11
Er zog mir die Quecksilberkugel aus dem Herzen
und nahm mir die Fessel vom Hals. Die Fesseln an meinen
Handgelenken und Knöcheln nahm er mir allerdings nicht ab. Dann
fuhr er fort: »Du musst dich vorbereiten, denn du machst uns ein
großes Geschenk. Wir möchten nicht, dass du schwach bist. Wie in
jener Vorführung, letzte Nacht in der Arena. Mir gefällt diese Art
von unnötigem Schaden nicht. Dein Blut ist wichtig für mich, und
als ich sah, wie es auf dem Boden der Arena vergossen wurde... oh,
das schmerzte mich. Du musst trinken.« Er gab den Wachtposten ein
Zeichen, woraufhin sie eine junge Frau hereinbrachten, die nicht
älter als neunzehn Jahre war. Sie war mit einer verdreckten Tunika
bekleidet, ihr Haar sah wie ein verfilztes Vogelnest aus. »Sie wird
genügen. Trinke dich gründlich an ihr satt.« Er nahm die Hand der
jungen Frau. Obwohl sie sich gegen ihn wehrte, brachte er sie zu
mir.
»Ich bin gar nicht durstig«, entgegnete ich und
blickte mich im Raum um. Er enthielt mehrere Bücher und
Schriftstücke. Sein Studierzimmer. Zu jener
Zeit hatte ich noch nicht viele Bücher zu Gesicht bekommen, obwohl
ich von den Manuskripten der Mönche und dem Zauberbuch der Magier
gehört hatte. Hierbei handelte es sich um seine Zauberbücher. Seine
Weisheit war in ihre Seiten eingeschlossen. Auf einem Sockel in der
Mitte des Raumes lag ein dickes Buch, das mit einem hellen
Ledereinband mit Prägung ausgestattet war. Silberkordeln hielten es
geschlossen.
»Ist das deine Magie?«, fragte ich mit einer
Kopfbewegung in Richtung des Buches.
Er warf einen Blick darauf. »Du interessierst dich
für Alchimie?«
Ich beantwortete seine Frage nicht, sondern blickte
die junge Frau neben mir an. »Bring sie fort. Ich werde nichts
trinken.«
»Du benötigst aber Blut. Du bist schwach.«
Ich hielt meine mit Silber gefesselten Handgelenke
in die Höhe. »Entferne sie, und ich werde nicht mehr so schwach
sein.«
»Es ist dein Blut, das stark sein muss, nicht dein
Leib.« »Zeig mir dein Gesicht, dann werde ich von ihr trinken«,
erwiderte ich.
Die junge Frau wimmerte, als sie diese Worte
vernahm, und rannte zur Tür. Ein Wächter packte sie am Arm und
zerrte sie in die Kammer zurück.
»Mein Gesicht ist für dich nicht von Interesse«,
erklärte Artephius.
»Ich will das Gesicht des Mannes sehen, der mich
vernichten wird.«
Er trat nahe an mich heran.
Ich sah den Helm mit dem Visier an. »Alles, was ich
von dir kenne, ist diese metallene Maske.«
»Ich werde dir diese Bitte gewähren, wenn du von
ihr trinkst.«
Ich nickte.
Rasch schickte er die Wächter aus seinem Raum, die
die junge Frau mitnahmen. Die Tür wurde geschlossen und
abgesperrt.
Er griff zu seinem Visier hinauf und nahm es von
dem Unterteil des Helmes ab.
Ich keuchte auf, als ich das Gesicht des großen
Alchimisten erblickte, der Alkemara gestürzt und Merods Grabkammer
eigenhändig konstruiert hatte.
Sein Gesicht unter dem Helm bestand aus nicht mehr
als einem Schädel, der in dünne Streifen aus Stoff gewickelt war,
als reichten diese als Fleisch aus. Seine Augen lagen tief in
seinem Schädel, und Strähnen aus flachsfarbenem Haar drangen durch
den dünnen Stoff, der irgendwie auf den graubraunen Schädel geklebt
worden war. Sein lippenloser Mund teilte sich und sagte:
»Unsterblichkeit ohne Jugend. Das habe ich von den Geheimnissen,
die aus Alkemara gestohlen wurden. Das ist es, was mir Pythia durch
ihre Liebe brachte, Falke. Sieh mich an, und wisse, was du ohne den
Zauber deines Stammes wärest! Er schloss das Visier wieder und
lachte über den Ausdruck auf meinem Gesicht. »Wir haben hier eine
Stunde Zeit, bevor ich dich auf deine nächtliche Reise schicken
muss. Ich hasse dich nicht, Falke. Weit gefehlt. Ich verstehe dich.
Du hast Furcht und Größe in dir. Du bist ein Wesen, das auf diese
Art zu studieren ich mir viele Jahre lang gewünscht habe. Ich würde
noch viel mehr mit dir teilen, wenn ich könnte, mein Junge. Heute
Nacht werde ich dir das erzählen, was zu wissen du ersehnst.«
Und dann erzählte er mir, wie er unsterblich
geworden war.
»Ich wurde, kleiner Falke, in einem Land geboren,
das weit entfernt liegt, in einer Zivilisation, die blühte und
gedieh und von Weisheit und Wissen erfüllt war, lange bevor sich
diese barbarischen Königreiche entwickelten, und auch bevor deine
Vorfahren von den Römern geschändet und abgeschlachtet wurden,
bevor selbst Rom entstand; und in dem fruchtbaren
Tal, in dem ich geboren wurde, waren wir die Herren der Welt. Ich
war der Sohn einer Tempelpriesterin. Als ich neun Jahre alt war,
wurde ich zu den Priestern eines Gottes geschickt, der aus einer
Lüge bestand, wie ich in diesem Alter bereits wusste. Denn ich
hatte die Tricks und Kniffe gesehen, die meine Mutter und die
anderen Priesterinnen vorführten, um die Wunder der Gottheiten zu
zeigen. Dennoch war ich klug genug, um nichts darüber zu sagen, als
die älteren Priester meine Kenntnisse über göttliche
Angelegenheiten und die heiligen Künste des Landes prüften. Meine
Mutter hatte mich auf diese Prüfungen vorbereitet, da sie selbst
einem Leben entflohen war, das aus Schinderei bestanden hatte. Die
meisten Menschen unseres Landes konnten diesem Schicksal nicht
entrinnen, und viele von ihnen waren Bedienstete der königlichen
Familie. Nur wenige besaßen selbst Macht. Meine Umrgroßtante war
einst Königin dieses Landes gewesen, doch als ihr Ehemann ihre
Untreue entdeckte, wurde sie lebendig begraben – ebenso wie viele
meiner Verwandten. Aber diejenigen, die sich versteckt hielten,
sprachen niemals außerhalb der Feuerstelle der Familie von ihrer
Schmach, und auch dort nur im Flüsterton. Doch ich war von
königlichem Blute, und meine Mutter und ich hatten beide die
Absicht, dem Überfluss der Wohlhabenden so nahe zu kommen, wie wir
nur konnten.
