn nur wenige ihre Kraft nutzbar machen.
Er lehrte mich einiges über den Schleier, den auch du kennst. Seine Bezeichnung dafür lautete Glückshaube, und er erklärte, dass seine Membran überall um uns herum existiere und wir ihn dennoch nur durch eine Änderung in unserem Geist erleben könnten. Er brachte mir Dinge über das Gehirn bei, indem er das Hirn eines toten Mannes verwendete, um mir sein Äußeres zu zeigen. Er lehrte mich, an welcher Stelle der Tod dem Hirn eines Sterblichen innewohnt und wo das ewige Leben in den Unsterblichen existiert – denn ja, er hatte mehrere der Vampyre gefangen, die einst seine Insel heimgesucht hatten. Als er starb – er wurde von einem seiner zahlreichen Feinde ermordet -, setzte ich seine Arbeit und Forschung fort. Aber ich wollte lieber die Quelle dieser bluttrinkenden Kreaturen finden, statt nur die konservierten Überreste derjenigen, die er gefangen hatte, zu verwenden, und dies bereits Jahre, bevor ich ihn überhaupt kennen gelernt hatte. Er besaß keine Ehefrau und keine Kinder und vererbte daher mir seinen Reichtum, der nach den damaligen Maßstäben riesig war. Er hatte zu mir gesagt, ich sollte den Tempel einer Stadt namens Pergamos aufsuchen. Also brach ich zu jenem Ort auf, sobald ich imstande war, ein Schiff und Seeleute anzuheuern. Ich überquerte Berge, um dorthin zu gelangen. Doch als ich diese Stadt fand, war ich darüber erschüttert, wie primitiv sie auf mich wirkte.
Es schien so, als wäre ich in die Vergangenheit zurückversetzt, da sämtliche Gebäude Lehmhütten waren und es keinen König gab, keinen Herrscher über die Stadt. Stattdessen wimmelte es dort von Vipern, die behandelt wurden, als handelte es sich bei ihnen um kleine Götter. Eltern gestatteten es ihren Kindern, sich viele Male von den Schlangen beißen zu lassen, und trotz der Todesfälle, die dies zur Folge hatte, oder der vielen Jahre, in denen sie krank waren, schien dies niemanden zu kümmern. Die Leute hatten das Gefühl, all dies läge in den Händen des Schicksals.
Es hieß auch, es gäbe eine Frau, die mit den Schlangen sprach und mit ihrer Hilfe weissagte. Angeblich handelte es sich bei ihr um einen Basilisken – eine Königin aus irgendeinem Reich musste dies sein, die mit einem Blick Menschen töten konnte und mehr eine Schlange als eine Frau war. Sie kam nach Einbruch der Dunkelheit zu den Höhlen des Tempels, und man sagte, sie geleitete einige zum Lande der Toten, während andere zurückkehrten, um von ihren Prophezeiungen zu erzählen. Ich suchte sie nach Mitternacht auf, da ich das Gefühl hatte, dass nur eines dieser Wesen mir die Geheimnisse der Unsterblichkeit verraten könnte.
Sie war die Wahrsagerin einer Stadt, die auf einem Schlangennest erbaut worden war.
Denn, weißt du, es gibt geheime Kenntnisse, die den Sterblichen Unsterblichkeit verleihen, ohne dass sie den Tod erleiden müssen, den du erleiden musstest. Ohne die bestialische Natur, die in deinem Munde Fangzähne wachsen lässt, wenn dein Opfer sich in deiner Nähe befindet. Ohne das Bedürfnis danach, Blut zu trinken. Ohne die Flügel einer fliegenden Echse auf deinem Rücken. Eure Art entstand tausend Jahre oder mehr noch, bevor selbst ich geboren wurde, und ich bin schon mehr als tausend Jahre alt. Doch ich entdeckte eine Quelle eurer Unsterblichkeit. Und mit der Hilfe der Python, die mich sehr liebte, lebte ich beinahe fünfhundert Jahre. Während dieser Zeit entwickelte ich meine eigene Unsterblichkeit, ließ sie gedeihen, um sie eines Tages vervollkommnen zu können.
