62
Gabrielle Ashe zitterten die Knie. Weniger vom langen, bewegungslosen Stehen in Senator Sextons halbdunkler Diele, sondern vor Enttäuschung über das, was sie gerade gehört hatte.
Die Zusammenkunft war noch nicht beendet, aber sie brauchte kein weiteres Wort mehr zu hören. Die schmerzhafte Wahrheit lag auf der Hand.
Senator Sexton lässt sich von privaten Raumfahrtunternehmen schmieren.
Marjorie Tench hatte die Wahrheit gesagt.
Gabrielle fühlte sich abgrundtief betrogen. Ekel kam in ihr hoch. Sie hatte an Sexton geglaubt, hatte für ihn gekämpft. Wie kann er so etwas machen? Gabrielle hatte erlebt, dass Sexton gelegentlich vor der Öffentlichkeit zur Lüge griff, um sein Privatleben zu schützen. Nun gut, das war eben Politik. Aber das! Das war ein klarer Gesetzesbruch!
Er ist noch gar nicht
gewählt und betreibt schon den Ausverkauf des Weißen Hauses!
Gabrielle wusste, dass sie den Senator nun nicht mehr unterstützen konnte. Die Privatisierung der NASA konnte nur jemand versprechen, dem Demokratie und Gesetz piepegal waren. Und selbst wenn der Senator in dem guten Glauben war, sein Handeln läge im allgemeinen Interesse, hebelte eine gekaufte Vorabentscheidung sämtliche Kontrollmechanismen des Staates aus und machte mögliche Gegenargumente des Kongresses, der Berater, der Wähler und der Interessengruppen zur Makulatur. Vor allem hatte Sexton mit einer Garantie der Privatisierung der NASA einem grenzenlosen Missbrauch dieser Vorabinformation Tür und Tor geöffnet. Insiderhandel mit Börsenpapieren war in diesem Fall das Übliche. Wieder einmal konnten sich die Reichen, die an der Quelle saßen, auf Kosten der ehrlichen kleinen Anleger eine goldene Nase verdienen.
Gabriele war es nachgerade übel geworden. Was sollte sie jetzt tun?
Hinter ihr trillerte schrill ein Handy. Erschrocken fuhr Gabrielle herum. Das Trillern kam aus einem der Mäntel in der Garderobennische.
»Entschuldigung, Freunde«, sagte der Texaner, »das ist für mich.«
Gabrielle hörte den Mann aufstehen. Gleich kommt er heraus! Sie rannte den teppichbelegten Weg zurück, den sie gekommen war.
Auf halber Strecke schlug sie sich nach links in die dunkle Küche. Im selben Moment kam auch schon der Texaner aus dem Wohnraum und ging die Diele hinunter. Gabrielle erstarrte. Reglos stand sie im Dunkel.
Der Texaner ging an ihr vorbei, ohne sie zu
bemerken.
Mit pochendem Herzen hörte sie ihn in der Garderobe nach seinem Handy stöbern. Schließlich hatte er es gefunden und meldete sich.
»Yeah?… Wann?… Ach was!… Ja, wir machen an. Danke.« Er drückte aufs Knöpfchen, steckte das Handy weg und ging eilig wieder zurück. »Macht mal das Fernsehen an!«, rief er noch in der Diele. »Zach Herney gibt gleich eine dringende Pressekonferenz. Acht Uhr, auf allen Kanälen. Entweder haben wir China den Krieg erklärt, oder die Internationale Raumstation ist ins Meer gefallen!«
»Na, wenn das kein Grund wäre, einen zu trinken!«, rief jemand aus.
Allgemeines Gelächter.
Um Gabrielle drehte sich alles. Eine Pressekonferenz um acht?
Marjorie Tench hatte anscheinend doch nicht nur auf den Busch geklopft. Um acht Uhr wollte sie die Erklärung auf ihrem Schreibtisch haben. Gabrielle hatte angenommen, der Zeitpunkt erkläre sich daraus, dass das Weiße Haus genügend Zeit haben wollte, die Erklärung den Morgenblättern zuzuspielen, aber jetzt hatte es den Anschein, dass der Präsident mit den Verdächtigungen direkt an die Öffentlichkeit gehen wollte.
Eine dringende Pressekonferenz? Je mehr Gabrielle darüber nachdachte, desto merkwürdiger kam ihr die Sache vor. Herney will mit diesem Saustall live vor die Kameras? Höchstpersönlich?
Aus dem Wohnraum plärrte jetzt der Fernsehapparat. Die Stimme des Sprechers bebte vor Aufregung. »Das Weiße Haus hat bislang keinerlei Angaben zum Thema des bevorstehenden heutigen Überraschungsauftritts des Präsidenten gemacht. Spekulationen ist ein weites Feld geöffnet. Einige Analytiker der politischen Szene sind der Auffassung, Präsident Zach Herney könnte nach seinem Rückzug aus dem Wahlkampf heute Abend seinen Verzicht auf eine zweite Amtszeit erklären.«
Im Wohnraum erhob sich hoffnungsvolles Jubeln.
Blödsinn, dachte Gabrielle. Bei der Wagenladung Schmutz, mit der das Weiße Haus Sexton bombardieren konnte, war es völlig ausgeschlossen, dass Herney heute Abend das Handtuch werfen würde. Bei dieser Pressekonferenz kommt etwas anderes als die Abdankung aufs Tapet, überlegte Gabrielle, und sie hatte das ungute Gefühl, schon zu wissen, was es war.
Sie schaute auf die Uhr. Noch nicht einmal mehr eine Stunde.
Sie musste zu einer Entscheidung kommen, und sie wusste auch, mit wem sie darüber sprechen wollte. Sie klemmte den Umschlag mit den Fotos unter den Arm und schlich sich leise aus dem Apartment. Der Wächter auf dem Flur machte ein erleichtertes Gesicht. »Ich habe von drinnen begeistertes Geschrei gehört«, sagte er. »Sie sind bei denen wohl gut angekommen.«
Mit einem knappen Lächeln schritt sie an ihm vorbei zum Aufzug.
Draußen auf der Straße setzte mit ungewohnter Kühle die Dämmerung ein. Gabrielle winkte ein Taxi heran.
»Zu den ABC-Fernsehstudios«, sagte sie zum Fahrer. »Und bitte schnell.«
63
Michael Tolland lag auf der Seite auf dem Eis, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gelegt, den er schon längst nicht mehr spürte. Seine Lider waren schwer geworden, aber er kämpfte darum, die Augen offen zu halten. Von seinem ungewöhnlichen Beobachtungspunkt aus nahm er die letzten Bilder dieser Welt aus einer ungewohnten Seitenperspektive wahr. Eis und Meer. Es war ein merkwürdig stimmiges Ende für einen Tag, an dem sich alles als trügerischer Schein erwiesen hatte.
Gespenstische Stille hatte sich über das dahintreibende Eisfloß gelegt. Der Wind wurde immer ruhiger, je weiter sie sich vom Gletscher entfernten. Rachels Pochen war erstorben, und Corky gab keinen Laut mehr von sich. Tolland merkte, wie sein eigener Körper immer stiller wurde. Sein unter der Kopfhaube gut vernehmbarer Atem wurde langsamer… und flacher. Er hatte das Gefühl, zusammengestaucht zu werden, während sein Blut aus den Extremitäten in die lebenswichtigen Organe flüchtete wie die Soldaten in eine Auffangstellung.
Aber er wusste, die Schlacht war verloren. Die schmerzhafte Phase war vorüber. Er hatte das Gefühl aufzublähen, zu schweben. Er schaute zurück zum Milne-Eisschelf, der jetzt nur noch ein milchiger Streifen im schwachen Mondlicht war. Als einer der ersten Reflexe setzte Tollands Lidschlag aus. Sein Blickfeld trübte sich, als die im Augeninnern zirkulierende Flüssigkeit gefror.
Tolland begann zu halluzinieren. Auf der Schwelle zur Bewusstlosigkeit träumte er nicht von Rettung, Wärme und Sicherheit.
Seine letzte Vision war furchtbar.
Mit unheilvollem Zischen brach der schlanke
schwarze Leib eines tödlichen Ungeheuers neben dem Eisberg durch
die schäumende Wasseroberfläche. Tolland versuchte angestrengt zu
blinzeln. Sein Blick klärte sich ein wenig. Das Monstrum war ganz
nahe; sein Leib keilte gegen den Rand des Eises wie ein riesiger,
glänzender Hai, der ein kleines Boot bedrängt. Vor Tollands Augen
wurde es schwarz. Nur noch die furchtbaren Geräusche drangen zu
ihm. Metall mahlte auf Metall. Zähne gruben sich ins Eis. Es kam
näher. Leiber wurden fortgeschleppt… Rachel!
Tolland spürte, wie er derb gepackt wurde.
Dann war nur noch Leere.
64
Gabrielle Ashe stürmte im Laufschritt in die Nachrichtenredaktion von ABC News. Gleichwohl war sie die Langsamste im ganzen Raum. Hier wurden täglich vierundzwanzig Stunden lang fieberhaft Nachrichtensendungen produziert, aber im Moment ging es in dem Großraumbüro zu wie in einem Börsensaal. Wild um sich blickende Redakteure schrien sich über den oberen Rand der Glastrennwände hinweg an, Reporter rannten mit Faxmeldungen wedelnd von Glaskasten zu Glaskasten, Praktikanten hechelten durchs Gewühl.
Gabrielle war gekommen, um Yolanda Cole aufzusuchen.
Yolanda war in der Regel im besseren Viertel des Redaktionsraums zu finden – in einem der mit Glaswänden voneinander abgetrennten Einzelbüros für verantwortliche Redakteure, denen auch einmal ein Moment der Ruhe zum Nachdenken vergönnt sein musste. Heute Abend jedoch steckte Yolanda mitten im Gewühl. Als sie Gabrielle erblickte, trompetete sie ihren gewohnten überschwänglichen Willkommensschrei.
»Gabs!« Yolanda trug ein Batik-Wickelkleid und eine Schildpattbrille. Wie immer hatte sie sich mit schrillem Modeschmuck behängt wie ein Kirmesgaul. Sie kam herbeigewatschelt. »Küsschen!« Gabrielle schlang die Arme um ihre Freundin. Yolandas gute Laune wirkte ansteckend. Gabrielle ging es schon viel besser. Yolanda Cole, eine sommersprossige Polin mit schütterem Haar, von allen nur »Mama« genannt, war seit sechzehn Jahren Nachrichtenredakteurin bei ABC News in Washington. Ihre matronenhafte Erscheinung und ihre Umgänglichkeit kaschierten die raffinierte Durchtriebenheit und Rücksichtslosigkeit, mit der sie sich Informationen zu verschaffen wusste. Gabrielle hatte Yolanda kurz nach ihrer Ankunft in Washington bei einem Schulungsseminar für Frauen in der Politik kennen gelernt. Sie hatten sich über Gabrielles Werdegang unterhalten, über die Schwierigkeiten, sich als Frau in der Hauptstadt durchzusetzen, und waren schließlich bei Elvis Presley gelandet, für den sie unverhofft ihre gemeinsame Begeisterung feststellten. Yolanda hatte Gabrielle unter ihre Fittiche genommen und ihr geholfen, wichtige Leute kennen zu lernen. Gabrielle kam immer noch alle vier Wochen bei Yolanda auf ein Schwätzchen vorbei.
Yolanda trat einen Schritt zurück und musterte Gabrielle.
»Mädchen, du siehst ja um hundert Jahre gealtert aus! Was ist denn los?«
Gabrielle senkte die Stimme. »Yolanda, ich stecke in der Klemme.«
»Die Leute draußen sehen das aber anders. Dein
Mann ist auf dem aufsteigenden Ast.«
»Können wir uns nicht irgendwo ungestört unterhalten?«
»Schlechter Moment, Schatz. Der Präsident gibt in einer halben Stunde eine Pressekonferenz, und wir haben immer noch nicht den geringsten Schimmer, worum es geht. Ich muss Experten für Kommentare heranschaffen. Es ist der reine Blindflug.«
»Ich weiß aber, worum es geht.«
Yolanda blickte skeptisch über den Rand ihrer Brille. »Gabrielle, sogar unser Korrespondent im Weißen Haus tappt diesmal im Dunkeln. Und Sextons Wahlkampfbüro will Bescheid wissen?«
»Nicht sein Wahlkampfbüro – ich weiß Bescheid. Gib mir fünf Minuten, und ich erzähle dir alles.«
Yolandas Blick streifte den roten Umschlag in Gabrielles Hand.