In meiner Jugend war die Hingabe an die Götter für
einen Priester oder eine Priesterin der bevorzugte Aufgabenbereich,
und viele konnten sich glücklich schätzen, zu dieser Arbeit
bestimmt zu sein. Es war unsere Aufgabe, Tag und Nacht die Riten zu
befolgen, die von den Göttern festgelegt wurden. Wir arbeiteten in
Tempeln, die großartiger waren als diese düsteren
und trostlosen Schlösser und tausend Mal schöner als irgendeine
Kathedrale der Christenheit.
Wie ich bereits erzählte, wurde ich von den
Priestem eines bestimmten Gottes geprüft. Meine Mutter bestach den
Anführer einer Bande von Grabräubem, mich in ein besonderes Grab zu
schmuggeln, das inmitten der Grabstätten der großen Könige meines
Landes lag. In diesem Grab hatten die Räuber einen großen Teil
ihrer Schätze gelagert, und an den Wänden war über zahlreiche
Leagues die Geschichte des Gottes niedergeschrieben. Dies erschien
mir wie ein Wunder. Ich hatte Gefallen am Lernen gefunden und
konnte die Bildworte lesen, die beinahe dreihundert oder sogar noch
mehr Jahre vor meiner Geburt dort eingeritzt worden waren. Dort
verbrachte ich die ganze Nacht mit einer Fackel in der Hand und las
von dem Land der Toten. Dieser Gott war der Herr der Toten, und
seine zahlreichen Geheimnisse standen überall in dem Labyrinth aus
Räumen an den Wänden.
Doch als ich schließlich in jenen Raum gelangte, in
dem der König, seine Familie und sein Hofstaat ruhten, da war ich
sogar noch aufgeregter. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass
ich eine ganz besondere Art von Priester werden wollte.
Denn in diesem Raum befanden sich Gefäße, die mit
Organen gefüllt waren, welche man sorgsam in Salz eingelegt und
eingewickelt hatte, während in der Gruft, die für den König, seine
Frau, seine Bediensteten und sogar die Katzen und Schakale bestimmt
war, die Leichname in Stoff eingehüllt und behandelt worden waren,
um sie zu konservieren. Ich wickelte einen der jüngeren Diener aus
und erkannte trotz seines Alters, das Hunderte von Jahren betrug,
das Gesicht eines Knaben, der mir nicht unähnlich war.
Als ich am Morgen zu meinen Prüfungen ging,
stellten mir die Priester tausend Fragen. Es hieß, dass die Kinder,
die von den Göttern am meisten geliebt würden, von geheimem Wissen
erzählten. Doch in meinem Fall bekamen die Priester mehr zu hören,
als sie gedacht hatten. Ich konnte einen großen Teil dessen
vortragen, was ich in der vorangegangenen Nacht gelesen hatte. Und
noch mehr als das: Ich kannte sogar die Todesblüte, mit der die
Leichname ausgestopft worden waren, sowie die Gestalt der Gefäße
für die verschiedenen Organe des Leibes. Ich kannte die Sterne am
Himmel, die den Eingang in das Reich der höheren Götter
beschrieben, ebenso wie die Orte der Erde, an denen der Durchgang
in die Unterwelt begann. Denn auch diese waren an den Wänden der
Grabstätte markiert worden. Und ich verkündete Prophezeiungen,
welche nur diese Priesterschaft kennen konnte, denn selbst die
Grabräuber in der Gruft waren nicht gelehrt worden, die Bildworte
zu entziffern.
Und so begann meine Ausbildung. Hauptsächlich
beschäftigte ich mich mit dem Wissen über die letzten Tage der
königlichen Familie, darüber, welche Vorbereitungen ich dafür zu
treffen hatte, wie die Leiber gereinigt wurden, was für die lange
Reise ins Jenseits für sie bereitgelegt werden musste, wie das Hirn
durch die Nase gezogen wurde und wie das Herz auch beim Einlegen in
Salz frisch und prall gehalten werden konnte. Ich wuchs auf, um ein
Priester meines Landes zu werden, und fand heraus, dass ich
außerdem ein Talent für Erfindungen besaß. Denn ich begann mit den
Architekten zu arbeiten, die die Gruft meines Königs erbaut hatten,
und ich ersann Methoden, um Grabräuber am Eindringen zu hindern und
die Schätze so zu verstecken, dass sie nicht gefunden werden
konnten. Ich stieg im Rang auf und lebte bald im Palast selbst,
inmitten jener Priester und Berater, bei denen es sich um die
engsten Vertrauten des Königs handelte. Von denjenigen, die den
Himmel beobachteten, lernte ich nicht nur den Einfluss der Sterne
auf unser Leben, sondern auch, wie man die Richtung und Entfernung
misst. Von den Baumeistern lernte ich weitere Dinge über Gebäude
und Konstruktion. Wir leben in ignoranten Zeiten, Falke, und das
ist bereits seit Jahrhunderten so – denn in jenen Tagen bereisten
unsere Forscher die Welt und wussten viel über die Dinge, die von
den Ländern des Westens erst noch wiederentdeckt werden müssen.
Unsere Forscher überquerten den Ozean, und diejenigen, welche diese
Reise überlebten, kehrten mit ganz unvergleichlichen Reichtümern
zurück. Sie brachten nicht nur Gold mit, sondern auch Farben, Tiere
und Pflanzen, von denen wir viele nie zuvor gesehen hatten. Es war
ein großartiges Leben für einen jungen Mann, der ohne große
Aussichten auf Erfolg in diese Welt hineingeboren worden war. Ich
kann dir sagen, ich pries meine Mutter oft für ihren Weitblick, da
sie mich die Bilder zu lesen und ihre Bedeutung zu verstehen
gelehrt hatte.