Erst durch die Göttin, die nach deiner Vernichtung trachtet, erlangte ich das notwendige Wissen. Sie war es, deine Medhya, die mir etwas ins Ohr flüsterte, als ich von der giftigen Blume des Schleiers trank. Und ich spürte die Klauen ihrer Schatten, als sie sich mir näherten. Du weißt um jene andere Welt, in der die Götter existieren, und um diese Welt, Falke. Aber weißt du auch um die zahlreichen Welten, die es gibt, von denen die meisten allen denen unbekannt sind, die die kurze Lebensspanne gelebt haben, bei der es sich um das Schicksal der Sterblichen handelt? Weißt du, dass es sich bei jenem Strom, den du zwischen den Angehörigen deines Stammes spürst, einfach um eine Membran – eine Glückshaube – handelt, die zwischen dir und allen Unsterblichen gespannt ist? Sie erstreckt sich über die Membranen der Menschen, der Tiere und der Pflanzen. Die Quelle von ihnen allen ist diese eine, und alle stammen aus diesem Ursprung und sind so miteinander verbunden.
Ja, ich weiß auch um euren Strom. Ich spüre ihn, wenn er stark ist, und ich fühle die Nähe deines Stammes. Nun ist er schwach, kaum mehr ein Tröpfeln, doch er existiert noch.
Ich bin weiter in den Strom vorgedrungen, Falke. Ich kann ihn beherrschen. Ich kann ihn lenken. Er ist ein Strang, an dem ich zu ziehen vermag, oder eine Strömung, die ich an einem Ende aufstauen kann, um am anderen Ende einen Teich zu erschaffen.
Ich habe gelernt, wie man solche Veränderungen gestaltet, kleiner Falke. Ich habe die Kunst der Schöpfung und Vernichtung erlernt, indem ich die Glückshaube des Schleiers verwende.«
 
»Und doch nutzt du dieses Wissen, um das Leben selbst zu vernichten«, sagte ich.
»Und du etwa nicht?«, fragte er. »Du, der du den Lebenssaft von Jungfrauen, Knaben und alten Männern trinkst? Es ist nicht das Leben, das ich vernichte, Falke. Du wirst von deinen eigenen Begierden geblendet. Ich strebe nach dem Wissen der Götter höchstpersönlich. Du bist unsterblich. Ich kenne die Prophezeiung über den Maz-Sherah, kleiner Falke. Ich las die Worte des Blutes vor Jahrhunderten – Pythia selbst besaß sie, denn sie hatte sich an die Instruktionen ihres Vaters gehalten, in denen er mitteilte, wo er die flüsternden Grashalme gehört hatte, deren Ährenspitzen ihm das Wissen um die großen Prophezeiungen des zu erwartenden Messias gebracht hatten. Sie war es, die die Schriftrollen aus der Erde ausgegraben und gebunden hat.« Er deutete auf das uralte Zauberbuch auf dem Sockel. »Sie gab sie an mich weiter, und ich las von dem Fluch der Medhya, den sie über ihre räuberischen Priester ausgesprochen hatte. Doch da gab es noch andere Schriftrollen, die von den Priestern von Myrryd genommen worden waren. Sie lagen inmitten hoher Berge verborgen, unter der Erde vergraben. Ich nutzte den Strom, um sie ausfindig zu machen, denn die Ursprünge deines Volkes können gefunden werden, indem man den Strängen der dünnsten Fäden folgt. Und durch das Wissen der Myrrydanai...« Er schwieg einen Moment lang, als hätte er Angst, geheimes Wissen zu verraten, das nicht für mich bestimmt war. Dann sagte er: »Zeit bedeutete mir nichts, und mehrere Lebzeiten verstrichen, bis mir bewusst wurde, dass ich ein Auslöser sein konnte.«
»Dafür, Medhya herzubringen?«
»Dafür, allen Sterblichen Unsterblichkeit zu bringen«, entgegnete er.
»Und aufgrund deiner Ideale«, erwiderte ich, »sterben Tausende.«
»Sterbliche sterben immer zu Tausenden. Zu Millionen. Was bedeuten schon diese Leben, wenn es darum geht, Unsterblichkeit zu erschaffen? Ist es nicht das, was du jedes Mal von deinem Opfer verlangst, wenn du das Blut von Sterblichen trinkst?«, versetzte er. Dann befahl er den Wachen, zu uns zurückzukehren.