»Solche Umschläge benutzt das Weiße Haus für Interna. Wo hast du ihn her?«
»Von Marjorie Tench. Ich hatte heute Nachmittag ein Tete-á-Tete mit ihr.«
Yolanda blickte Gabrielle nachdenklich an. »Komm mit.«
In Yolandas Glaskasten angekommen, packte Gabrielle aus, gestand den One-Night-Stand mit Sexton, und dass Marjorie Tench fotografisches Beweismaterial in der Hand hatte.
Yolanda grinste breit und schüttelte schließlich lachend den Kopf. Offensichtlich war sie durch nichts mehr zu erschüttern.
»Oh, Gabs, ich habe mir schon längst gedacht, dass zwischen dir und Sexton etwas läuft. Wen wundert’s? Er ist als Schürzenjäger bekannt, und du bist ein hübsches Mädchen. Darüber mach dir mal keine Sorgen!«
Keine Sorgen?
Gabrielle erzählte von Sextons Geheimtreffen
mit den SFF-Leuten, dessen Zeugin sie soeben geworden war, und dass
sich dabei Marjorie Tenchs Vorwurf, Sexton würde von der
Raumfahrtbranche illegale Spendengelder annehmen, als wahr erwiesen
hatte. Wieder ließ Yolandas Miene wenig Überraschung oder Besorgnis
erkennen. Dann rückte Gabrielle damit heraus, welchen Schritt sie
tun wollte. Jetzt schlich sich Besorgnis in Yolandas Gesicht.
»Gabrielle, wenn du eine eidesstattliche Erklärung abgeben willst,
dass du mit einem Senator geschlafen und tatenlos zugesehen hast,
wie er die Öffentlichkeit belügt, ist das deine Sache. Aber es gibt
Dinge, die tut man nicht. Man darf keinem Senator einen Sexskandal
ans Bein binden. Das ist Selbstmord!
Mädchen, ich kann dir nur sagen, wenn du vorhast, einen Präsidentschaftskandidaten zu demontieren, spring schleunigst in dein Auto und fahr so weit weg, wie du nur kannst. Dann bist du eine gezeichnete Frau. Gewisse Leute investieren einen schönen Batzen Geld, um einen Kandidaten ganz nach oben zu hieven. Hier stehen Finanz- und Machtinteressen auf dem Spiel – Interessen, für die manch einer zu morden bereit ist.«
Gabrielle verstummte.
»Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Tench dir die Hölle heiß gemacht hat in der Hoffnung, dass du eine Dummheit begehst – wie dich von Sexton abzuseilen und die Affäre zuzugeben.« Yolanda deutete auf den roten Umschlag in Gabrielles Hand. »Diese Bildchen von dir und Sexton sind keinen Pfifferling wert, solange nicht du oder Sexton zugeben, dass sie echt sind. Das Weiße Haus weiß ganz genau, wenn sie diese Fotos den Medien zuspielen, wird Sexton einfach behaupten, sie seien eine Fälschung, und der Schuss geht nach hinten los.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht, aber das
Thema Wahlkampfspenden-Betrug…«
»Schatz, sei nicht voreilig. Wenn das Weiße Haus mit den Schmiergeldvorwürfen bis jetzt nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist, will es das vielleicht überhaupt nicht. Der Präsident nimmt es mit dem sauberen Wahlkampf ohne Negativschlagzeilen sehr ernst. Ich denke mal, er will keinen Skandal in der Raumfahrtbranche und hat dir deshalb die Tench auf den Hals gehetzt, in der Hoffnung, dass du dich vor Angst abseilst und deinem Kandidaten in den Rücken fällst.«
Gabrielle ließ sich den Gedanken durch den Kopf gehen. Yolandas Vermutung klang vernünftig, aber irgendetwas passte nicht zusammen. Gabrielle deutete durch die Glasscheibe hinaus in die hektische Redaktion. »Yolanda, ihr steht hier in den Startlöchern für eine Pressekonferenz des Präsidenten. Wenn der Präsident nicht Schmiergelder oder Sex aufs Tapet bringen will, was dann?«
Yolanda machte ein fassungsloses Gesicht. »Langsam. Du glaubst doch wohl nicht, in der Pressekonferenz geht es um dich und Sexton?«
»Oder die Schmiergelder. Oder beides. Marjorie Tench hat mir jedenfalls angedroht, wenn ich die eidesstattliche Erklärung nicht bis heute Abend um acht bei ihr abliefere, wird der Präsident…«
Yolanda lachte prustend los. »Oh, bitte, aufhören! Du bringst mich sonst noch um!«
Gabrielle war nicht nach Scherzen zu Mute. »Was ist?«
»Gabs, nun hör mal zu«, stieß Yolanda außer Puste hervor,
»glaub mir, ich habe seit sechzehn Jahren mit dem Weißen Haus zu tun. Es ist völlig ausgeschlossen, dass Zach Herney eine Pressekonferenz einberuft, um vor dem ganzen Globus auszubreiten, dass Senator Sexton mit dir pennt und dunkle Geschäfte macht!
So was lässt man durchsickern, das verkündet man nicht vor der ganzen Welt! Kein Präsident gewinnt an Popularität, wenn er laufende Programme unterbricht, um über Sexskandale oder angebliche miese Finanzierungspraktiken zu jammern.«
»Angebliche Praktiken?«, empörte sich Gabrielle. »Die Zustimmung zu einem Weltraumgesetz für Millionen Dollar an Schmiergeldern zu verkaufen ist wohl mehr als eine miese Finanzierungspraktik!«
»Weißt du denn genau, ob es auch wirklich stimmt?« Yolandas Tonfall war hart geworden. »Weißt du es so genau, dass du dafür vor den Kameras der ganzen Nation die Hosen herunterlassen würdest? Denk doch mal nach. Heutzutage kommt man ohne mächtige Verbündete zu gar nichts. Wahlkampffinanzierungen sind eine komplexe Angelegenheit. Vielleicht war Sextons Versammlung im Wohnzimmer vollkommen legal.«
»Er tritt das Gesetz mit Füßen«, sagte Gabrielle. Oder etwa nicht?
»Marjorie Tench hat es jedenfalls geschafft, dass du das glaubst.
Kandidaten nehmen immer und überall unter der Hand Spenden von großen Firmen entgegen. Das ist vielleicht nicht sehr sauber, aber es muss deswegen nicht illegal sein. Überhaupt geht es bei den meisten gesetzlichen Vorschriften nicht darum, woher das Geld stammt, sondern was der Kandidat damit macht.«
Gabrielle war unsicher geworden.
»Gabs, das Weiße Haus hat heute Nachmittag mit dir ein Spielchen gespielt. Man hat versucht, dich deinem Kandidaten abspenstig zu machen, und du bist im Begriff, ihnen auf den Leim zu gehen. Wenn ich mich entscheiden müsste, wem ich mein Vertrauen schenke, dann würde ich lieber bei Sexton bleiben, bevor ich mich bei jemand wie Marjorie Tench anbiedere.«
Yolandas Telefon klingelte. Sie nahm ab, sagte »aha« und »so, so« und machte sich ein paar Notizen. »Interessant!«, sagte sie zum Schluss. »Bin sofort da.«
Sie hängte ein und schaute Gabrielle mit einer hochgezogenen Braue an. »Gabs, ich denke, du bist aus dem Schneider. Genau, wie ich dachte.«
»Was war?«
»Ich weiß immer noch nichts Endgültiges, aber ich kann dir versprechen, die Pressekonferenz hat mit Sexskandalen und Wahlkampffinanzierung nicht das Geringste zu tun.«
Gabrielle spürte einen Hoffnungsschimmer. Sie hätte Yolanda nur allzu gerne geglaubt. »Weshalb bist du dir da so sicher?«
»Ein Insider hat durchblicken lassen, dass es um die NASA geht.«
Gabrielle setzte sich ruckartig auf. »Die NASA?«
Yolanda winkte ab. »Es könnte ein glücklicher Abend für dich werden. Ich vermute, der Präsident hat von Sexton inzwischen so viel Druck bekommen, dass er nicht mehr anders kann, als der internationalen Raumstation den Stecker herauszuziehen.
Das würde den globalen Medienzirkus erklären. «
Eine Pressekonferenz mit dem Aus für die Raumstation! Gabrielle konnte es sich nicht vorstellen.
Yolanda stand auf. »Dieser Vorstoß von der Tench heute Nachmittag war vermutlich nur das letzte Aufgebot vom Weißen Haus, um Sexton kleinzukriegen, bevor sich der Präsident mit schlechten Nachrichten vor die Kameras stellen muss. Ein Sexskandal ist immer noch das beste Ablenkungsmanöver von einer Pleite im Weißen Haus. Gabs, ich muss jetzt leider was tun.
Wenn ich dir einen Rat geben darf – hol dir einen Kaffee, setz dich hier hin, mach meinen Fernseher an und lass die Sache auf dich zukommen – wie wir alle. In zwanzig Minuten geht die Chose los, und ich sage dir, es ist völlig ausgeschlossen, dass der Präsident heute Abend eine Schlammschlacht abzieht. Die ganze Welt schaut ihm zu. Was immer er zu sagen hat, es muss um etwas Ernstes gehen.« Sie nickte Gabrielle aufmunternd zu. »So, und jetzt gib mir den Umschlag.«
»Wie bitte?«
Yolanda streckte fordernd die Hand aus. »Diese Bilder werden in meinen Schreibtisch eingeschlossen, bis das Ganze vorbei ist.
Ich will sicher sein, dass du keine Dummheiten machst.«
Zögernd gab Gabrielle den Umschlag her.
Yolanda schloss die Fotos sorgsam in ihre Schreibtischschublade ein und steckte den Schlüssel in die Tasche. »Gabs, du wirst mir noch dankbar sein, ich schwör’s dir.« Im Hinausgehen strubbelte sie Gabrielle burschikos die Haare. »Bleib schön brav sitzen. Ich glaube, gleich gibt’s gute Neuigkeiten für dich.«
Gabrielle saß allein in dem Glaskasten und versuchte, sich von Yolandas Munterkeit anstecken zu lassen. Doch Marjorie Tenchs selbstzufriedenes schiefes Grinsen ging ihr nicht aus dem Sinn.
Gabrielle konnte sich nicht vorstellen, was der Präsident der Welt verkünden wollte, doch es war bestimmt nichts Gutes für Senator Sexton.
65
Rachel Sexton hatte das Gefühl, bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Es regnet Feuer!
Sie versuchte, die Augen zu öffnen, konnte aber lediglich verschwommene blendende Lichter erkennen. Ringsumher platschte der Regen, siedend heißer Regen, der gnadenlos auf ihre nackte Haut prasselte. Sie lag zusammengerollt auf der Seite; unter ihrem Körper fühlte sie heiße Kacheln. Es roch chemisch, nach Chlor vielleicht. Sie versuchte davonzukriechen, doch starke Hände packten sie an den Schultern und drückten sie auf die Kacheln.
Lasst mich los! Ich verbrenne!
Instinktiv schlug sie um sich, doch wieder ergriffen sie starke Hände und pressten sie auf den Boden. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte eine ruhige männliche Stimme mit amerikanischem Tonfall. »Es ist gleich vorbei.«
Was ist gleich vorbei?, fragte sich Rachel. Die Schmerzen? Mein Leben? Sie versuchte, ihre Umgebung zu erkennen. Es musste ein sehr kleiner Raum sein, mit grellen Lichtern, beengt, niedrige Decke.
»Ich verbrenne!« Rachels Schrei war kaum mehr als ein Flüstern.
»Nur ruhig«, sagte die Stimme. »Das Wasser ist lauwarm. Vertrauen Sie mir.«
Rachel bemerkte, dass sie außer der nassen Unterwäsche nichts am Körper trug, doch das Schamgefühl blieb aus. Zu viele Fragen bohrten in ihrem Kopf. Die Erinnerungen setzten wie eine Springflut ein. Der Eisschelf. Das Radarbild. Der Angriff. Die Flucht. Der Absturz.
Der Eisberg. Die Kälte. Wer war es? Wo bin ich? Sie versuchte, die Teile zusammenzufügen, doch ihr bleierner Geist war wie blockiert. Aus dem zähen Durcheinander löste sich ein Gedanke: Michael und Corky…wo sind Michael und Corky?
Immer noch war alles verschwommen. Rachel konnte nur die Männer erkennen, die über ihr standen. Sie trugen alle die gleichen blauen Overalls. Rachel wollte etwas sagen, doch die Stimme versagte ihr den Dienst. Das Brennen auf ihrer Haut ließ allmählich nach. Wellen stechenden Schmerzes rollten jetzt durch ihre Muskulatur.
»Lassen Sie es geschehen«, sagte der Mann über ihr. »Das Blut muss in die Muskeln zurückfließen.« Der Mann sprach wie ein Arzt. »Versuchen Sie, die Glieder zu bewegen.«
Rachel hatte das Gefühl, auf einer Folterbank zu liegen. Jeder Muskel fühlte sich an, als würde mit dem Hammer darauf herumgeschlagen. Der Schmerz presste ihr die Brust zusammen.