In einer Trockenzeit stand die Frau des Königs an
der Schwelle des Todes, und ich wurde gebeten, mit ihr über den
Herrn der Toten zu sprechen, um sie auf ihr Schicksal durch seine
Hand vorzubereiten. Doch als ich ihr begegnete, erkannte ich, dass
sie dem Tode überhaupt nicht nahe war – sie litt bloß an Schwermut
und war des Lebens überdrüssig. Wir verliebten uns, oder besser:
Ich verliebte mich. Da ich allerdings begriff, dass mein Tod mit
dem Tode meiner Schwestern und meiner Mutter einhergehen würde,
falls ich in den Armen der Königin entdeckt werden sollte, schickte
ich nach Giftmischern,
um ihre Kunst zu erlernen. Ich beabsichtigte, den König und seine
Kinder zu ermorden, so dass meine Geliebte an der Stelle ihres
Mannes zur Herrscherin werden würde, wie es bereits mehr als einmal
zuvor geschehen war. Dies waren meine Pläne. Bedenke, ich war
damals nicht viel älter als du, als dir dein Leben genommen wurde.
Ich verstand die Welt oder die Folgen solch schrecklicher
Entscheidungen nicht.
Aber all meine Pläne wurden von meiner Geliebten
selbst vereitelt. Sie entschloss sich, den König zu warnen, und wir
wurden beide verhaftet. Sehr bald sollten wir eingesperrt werden,
und zwar in genau jene Gruft, die ich selbst entworfen hatte.
Noch schlimmer aber war die Tatsache, dass wir
nicht in der Grabkammer getötet, sondern dort eingeschlossen werden
sollten. Wir sollten dem Durst und Hunger überlassen werden, bis
unser letztes Stündlein geschlagen hätte. Ich liebte sie
wahrhaftig, mein Freund. Ich liebte sie wie niemanden sonst. Wir
sprachen über die Götter, obwohl ich selbst damals nicht an deren
Existenz glaubte. Aber ich schwor ihr, dass ich sie von diesem Ort
fortbringen würde. Ich schwor ihr, dass wir entkommen und zusammen
im Exil leben würden, bis zum Ende der Zeit. Und sie glaubte mir.
Wahrscheinlich glaubte ich selbst diese Worte. Ich sagte zu ihr,
wenn ich den Hauptraum ausfindig machen könnte, von dem aus ich den
Weg nach draußen finden konnte – denn ein solcher wurde in jede
große Grabstätte eingebaut, nachdem ein Baumeister versehentlich in
seinem eigenen Bau eingeschlossen und erst Jahre später
wiedergefunden worden war, also lange nachdem der König zu Grabe
getragen wurde -, so würde ich zu ihr zurückkehren und sie
retten.
Als ich den Hauptraum dann fand – eine kleine
Kammer, kaum groß genug für einen Mann – und den Weg nach oben und
nach draußen ins Tageslicht erblickte, war ich furchtbar durstig.
Da kam mir der Gedanke, ich sollte bloß nach draußen gehen, um
etwas Wasser zu holen, und dann mit Nahrung und Wasser zu ihr
zurückkehren. Dann würde sie sich wieder erholen, so dass wir
daraufhin fliehen könnten. Ich hätte umkehren, sie suchen und zu
jenem Raum bringen sollen, aber ich nehme an, mein eigener Durst
war mir wichtiger als ihr Leben. Als ich nämlich hinausgelangt war
und das Tageslicht erblickte, kroch ich an dem Graben der
Grabstätte entlang und stürzte vor Erschöpfung ab.
Als ich erwachte, war es beinahe Abend. Ein
Arbeiter von den Grabstätten hatte bereits damit begonnen, mir mit
Honig gesüßtes Wasser in die Kehle zu träufeln. Ich hatte große
Angst um meine Liebste und kehrte, sobald ich in jener Nacht
genügend Kräfte gesammelt hatte, zu den Grabstätten zurück – wo ich
allerdings entdecken musste, dass sie den Tod bereits gefunden
hatte. Bevor sie starb, hatte sie noch versucht, ihr eigenes Blut
zu trinken, um Feuchtigkeit aufzunehmen, und dann hatte sie die
Klinge zu tief und zu oft ins Fleisch gegraben, um sich von ihren
Verletzungen noch erholen zu können.
Ich nehme an, dass ich in diesem Augenblick
wahnsinnig wurde. Nun begann ich, durch die Welt zu ziehen. Ich
lebte als Bettler, und viele Menschen hatten Mitleid mit mir. Ein
Lehrer auf einer ägäischen Insel nahm mich auf. Er lebte dort im
Exil und arbeitete bei dem König des Landes, indem er Arenen und
Tempel baute, die mit besonderen geheimen Durchgängen und
ungewöhnlichen Eingängen ausgestattet waren. Wie ich, so hatte auch
er zahlreiche Geräte gebaut, und er
hatte einen Architekturstil entwickelt, der vollkommen auf den
Sternbildern und ihrer Stellung zueinander basierte. Ich verbrachte
zwanzig Jahre mit meiner Arbeit bei ihm, wobei ich die ganze Zeit
sein Lehrling war, denn ich verspürte kein Bedürfnis nach einer
besseren Stellung. Es war während dieses Aufenthaltes, dass ich
durch ihn von jener Essenz der Unsterblichkeit erfuhr, die überall
um uns herum existiert, auch wenn nur wenige ihre Kraft nutzbar
machen.
Er lehrte mich einiges über den Schleier, den auch
du kennst. Seine Bezeichnung dafür lautete Glückshaube, und er erklärte, dass seine Membran
überall um uns herum existiere und wir ihn dennoch nur durch eine
Änderung in unserem Geist erleben könnten. Er brachte mir Dinge
über das Gehirn bei, indem er das Hirn eines toten Mannes
verwendete, um mir sein Äußeres zu zeigen. Er lehrte mich, an
welcher Stelle der Tod dem Hirn eines Sterblichen innewohnt und wo
das ewige Leben in den Unsterblichen existiert – denn ja, er hatte
mehrere der Vampyre gefangen, die einst seine Insel heimgesucht
hatten. Als er starb – er wurde von einem seiner zahlreichen Feinde
ermordet -, setzte ich seine Arbeit und Forschung fort. Aber ich
wollte lieber die Quelle dieser bluttrinkenden Kreaturen finden,
statt nur die konservierten Überreste derjenigen, die er gefangen
hatte, zu verwenden, und dies bereits Jahre, bevor ich ihn
überhaupt kennen gelernt hatte. Er besaß keine Ehefrau und keine
Kinder und vererbte daher mir seinen Reichtum, der nach den
damaligen Maßstäben riesig war. Er hatte zu mir gesagt, ich sollte
den Tempel einer Stadt namens Pergamos aufsuchen. Also brach ich zu
jenem Ort auf, sobald ich imstande war, ein Schiff und Seeleute
anzuheuern. Ich überquerte Berge, um dorthin zu gelangen. Doch als
ich
diese Stadt fand, war ich darüber erschüttert, wie primitiv sie
auf mich wirkte.