Ich trank von der jungen Frau, die er für mich vorgesehen hatte, bis sie ohnmächtig war, und hörte dann auf. »Ich werde sie nicht zu meinem Vergnügen töten, wie ihr, du und deine Baronin, es tut.« Ich hielt ihren Leib gegen den meinen gedrückt, bis ein Soldat sie mir abnahm und mir erneut die Handgelenke fesselte.
Dann ging Artephius dem Wächter voraus, der mich durch die engen und feuchten Korridore in andere Räume zerrte, an Soldaten und Schmieden vorbei. Währenddessen suchte ich nach einem Zeichen von Calyx oder der jungen Frau, die ich in der Arena getötet hatte. Aber es war außer den Wächtern niemand da, und diese blickten mich an, als wäre ich für sie ein geringeres Geschöpf als ein Tier auf dem Felde.
Schließlich erreichten wir einen langen, niedrigen Raum, in dem Haken von der Decke hingen, als handelte es sich hier um ein großes Schlachthaus. Stühle, Räder und Röhren säumten die Wände. Zangen waren auf den Boden geworfen worden, und eine Wand war zur Hälfte mit Blutflecken bedeckt. Ich wurde zu einem Opfer gebracht, das in einem Stuhl saß und dessen Kopf nach unten hing, als würde es herunterfallen, wäre es nicht daran festgebunden gewesen.
In diesem Augenblick spürte ich, wie sich die Qualen der Hölle in meine Seele einbrannten.
Das Gerät selbst bestand aus einem großen Rad, das von einem flachen Holzblock ausging, der so aufgestellt worden war, dass das Opfer darauf liegen konnte. Das Rad wurde von dem Blutstrom des Opfers selbst angetrieben, wenn das Blut in die langen Röhren schoss, so ähnlich wie ich sie einst in dem Weinkeller innerhalb der Grabstätte des Priesters des Blutes gesehen hatte. Wenn sich das Rad drehte, wurde das Opfer an den Füßen in die Höhe gezogen, und eine Reihe von Flaschenzügen und kleineren Rädern drehten sich und zogen es weiter nach oben, bis es mit dem Kopf nach unten herabhing. Die Röhren, die an Kehle, Oberschenkel und unter beiden Achselhöhlen angebracht waren, halfen dabei, die Gegenwehr des Opfers so gering wie möglich zu halten. Zu viele Bewegungen verursachten ein Zerbrechen des Glases, und dies führte dann von selbst dazu, dass das Blut rasch herausschoss. Auf diese Weise verlor der Vampyr seine gesamte Blutversorgung. Und ebenso wie Sterbliche auf ihr Blut angewiesen sind, so ist dies auch bei Vampyren der Fall. Die Auslöschung folgte schnell, wenn das Opfer all sein Blut verloren hatte, und der Haufen Fleisch konnte beiseite geworfen werden, wenn das Blut von den Steinen des Bodens aufgewischt worden war.
Um den Vampyr zusätzlich dazu zu bringen, dass er stillhielt, war er von Kopf bis Fuß mit Quecksilber bestrichen worden. Zu diesem Zweck hatte man ihm zuvor den Kopf rasiert und all seine Kleidungsstücke ausgezogen.
Der pulsierende Blutstrom des Opfers bewegte die mechanischen Vorrichtungen, als die Blutröhren sich füllten und leerten, und ein starker, unaufhörlicher, aber dünner Strom aus Blut floss durch die Schalen an den Rändern des Rades, bevor das Blut von einer großen Schüssel aus gewölbtem Glas aufgenommen wurde.
Das Wesen, das auf dem Holzblock lag, in einer jämmerlichen Lage ausgestreckt und schlafend – nach mehreren Nächten dieser Folter -, es stöhnte, als ich mich ihm näherte.
Als ich seinen Namen flüsterte, öffnete er die Augen.
»Ewen«, wiederholte ich.
Ein Metallstreifen war ihm über die Zähne gelegt worden, so dass sein Kiefer verschlossen und er weder zum Sprechen noch zum Beißen in der Lage war. Da all diese Instrumente aus irgendeiner Art von Silber bestanden, konnte ich ihn nicht berühren, ohne ein Brennen und einen Schlag zu verspüren, der mich stark genug nach hinten prallen ließ, um mich nach dem dritten Versuch aufgeben zu lassen.