Sie bekam kaum noch Luft.
»Sie müssen Arme und Beine bewegen, egal wie weh es tut«, forderte der Mann sie beharrlich auf.
Rachel gab sich alle Mühe. Jede Bewegung schmerzte wie ein Messerstich in den Gelenken. Die stechenden Wasserstrahlen wurden noch heißer. Als Rachel schon glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, gab ihr jemand eine Injektion. Der Schmerz ließ nach und schwand schließlich. Der Schüttelfrost verebbte. Rachel merkte, dass sie wieder atmete.
Eine neue Empfindung breitete sich in ihrem Körper aus.
Überall spürte sie schmerzhafte Nadelstiche –
Millionen kleiner Nadeln, die mit jeder Bewegung heftiger stachen.
Rachel versuchte, ganz stillzuhalten, doch der Mann über ihr hatte
ihre Arme gepackt und bewegte sie. Das brühheiße Wasser strömte
immer noch auf sie ein.
Mein Gott, tut das weh! Rachel war zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen. Tränen des Schmerzes und der Erschöpfung liefen ihr über die Wangen. Sie presste die Lider zusammen, um der Welt den Zutritt zu verwehren.
Endlich ließen die Nadelstiche nach. Der sengende Regen hatte aufgehört. Als Rachel die Augen öffnete, konnte sie endlich etwas erkennen.
Corky und Tolland lagen gleich neben ihr, zitternd, halb nackt und klatschnass. Rachel konnte an ihren schmerzverzerrten Gesichtern erkennen, dass sie ähnliche Folterqualen durchgemacht hatten. Tollands braune Augen waren blutunterlaufen und glasig.
Als er Rachel erkannte, brachte er mit bebenden blauen Lippen ein Lächeln zu Stande.
Rachel versuchte sich aufzusetzen. Sie nahm ihre bizarre Umgebung in Augenschein. In einem Durcheinander zitternder, halb nackter Glieder lagen sie zu dritt auf dem Boden eines kleinen Duschraums.
66
Starke Arme hoben Rachel hoch.
Sie spürte, wie die Unbekannten sie abtrockneten und in Decken wickelten. Sie wurde auf eine Art medizinische Liege gebettet und an Armen, Beinen und Füßen kräftig durchmassiert.
Dann bekam sie eine weitere Injektion in den Arm.
»Adrenalin«, sagte jemand.
Das Hormon zirkulierte durch Rachels Adern wie ein Elixier, das die Muskeln wieder zum Leben erweckt. Rachel empfand zwar immer noch eine eisige Leere in ihrem Leib, und ihr Bauch war hart wie eine gespannte Trommel, aber der Blutkreislauf hatte allmählich wieder ihre Glieder erobert.
Von den Toten auferstanden.
Tolland und Corky lagen in Decken gewickelt zitternd auf ähnlichen Liegen, wurden ebenfalls massiert und bekamen gleichfalls Injektionen. Rachel zweifelte nicht daran, dass diese geheimnisvolle Männerversammlung ihr und den beiden anderen das Leben gerettet hatte. Ein paar der Männer waren klatschnass, offensichtlich, weil sie voll bekleidet in die Dusche gesprungen waren, um zu helfen. Wie diese Männer sie und ihre Begleiter beizeiten gefunden hatten und wer sie waren, war Rachel unerfindlich. Im Augenblick war es auch völlig gleichgültig. Wir leben.
»Wo… sind wir?«, brachte Rachel mühsam hervor. Die wenigen Worte verursachten ihr rasende Kopfschmerzen.
»Sie befinden sich im Krankenrevier eines…«, begann der Masseur.
»Aaach-tung!«, rief jemand.
Rachel spürte eine plötzliche Unruhe überall im Raum. Sie versuchte sich aufzusetzen. Einer der Männer in Blau half ihr, lehnte sie mit dem Oberkörper gegen die Wand und zog die Decken hoch. Rachel rieb sich die Augen.
Ein gut aussehender, kraftvoller Afroamerikaner in Khakiuniform betrat den Raum. Er strahlte Autorität aus. »Stehen Sie bequem«, sagte er zu den Männern, während er auf Rachel zuschritt. Er blieb stehen, beugte sich leicht vor und betrachtete sie mit fest blickenden schwarzen Augen. »Harold Brown«, stellte er sich vor. Seine Stimme klang tief und selbstbewusst. »Kapitän der U.S.S. Charlotte. Und Sie sind?«
U.S.S. Charlotte?, dachte Rachel. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. »Sexton…«, antwortete sie. »Ich bin Rachel Sexton.«
Der Mann trat überrascht einen Schritt näher und musterte Rachel. »Zum Teufel, Sie sind es tatsächlich.«
Rachel wusste nicht, was sie denken sollte. Er kennt mich? Sie war sicher, den Mann nie getroffen zu haben. Als ihr Blick auf das Emblem auf seiner Brust fiel, den Adler mit einem Anker in den Klauen, drumherum der Schriftzug »U.S. NAVY«, kam schlagartig die Erinnerung, woher sie den Namen Charlotte kannte. »Willkommen an Bord, Miss Sexton«, sagte der Kapitän.
»Sie haben für unser Schiff eine ganze Reihe Erkundungsberichte bearbeitet. Ich weiß, wer Sie sind.«
»Aber… was tun Sie in diesen Gewässern?«, fragte Rachel.
Der Blick des Kapitäns wurde härter. »Das wollte ich Sie gerade fragen.«
Tolland richtete sich langsam auf, um etwas zu sagen, doch Rachel brachte ihn mit einem energischen Kopfschütteln zum Verstummen. Nicht hier. Nicht jetzt. Tolland und Corky hätten bestimmt sofort von dem Meteoriten und dem Angriff erzählt, doch es war nicht ratsam, ein solches Thema vor der Mannschaft eines Navy-Unterseebootes anzusprechen. In der Welt der Geheimdienste blieb die Wahrung der Vertraulichkeit auch in der größten Krise oberstes Gebot. Immer noch war alles, was mit dem Meteoriten zu tun hatte, streng geheim.
»Ich muss mit NRO-Direktor William Pickering Verbindung aufnehmen«, erklärte Rachel dem Kapitän. »Sofort und vertraulich.«
Der Kapitän hob die Brauen. Er war es nicht gewohnt, auf seinem eigenen Schiff Befehle entgegenzunehmen.
»Ich bin im Besitz von Geheiminformationen, die unbedingt übermittelt werden müssen.«
Der Kapitän schaute sie bedächtig an. »Erst wollen wir mal Ihre Körpertemperatur auf den Normalwert bringen. Dann werde ich gern die Verbindung zu Pickering für Sie herstellen.«
»Sir, es ist sehr dringend. Ich…« Rachel hielt inne. Ihr Blick war auf die Uhr über dem Arzneischrank gefallen.
19:51.
Rachel blinzelte erschreckt. »Geht die Uhr genau?«
»Sie befinden sich auf einem Schiff der Kriegsmarine, Ma’am.
Wir haben nur genaue Uhren.«
»Und die Uhr zeigt Eastern Time?«
»19 Uhr 51 Eastern Standard Time. Wir sind aus Norfolk ausgelaufen.«
Mein Gott!, dachte Rachel. Erst 19 Uhr 51! Sie hatte geglaubt, dass seit ihrer Bewusstlosigkeit Stunden vergangen seien. Zwanzig Uhr war noch nicht vorbei? Der Präsident ist noch nicht vor die Kameras getreten! Noch ist Zeit, ihn aufzuhalten! Rachel rutschte von ihrer Liege herunter. In Decken gewickelt stand sie auf wackeligen Beinen da. »Ich muss sofort den Präsidenten sprechen!«
»Welchen Präsidenten?«, erkundigte der Kapitän sich verwundert.
»Den Präsidenten der Vereinigten
Staaten!«
»Ich dachte, Sie wollten Pickering sprechen.«
»Dazu fehlt jetzt die Zeit. Ich muss den Präsidenten haben.«
Der Kapitän machte keine Anstalten, etwas zu unternehmen.
Er hatte sich in seiner ganzen imponierenden Größe vor Rachel aufgebaut. »Meines Wissens ist der Präsident soeben im Begriff, eine wichtige Pressekonferenz zu geben. Ich bezweifle, dass er jetzt für persönliche Anrufe erreichbar ist.«
Rachel stellte sich so aufrecht hin, wie ihre wackeligen Beine es zuließen. »Sir, die Pflicht zur Geheimhaltung verbietet es mir, Ihnen die Situation zu erklären, aber der Präsident ist im Begriff, einen schrecklichen Fehler zu begehen. Ich habe Informationen, von denen er unter allen Umständen sofort in Kenntnis gesetzt werden muss. Jetzt sofort, unverzüglich. Vertrauen Sie mir!«
Der Kapitän blickte sie skeptisch an. Stirnrunzelnd schaute er noch einmal auf die Uhr. »Wir haben nur noch acht Minuten. In so kurzer Zeit kann ich keine sichere Leitung ins Weiße Haus für Sie herstellen. Ich könnte Ihnen lediglich unser Funktelefon anbieten, eine völlig offene Verbindung. Und ich müsste auf Antennentiefe hochfahren, was ebenfalls ein paar…«
»Tun Sie’s! Worauf warten Sie?«
67
Die Telefonzentrale des Weißen Hauses liegt auf der unteren Ebene des Ostflügels. Sie ist ständig mit drei Telefonistinnen besetzt. Zurzeit saßen jedoch nur zwei Damen an den Konsolen. Die dritte war mit einem schnurlosen Telefon in der Hand im Eiltempo zum Briefing Room unterwegs. Sie hatte versucht, den Anruf ins Oval Office durchzustellen, aber der Präsident war schon zur Pressekonferenz im Briefing Room unterwegs. Sie hatte auch versucht, die Leute des Stabs per Handy zu erreichen, aber sämtliche Handys waren wie immer bei solchen Gelegenheiten bereits abgeschaltet, um die Übertragung nicht zu stören.
In einem Moment wie diesem dem Präsidenten ein schnurloses Telefon hinzuhalten, war natürlich ein höchst fragwürdiges Unterfangen, doch als die Geheimdienstreferentin des Weißen Hauses am anderen Ende der Strippe geltend machte, sie hätte eine dringende Information, die der Präsident unbedingt noch vor seinem Liveauftritt erhalten müsse, hatte die Telefonistin sofort begriffen, dass Eile angesagt war. Die Frage war nur, ob sie es noch beizeiten schaffen würde.
In einem kleinen Arztzimmer an Bord der U.S.S. Charlotte hielt Rachel Sexton den Telefonhörer ans Ohr gepresst und wartete darauf, mit dem Präsidenten verbunden zu werden. Tolland und Corky saßen neben ihr. Die beiden sahen ramponiert aus. Corky hatte eine üble Schwellung auf der Wange, die mit fünf Stichen genäht worden war. Sie hatten Kälteschutz-Unterwäsche bekommen, schwere Navy-Pilotenanzüge, dicke Wollsocken und Deckstiefel. Mit einem Becher heißen, wenn auch ziemlich dünnen Kaffee in der Hand fühlte Rachel sich fast schon wieder wie ein menschliches Wesen.
»Warum dauert das so lange?«, drängte Tolland. »Es ist schon vier Minuten vor acht!«
Rachel wusste nicht, woran es lag. Sie hatte schnell und reibungslos eine der Telefonistinnen des Weißen Hauses erreicht, sich vorgestellt und den Anruf als äußerst dringend deklariert.
Die Telefonistin war sehr gefällig gewesen, hatte Rachel um einen Moment Geduld gebeten und war im Moment wohl damit beschäftigt, Rachel zum Präsidenten durchzustellen.
Noch vier Minuten, dachte Rachel. Nun mach schon!
Sie schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln. War das ein Tag gewesen! Du bist auf einem Atom-U-Boot gelandet, sagte sie sich.
Sie wusste, wie froh sie sein konnte, überhaupt irgendwo gelandet zu sein. Nach Angaben des Kapitäns hatte die Charlotte sich vor zwei Tagen auf einer routinemäßigen Patrouillenfahrt im Beringmeer befunden, als sie ungewöhnliche Unterwassergeräusche auffing, die aus dem Milne-Eisschelf kamen – Bohrgeräusche, Triebwerkgeräusche von Flugzeugen, jede Menge verschlüsselter Funkverkehr. Das Schiff hatte Anweisung erhalten, in aller Stille beizudrehen und zu lauschen. Vor ungefähr einer Stunde war auf dem Eisschelf eine Explosion registriert worden.