Es schien so, als wäre ich in die Vergangenheit
zurückversetzt, da sämtliche Gebäude Lehmhütten waren und es keinen
König gab, keinen Herrscher über die Stadt. Stattdessen wimmelte es
dort von Vipern, die behandelt wurden, als handelte es sich bei
ihnen um kleine Götter. Eltern gestatteten es ihren Kindern, sich
viele Male von den Schlangen beißen zu lassen, und trotz der
Todesfälle, die dies zur Folge hatte, oder der vielen Jahre, in
denen sie krank waren, schien dies niemanden zu kümmern. Die Leute
hatten das Gefühl, all dies läge in den Händen des
Schicksals.
Es hieß auch, es gäbe eine Frau, die mit den
Schlangen sprach und mit ihrer Hilfe weissagte. Angeblich handelte
es sich bei ihr um einen Basilisken – eine Königin aus irgendeinem
Reich musste dies sein, die mit einem Blick Menschen töten konnte
und mehr eine Schlange als eine Frau war. Sie kam nach Einbruch der
Dunkelheit zu den Höhlen des Tempels, und man sagte, sie geleitete
einige zum Lande der Toten, während andere zurückkehrten, um von
ihren Prophezeiungen zu erzählen. Ich suchte sie nach Mitternacht
auf, da ich das Gefühl hatte, dass nur eines dieser Wesen mir die
Geheimnisse der Unsterblichkeit verraten könnte.
Sie war die Wahrsagerin einer Stadt, die auf einem
Schlangennest erbaut worden war.
Denn, weißt du, es gibt geheime Kenntnisse, die den
Sterblichen Unsterblichkeit verleihen, ohne dass sie den Tod
erleiden müssen, den du erleiden musstest. Ohne die bestialische
Natur, die in deinem Munde Fangzähne wachsen lässt, wenn dein Opfer
sich in deiner Nähe befindet. Ohne das Bedürfnis
danach, Blut zu trinken. Ohne die Flügel einer fliegenden Echse
auf deinem Rücken. Eure Art entstand tausend Jahre oder mehr noch,
bevor selbst ich geboren wurde, und ich bin schon mehr als tausend
Jahre alt. Doch ich entdeckte eine Quelle eurer Unsterblichkeit.
Und mit der Hilfe der Python, die mich sehr liebte, lebte ich
beinahe fünfhundert Jahre. Während dieser Zeit entwickelte ich
meine eigene Unsterblichkeit, ließ sie gedeihen, um sie eines Tages
vervollkommnen zu können.
Erst durch die Göttin, die nach deiner Vernichtung
trachtet, erlangte ich das notwendige Wissen. Sie war es, deine
Medhya, die mir etwas ins Ohr flüsterte, als ich von der giftigen
Blume des Schleiers trank. Und ich spürte die Klauen ihrer
Schatten, als sie sich mir näherten. Du weißt um jene andere Welt,
in der die Götter existieren, und um diese Welt, Falke. Aber weißt
du auch um die zahlreichen Welten, die es gibt, von denen die
meisten allen denen unbekannt sind, die die kurze Lebensspanne
gelebt haben, bei der es sich um das Schicksal der Sterblichen
handelt? Weißt du, dass es sich bei jenem Strom, den du zwischen
den Angehörigen deines Stammes spürst, einfach um eine Membran –
eine Glückshaube – handelt, die zwischen dir und allen
Unsterblichen gespannt ist? Sie erstreckt sich über die Membranen
der Menschen, der Tiere und der Pflanzen. Die Quelle von ihnen
allen ist diese eine, und alle stammen aus diesem Ursprung und sind
so miteinander verbunden.
Ja, ich weiß auch um euren Strom. Ich spüre ihn,
wenn er stark ist, und ich fühle die Nähe deines Stammes. Nun ist
er schwach, kaum mehr ein Tröpfeln, doch er existiert noch.
Ich bin weiter in den Strom vorgedrungen, Falke.
Ich kann ihn beherrschen. Ich kann ihn lenken. Er ist ein Strang,
an
dem ich zu ziehen vermag, oder eine Strömung, die ich an einem
Ende aufstauen kann, um am anderen Ende einen Teich zu
erschaffen.
Ich habe gelernt, wie man solche Veränderungen
gestaltet, kleiner Falke. Ich habe die Kunst der Schöpfung und
Vernichtung erlernt, indem ich die Glückshaube des Schleiers
verwende.«
»Und doch nutzt du dieses Wissen, um das Leben
selbst zu vernichten«, sagte ich.
»Und du etwa nicht?«, fragte er. »Du, der du den
Lebenssaft von Jungfrauen, Knaben und alten Männern trinkst? Es ist
nicht das Leben, das ich vernichte, Falke. Du wirst von deinen
eigenen Begierden geblendet. Ich strebe nach dem Wissen der Götter
höchstpersönlich. Du bist unsterblich. Ich kenne die Prophezeiung
über den Maz-Sherah, kleiner Falke. Ich las die Worte des Blutes
vor Jahrhunderten – Pythia selbst besaß sie, denn sie hatte sich an
die Instruktionen ihres Vaters gehalten, in denen er mitteilte, wo
er die flüsternden Grashalme gehört hatte, deren Ährenspitzen ihm
das Wissen um die großen Prophezeiungen des zu erwartenden Messias
gebracht hatten. Sie war es, die die Schriftrollen aus der Erde
ausgegraben und gebunden hat.« Er deutete auf das uralte Zauberbuch
auf dem Sockel. »Sie gab sie an mich weiter, und ich las von dem
Fluch der Medhya, den sie über ihre räuberischen Priester
ausgesprochen hatte. Doch da gab es noch andere Schriftrollen, die
von den Priestern von Myrryd genommen worden waren. Sie lagen
inmitten hoher Berge verborgen, unter der Erde vergraben. Ich
nutzte den Strom, um sie ausfindig zu machen, denn die Ursprünge
deines Volkes können gefunden werden, indem man
den Strängen der dünnsten Fäden folgt. Und durch das Wissen der
Myrrydanai...« Er schwieg einen Moment lang, als hätte er Angst,
geheimes Wissen zu verraten, das nicht für mich bestimmt war. Dann
sagte er: »Zeit bedeutete mir nichts, und mehrere Lebzeiten
verstrichen, bis mir bewusst wurde, dass ich ein Auslöser sein
konnte.«
»Dafür, Medhya herzubringen?«
»Dafür, allen Sterblichen Unsterblichkeit zu
bringen«, entgegnete er.