Ich sah, wie sich in seinen Augen Tränen bildeten, und ich stellte mir vor, wie lächerlich dies wohl Sterblichen vorkommen musste – dass ein Vampyr weinte. Doch wir waren dem Kummer und der Verzweiflung nicht weniger ausgesetzt als die ärmsten Tröpfe der Menschheit. Dies alles ging uns nicht verloren, wenn wir von der Schwelle des Todes zurückkehrten.
Ich sehnte mich danach, ihn in meine Arme zu schließen, diese Röhren aus ihm herauszuziehen und der Kugel, die in seinem Herzen steckte, einen Schlag zu versetzen, damit sie herausglitt. Doch ich war mir sicher, dass dies sein Leiden nur noch vergrößern und ich ihn auf diese Weise eigenhändig in die Auslöschung schicken würde.
Ich drehte mich zu Artephius um. »Beende dies sofort. Welchen Nutzen bringt diese Folter? Welchen Nutzen hat sie für dich? Du wirst dein Fleisch nicht finden, indem du meinem Stamm das Blut stiehlst.«
Er antwortete nicht, und die Wachen zerrten mich in einen anderen Raum. In diesem herrschte eine beinahe kochende Hitze. Ein muskulöser Mann bediente die Blasebälge am Feuer, während ein junger Diener Brandeisen zur Feuerstelle brachte und über die Kohlen legte. Ein weiterer Arbeiter – eine Art Schmied – hämmerte über seinem Schmiedefeuer auf ein Metallstück ein, um ihm eine bestimmte Form zu verleihen.
Die Wächter legten mich bäuchlings auf den runden Tisch in der Mitte des Raumes. Hände zerrten an der Kleidung, die ich am Körper trug und die ohnehin nur noch aus Lumpen bestand.
Der Schmied griff nach dem Brandeisen auf der Feuerstelle und hob es hoch, wobei er sein rot glühendes Ende anblickte. »Dies ist für die Brust gedacht, nehme ich an«, sagte er.
»Ja«, antwortete Artephius. »Beeile dich.«
Der Schmied warf dem Alchimisten einen scharfen Blick zu. Er kam zu mir herüber, drehte mich auf die Seite und zog die Überreste meines Hemdes auseinander. »Dann mal los«, murmelte er und drückte das Brandeisen gegen eine Stelle unterhalb meiner Kehle. Der brennende Schmerz überraschte mich, aber ich hielt den Atem an, als er das Brandeisen dort festhielt. Ich roch den Gestank meines eigenen verbrannten Fleisches.
Dann nahm er das Brandeisen wieder fort und warf es in einen Kübel voller Wasser. Es zischte, als der Dampf aus dem Kübel aufstieg. Ein anderes Brandeisen, das kleiner aussah, wurde aus den Kohlen gezogen. Dieses wurde mir auf meinen rechten Oberschenkel gepresst und eine ganze Minute dort festgehalten, bevor man es wieder entfernte.
Ich wurde auf die Beine gezogen.
»Auf deiner Brust trägst du nun das Mal der Scheibe«, sagte Artephius, »und auf deinem Schenkel eine Markierung, die besagt, dass du mein Eigentum bist. Sie besitzt die Form des Buchstabens Aleph, der vom Bild eines Skorpions durchbrochen wird. Denn diesem wirst du dich heute gegenübersehen, so wie viele von deinem Stamm sich ihm bereits gegenübergesehen haben. So auch deine Freundin Kiya, und zwar für insgesamt sieben Nächte in einem Zeitraum von vier Jahren. Sieben Nächte werden ausreichen, um sie zu einer Mom zu machen, Aleric. Einige von euch benötigen zehn oder zwölf. Aber ihre siebente Nacht ist bereits sehr nahe. Bald wird sie ihre Runden über den Türmen der Stadt drehen und nur noch meine Stimme sowie die der Myrrydanai-Priester vernehmen. Dein Freund Ewen wird schwerer zu brechen sein. Aus seinem Blut habe ich eine starke Essenz herausgefiltert. Du hast ihm den Heiligen Kuss des Lebens gegeben. Er hat dein Blut getrunken, das über besondere Eigenschaften verfügt – ja, ich habe während unserer nächtlichen Transfusionen einen großen Teil davon genommen. Er musste sich dem Skorpion einmal stellen, und nun sitzt er in dem Stuhl der Destillation. Doch dein Blut unterscheidet sich von dem Blut deiner Geschwister, Falke. Dein Blut ist feiner. Du wirst ebenfalls schwer zu brechen sein. Aber du wirst gebrochen werden, so wie es auch schon mit allen Mitgliedern deines Stammes vor dir geschehen ist.«
Ich spuckte ihm ins Gesicht, indem ich gegen meine Fesseln ankämpfte.