Die Charlotte war herangefahren, um sich ein Bild zu verschaffen, wobei sie Rachels SOS-Signale gehört hatte.
»Noch drei Minuten!«, rief Tolland mit einem besorgten Blick auf die Uhr.
Rachel wurde nervös. Warum dauerte das so lange? Wieso hatte der Präsident den Anruf nicht entgegengenommen? Wenn Präsident Herney mit der ihm bekannten Sachlage an die Öffentlichkeit ging…
Rachel verscheuchte den Gedanken. Sie schüttelte den Hörer.
Nun geh schon ran!
Die Telefonistin rannte auf den Bühneneingang des Briefing Rooms zu. Eine gestikulierende Traube von Mitarbeitern stand davor, schrie durcheinander, traf letzte Vorbereitungen. Der Präsident stand keine zwanzig Meter entfernt. Die Maskenbildner zupften immer noch an ihm herum.
»Bitte lassen sie mich durch!«, rief die Telefonistin. »Anruf für den Präsidenten! Entschuldigung, ich muss hier durch!«
»Live in zwei Minuten!«, rief ein Regieassistent.
Das Telefon in der Hand, drängte die Telefonistin sich durch die Menge. »Anruf für den Präsidenten«, rief sie atemlos, »bitte durchlassen!«
Eine hoch aufragende Gestalt verstellte ihr den Weg. Das Pferdegesicht der Präsidentenberaterin schaute missbilligend auf die Bedienstete herab. »Was ist denn hier los?«
»Dringender Anruf!«, stieß die Telefonistin atemlos hervor, »… für den Präsidenten!«
»Das kann doch wohl nicht wahr sein. Doch nicht jetzt!«
»Rachel Sexton ist am Apparat. Sie sagt, es sei außerordentlich dringend.«
Der Zorn auf Marjorie Tenchs finsterem Gesicht wich der Verwunderung. »Das ist doch ein Hausanschluss«, sagte sie mit einem Blick auf das schnurlose Telefon. »Der ist nicht abhörsicher.«
»Gewiss, Ma’am. Aber der Anruf läuft ohnehin über einen offenen Kanal. Miss Sexton spricht von einem Funktelefon aus. Sie will unbedingt sofort den Präsidenten sprechen.«
Live in neunzig Sekunden!
Marjorie Tench streckte die spinnenfingrige Hand aus. »Geben Sie mir den Hörer.«
Der Telefonistin klopfte das Herz bis zum Hals.
»Miss Sexton möchte mit Präsident Herney persönlich sprechen. Sie
hat gesagt, ich müsste verhindern, dass die Pressekonferenz
anfängt, bevor sie mit dem Präsidenten gesprochen hat. Ich habe ihr
versichert…«
Marjorie Tench machte einen Schritt auf die Telefonistin zu.
»Lassen Sie sich einmal erklären, wie das hier läuft«, zischte sie.
»Für Ihre Anweisungen ist nicht die Tochter des Gegners unseres Präsidenten zuständig, sondern ich! Ich garantiere Ihnen, dass Sie keinen Schritt näher an den Präsidenten herankommen werden, bevor ich nicht weiß, was hier gespielt wird!«
»Noch sechzig Sekunden!«, rief der Regieassistent.
Rachel Sexton tigerte in dem engen Arztzimmer an Bord der Charlotte verzweifelt auf und ab, als es endlich im Hörer klickte.
Eine raue Stimme meldete sich. »Hallo?«
»Präsident Herney?«, sprudelte Rachel hervor.
»Marjorie Tench«, stellte die raue Stimme richtig. »Ich bin die Chefberaterin des Präsidenten. Wer immer Sie sind, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Scherzanrufe im Weißen Haus einen Gesetzesverstoß…«
»Herrgott nochmal, das ist kein Scherz! Hier spricht Rachel Sexton. Ich bin Ihre Geheimdienstreferentin und…«
»Ich weiß, wer Rachel Sexton ist. Und ich bezweifle, dass Sie mit ihr identisch sind. Sie rufen das Weiße Haus auf einer nicht gesicherten Leitung an und verlangen von mir, eine wichtige Fernsehsendung des Präsidenten zu unterbrechen…«
»Nun hören Sie mal gut zu«, sagte Rachel wütend, »vor ein paar Stunden habe ich Ihren gesamten Mitarbeiterstab über einen Meteoriten ins Bild gesetzt. Sie haben in der ersten Reihe gesessen und meine Ausführungen über einen auf dem Schreibtisch des Präsidenten aufgebauten Fernseher verfolgt. Noch Fragen?«
Marjorie Tench verstummte einen Moment lang. »Was hat das alles zu bedeuten, Miss Sexton?«
»Dass Sie den Präsidenten aufhalten müssen! Die Daten über diesen Meteoriten stimmen nicht! Wir haben soeben herausgefunden, dass der Meteorit von unten ins Eis eingebracht worden ist. Ich weiß nicht von wem, und ich weiß nicht warum, aber hier läuft ein gewaltiges Verwirrspiel. Der Präsident ist dabei, sich unhaltbares Datenmaterial zu Eigen zu machen, und ich kann Ihnen nur dringend raten…«
»Nun halten Sie mal einen Moment die Luft an!« Marjorie Tench senkte die Stimme. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?«
»Und ob! Ich habe den Verdacht, der Direktor der NASA hat einen Betrug größten Ausmaßes inszeniert, und Präsident Herney ist im Begriff, in die Falle zu tappen. Sie müssen wenigstens den Beginn der Konferenz um zehn Minuten verzögern, damit ich unserem Präsidenten erklären kann, was sich hier oben abspielt. Man hat versucht, mich umzubringen, verdammt!«
Marjorie Tenchs Stimme wurde eisig. »Miss Sexton, erlauben Sie mir ein Wort der Warnung. Wenn Ihnen Ihre stützende Rolle im Wahlkampf unseres Präsidenten jetzt auf einmal unangenehm wird, hätten Sie sich das früher überlegen müssen, und nicht, nachdem Sie sich persönlich für die Richtigkeit der Daten über diesen Meteoriten vor unserem Präsidenten verbürgt haben.«
»Wie bitte?« Hört die mir überhaupt zu?
»Ich bin über Ihr Verhalten aufs Äußerste empört! Dieser Anruf über eine ungesicherte Leitung ist ein billiger Trick. Und dann auch noch zu behaupten, der Meteorit sei eine Fälschung!
Wo gibt es einen Geheimdienstbeamten, der über ein Funktelefon das Weiße Haus anruft und sich offen über Geheiminformationen auslässt! Sie legen es offensichtlich darauf an, dass jemand mithört!«
»Norah Mangor musste meine Erkenntnisse mit dem Leben bezahlen. Und Dr. Ming ist ebenfalls tot! Sie müssen den Präsidenten warnen…«
»Jetzt ist aber Schluss! Ich weiß nicht, welches Spiel Sie spielen, aber ich warne Sie – und jeden, der dieses Gespräch mithört. Das Weiße Haus besitzt Videoaufzeichnungen der Erklärungen führender Wissenschaftler der NASA, von einigen anerkannten zivilen Wissenschaftlern, und auch von Ihnen, liebe Miss Sexton, in denen das Datenmaterial über den Meteoriten einhellig als authentisch dargestellt wird. Über Ihren plötzlichen Sinneswandel kann ich nur mutmaßen. Was immer der Grund sein mag, betrachten Sie sich ab sofort als Ihres Postens im Weißen Haus enthoben. Und ich versichere Ihnen, wenn Sie weiterhin versuchen, die großartige Entdeckung mit der absurden Behauptung mies zu machen, es sei mit unrechten Dingen zugegangen, werden Sie vom Weißen Haus und der NASA so schnell mit Verleumdungsklagen eingedeckt, dass Ihnen vor dem Gang in den Knast noch nicht einmal Zeit bleibt, ein Köfferchen zu packen!«
Rachel öffnete den Mund, um etwas zu sagen, war aber sprachlos.
»Zach Herney war sehr großzügig zu Ihnen«, giftete Marjorie Tench. »Ehrlich gesagt, für mich riecht das nach einem billigen Wahlkampftrick aus der Ecke von Senator Sexton. Hören Sie sofort damit auf, oder wir sehen uns vor Gericht, das schwöre ich Ihnen.«
Die Verbindung brach ab.
Rachel stand noch mit offenem Mund da, als der Kapitän an die Tür klopfte. »Miss Sexton, wir empfangen ein schwaches Signal des kanadischen Rundfunks. Die Pressekonferenz von Präsident Herney hat soeben begonnen.«
68
Schon neben dem Podium des Briefing Rooms spürte Zach Herney die Hitze der Scheinwerfer. Er wusste, die ganze Welt würde ihm zuschauen. Die gezielte Blitzaktion des Pressebüros des Weißen Hauses hatte epidemieartig das Interesse der Medien wachgerufen. Wer nicht über Radio, Fernsehen oder Online-Nachrichtendienste von der bevorstehenden Erklärung des Präsidenten erfahren hatte, war unausweichlich von Nachbarn, Arbeitskollegen oder innerhalb der Familie darauf aufmerksam gemacht worden. Jeder, der nicht gerade ein Höhlenmensch war, stellte um zwanzig Uhr Spekulationen an, was der Präsident wohl zu sagen hatte. Auf dem gesamten Globus blickten in Wohnzimmern und Kneipen Millionen von Menschen neugierig und gespannt auf den Bildschirm.
Wenn Zach Herney in Augenblicken wie diesen den Blick der ganzen Welt auf sich spürte, wurde ihm die Schlagkraft seines Amtes erst richtig bewusst. Wenn jemand behauptete, dass Macht nicht süchtig mache, fehlte ihm einfach diese Erfahrung.
Herney wurde von Unbehagen beschlichen.
Lampenfieber war ihm fremd, und das Unbehagen, das in seinem Innern
um sich griff, gab ihm Rätsel auf.
Es ist dieses unermesslich große Publikum, versuchte er sich zu beruhigen. Und doch wusste er, dass es nicht sein konnte. Ein Instinkt war in ihm wach geworden. Er hatte etwas gesehen.
Es war völlig nebensächlich gewesen, und dennoch…
Nicht beachten, sagte er sich. Es war nichts.
Aber es bohrte weiter. Marjorie Tench.
Vor ein paar Augenblicken hatte er sie in dem gelb gestrichenen Flur in ein schnurloses Telefon sprechen sehen. Das war an sich schon ungewöhnlich, umso mehr, als eine Telefonistin daneben stand, blass vor Aufregung. Herney konnte von dem Gespräch nichts hören, aber es war deutlich zu erkennen, dass es nicht um eine Lappalie ging. Marjorie Tench echauffierte sich mit einer Vehemenz, die Herney selten erlebt hatte – gerade bei ihr. Er suchte ihren Blick und schaute sie forschend an.
Sie machte ihm ein Zeichen. Daumen nach oben. Herney hatte sie noch nie dieses Zeichen geben sehen. Er hörte sein Stichwort. Als er auf die Bühne stieg, begleitete ihn dieses Bild.
Auf dem großen blauen Teppich in der Kuppel auf Ellesmere Island saß Direktor Lawrence Ekstrom von leitenden NASA-Wissenschaftlern flankiert in der Mitte des Tisches. Ein Großbildschirm spielte ihnen das Eröffnungsstatement des Präsidenten zu. Die übrige NASA-Mannschaft drängte sich begeistert vor den für sie aufgestellten Monitoren, um nicht die Worte zu verpassen, mit denen ihr oberster Dienstherr seine Pressekonferenz eröffnete.
»Guten Abend«, hörten sie Herney sagen. Er
wirkte ungewohnt förmlich. »Ich begrüße meine Landsleute und unsere
Freunde auf der ganzen Welt.«
Ekstrom betrachtete den riesigen verbrannten Gesteinsbrocken, der an prominenter Stelle vor ihm aufgebaut war. Sein Blick schweifte zu einem seitwärts aufgestellten Monitor. Er sah sich selbst, flankiert von seinen ernst dreinblickenden Fachleuten, dahinter die riesige amerikanische Flagge mit dem NASA-Schriftzug. In der theatralischen Beleuchtung sah das Ganze wie ein Gemälde im Stil des Fotorealismus aus – die zwölf Apostel beim Letzten Abendmahl. Zach Herney hatte aus der Sache eine Politshow gemacht. Ihm ist auch nichts anderes übrig geblieben. Ekstrom kam sich vor wie ein Fernsehprediger, der den Massen den lieben Gott verkauft.