»Und aufgrund deiner Ideale«, erwiderte ich,
»sterben Tausende.«
»Sterbliche sterben immer zu Tausenden. Zu
Millionen. Was bedeuten schon diese Leben, wenn es darum geht,
Unsterblichkeit zu erschaffen? Ist es nicht das, was du jedes Mal
von deinem Opfer verlangst, wenn du das Blut von Sterblichen
trinkst?«, versetzte er. Dann befahl er den Wachen, zu uns
zurückzukehren.
Ich trank von der jungen Frau, die er für mich
vorgesehen hatte, bis sie ohnmächtig war, und hörte dann auf. »Ich
werde sie nicht zu meinem Vergnügen töten, wie ihr, du und deine
Baronin, es tut.« Ich hielt ihren Leib gegen den meinen gedrückt,
bis ein Soldat sie mir abnahm und mir erneut die Handgelenke
fesselte.
Dann ging Artephius dem Wächter voraus, der mich
durch die engen und feuchten Korridore in andere Räume zerrte, an
Soldaten und Schmieden vorbei. Währenddessen suchte ich nach einem
Zeichen von Calyx oder der jungen Frau, die ich in der Arena
getötet hatte. Aber es war außer den Wächtern niemand da, und diese
blickten mich an, als wäre ich für sie ein geringeres Geschöpf als
ein Tier auf dem Felde.
Schließlich erreichten wir einen langen, niedrigen
Raum, in dem Haken von der Decke hingen, als handelte es sich hier
um ein großes Schlachthaus. Stühle, Räder und Röhren säumten die
Wände. Zangen waren auf den Boden geworfen worden, und eine Wand
war zur Hälfte mit Blutflecken bedeckt. Ich wurde zu einem Opfer
gebracht, das in einem Stuhl saß und dessen Kopf nach unten hing,
als würde es herunterfallen, wäre es nicht daran festgebunden
gewesen.
In diesem Augenblick spürte ich, wie sich die
Qualen der Hölle in meine Seele einbrannten.
Das Gerät selbst bestand aus einem großen Rad, das
von einem flachen Holzblock ausging, der so aufgestellt worden war,
dass das Opfer darauf liegen konnte. Das Rad wurde von dem
Blutstrom des Opfers selbst angetrieben, wenn das Blut in die
langen Röhren schoss, so ähnlich wie ich sie einst in dem
Weinkeller innerhalb der Grabstätte des Priesters des Blutes
gesehen hatte. Wenn sich das Rad drehte, wurde das Opfer an den
Füßen in die Höhe gezogen, und eine Reihe von Flaschenzügen und
kleineren Rädern drehten sich und zogen es weiter nach oben, bis es
mit dem Kopf nach unten herabhing. Die Röhren, die an Kehle,
Oberschenkel und unter beiden Achselhöhlen angebracht waren, halfen
dabei, die Gegenwehr des Opfers so gering wie möglich zu halten. Zu
viele Bewegungen verursachten ein Zerbrechen des Glases, und dies
führte dann von selbst dazu, dass das Blut rasch herausschoss. Auf
diese Weise verlor der Vampyr seine gesamte Blutversorgung. Und
ebenso wie Sterbliche auf ihr Blut angewiesen sind, so ist dies
auch bei Vampyren der Fall. Die Auslöschung folgte schnell, wenn
das Opfer all sein Blut verloren hatte, und der Haufen Fleisch
konnte beiseite geworfen
werden, wenn das Blut von den Steinen des Bodens aufgewischt
worden war.
Um den Vampyr zusätzlich dazu zu bringen, dass er
stillhielt, war er von Kopf bis Fuß mit Quecksilber bestrichen
worden. Zu diesem Zweck hatte man ihm zuvor den Kopf rasiert und
all seine Kleidungsstücke ausgezogen.
Der pulsierende Blutstrom des Opfers bewegte die
mechanischen Vorrichtungen, als die Blutröhren sich füllten und
leerten, und ein starker, unaufhörlicher, aber dünner Strom aus
Blut floss durch die Schalen an den Rändern des Rades, bevor das
Blut von einer großen Schüssel aus gewölbtem Glas aufgenommen
wurde.
Das Wesen, das auf dem Holzblock lag, in einer
jämmerlichen Lage ausgestreckt und schlafend – nach mehreren
Nächten dieser Folter -, es stöhnte, als ich mich ihm
näherte.
Als ich seinen Namen flüsterte, öffnete er die
Augen.
»Ewen«, wiederholte ich.
Ein Metallstreifen war ihm über die Zähne gelegt
worden, so dass sein Kiefer verschlossen und er weder zum Sprechen
noch zum Beißen in der Lage war. Da all diese Instrumente aus
irgendeiner Art von Silber bestanden, konnte ich ihn nicht
berühren, ohne ein Brennen und einen Schlag zu verspüren, der mich
stark genug nach hinten prallen ließ, um mich nach dem dritten
Versuch aufgeben zu lassen.
Ich sah, wie sich in seinen Augen Tränen bildeten,
und ich stellte mir vor, wie lächerlich dies wohl Sterblichen
vorkommen musste – dass ein Vampyr weinte. Doch wir waren dem
Kummer und der Verzweiflung nicht weniger ausgesetzt als die
ärmsten Tröpfe der Menschheit. Dies alles ging uns nicht verloren,
wenn wir von der Schwelle des Todes zurückkehrten.
Ich sehnte mich danach, ihn in meine Arme zu
schließen, diese Röhren aus ihm herauszuziehen und der Kugel, die
in seinem Herzen steckte, einen Schlag zu versetzen, damit sie
herausglitt. Doch ich war mir sicher, dass dies sein Leiden nur
noch vergrößern und ich ihn auf diese Weise eigenhändig in die
Auslöschung schicken würde.
Ich drehte mich zu Artephius um. »Beende dies
sofort. Welchen Nutzen bringt diese Folter? Welchen Nutzen hat sie
für dich? Du wirst dein Fleisch nicht finden, indem du meinem Stamm
das Blut stiehlst.«
Er antwortete nicht, und die Wachen zerrten mich in
einen anderen Raum. In diesem herrschte eine beinahe kochende
Hitze. Ein muskulöser Mann bediente die Blasebälge am Feuer,
während ein junger Diener Brandeisen zur Feuerstelle brachte und
über die Kohlen legte. Ein weiterer Arbeiter – eine Art Schmied –
hämmerte über seinem Schmiedefeuer auf ein Metallstück ein, um ihm
eine bestimmte Form zu verleihen.