Dann spürte ich einen Schlag gegen meinen Hinterkopf – der Schmerz ließ mich ohnmächtig werden.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Korridor voller Spiegel.
Allein.
 
Weder meine Hände noch meine Füße waren zusammengebunden, wenngleich das Silber an ihnen verblieben war, um mich zu schwächen.
Warum war ich hier? Warum hatte Artephius mich zu einem Spiegel gebracht?
»Wir sind für Spiegel unsichtbar«, sagte ich laut, da ich dachte, dass ich gut zu hören wäre. Es lag an dem Silber hinter dem Glas des Spiegels, das uns nicht reflektierte. Dies war mir gesagt worden.
Doch als ich den Spiegel vor mir ansah, begann ich eine verschwommene Bewegung darin wahrzunehmen. War dies eine Vorbereitung auf meine Folter? War dies Alchimie?
Das Spiegelsilber bewegte sich wie ein wirbelnder Mahlstrom, und sein Glanz erwies sich als zu stark für meine Augen. Aber sehr bald kam das flüssige Glas wieder zur Ruhe. Ich erblickte das, was die Angehörigen meines Stammes in Spiegeln sehen, und begriff, warum wir sie nicht ansehen sollten. Ich sah mich selbst, aber nicht als jungen Mann mit der blassen Schönheit der Jugend und der Vampyre. Stattdessen erblickte ich jenes schreckliche Wesen unter meinem Fleische – den Leichnam des Soldaten, der Jahre zuvor in einem Turm in Hedammu durch die Hand der Pythia gestorben war, die von mir getrunken hatte. Mein vergilbter Schädel bohrte sich durch eine lederartige, zerrissene Haut. Zerschmetterte und verdrehte Knochen ragten aus dem feinen Kittel und den Kniehosen heraus, die ich in jener Nacht getragen hatte. Ich betrachtete mein totes, unbegrabenes Selbst. Glänzende schwarze Käfer setzten das, was davon noch übrig war, in Bewegung, und die Maden der Zeit, deren Farbe sich unaufhörlich von Weiß in Braun verwandelte, bildeten eine neue Haut aus ihren glatten Formen, während sie den restlichen Knorpel zerfraßen, der die Knochen mit den Gelenken und den Schädel mit der Wirbelsäule verband.
Reichte dies aus, um einen Vampyr in den Wahnsinn zu treiben? Sich an seinen Tod zu erinnern, das wahre Selbst zu sehen, das unter dem Glanz unseres Stammes noch vorhanden war, jener unsterblichen Schönheit, die die Kosmetik des Grabes auf dem verrottenden Leichnam war? Befand ich mich dort, in jenem zerfließenden Quecksilber, oder befand ich mich hier, in diesem Fleisch, das ich ansehen mochte, an meinen Händen und Armen, um sagen zu können: »Nein, dies hier ist die Wahrheit. Das Spiegelbild ist eine Lüge.«
Hinter mir, als hätten sie die Halle mit mir betreten, erblickte ich all jene, von denen ich getrunken und die ich in meiner Gier getötet hatte. Dort waren sie. Von der ersten jungen Frau, die nach meiner vampyrischen Geburt in meinem Grab an mich gefesselt worden war, bis hin zu den Bediensteten des Alchimisten, die ihren Lebenssaft hingegeben hatten, damit ich für die Foltern und Spiele dieses Wahnsinnigen wiederbelebt werden konnte. Ihre Anzahl ging in die Hunderte, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, von so vielen getrunken zu haben, und auch den Überblick über die hübschen jungen Dinger verloren hatte, die ich an die Schwelle des Todes gebracht hatte. Ich sah ihre Wunden, die nicht geheilt waren, überall an Kehlen, Armen und Schultern, wo meine Zähne ihr Fleisch zerrissen hatten.