In ungefähr fünf Minuten würde der Präsident Ekstrom und seine NASA-Fachleute vorstellen. Und dann, in einer dramatischen Satelliten-Liveschaltung zum Kühlschrank der Welt, würde die NASA zusammen mit dem Präsidenten dem gesamten Globus das große Ereignis präsentieren. Nach ein paar kurzen Worten über den Hergang der Entdeckung und ihre Bedeutung für die Weltraumforschung sowie einigem gegenseitigen Schulterklopfen würden NASA und Präsident die fünfzehnminütige Dokumentation des gefeierten Populärwissenschaftlers Michael Tolland ankündigen. Danach, wenn die Begeisterung und die Glaubwürdigkeit bis an ihre Grenzen ausgereizt waren, würden Ekstrom und der Präsident allen einen guten Abend wünschen und weitere Informationen auf weiteren Pressekonferenzen der NASA in den kommenden Tagen in Aussicht stellen. Während Ekstrom dasaß und auf sein Stichwort wartete, legte sich ein wachsendes Schuldgefühl auf seine Seele. Er wusste, dass es kommen würde. Er hatte es schon erwartet.
Er hatte gelogen… sich für unwahre Aussagen verbürgt.
Die Lügen waren inzwischen von untergeordneter Bedeutung.
Eine größere Last drückte sein Gewissen.
Im Chaos der ABC-Nachrichtenredaktion stand Gabrielle Ashe Schulter an Schulter mit lauter fremden Leuten, die mit verdrehten Hälsen zur Batterie der an der Decke montierten Fernsehbildschirme hinaufschauten. Als der große Moment kam, wurde es still. Gabrielle schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, sie möge bitte nicht ihren eigenen nackten Körper sehen, wenn sie die Augen wieder aufmachte.
In Senator Sextons Wohnraum hielt es vor Spannung niemand mehr auf den Sitzen. Die Besucher waren aufgesprungen und starrten auf den Großbildschirm. Zach Herney stellte sich vor die Kameras der Welt. Seine Grußworte – kaum zu glauben – waren unbeholfen. Er wirkte unsicher.
Er ist fertig, dachte Sexton. Ich habe ihn noch nie so fertig gesehen.
»Schaut ihn euch an«, murmelte einer. »Das kann nur eine schlechte Nachricht geben.«
Die internationale Raumstation?, rätselte Sexton.
Herney schaute in die Kamera und holte tief Luft. »Liebe Freunde, ich habe mich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, wie ich es in Worte fassen soll, was ich Ihnen…«
Nun sag schon die drei Worte, versuchte Sexton ihm telepathisch in den Mund zu legen. ICH BIN FERTIG.
Herney verlieh ein paar Sätze lang seinem
Bedauern Ausdruck, dass die NASA ein so bedeutsames Wahlkampfthema
geworden war und dass er aus diesem Grund seiner Bekanntmachung
eine Entschuldigung vorausschicken müsse.
»Für diese Bekanntmachung wäre mir jeder andere Zeitpunkt lieber gewesen«, sagte Herney. »Wenn politische Hochspannung in der Luft liegt, können aus Zweiflern Träumer werden, doch als Ihr Präsident habe ich die Aufgabe und die Pflicht, Ihnen mitzuteilen, was mir unlängst zur Kenntnis gebracht worden ist.«
Er lächelte. »Es scheint, dass die Geheimnisse des Kosmos sich nicht an irdische Terminpläne halten… noch nicht einmal an den eines Präsidenten.«
In Sextons Wohnraum sahen sich alle an. »Was meint er?«
»Vor zwei Wochen«, fuhr Herney fort, »hat der neue NASA-Satellit PODS den Milne-Eisschelf auf Ellesmere Island überflogen, eine einsam gelegene Landmasse oberhalb des fünfundachtzigsten Breitengrades im Polarmeer.«
Sexton und seine Besucher tauschten verwunderte Blicke.
»Dieser NASA-Satellit hat sechzig Meter tief im Eis einen großen Steinbrocken von hoher Dichte geortet. Die Daten ließen die NASA vermuten, dass PODS einen Meteoriten gefunden hatte.« Herney war in Schwung gekommen.
»Ein Meteorit?«, prustete Sexton. »Das soll weltbewegend sein?«
»Die NASA hat ein Team zum Eisschelf hinaufgeschickt, das Kernproben genommen hat. Und dabei…« Herney machte eine Pause. »Dabei machten sie, kurz gesagt, die wissenschaftliche Entdeckung des Jahrhunderts.«
Sexton trat in ungläubigem Erstaunen einen Schritt näher zum Bildschirm. Nein… Seine Gäste traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
»Meine Damen und Herren«, verkündete Herney, »vor einigen Stunden hat die NASA aus dem arktischen Eis einen acht Tonnen schweren Meteoriten geborgen. Er enthält…« Der Präsident machte neuerlich eine Kunstpause. Die ganze Welt sollte sich gebührend der Mattscheibe entgegenbeugen können. »Er enthält Fossilien belebter Organismen – Dutzende. Den unwiderleglichen Beweis für extraterrestrisches Leben.«
Aufs Stichwort leuchtete hinter dem Präsidenten ein Bildschirm auf. Das brillante Bild eines perfekt durchgebildeten, riesigen, insektenartigen Geschöpfs erschien, eingebettet in verkohltes Gestein.
In Sextons Wohnraum rissen sechs Unternehmertypen erschreckt die Augen auf. Sexton erstarrte zur Salzsäule.
»Meine Freunde«, sagte der Präsident, »das Fossil hinter mir ist einhundertneunzig Millionen Jahre alt. Es wurde in einem Bruchstück des so genannten Jungersol-Meteoriten gefunden, der vor fast drei Jahrhunderten über dem Eismeer niedergegangen ist. Der faszinierende neue PODS-Satellit der NASA hat dieses in einem Eisschelf begrabene Meteoritenfragment aufgespürt. Die NASA und meine Administration haben während der vergangenen zwei Wochen die Authentizität dieser wegweisenden Entdeckung mit äußerster Sorgfalt und sämtlichen Details untersucht und bestätigt gefunden, bevor wir sie jetzt der Öffentlichkeit bekannt geben. In der nächsten halben Stunde werden Sie Kommentare von zahlreichen Wissenschaftlern der NASA und aus dem Bereich der zivilen Forschung hören und sehen und sich außerdem eine Dokumentation anschauen können, die von einem Mann stammt, den Sie gewiss alle kennen. Doch bevor ich mich jetzt in Einzelheiten verliere, möchte ich in einer Liveschaltung zum nördlichen Polarkreis jenen Mann begrüßen, dessen Führungsqualität, Weitsicht und harter Arbeit wir es zu verdanken haben, dass wir heute diesen historischen Moment feiern können. Es ist mir eine große Ehre, Ihnen Mr Lawrence Ekstrom vorstellen zu dürfen, den Direktor der NASA.«
Herney wandte sich dem Bildschirm zu.
In perfekter Synchronisation löste sich das Bild des Fossils auf und blendete über in die Tafelrunde der NASA-Wissenschaftler; in ihrer Mitte war die beherrschende Erscheinung von Lawrence Ekstrom zu sehen.
»Vielen Dank, Mr President!« Ekstrom erhob sich schwungvoll und schaute direkt in die Kamera. »Es erfüllt mich mit Stolz und Genugtuung, dass ich gemeinsam mit Ihnen diese… Sternstunde der NASA feiern kann.«
Ekstrom hielt eine leidenschaftliche Ansprache über die NASA und ihre Entdeckung. Mit einer Fanfare des Patriotismus und Triumphs leitete er nahtlos über zur Dokumentation des gefeierten Populärwissenschaftlers Michael Tolland.
Sextons Fassungskraft war erschöpft. Er brach vor dem Bildschirm in die Knie und raufte sich die silberne Mähne.
69
Marjorie Tench stand der Zorn ins Gesicht geschrieben, als sie sich von dem ausgelassenen Durcheinander vor dem Presseraum absetzte und zu ihrer Fluchtburg im Westflügel zurückmarschierte. Ihr war nicht nach Feiern zu Mute. Der Anruf von Rachel Sexton war eine große Überraschung gewesen.
Und eine große Enttäuschung.
Marjorie Tench knallte die Bürotür zu, stakste zu ihrem Schreibtisch und wählte die Hausvermittlung. »William Pickering, NRO!« Sie steckte sich eine Zigarette an und ging rauchend auf und ab, während sie darauf wartete, dass die Telefonistin Pickering aufspürte. Normalerweise hätte er zu Hause sein müssen, aber bei dem Wind, den das Weiße Haus um die heutige Pressekonferenz gemacht hatte, konnte sie sich gut vorstellen, dass Pickering den ganzen Abend in seinem Büro vor dem Fernseher gehockt und sich gefragt hatte, was wohl in der Welt vorgegangen sein mochte, worüber der Chef des NRO nicht schon vorab im Bilde war. Marjorie Tench hätte sich ohrfeigen können, weil sie nicht auf ihren Instinkt gehört hatte, als der Präsident auf die Idee gekommen war, Rachel Sexton zum Milne-Eisschelf zu schicken. Sie hatte ein ungutes Gefühl gehabt und eingewandt, dass es ein unnötiges Risiko sei. Doch der Präsident hatte seine ganze Überzeugungskraft aufgewandt und geltend gemacht, sein Mitarbeiterstab sei in den letzten Wochen amtsmüde geworden und würde der NASA-Entdeckung skeptisch gegenüberstehen, wenn die Meldung aus dem Hause selbst käme. Wie von Herney vorausgesagt, hatte der von Rachel Sexton abgegebene Bericht jedem Verdacht den Boden entzogen. Eine hausinterne Diskussion war gar nicht erst aufgekommen. Der Mitarbeiterstab hatte wieder Tritt gefasst und zu einer gemeinsamen Front gefunden.
Ein unschätzbarer Erfolg, das musste Marjorie Tench zugeben.
Und jetzt diese Töne!
Das Luder hat auf einer
offenen Leitung angerufen!
Rachel Sexton war sichtlich darauf aus, die Glaubwürdigkeit der Entdeckung infrage zu stellen. Der einzige Trost war, dass der Präsident Rachel Sextons Erklärung vom Nachmittag auf Band hatte aufnehmen lassen. Gott sei Dank! So viel Vorsicht hatte Herney immerhin walten lassen. Marjorie Tench hatte das ungute Gefühl, man würde das Band noch brauchen.
Im Augenblick jedoch würde sie versuchen, dem Problem auf andere Weise beizukommen. Rachel Sexton war nicht dumm; wenn sie wirklich vorhatte, sich mit dem Weißen Haus und der NASA anzulegen, musste sie sich mächtige Verbündete besorgen. Der Erste, der dafür in Frage kam, war logischerweise William Pickering. Pickerings Einstellung zur NASA war Marjorie Tench bekannt. Sie musste mit Pickering reden, bevor Rachel es tat.
»Miss Tench?«, sagte eine körperlose Stimme im Hörer. »Hier Pickering. Was verschafft mir die Ehre?«
Marjorie Tench hörte den Fernseher im Hintergrund laufen – NASA-Kommentare. Sie spürte schon an Pickerings Stimme, dass er sich vom Schock der Pressekonferenz noch nicht erholt hatte. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
»Ich hätte erwartet, dass Sie jetzt kräftig feiern. Sieht aus, als lägen die NASA und der Präsident wieder gut im Rennen.«
Marjorie Tench bemerkte eine Mischung aus Erstaunen und Bissigkeit in seiner Stimme – letztere zweifelsfrei ein Nebenprodukt seiner legendären Ungnädigkeit, wenn er wichtige Neuigkeiten gleichzeitig mit den normalen Sterblichen erfuhr. Sie versuchte, ihm eine goldene Brücke zu bauen. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte sie, »aber das Weiße Haus und die NASA hatten leider keine andere Wahl, als Ihnen den Vorgang vorzuenthalten.«
»Es dürfte Ihnen bekannt sein«, entgegnete Pickering, »dass das NRO vor ein paar Wochen dort oben NASA-Aktivitäten festgestellt und eine Untersuchung vorgenommen hat.«
Er ist sauer, dachte Marjorie Tench. »Gewiss, das ist uns bekannt, aber…«
»Die NASA hat uns auf Anfrage die Auskunft gegeben, es sei belanglos, es handle sich um eine Übung unter extremen Witterungsbedingungen – Gerätetests und so weiter.« Pickering machte eine Pause. »Wir haben der NASA die Lüge abgekauft.«
»Wir wollen es doch nicht gleich eine Lüge nennen«, sagte Marjorie Tench. »Es war eher eine notwendige Schutzbehauptung. In Anbetracht der Bedeutsamkeit der Entdeckung darf ich doch mit Ihrem Verständnis rechnen, dass die NASA die Sache unter Verschluss halten musste.«
»Gewiss – vor der Öffentlichkeit.«
Beleidigtsein gehörte nicht zum Verhaltensrepertoire von Männern wie William Pickering. Marjorie Tench spürte, dass es für ihn hiermit sein Bewenden hatte.