Die Wächter legten mich bäuchlings auf den runden
Tisch in der Mitte des Raumes. Hände zerrten an der Kleidung, die
ich am Körper trug und die ohnehin nur noch aus Lumpen
bestand.
Der Schmied griff nach dem Brandeisen auf der
Feuerstelle und hob es hoch, wobei er sein rot glühendes Ende
anblickte. »Dies ist für die Brust gedacht, nehme ich an«, sagte
er.
»Ja«, antwortete Artephius. »Beeile dich.«
Der Schmied warf dem Alchimisten einen scharfen
Blick zu. Er kam zu mir herüber, drehte mich auf die Seite und zog
die Überreste meines Hemdes auseinander. »Dann mal los«, murmelte
er und drückte das Brandeisen gegen eine Stelle unterhalb meiner
Kehle. Der brennende Schmerz überraschte mich,
aber ich hielt den Atem an, als er das Brandeisen dort festhielt.
Ich roch den Gestank meines eigenen verbrannten Fleisches.
Dann nahm er das Brandeisen wieder fort und warf es
in einen Kübel voller Wasser. Es zischte, als der Dampf aus dem
Kübel aufstieg. Ein anderes Brandeisen, das kleiner aussah, wurde
aus den Kohlen gezogen. Dieses wurde mir auf meinen rechten
Oberschenkel gepresst und eine ganze Minute dort festgehalten,
bevor man es wieder entfernte.
Ich wurde auf die Beine gezogen.
»Auf deiner Brust trägst du nun das Mal der
Scheibe«, sagte Artephius, »und auf deinem Schenkel eine
Markierung, die besagt, dass du mein Eigentum bist. Sie besitzt die
Form des Buchstabens Aleph, der vom Bild eines Skorpions
durchbrochen wird. Denn diesem wirst du dich heute gegenübersehen,
so wie viele von deinem Stamm sich ihm bereits gegenübergesehen
haben. So auch deine Freundin Kiya, und zwar für insgesamt sieben
Nächte in einem Zeitraum von vier Jahren. Sieben Nächte werden
ausreichen, um sie zu einer Mom zu machen, Aleric. Einige von euch
benötigen zehn oder zwölf. Aber ihre siebente Nacht ist bereits
sehr nahe. Bald wird sie ihre Runden über den Türmen der Stadt
drehen und nur noch meine Stimme sowie die der Myrrydanai-Priester
vernehmen. Dein Freund Ewen wird schwerer zu brechen sein. Aus
seinem Blut habe ich eine starke Essenz herausgefiltert. Du hast
ihm den Heiligen Kuss des Lebens gegeben. Er hat dein Blut
getrunken, das über besondere Eigenschaften verfügt – ja, ich habe
während unserer nächtlichen Transfusionen einen großen Teil davon
genommen. Er musste sich dem Skorpion einmal stellen, und nun sitzt
er in dem Stuhl der Destillation. Doch dein Blut unterscheidet sich
von dem Blut deiner Geschwister,
Falke. Dein Blut ist feiner. Du wirst ebenfalls schwer zu brechen
sein. Aber du wirst gebrochen werden, so wie es auch schon mit
allen Mitgliedern deines Stammes vor dir geschehen ist.«
Ich spuckte ihm ins Gesicht, indem ich gegen meine
Fesseln ankämpfte.
Dann spürte ich einen Schlag gegen meinen
Hinterkopf – der Schmerz ließ mich ohnmächtig werden.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem
Korridor voller Spiegel.
Allein.
Weder meine Hände noch meine Füße waren
zusammengebunden, wenngleich das Silber an ihnen verblieben war, um
mich zu schwächen.
Warum war ich hier? Warum hatte Artephius mich zu
einem Spiegel gebracht?
»Wir sind für Spiegel unsichtbar«, sagte ich laut,
da ich dachte, dass ich gut zu hören wäre. Es lag an dem Silber
hinter dem Glas des Spiegels, das uns nicht reflektierte. Dies war
mir gesagt worden.
Doch als ich den Spiegel vor mir ansah, begann ich
eine verschwommene Bewegung darin wahrzunehmen. War dies eine
Vorbereitung auf meine Folter? War dies Alchimie?
Das Spiegelsilber bewegte sich wie ein wirbelnder
Mahlstrom, und sein Glanz erwies sich als zu stark für meine Augen.
Aber sehr bald kam das flüssige Glas wieder zur Ruhe. Ich erblickte
das, was die Angehörigen meines Stammes in Spiegeln sehen, und
begriff, warum wir sie nicht ansehen sollten. Ich sah mich selbst,
aber nicht als jungen Mann mit der blassen
Schönheit der Jugend und der Vampyre. Stattdessen erblickte ich
jenes schreckliche Wesen unter meinem Fleische – den Leichnam des
Soldaten, der Jahre zuvor in einem Turm in Hedammu durch die Hand
der Pythia gestorben war, die von mir getrunken hatte. Mein
vergilbter Schädel bohrte sich durch eine lederartige, zerrissene
Haut. Zerschmetterte und verdrehte Knochen ragten aus dem feinen
Kittel und den Kniehosen heraus, die ich in jener Nacht getragen
hatte. Ich betrachtete mein totes, unbegrabenes Selbst. Glänzende
schwarze Käfer setzten das, was davon noch übrig war, in Bewegung,
und die Maden der Zeit, deren Farbe sich unaufhörlich von Weiß in
Braun verwandelte, bildeten eine neue Haut aus ihren glatten
Formen, während sie den restlichen Knorpel zerfraßen, der die
Knochen mit den Gelenken und den Schädel mit der Wirbelsäule
verband.
Reichte dies aus, um einen Vampyr in den Wahnsinn
zu treiben? Sich an seinen Tod zu erinnern, das wahre Selbst zu
sehen, das unter dem Glanz unseres Stammes noch vorhanden war,
jener unsterblichen Schönheit, die die Kosmetik des Grabes auf dem
verrottenden Leichnam war? Befand ich mich dort, in jenem
zerfließenden Quecksilber, oder befand ich mich hier, in diesem
Fleisch, das ich ansehen mochte, an meinen Händen und Armen, um
sagen zu können: »Nein, dies hier ist die Wahrheit. Das Spiegelbild
ist eine Lüge.«
Hinter mir, als hätten sie die Halle mit mir
betreten, erblickte ich all jene, von denen ich getrunken und die
ich in meiner Gier getötet hatte. Dort waren sie. Von der ersten
jungen Frau, die nach meiner vampyrischen Geburt in meinem Grab an
mich gefesselt worden war, bis hin zu den Bediensteten des
Alchimisten, die ihren Lebenssaft hingegeben hatten, damit ich
für die Foltern und Spiele dieses Wahnsinnigen wiederbelebt werden
konnte. Ihre Anzahl ging in die Hunderte, obwohl ich mich nicht
erinnern konnte, von so vielen getrunken zu haben, und auch den
Überblick über die hübschen jungen Dinger verloren hatte, die ich
an die Schwelle des Todes gebracht hatte. Ich sah ihre Wunden, die
nicht geheilt waren, überall an Kehlen, Armen und Schultern, wo
meine Zähne ihr Fleisch zerrissen hatten.