Als ich dies in dem Spiegel erblickte, spürte ich den altbekannten Schmerz, der durch das Silber hervorgerufen wurde. Vielleicht entsprachen die Legenden der Wahrheit, dass Sterbliche Vampyre nicht im Spiegel sehen konnten, aber ich hatte das Geheimnis des Silbers selbst herausgefunden – das Geheimnis seiner reflektierenden Natur. Es zeigte uns so, wie wir wirklich waren. Als die Ungeheuer, zu denen wir geworden waren – und das waren nicht Sukkubus und Inkubus, wie sie in den Träumen von Menschen auftauchten, sondern die Untoten, die im Fleische auferstanden waren, in einer Farce des ewigen Lebens.
Das Quecksilber bewegte sich in dem Glas erneut, und die Gesichter verschwanden. Die Schichten meines eigenen Schädels, meiner lederartigen Haut und meiner Knochen zerrissen, als wären sie verschlissen.
Jemand anders befand sich dort im Spiegel, der mich anstarrte. Es war weder ein Leichnam noch mein eigenes Antlitz, sondern der Priester des Blutes, Merod Al-Kamr.
Sein Gesicht war wutverzerrt, und er verhöhnte mich, indem er auf mich zeigte, als wollte er mich verfluchen. »Du hast zu lange gewartet! Glaube nicht den Lügen des Spiegels, Falkner. Erliege nicht diesen Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, die dir und deinen Geschwistern gesandt wurden. Der Tod ist die Illusion, und der verrottende Leichnam ist die Lüge. Du bist die Wahrheit. Spiegelbilder und Schatten liefern bestenfalls eine Halbwahrheit. Warum hast du mich nicht angehört? Ich bin in Visionen zu dir gekommen, und du hast mich ignoriert.« Er stand da, wie er es beim letzten Mal getan hatte, als ich ihn gesehen hatte – mit geschorenem Schädel, die Augen wie lichtdurchlässige schwarze Kugeln, hinter denen leuchtend rotes Blut pulsierte. Eine blaue Robe war um seine Schenkel geschlungen und um seine Füße drapiert. Seine Brust zeigte Tätowierungen, die von der Geschichte der Vampyre und der Priester der Medhya erzählten. Seine Flügel, die größer waren, als ich sie je bei einem anderen Vampyr gesehen hatte, breiteten sich lang und prächtig wie ein wogender Umhang hinter ihm aus.
»Wie kommst du... hierher?«, fragte ich.
»Ich bin in deinem Inneren, Maz-Sherah«, antwortete er, und der Zorn auf seinem Gesicht schwand, während er sprach. »Denn da du mich verschlungen hast, wohne ich in dir. Aber da gibt es Zeremonien, die du vollziehen musst. Der Winter nähert sich zu rasch, und der Alchimist weiß, dass dir nur noch wenige Nächte bleiben, um die heiligen Gegenstände für diese Zeremonien zusammenzutragen.«
Als er dies aussprach, löste sich das Spiegelbild auf, und ich erblickte erneut jene Vision, die mich von dem ersten Moment an heimgesucht hatte, da ich Merod in seiner Grabstätte in Alkemara wieder zum Leben erweckt hatte:
Da war Merod mit dem Stab der Nahhashim in der Hand.
Hinter ihm stand ein Steinaltar.
Eine Jungfrau lag auf dem Altar, die Ellbogen aufgestützt. Sie sah mich an, und ihr Gesicht war mit einer schrecklichen Goldmaske bedeckt. Auf der Maske war das Gesicht von Datbathani zu sehen, in deren Haar Schlangen geflochten waren. Es war die Schlangengöttin, die von unserem Stamm »Herrin der Schlangen« genannt wird.