»Ich habe leider nicht viel Zeit«, sagte sie, um wieder das Heft in die Hand zu bekommen, »aber ich dachte mir, ich sollte Sie anrufen und warnen.«
»Mich warnen?« Pickerings ironischer Tonfall war sofort wieder da. »Hat Zach Herney beschlossen, meiner Behörde einen neuen, NASA-freundlichen Direktor vor die Nase zu setzen?«
»Natürlich nicht. Der Präsident weiß durchaus, dass Ihre Kritik an der NASA lediglich aus Sicherheitserwägungen erfolgt, und er arbeitet daran, die lecken Stellen abzudichten. Nein, ich rufe Sie wegen einer Ihrer Mitarbeiterinnen an. Rachel Sexton. Haben Sie von Ihr heute Abend schon etwas gehört?«
»Nein. Auf Bitten des Präsidenten habe ich sie heute Vormittag ins Weiße Haus geschickt. Dort habt ihr Miss Sexton wohl ziemlich auf Trab gehalten. Sie ist noch nicht wieder zurück.«
Marjorie Tench war erleichtert. Offenbar hatte sie Pickering als Erste angerufen. Sie nahm einen Zug an ihrer Zigarette. »Ich vermute, dass Miss Sexton in Kürze anrufen wird«, sagte sie ruhig.
»Sehr gut. Ich warte ohnehin auf ihren Anruf. Ich muss Ihnen gestehen, als die Pressekonferenz begann, war ich besorgt, Zach Herney könnte Miss Sexton überredet haben, sich an einer öffentlichen Pressekonferenz zu beteiligen. Nun muss ich erfreut feststellen, dass er Abstand davon genommen hat.«
»Zach Herney ist ein Mensch mit Grundsätzen«, sagte Marjorie Tench. »Was ich von Rachel Sexton leider nicht behaupten kann.«
Eine lange Pause entstand. »Ich hoffe, ich habe Sie eben falsch verstanden.«
»Nein, Sir, ich fürchte, das haben Sie nicht«, sagte Marjorie Tench mit einem tiefen Seufzer. »Ich möchte mich am Telefon nicht in Einzelheiten ergehen, aber es hat den Anschein, dass Miss Sexton die Glaubwürdigkeit dieses NASA-Erfolges unterminieren will. Ich habe keine Ahnung wieso, aber nachdem sie heute Nachmittag die Daten der NASA überprüft und für gut befunden hatte, machte sie plötzlich eine volle Kehrtwendung und setzt jetzt die unglaublichsten Behauptungen über einen angeblichen Betrug der NASA in die Welt.«
»Entschuldigen Sie, wie bitte?«
Pickering war die Anspannung anzuhören.
»Ja, es ist beunruhigend. Ich möchte es Ihnen nur ungern verraten, aber Miss Sexton hat zwei Minuten vor der Pressekonferenz Kontakt mit mir aufgenommen, um mich zu bewegen, die ganze Sache abzublasen.«
»Mit welcher Begründung?«
»Völlig absurd, ehrlich gesagt. Sie hat behauptet, sie hätte in den Daten ernste Unstimmigkeiten entdeckt.«
Pickerings langes Schweigen war von mehr Argwohn erfüllt, als Marjorie Tench lieb war. »Unstimmigkeiten?«, erklang es schließlich aus dem Hörer.
»Lächerlich, nicht wahr? Nachdem die NASA zwei Wochen lang untersucht und experimentiert hat! Und…«
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass jemand wie Rachel Sexton Sie um den Aufschub einer Pressekonferenz bitten würde, es sei denn, sie hätte einen verdammt guten Grund.« Pickering klang besorgt. »Sie hätten vielleicht auf sie hören sollen.«
»Oh, bitte!«, rief Marjorie Tench empört und bekam einen Hustenanfall. »Sie haben doch die Sendung gesehen. Der wissenschaftliche Befund über diesen Meteoriten ist von zahllosen Spezialisten bestätigt worden, darunter auch Wissenschaftler aus nicht staatlichen Institutionen. Kommt es Ihnen nicht verdächtig vor, dass Rachel Sexton – die Tochter des einzigen Mannes, dem diese Entdeckung wehtun muss – plötzlich ganz andere Töne anschlägt?«
»Es könnte einem verdächtig vorkommen, Miss Tench, nur herrscht zwischen Miss Sexton und ihrem Vater ein sehr gespanntes Verhältnis, wie ich zufällig weiß. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso Miss Sexton nach Jahren der zuverlässigen Arbeit für den Präsidenten auf einmal das Lager wechseln und zur Unterstützung ihres Vaters mit Lügen aufwarten sollte.«
»Vielleicht aus Karrieresucht? Ich weiß nicht, aber wer bekommt schon die Gelegenheit, die Tochter des Präsidenten zu werden…?«
»Dünnes Eis, Miss Tench«, sagte Pickering hart. »Wirklich sehr dünnes Eis.«
Marjorie Tench runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, hatte sie erwartet? Sie beschuldigte eine prominente Mitarbeiterin Pickerings des Verrats am Präsidenten! Der Mann konnte ja nur abwiegeln.
»Holen Sie Miss Sexton ans Telefon«, verlangte Pickering. »Ich möchte selbst mit ihr sprechen.«
»Ich fürchte, das ist unmöglich. Miss Sexton hält sich nicht im Weißen Haus auf.«
»Wo denn?«
»Der Präsident hat sie heute Vormittag zum Milne-Eisschelf geschickt, um die Befunde persönlich in Augenschein zu nehmen. Wir warten noch auf ihre Rückkehr.«
Pickering war wütend geworden. »Also, das ist doch…! Und ich erfahre kein Wort davon?«
»Jetzt ist nicht der Moment für verletzte Gefühle, Sir. Ich habe Sie aus reiner Kollegialität angerufen. Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen, dass Rachel Sexton hinsichtlich der heutigen Bekanntmachungen eigene Wege zu gehen gedenkt. Sie wird Verbündete suchen. Falls sie sich mit Ihnen in Verbindung setzt, sollten Sie klugerweise in Rechnung stellen, dass das Weiße Haus sich im Besitz eines am heutigen Nachmittag aufgenommenen Videobandes befindet, auf dem Rachel Sexton sich vor dem Präsidenten, vor seinem Kabinett und seinem ganzen Mitarbeiterstab für die Echtheit der Meteoritenbefunde verbürgt. Wenn Rachel Sexton, aus welchen Motiven auch immer, auf einmal den guten Namen des Präsidenten oder den guten Ruf der NASA in den Schmutz zu ziehen gedenkt, wird das Weiße Haus dafür sorgen, dass ihr ein tiefer Sturz bevorsteht, das schwöre ich Ihnen!«
Marjorie Tench machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich für meine Gutwilligkeit erkenntlich zeigen, indem Sie mich sofort benachrichtigen, wenn Rachel Sexton sich bei Ihnen meldet. Sie begeht einen Angriff auf den Präsidenten. Das Weiße Haus beabsichtigt, Ihre Mitarbeiterin unter Arrest zu stellen, bevor sie weiteres Unheil anrichten kann. Ich erwarte Ihren Anruf, Direktor Pickering. Das ist alles. Guten Abend!«
Marjorie Tench hängte ein. Sie war sicher, dass William Pickering sein Leben lang noch nie von jemandem auf diese Weise angegangen worden war. Jetzt wusste er wenigstens, wie ernst es ihr war.
Im obersten Stock des NRO-Gebäudes stand William Pickering am Fenster und starrte in die Nacht. Marjorie Tenchs Anruf war sehr beunruhigend gewesen. Auf der Unterlippe kauend versuchte er, seine wirbelnden Gedanken zu einem Bild zusammenzufügen.
»Herr Direktor?« Die Sekretärin hatte leise angeklopft. »Da ist noch ein Anruf für Sie.«
»Jetzt nicht«, sagte Pickering geistesabwesend.
»Es ist Rachel Sexton.«
Pickering fuhr herum. Marjorie Tench konnte anscheinend in die Zukunft blicken. »Okay, stellen Sie den Anruf sofort durch.«
»Es ist aber eine verschlüsselte Audio/Video-Datenübertragung. Soll ich sie in den Konferenzraum stellen?«
Ein A/V stream? »Von wo meldet sie sich denn?«
Die Sekretärin gab ihm Auskunft.
Verwundert lief Pickering den Gang zum Konferenzraum hinunter. Das musste er sehen.
70
Der »Dead Room« an Bord der Charlotte war ein so genannter »schalltoter Raum« ohne parallele oder schallreflektierende Flächen, der einer ähnlichen Einrichtung der Bell Laboratories nachgebaut war. Er absorbierte den Schall zu 99,4 Prozent. Wegen der guten Schallleitfähigkeit von Metall und Wasser waren Gespräche an Bord von U-Booten durch in der Nähe lauernde Lauscher oder an den Rumpf geheftete Kontaktmikrofone besonders abhörgefährdet. Der Dead Room war im Prinzip eine kleine, schallisolierte Kammer, aus der keinerlei Geräusch nach außen dringen konnte. Hier geführte Gespräche waren absolut abhörsicher.
Rachel, Corky und Tolland saßen in der Mitte der Kammer um einen kleinen, U-förmigen Tisch, dessen lange Beine durch den berührungsfreien Gitterboden hindurch in einen Wald von Schaumgummistalagmiten hinabreichten. Auf dem Tisch warteten ein paar Mikrofone mit Schwanenhalsständern und einige Kopfhörer auf ihre Benutzer. Ein Bildschirm und darüber eine Kamera mit Fischaugenoptik standen ebenfalls bereit. Stimm- und Bildsignale wurden sofort nach dem Durchgang durch Mikrofon oder Kamera mehrfach elektronisch verschlüsselt, bevor sie den langen Weg durch die Atmosphäre antraten.
»Lautstärkecheck«, sagte unvermittelt eine körperlose Stimme im Kopfhörer. Rachel, Tolland und Corky zuckten erschrocken zusammen. »Miss Sexton, können Sie mich klar und deutlich verstehen?«
Rachel beugte sich zum Mikrofon. »Ja, vielen Dank.«
»Die Verbindung zu Direktor Pickering steht«, sagte die Geisterstimme. »Er hat das A/V angenommen. Ich gehe jetzt aus der Leitung. Ihr Datenfluss beginnt sofort.«
Rachel hörte die Verbindung abbrechen. In ihrem Kopfhörer vernahm sie ein fernes Rauschen und dann eine schnelle Folge von Pieps- und Klickgeräuschen. Mit erstaunlicher Klarheit baute sich auf dem Monitor vor ihr ein Bild auf. Rachel sah Direktor Pickering im NRO-Konferenzraum vor sich sitzen. Er war allein.
Unvermittelt hob er den Kopf und blickte Rachel in die Augen.
Sie empfand eine seltsame Erleichterung.
»Miss Sexton!«, sagte er. Verwirrung und Sorge standen ihm ins Gesicht geschrieben. »Was, in aller Welt, ist los?«
»Es geht um den Meteoriten«, sagte Rachel. »Ich glaube, er wird zu einem ernsten Problem.«
Rachel stellte Pickering Tolland und Corky vor. Anschließend lieferte sie einen kurzen Bericht von der unwahrscheinlichen Abfolge der Ereignisse des Tages.
Der NRO-Direktor lauschte bewegungslos.
Pickering war dafür bekannt, dass er sich ohne mit der Wimper zu zucken die schlimmsten Katastrophenberichte anhören konnte. Dennoch glaubte Rachel seine Fassungslosigkeit und später seinen Zorn zu spüren, als sie vom Mord an Norah Mangor berichtete und von der nur um Haaresbreite geglückten Flucht vor dem Angriff des Spezialeinsatztrupps. Rachel hätte gern ihren Argwohn gegen Ekstrom geäußert, aber sie kannte Pickering gut genug, um nicht auf Verdacht mit dem Finger auf jemand zu zeigen. Sie vermittelte die Geschichte lediglich als Abfolge harter Tatsachen.
Als sie geendet hatte, saß Pickering eine Zeit lang reglos da.
»Miss Sexton, meine Herren«, sagte er endlich und schaute jeden der Reihe nach an. »Wenn es stimmt, was Sie sagen – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln – ,können Sie alle von Glück reden, dass Sie mit dem Leben davongekommen sind.«
Sie nickten stumm. Der Präsident hat fünf Außenstehende als Experten hinzugezogen… und zwei davon sind bereits tot.