Als ich dies in dem Spiegel erblickte, spürte ich
den altbekannten Schmerz, der durch das Silber hervorgerufen wurde.
Vielleicht entsprachen die Legenden der Wahrheit, dass Sterbliche
Vampyre nicht im Spiegel sehen konnten, aber ich hatte das
Geheimnis des Silbers selbst herausgefunden – das Geheimnis seiner
reflektierenden Natur. Es zeigte uns so, wie wir wirklich waren.
Als die Ungeheuer, zu denen wir geworden waren – und das waren
nicht Sukkubus und Inkubus, wie sie in den Träumen von Menschen
auftauchten, sondern die Untoten, die im Fleische auferstanden
waren, in einer Farce des ewigen Lebens.
Das Quecksilber bewegte sich in dem Glas erneut,
und die Gesichter verschwanden. Die Schichten meines eigenen
Schädels, meiner lederartigen Haut und meiner Knochen zerrissen,
als wären sie verschlissen.
Jemand anders befand sich dort im Spiegel, der mich
anstarrte. Es war weder ein Leichnam noch mein eigenes Antlitz,
sondern der Priester des Blutes, Merod Al-Kamr.
Sein Gesicht war wutverzerrt, und er verhöhnte
mich, indem er auf mich zeigte, als wollte er mich verfluchen. »Du
hast zu lange gewartet! Glaube nicht den Lügen des Spiegels,
Falkner. Erliege nicht diesen Gefühlen der Hoffnungslosigkeit,
die dir und deinen Geschwistern gesandt wurden. Der Tod ist die
Illusion, und der verrottende Leichnam ist die Lüge. Du bist die
Wahrheit. Spiegelbilder und Schatten liefern bestenfalls eine
Halbwahrheit. Warum hast du mich nicht angehört? Ich bin in
Visionen zu dir gekommen, und du hast mich ignoriert.« Er stand da,
wie er es beim letzten Mal getan hatte, als ich ihn gesehen hatte –
mit geschorenem Schädel, die Augen wie lichtdurchlässige schwarze
Kugeln, hinter denen leuchtend rotes Blut pulsierte. Eine blaue
Robe war um seine Schenkel geschlungen und um seine Füße drapiert.
Seine Brust zeigte Tätowierungen, die von der Geschichte der
Vampyre und der Priester der Medhya erzählten. Seine Flügel, die
größer waren, als ich sie je bei einem anderen Vampyr gesehen
hatte, breiteten sich lang und prächtig wie ein wogender Umhang
hinter ihm aus.
»Wie kommst du... hierher?«, fragte ich.
»Ich bin in deinem Inneren, Maz-Sherah«, antwortete
er, und der Zorn auf seinem Gesicht schwand, während er sprach.
»Denn da du mich verschlungen hast, wohne ich in dir. Aber da gibt
es Zeremonien, die du vollziehen musst. Der Winter nähert sich zu
rasch, und der Alchimist weiß, dass dir nur noch wenige Nächte
bleiben, um die heiligen Gegenstände für diese Zeremonien
zusammenzutragen.«
Als er dies aussprach, löste sich das Spiegelbild
auf, und ich erblickte erneut jene Vision, die mich von dem ersten
Moment an heimgesucht hatte, da ich Merod in seiner Grabstätte in
Alkemara wieder zum Leben erweckt hatte:
Da war Merod mit dem Stab der Nahhashim in der
Hand.
Hinter ihm stand ein Steinaltar.
Eine Jungfrau lag auf dem Altar, die Ellbogen
aufgestützt.
Sie sah mich an, und ihr Gesicht war mit einer schrecklichen
Goldmaske bedeckt. Auf der Maske war das Gesicht von Datbathani zu
sehen, in deren Haar Schlangen geflochten waren. Es war die
Schlangengöttin, die von unserem Stamm »Herrin der Schlangen«
genannt wird.
»Unsterblichkeit ist kein Geschenk«, sagte Merod.
»Es handelt sich dabei um eine heilige Verpflichtung, selbst der
Beute gegenüber. Ein Opfer muss gebracht werden. Eine Buße für die
Göttin unseres Stammes. Wir können die kommenden Kriege nicht
vermeiden, wenn wir zurückkehren, um jene zu bekämpfen, die uns zu
vernichten wünschen. Diejenigen, die die Erde verfinstem wollen,
haben den Weg zum Altar bereits gefunden. Die Zeichen sind da,
Maz-Sherah. Die Omen des Großen Übergangs sind da. Du bist dazu
geboren. Es ist dein Schicksal, hier deinen Platz einzunehmen. Hebe
den Stab der Nahhashim auf. Finde das Schwert des Feuers. Hole die
Maske aus dem Land, in das meine Tochter floh, in der Ferne
jenseits des Meeres, jenseits des Weltenrandes. Dort gibt es
Vampyre unserer Stämme, solche, die älter sind als selbst die der
medhyanischen Linie. Vielleicht ist der Jungfrau der Naturkräfte
nicht zu trauen, aber du brauchst sie. Letztlich, Falkner, sind wir
nichts anderes als Tore, die sich vor der Dunklen Madonna, Medhya,
schließen müssen, die diese Welt niemals in Fleisch oder Blut
betreten darf. Sie ist der Wahnsinn der Vernichtung, und nur du
vermagst es möglicherweise, die Zeremonien zu vollziehen, welche
eine Macht entfesseln werden, die stark genug ist, um sie
aufzuhalten. Stark genug, um gegen ihre Anhängerschaft, ihre
Bluthunde und Schatten vorzugehen. Du wurdest nicht geboren, um ein
Leben wie andere Menschen zu führen. Und du kehrtest auch nicht vom
Tode
zurück, um so wie andere Vampyre zu sein. Du bist die Hoffnung für
die Unsterblichen und die Sterblichen.« Dann sprach er mit
erhobener Hand eine Warnung aus. »Du wirst hier gefoltert werden.