»Unsterblichkeit ist kein Geschenk«, sagte Merod. »Es handelt sich dabei um eine heilige Verpflichtung, selbst der Beute gegenüber. Ein Opfer muss gebracht werden. Eine Buße für die Göttin unseres Stammes. Wir können die kommenden Kriege nicht vermeiden, wenn wir zurückkehren, um jene zu bekämpfen, die uns zu vernichten wünschen. Diejenigen, die die Erde verfinstem wollen, haben den Weg zum Altar bereits gefunden. Die Zeichen sind da, Maz-Sherah. Die Omen des Großen Übergangs sind da. Du bist dazu geboren. Es ist dein Schicksal, hier deinen Platz einzunehmen. Hebe den Stab der Nahhashim auf. Finde das Schwert des Feuers. Hole die Maske aus dem Land, in das meine Tochter floh, in der Ferne jenseits des Meeres, jenseits des Weltenrandes. Dort gibt es Vampyre unserer Stämme, solche, die älter sind als selbst die der medhyanischen Linie. Vielleicht ist der Jungfrau der Naturkräfte nicht zu trauen, aber du brauchst sie. Letztlich, Falkner, sind wir nichts anderes als Tore, die sich vor der Dunklen Madonna, Medhya, schließen müssen, die diese Welt niemals in Fleisch oder Blut betreten darf. Sie ist der Wahnsinn der Vernichtung, und nur du vermagst es möglicherweise, die Zeremonien zu vollziehen, welche eine Macht entfesseln werden, die stark genug ist, um sie aufzuhalten. Stark genug, um gegen ihre Anhängerschaft, ihre Bluthunde und Schatten vorzugehen. Du wurdest nicht geboren, um ein Leben wie andere Menschen zu führen. Und du kehrtest auch nicht vom Tode zurück, um so wie andere Vampyre zu sein. Du bist die Hoffnung für die Unsterblichen und die Sterblichen.« Dann sprach er mit erhobener Hand eine Warnung aus. »Du wirst hier gefoltert werden. Du wirst diese Qualen erdulden, die auch andere schon erlitten haben. Du musst deine Willenskraft einsetzen und kämpfen, um dies zu überleben. Du musst die Maske der Gorgo finden, und zwar in dem Land, das im Westen liegt, jenseits des Meeresufers. Du wirst sie erkennen, wenn du spürst, dass der Strom stark wird. Dort musst du Pythia finden und ihr die Maske abnehmen. Du musst wieder in den Besitz des Stabes gelangen und das Schwert finden. All dies musst du tun. All dies, denn du hast zu lange in deinen Gefängnissen geschmachtet, Maz-Sherah. Die Zeremonien des Stammes müssen vollzogen werden.«
»Worum handelt es sich bei diesen Zeremonien, von denen du sprichst? Wie kann ich wissen, wie ihre Rituale durchzuführen sind?«
»Diese heiligen Gegenstände werden es dir mitteilen«, antwortete er. »Du musst sie in deinen Besitz bringen. Zur Zeit der Sonnenwende ist der Schleier am schwächsten. Du musst diese Fesseln überwinden, Maz-Sherah. Du musst das Silber selbst bekämpfen, denn du hast keine andere Wahl. Heile den Schleier innerhalb eines Monats. Heile den Schleier und halte Medhya davon ab, die Welt der Menschen zu betreten.«
Der Altar löste sich auf, ebenso wie die junge Frau mit der Maske und Merod selbst. Sie alle wurden zu flüssigem Silber unterhalb der Oberfläche des Spiegels.
Erneut sah ich mein totes Selbst, das mich anstarrte. Die Gebeine und das verrottende Fleisch der Toten. Die Lügen des Spiegels. Die Wahrheit über den, der ich einst gewesen war. Da wandte ich mich ab. Ich ging den Korridor entlang, indem ich einen Blick in die anderen Spiegel vermied.
Am anderen Ende des Korridors öffnete sich eine Tür. Ein Wächter, der im Türeingang stand, führte mich in den nächsten Raum. Auch hier gab es wieder die Greifhaken, die von der niedrigen Decke herabhingen, sowie den Gestank verrottenden Fleisches und trocknenden Blutes. Männer, die die Maske von Folterern trugen, standen hier und bedienten die Maschinerie der Qualen, um zahlreiche sündige Menschen zu martern, deren Stöhnen und Schreien in der langen Kammer widerhallte. Ich spürte an meinen Handgelenken den Schmerz durch das Silber. Merod, du musst mir helfen. Wie überwinde ich das Silber? Wie kämpfe ich ohne meine Kraft? Wie entfalte ich meine Flügel, wenn ich durch dieses Metall zurückgehalten werde?