Pickering seufzte betrübt. Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Die Geschehnisse ergaben wenig Sinn. »Ist es irgendwie denkbar, dass der untere Schacht, den Sie auf dem Radarbild gesehen haben, ein natürliches Phänomen sein könnte?«
Rachel schüttelte den Kopf. »Er ist zu perfekt.« Sie entfaltete den durchgeweichten Ausdruck und hielt ihn vor die Kamera.
»Sehen Sie selbst. Nach allen Regeln der Kunst gebohrt.«
Pickering betrachtete das Dokument. Er nickte. »Geben Sie das auf keinen Fall aus der Hand.«
»Ich habe Marjorie Tench angerufen und sie dringend gebeten, den Präsidenten aufzuhalten, aber Sie hat mich auflaufen lassen.«
»Ich weiß. Sie hat es mir berichtet.«
Rachel blickte überrascht auf. Das ging aber schnell. »Marjorie Tench hat Sie angerufen?«
»Gerade eben. Sie ist sehr beunruhigt. Sie
glaubt, Sie würden eine Farce inszenieren, um den Präsidenten und
die NASA zu diskreditieren – vielleicht, um Ihrem Vater einen
Dienst zu erweisen.«
Rachel sprang auf. Sie wedelte mit dem Ausdruck und zeigte auf ihre beiden Begleiter. »Sieht das vielleicht nach einer Farce aus? Wir sind beinahe umgebracht worden! Und wie käme ich dazu, meinem…«
Pickering hob begütigend die Hände. »Gemach, gemach! Marjorie Tench hat versäumt, mir zu erzählen, dass Sie zu dritt sind.«
Rachel konnte sich nicht erinnern, dass Tench ihr überhaupt Gelegenheit gegeben hatte, Corky und Tolland zu erwähnen.
»Und sie hat auch nicht erwähnt, dass Sie einen materiellen Beweis in Händen haben«, sagte Pickering. »Ich war schon vor dem Gespräch mit Ihnen skeptisch. Inzwischen bin ich überzeugt, dass Marjorie Tench auf dem Holzweg ist. Miss Sexton, ich hege keinerlei Zweifel an Ihrer Darstellung. Damit stehen wir allerdings vor der Frage, was das alles zu bedeuten hat.«
Langes Schweigen.
William Pickering, dem selten Ratlosigkeit anzusehen war, schüttelte den Kopf und wusste anscheinend nicht weiter. »Lassen Sie uns für den Moment einmal davon ausgehen, dass jemand diesen Meteoriten tatsächlich künstlich ins Eis eingebracht hat. Dann stellt sich die Frage, warum. Wenn die NASA einen Meteoriten mit Fossilieneinschlüssen gefunden hat, wieso sollte es ihr oder sonst jemandem darauf ankommen, wo er gefunden wird?«
»Es hat den Anschein«, sagte Rachel, »dass der Meteorit ins Eis eingebracht worden ist, damit PODS den Fund machen konnte und der Meteorit als Bruchstück eines bekannten Meteoritenabsturzes erscheint.«
»Der Jungersol-Absturz«, sekundierte Corky.
»Aber was hat man denn davon, wenn sich der Meteorit einem bekannten Absturz zuordnen lässt?«, sagte Pickering geradezu aufgebracht. »Sind solche Fossilien nicht jederzeit und überall eine Entdeckung höchsten Grades – egal, welchem Absturz sie zuzuordnen sind?«
Die drei nickten einhellig.
Pickering zögerte. Ein störender Gedanke schien ihn zu irritieren. »Es sei denn…«
Rachel sah das Räderwerk hinter Pickerings Stirn arbeiten. Er hatte die einfachste Erklärung gefunden, weshalb eine Zuordnung des Meteoriten zum Jungersol-Ereignis sinnvoll war – die einfachste und zugleich beunruhigendste Erklärung.
»Es sei denn«, fuhr Pickering fort, »dass diese sorgfältige Platzierung den Zweck hatte, völlig falsche Daten in ein glaubwürdiges Licht zu rücken.« Seufzend wandte er sich an Corky. »Dr. Marlinson, besteht die Möglichkeit, dass dieser Meteorit ein Kunstprodukt ist?«
»Ein Kunstprodukt, Sir?«
»Ja, künstlich, gefälscht.«
»Ein gefälschter Meteorit?« Corky lachte verlegen auf. »Völlig ausgeschlossen! Dieser Meteorit ist von zahllosen Fachleuten untersucht worden, meine Wenigkeit eingeschlossen. Wir haben chemische Analysen, Spektrogramme und Rubidium-Strontium-Verhältnisbestimmungen erstellt. Dieser Meteorit unterscheidet sich von sämtlichen Gesteinen unserer Erde. Er ist authentisch.
Das wird Ihnen jeder Astrogeologe bestätigen.«
Pickering zupfte geistesabwesend an seiner
Krawatte. Er schien über Corkys Argument lange nachzudenken.
»Dennoch… wenn ich mir überlege, dass die NASA zum derzeitigen
Moment durch die Entdeckung sehr viel zu gewinnen hat, dass es
klare Hinweise auf Manipulationen gibt, und dass obendrein ein
Anschlag auf Sie verübt worden ist… der erste und einzige logische
Schluss, der sich mir aufdrängt, lautet: Der Meteorit ist eine sehr
gute Fälschung.«
»Unmöglich!«, erwiderte Corky aufgebracht. »Mit allem Respekt, Sir, Meteoriten sind keine Hollywood-Spezialeffekte, die man in irgendeinem Laboratorium geschickt zusammenbasteln kann, um ein paar harmlose Astrophysiker an der Nase herumzuführen. Meteoriten sind chemisch hochgradig komplexe Objekte mit einzigartigen Kristallstrukturen und Mengenverhältnissen der chemischen Elemente!«
»Dr. Marlinson, bitte, verstehen Sie, ich will Ihnen ja gar nicht am Zeug flicken, ich folge nur einer Kette von logischen Schlussfolgerungen. Wenn ich davon ausgehe, dass jemand Sie umbringen wollte, damit Sie nicht erzählen können, der Meteorit sei künstlich ins Eis eingebracht worden, ergeben sich allerlei Szenarien, die allesamt durchdacht werden müssen. Was macht Sie denn so sicher, dass dieser Steinbrocken nur ein Meteorit sein kann?«
»Das will ich Ihnen sagen.« Corkys Stimme kiekste im Kopfhörer. »Die makellose Schmelzrinde, die Chondren, ein Nickelanteil, wie kein irdisches Gestein ihn aufweist. Wenn Sie andeuten wollen, dass jemand, der uns einen Bären aufbinden will, diesen Brocken in einem irdischen Labor hergestellt hat, kann ich nur sagen, dass dieser Jemand vor hundertneunzig Millionen Jahren in diesem Labor gewerkelt haben muss.« Corky wühlte in seinen Taschen und brachte eine Steinscheibe in der Form einer CD zum Vorschein. Er hielt sie vor die Kamera. »An Proben wie dieser haben wir chemische Datierungen nach den verschiedensten Methoden vorgenommen, darunter Rubidium-Strontium-Datierungen. Da hört es mit dem Fälschen auf.«
»Sie haben eine Probe?«, sagte Pickering überrascht.
Corky zuckte mit den Schultern. »Bei der NASA fliegen sie zu Dutzenden herum.«
Pickering schaute Rachel an. »Soll das heißen, die NASA entdeckt einen Meteoriten, der angeblich Leben enthält, und lässt dann die Leute einfach so mit den Proben davonspazieren?«
»Der springende Punkt ist doch der«, sagte Corky, »dass die Probe in meiner Hand echt ist.« Er hielt den Stein dicht vor die Kamera. »Sie können das jedem x-beliebigen Geologen in die Hand drücken, er wird seine Untersuchungen machen und Ihnen anschließend zweierlei als Ergebnis mitteilen. Erstens, der Stein ist hundertneunzig Millionen Jahre alt, und zweitens, er weicht chemisch von sämtlichem Gestein ab, das hier auf der Erde vorkommt.«
Pickering beugte sich vor und studierte das in den Stein eingebettete Fossil. »Ich bin kein Wissenschaftler«, sagte er schließlich seufzend. »Ich kann nur sagen, wenn dieser Meteorit echt ist – und das scheint der Fall zu sein –, wüsste ich gerne, warum ihn die NASA nicht ohne diesen ganzen Zirkus präsentiert hat. Wieso hat ihn jemand mühevoll von unten ins Eis eingebracht, als gälte es, so zu tun, als ob er echt sei?«
Zur gleichen Zeit wählte im Weißen Haus ein
Sicherheitsbeamter die Nummer von Marjorie Tench.
Beim ersten Klingelzeichen nahm die Chefberaterin ab. »Ja?«
»Miss Tench«, sagte der Beamte, »es geht um den Anruf über Funk von Rachel Sexton heute Abend. Ich habe jetzt die Information vorliegen, die Sie vorhin von mir haben wollten.«
»Ja, bitte?«
»Der Diensthabende beim Secret Service hat mich informiert, das Signal sei von Bord des Marine-U-Boots Charlotte gekommen.«
»Was?«
»Die Koordinaten konnten sie nicht feststellen, aber sie haben die Schiffskennung eindeutig identifiziert.«
»Oh, verdammt!«, sagte Marjorie Tench und knallte den Hörer hin.
71
Die tote Akustik im »Dead Room« der Charlotte machte Rachel allmählich zu schaffen. William Pickerings besorgter Blick wanderte auf dem Bildschirm zu Michael Tolland. »Mr Tolland, Sie sind so still.«
Tolland fuhr hoch wie ein vom Lehrer beim Schlafen ertappter Schüler. »Sir?«
»Wir haben soeben im Fernsehen einen sehr überzeugenden Dokumentarfilm von Ihnen gesehen. Was ist Ihre jüngste Einschätzung des Meteoriten?«
Tollands Unbehagen war mit Händen zu greifen.
»Nun, Sir, ich kann mich Dr. Marlinson nur anschließen. Ich halte
den Meteoriten und die Fossilien für authentisch. Ich kenne mich in
Datierungstechniken ein bisschen aus, und das Alter dieses Brockens
ist mit mehreren Methoden ermittelt worden. Das Gleiche gilt für
den Nickelgehalt. Das sind Daten, die man nicht fälschen kann. Es
kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Brocken, der vor
einhundertneunzig Millionen Jahren entstanden ist, einen
nichtirdischen Nickelanteil und Dutzende von eindeutig als
Fossilien identifizierten Strukturen aufweist, die ebenfalls vor
hundertneunzig Millionen Jahren entstanden sind. Ich kann daraus
nur schließen, dass die NASA einen echten Meteoriten gefunden
hat.«
Pickering verstummte. Er schaute hilflos drein, ein Ausdruck, den Rachel noch nie bei ihm bemerkt hatte.
»Was sollen wir tun, Sir?«, wollte Rachel wissen. »Der Präsident muss doch unbedingt sofort darauf hinweisen, dass es Probleme mit den Befunden gibt.«
Pickering runzelte die Stirn. »Lassen Sie uns hoffen, dass der Präsident es nicht ohnehin schon weiß.«
Rachel spürte einen Kloß im Hals. Pickerings Anspielung war eindeutig. Präsident Herney könnte daran beteiligt sein. Rachel bezweifelte es zwar, aber der Präsident hatte bei dieser Sache mindestens so viel zu gewinnen wie die NASA.
»Leider weisen mit Ausnahme des Radarausdrucks sämtliche wissenschaftlichen Befunde auf eine echte Entdeckung der NASA hin«, sagte Pickering. Er blickte düster. »Und diese Geschichte mit dem Anschlag auf Sie… Sie haben eingangs Spezialeinsatzkräfte erwähnt?«, sagte er mit einem Blick zu Rachel.
»Richtig, Sir.« Sie schilderte noch einmal die
Schusswaffen für IM-Munition und die Taktik der Männer.
Pickerings Miene wurde immer bekümmerter. Rachel konnte sich denken, dass ihr Chef im Geiste durchging, wer alles Zugriff auf eine kleine militärische Killertruppe haben konnte. Der Präsident allemal. Marjorie Tench als Chefberaterin ebenfalls. Lawrence Ekstrom mit seinen Verbindungen zum Pentagon höchstwahrscheinlich auch. Wenn Rachel die vielfältigen Möglichkeiten bedachte, konnte praktisch jeder, der genügend politischen Einfluss und die richtigen Verbindungen besaß, der Drahtzieher hinter den Angriffen sein.