Du wirst diese Qualen erdulden, die auch andere schon erlitten
haben. Du musst deine Willenskraft einsetzen und kämpfen, um dies
zu überleben. Du musst die Maske der Gorgo finden, und zwar in dem
Land, das im Westen liegt, jenseits des Meeresufers. Du wirst sie
erkennen, wenn du spürst, dass der Strom stark wird. Dort musst du
Pythia finden und ihr die Maske abnehmen. Du musst wieder in den
Besitz des Stabes gelangen und das Schwert finden. All dies musst
du tun. All dies, denn du hast zu lange in deinen Gefängnissen
geschmachtet, Maz-Sherah. Die Zeremonien des Stammes müssen
vollzogen werden.«
»Worum handelt es sich bei diesen Zeremonien, von
denen du sprichst? Wie kann ich wissen, wie ihre Rituale
durchzuführen sind?«
»Diese heiligen Gegenstände werden es dir
mitteilen«, antwortete er. »Du musst sie in deinen Besitz bringen.
Zur Zeit der Sonnenwende ist der Schleier am schwächsten. Du musst
diese Fesseln überwinden, Maz-Sherah. Du musst das Silber selbst
bekämpfen, denn du hast keine andere Wahl. Heile den Schleier
innerhalb eines Monats. Heile den Schleier und halte Medhya davon
ab, die Welt der Menschen zu betreten.«
Der Altar löste sich auf, ebenso wie die junge Frau
mit der Maske und Merod selbst. Sie alle wurden zu flüssigem Silber
unterhalb der Oberfläche des Spiegels.
Erneut sah ich mein totes Selbst, das mich
anstarrte. Die Gebeine und das verrottende Fleisch der Toten. Die
Lügen des Spiegels. Die Wahrheit über den, der ich einst gewesen
war.
Da wandte ich mich ab. Ich ging den Korridor entlang, indem ich
einen Blick in die anderen Spiegel vermied.
Am anderen Ende des Korridors öffnete sich eine
Tür. Ein Wächter, der im Türeingang stand, führte mich in den
nächsten Raum. Auch hier gab es wieder die Greifhaken, die von der
niedrigen Decke herabhingen, sowie den Gestank verrottenden
Fleisches und trocknenden Blutes. Männer, die die Maske von
Folterern trugen, standen hier und bedienten die Maschinerie der
Qualen, um zahlreiche sündige Menschen zu martern, deren Stöhnen
und Schreien in der langen Kammer widerhallte. Ich spürte an meinen
Handgelenken den Schmerz durch das Silber. Merod, du musst mir
helfen. Wie überwinde ich das Silber? Wie kämpfe ich ohne meine
Kraft? Wie entfalte ich meine Flügel, wenn ich durch dieses Metall
zurückgehalten werde?
Ich erblickte den Roten Skorpion – seinen Stuhl,
der aus Knochen und Leder bestand. Auch seine Klauen aus blankem
Metall sah ich. Die Räder und Zahnräder hinter ihm drehten sich
langsam, als wollte er mit seinem mechanischen Tanz beginnen, noch
bevor ich auf ihm saß. An seinem Oberteil gab es einen Streifen aus
Silber, der einem Heiligenschein ähnelte und dazu gedacht war, dem
Vampyr um den Kopf gebunden zu werden. Wachen schnallten mich in
dem Stuhl fest und befestigten meine Handgelenke und Beine an der
Maschine.
Als die Klauen des Roten Skorpions einrasteten und
mein Gesicht bedeckten, während ihre Scherenspitzen über meinen
Augen und meinen Nasenlöchern schwebten, beugte sich Artephius zu
mir und flüsterte: »Ihr seid Ungeheuer. Doch in euch tragt ihr die
Geheimnisse um Jugend und Leben. Dein Leib und dein Blut werden der
Baronin selbst ewiges Leben
bescheren. Deine Essenz wird meinen Knochen Fleisch bringen. Denn
dazu wurdest du erschaffen, Maz-Sherah.« Er zog sich wieder zurück.
Indem er den Folterern einen Blick zuwarf, sagte er: »Seine Qualen
bereiten mir kein Vergnügen. Entzieht ihm die Essenz. Häutet ihn.
Und dann übergebt ihn wieder mir, bevor der Morgen anbricht, so
dass ich seine Wunden heilen kann.«
Ich beobachtete, wie er durch einen gewölbten
Torbogen schritt, begleitet von seinen Wachen.
Dann hörte ich ein Summen, das sich anhörte, als
stammte es von einem Schwarm aus tausend Fliegen, sowie das Rasseln
und Klacken von knarrenden Ketten. Ich spürte, wie sich
nadelscharfe Spitzen langsam in meinen Leib zu bohren begannen.
Winzige Röhrchen aus Glas entzogen mir das Blut und führten meinem
Körper den Saft der Sang-Fleur zu. So spürte ich den Wahn des
Schleiers, wusste aber auch, dass in nur wenigen Augenblicken meine
Haut vom Gesicht gezogen, meine Augen durchbohrt und meine
Nasenlöcher erforscht werden würden, und zwar bis hinauf zu der
Knochenplatte, die mein Gehirn vor den Stachelfingern des Roten
Skorpions und vor Artephius’ Untersuchungen meines Körpers und
Blutes schützte.
Ich vernahm eine Reihe von krachenden Geräuschen,
wie von den Kiefern irgendeiner Kreatur, die über ihre Beute
herfällt. Die mechanischen Klauen bewegten sich auf mein Gesicht
zu, mit ihren Scheren, die scharf wie Messer waren und sich meinen
Augen näherten.
Ich spürte das Reißen der Scheren, als mir die
Maschine die Haut von der Brust zu schneiden begann und Glasröhren
mit geschärften Spitzen sich in meinen Leib bohrten, um mir
mein Blut zu entziehen. Das Knirschen der Räder und Zahnräder
wurde immer lauter, bis ich außer der Höllenmaschine nichts mehr
hörte.
In diesem Augenblick gab ich jegliche Hoffnung
auf.
Zwei dünne Lanzetten, die über meinen Augen
schwebten, bewegten sich langsam, Zoll für Zoll, auf ihre Ziele zu,
während ich die Berührung anderer Scheren an meinen Lippen
spürte.
Ich konnte mich nicht auf die Wachen oder Artephius
konzentrieren, die zusahen.
Das Ende meiner Existenz würde hier beginnen, in
diesem Roten Skorpion, mit blutbespritzten Wänden, meinem durch
diese Messer und Scheren zerstörten Sehvermögen und meiner
abgezogenen Haut.
Es ist vorbei, dachte ich. Es ist vorbei.
Und dann hielt die Maschine an, eine Haaresbreite,
bevor die Lanzetten meine Augen durchbohrt hätten.