Ich erblickte den Roten Skorpion – seinen Stuhl, der aus Knochen und Leder bestand. Auch seine Klauen aus blankem Metall sah ich. Die Räder und Zahnräder hinter ihm drehten sich langsam, als wollte er mit seinem mechanischen Tanz beginnen, noch bevor ich auf ihm saß. An seinem Oberteil gab es einen Streifen aus Silber, der einem Heiligenschein ähnelte und dazu gedacht war, dem Vampyr um den Kopf gebunden zu werden. Wachen schnallten mich in dem Stuhl fest und befestigten meine Handgelenke und Beine an der Maschine.
Als die Klauen des Roten Skorpions einrasteten und mein Gesicht bedeckten, während ihre Scherenspitzen über meinen Augen und meinen Nasenlöchern schwebten, beugte sich Artephius zu mir und flüsterte: »Ihr seid Ungeheuer. Doch in euch tragt ihr die Geheimnisse um Jugend und Leben. Dein Leib und dein Blut werden der Baronin selbst ewiges Leben bescheren. Deine Essenz wird meinen Knochen Fleisch bringen. Denn dazu wurdest du erschaffen, Maz-Sherah.« Er zog sich wieder zurück. Indem er den Folterern einen Blick zuwarf, sagte er: »Seine Qualen bereiten mir kein Vergnügen. Entzieht ihm die Essenz. Häutet ihn. Und dann übergebt ihn wieder mir, bevor der Morgen anbricht, so dass ich seine Wunden heilen kann.«
Ich beobachtete, wie er durch einen gewölbten Torbogen schritt, begleitet von seinen Wachen.
Dann hörte ich ein Summen, das sich anhörte, als stammte es von einem Schwarm aus tausend Fliegen, sowie das Rasseln und Klacken von knarrenden Ketten. Ich spürte, wie sich nadelscharfe Spitzen langsam in meinen Leib zu bohren begannen. Winzige Röhrchen aus Glas entzogen mir das Blut und führten meinem Körper den Saft der Sang-Fleur zu. So spürte ich den Wahn des Schleiers, wusste aber auch, dass in nur wenigen Augenblicken meine Haut vom Gesicht gezogen, meine Augen durchbohrt und meine Nasenlöcher erforscht werden würden, und zwar bis hinauf zu der Knochenplatte, die mein Gehirn vor den Stachelfingern des Roten Skorpions und vor Artephius’ Untersuchungen meines Körpers und Blutes schützte.
Ich vernahm eine Reihe von krachenden Geräuschen, wie von den Kiefern irgendeiner Kreatur, die über ihre Beute herfällt. Die mechanischen Klauen bewegten sich auf mein Gesicht zu, mit ihren Scheren, die scharf wie Messer waren und sich meinen Augen näherten.
Ich spürte das Reißen der Scheren, als mir die Maschine die Haut von der Brust zu schneiden begann und Glasröhren mit geschärften Spitzen sich in meinen Leib bohrten, um mir mein Blut zu entziehen. Das Knirschen der Räder und Zahnräder wurde immer lauter, bis ich außer der Höllenmaschine nichts mehr hörte.
In diesem Augenblick gab ich jegliche Hoffnung auf.
Zwei dünne Lanzetten, die über meinen Augen schwebten, bewegten sich langsam, Zoll für Zoll, auf ihre Ziele zu, während ich die Berührung anderer Scheren an meinen Lippen spürte.
Ich konnte mich nicht auf die Wachen oder Artephius konzentrieren, die zusahen.
Das Ende meiner Existenz würde hier beginnen, in diesem Roten Skorpion, mit blutbespritzten Wänden, meinem durch diese Messer und Scheren zerstörten Sehvermögen und meiner abgezogenen Haut.
Es ist vorbei, dachte ich. Es ist vorbei.
Und dann hielt die Maschine an, eine Haaresbreite, bevor die Lanzetten meine Augen durchbohrt hätten.