»Ich könnte den Präsidenten sofort anrufen«, sagte Pickering, »aber solange wir noch nicht wissen, wer dahinter steckt, halte ich das nicht für klug. Sobald das Weiße Haus mit einbezogen ist, sind meine Möglichkeiten zu Ihrem Schutz begrenzt. Außerdem weiß ich gar nicht, was ich dem Präsidenten sagen sollte. Wenn der Meteorit echt ist, was Sie ja alle bestätigen, dann ergeben Ihre Aussagen, dass Sie einen Einführungsschacht gefunden haben und angegriffen worden sind, keinen Sinn. Der Präsident könnte meine Behauptungen mit Fug und Recht zurückweisen.« Er hielt inne und schien verschiedene Optionen zu bedenken. »Egal wie… worum es auch geht und wer immer dahinter steckt, einige sehr mächtige Leute schrecken offenbar auch nicht vor Mord zurück, damit diese Informationen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Ich schlage vor, ich bringe Sie erst einmal in Sicherheit, bevor wir weitere Schritte unternehmen.«
In Sicherheit bringen? Rachel war überrascht. »Sir, ich denke, an Bord eines Atom-U-Boots dürfte unsere Sicherheit einigermaßen gewährleistet sein.«
Pickering schaute sie skeptisch an. »Ihre
Anwesenheit auf dem Boot wird sich nicht lange geheim halten
lassen. Ich werde Sie unverzüglich von Bord bringen lassen. Ehrlich
gesagt, mir ist erst wieder wohl zu Mute, wenn Sie alle drei hier
in meinem Büro sitzen.«
72
Senator Sexton kauerte allein auf seiner Couch. Er kam sich vor wie ein Aussätziger. Sein elegantes Apartment, in dem sich noch vor Stundenfrist neue Freunde und Parteigänger getummelt hatten, war verlassen. Leere Cognacschwenker standen herum, achtlos weggeworfene Geschäftskarten lagen auf dem Boden. Die Gäste waren buchstäblich aus der Wohnung geflüchtet.
Am liebsten hätte Sexton den Fernseher abgestellt, aber er schaffte es nicht, sich das quälende Marathon der analytischen Medienkommentare zu ersparen. Washington ließ grüßen: Es dauerte nicht lange, und der ganze pseudowissenschaftliche und allerweltsphilosophische Quatsch war abgehakt, und es ging zur Sache – der Innenpolitik. Wie Folterknechte, die Salz in Sextons Wunden streuten, ritten die Nachrichtenkommentatoren auf dem herum, was ohnehin mit Händen zu greifen war.
»Vor wenigen Stunden noch befand sich Senator Sextons Wahlkampf auf Höhenflug«, sagte ein Kommentator. »Doch jetzt, nach diesem wissenschaftlichen Durchbruch der NASA, hat er eine Bruchlandung hingelegt.«
Sexton zuckte zusammen. Er griff nach dem
Courvoisier und trank den Cognac direkt aus der Flasche. Der
heutige Abend versprach der längste und einsamste seines ganzen
Lebens zu werden. Er verfluchte Marjorie Tench, weil sie ihn derart
über den Tisch gezogen hatte. Vor allem aber verfluchte er
Gabrielle Ashe, weil sie ihm das Thema NASA untergejubelt hatte. Er
verfluchte den Präsidenten mit seinem unverschämten Glück. Und er
verfluchte die ganze Welt, weil sich jetzt jeder über ihn
totlachte.
»Keine Frage, der Senator hat eine verheerende Schlappe einstecken müssen«, tönte der Kommentator. »Der Präsident und die NASA haben mit diesem Meteoritenfund einen unverhofften Erfolg verbuchen können. Meldungen dieser Art sind dazu angetan, der Kampagne des Präsidenten neuen Schub zu verleihen, völlig unabhängig davon, welche Position Sexton zur NASA einnimmt. Aber nachdem Sexton heute Nachmittag noch angekündigt hat, er würde der NASA den Geldhahn abdrehen… nun, man kann sich an drei Fingern abzählen, dass die Erklärung des Präsidenten für Sexton ein schwerer Treffer ist, von dem er sich kaum noch erholen kann.«
Man hat mich reingelegt, murmelte Sexton. Die Arschlöcher im Weißen Haus haben mich reingelegt.
Der Kommentator lächelte. »Was die NASA bei den Amerikanern in der Vergangenheit an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, das hat sie heute mit Bravour wettgemacht. Die Wellen der Begeisterung und des Stolzes auf unser Land schlagen hoch bei den Bürgern im Land. Und so sollte es auch sein. Die Leute lieben Zach Herney, aber sie sind unsicher geworden. Zugegeben, der Präsident hat unlängst schwer einstecken müssen. Er war angeschlagen, aber jetzt ist er wieder voll da – wie der Phönix aus der Asche.«
Als Sexton an die CNN-Fernsehdebatte am frühen Nachmittag dachte, wurde ihm beinahe schlecht. Der Sprengsatz gegen die NASA, den er in den letzten Monaten zusammengebastelt hatte, war zum Rohrkrepierer geworden. Er stand da wie ein Depp.
Das Weiße Haus hatte ihm in aller Seelenruhe ein Bein gestellt.
Die Karikaturen in den morgigen Zeitungen standen ihm jetzt schon vor Augen. Er würde die Witzfigur der ganzen Nation abgeben.
Die diskreten Wahlkampfspenden der SFF würden natürlich auch ausbleiben. Ab jetzt war alles anders. Die Männer, die in seiner Wohnung gewesen waren, hatten vor einer halben Stunde ihre Blütenträume den Bach hinuntergehen sehen. Mit der Privatisierung des Weltraums war es nun vorbei.
Sexton genehmigte sich noch einen Schluck, stand auf und ging unsicheren Schrittes zu seinem Schreibtisch. Bedächtig legte er den abgehängten Hörer wieder aufs Telefon, auch wenn er wusste, dass es ein Akt masochistischer Selbstgeißelung war. Er zählte die Sekunden.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig…
Das Telefon klingelte. Er ließ den Anrufbeantworter anspringen.
»Senator Sexton, hier spricht Judy Oliver von CNN. Wir wollen Ihnen Gelegenheit zur Reaktion auf die Meldung vom Fund der NASA heute Abend geben. Bitte rufen Sie zurück.« Klick.
Sexton zählte erneut. Einundzwanzig… Es klingelte. Er wandte sich ab und ließ den Anruf über den Anrufbeantworter laufen.
Wieder ein Journalist.
Die Flasche Courvoisier in der Hand,
schlenderte er zur Balkonschiebetür, schob sie auf und trat hinaus
in die Kühle. Ans Geländer gelehnt, schaute er über die Dächer der
Stadt zur hell angestrahlten Fassade des Weißen Hauses. Die Lichter
schienen ihm amüsiert zuzuzwinkern.
Sausäcke, dachte er. Seit Jahrhunderten wird nach einem Beweis für Leben in den himmlischen Gefilden gesucht. Und ausgerechnet im Jahr meiner beschissenen Wahl wird dieser Beweis entdeckt! Das war mehr als Glück, das war Hellseherei, verdammt!
Hinter jedem Fenster weit und breit lief der Fernseher. Sexton fragte sich, wo eigentlich Gabrielle Ashe heute Abend steckte. Es war alles nur ihre Schuld. Sie hatte ihn mit einer NASA-Pleite nach der anderen kirre gemacht.
Er hob die Flasche und nahm noch einen Schluck.
Verdammte Gabrielle… sie hat mich in den Schlamassel hineingeritten.
Gabrielle Ashe war nach der völlig unerwarteten Erklärung des Präsidenten wie vor den Kopf geschlagen. Sie stand am anderen Ende der Stadt mitten im Gewühl des ABC-Redaktionsraums und schaute immer noch zu einem der Fernsehmonitore hinauf.
Ringsumher tobte das Chaos.
Während der ersten Sätze der Erklärung war völlige Stille eingetreten – aber nur für ein paar Augenblicke, bevor alles im ohrenbetäubenden Lärm der wild durcheinander rennenden Journalistenmeute unterging. Diese Leute waren Profis. Zeit für persönliche Betroffenheit hatten sie bestenfalls nach der Arbeit. Jetzt erwartete die Welt Hintergrundinformationen, und die Reporter von ABC hatten sie zu liefern. Diese Story bot alles, was das Herz eines Journalisten begehrte – Wissenschaft zum Anfassen, Geschichtsträchtigkeit, politischen Sprengstoff. Niemand aus der Medienbranche würde heute Nacht schlafen.
»Gabs?« Yolanda klang besorgt. »Lass uns in mein Büro verschwinden, bevor jemand dich erkennt und ins Kreuzverhör nimmt.«
Yolanda bugsierte die geistesabwesende Gabrielle durch das Getümmel in ihren Büroglaskasten, platzierte sie auf einem Stuhl und drückte ihr ein Glas Wasser in die Hand. Sie setzte ein Lächeln auf. »Gabs, versuch es doch von der positiven Seite zu sehen. Die Wahlkampagne deines Kandidaten ist zwar im Eimer, aber du nicht.«
»Danke. Großartig!«
Yolanda wurde ernst. »Ich weiß, dass du dich mies fühlst, Gabrielle. Dein Kandidat hat gerade eins mit dem Vorschlaghammer abbekommen, und wenn du meine Meinung wissen willst – er wird sich davon nicht mehr erholen, jedenfalls nicht schnell genug, um die Karre noch aus dem Dreck ziehen zu können.
Aber wenigstens kommt dir dein Hintern nicht aus jedem Fernsehapparat entgegen. Ganz im Ernst, das ist schon was. Herney kann jetzt keinen Sexskandal brauchen, dafür sieht er im Moment viel zu landesväterlich aus.«
Für Gabrielle war das ein geringer Trost.
»Und was die Andeutungen Marjorie Tenchs über Sextons illegale Wahlkampfspenden angeht…« Yolanda wiegte den Kopf.
»Ich habe da so meine Zweifel. Zugegeben, Herney meint es Ernst mit seinem sauberen Wahlkampf, und ein Bestechungsskandal wäre schlecht für unser Land. Ob Herney aber wirklich so weit gehen würde, sich aus Patriotismus die Chance entgehen zu lassen, seinem Gegner eins aufs Dach zu geben? Ich glaube, Marjorie Tench hat zu Sextons Finanzgebaren ein bisschen dazugedichtet, damit du Muffensausen bekommst. Sie hat einfach darauf spekuliert, dass du bei Sexton abspringst und Herney einen Sexskandal zum Nulltarif mitbringst. Und du musst doch zugeben – einen besseren Zeitpunkt als heute Abend, um Sextons moralische Qualifikation infrage zu stellen, konnte Marjorie Tench sich nicht ausdenken.«
Gabrielle nickte halbherzig. Ein Sexskandal wäre für Sexton der endgültige Knockout gewesen, von dem er sich nie mehr erholt hätte… niemals mehr.
»Gabs, du hast der Tench die Tour vermassselt. Sie wollte dir einen Elfmeter reinknallen, aber du hast ihn gehalten. Es werden noch andere Wahlen kommen.«
Gabrielle schaute wenig überzeugt drein. Sie wusste nicht, was sie denken sollte.
»Aber eines musst du zugeben«, sagte Yolanda, »das Weiße Haus hat sich Sexton nach allen Regeln der Kunst zur Brust genommen! Ihn so geschickt auf die NASA-Fährte zu locken, dass er alles auf diese eine Karte gesetzt hat, das war schon genial.«
Und alles meine Schuld, dachte Gabrielle.
»Und diese Erklärung, die wir gerade gesehen haben – mein Gott, war das brillant! Von der Wichtigkeit der Entdeckung mal ganz abgesehen, es war auch unglaublich professionell gemacht.
Liveeinspielungen aus der Arktis, eine Dokumentation von Michael Tolland – du lieber Gott, wer soll dagegen anstinken können? Zach Herney hat heute Abend wirklich gezeigt, was er draufhat. Kein Wunder, dass der Mann Präsident ist.«
Und auch die nächsten vier Jahre…
»Gabs, ich muss jetzt noch ein bisschen arbeiten«, sagte Yolanda. »Bleib schön hier sitzen, solange du Lust hast. Komm erst mal wieder auf die Beine.« Yolanda strebte zur Tür. »Schatz, ich schau in ein paar Minuten wieder vorbei.«
Gabrielle nippte an ihrem Wasser. Es schmeckte schal. Wie alles. Es ist deine Schuld, dachte sie. Sie versuchte, ihr Gewissen zu beruhigen mit der Erinnerung an die vielen trübseligen Pressekonferenzen der NASA in den vergangenen Jahren – die Rückschläge mit der Weltraumstation, die ewigen Verzögerungen mit der X-33, die vermurksten unbemannten Marslandungen, die notorischen Budgetüberschreitungen. Sie fragte sich, was sie hätte anders machen sollen.
Nichts, gab sie sich selbst die Antwort. Du hast alles richtig gemacht.
Es war halt schief gegangen.
73
Der donnernde SeaHawk-Hubschrauber der Navy hatte sich unter Geheimoperationsstatus aus der Luftwaffenbasis Thule in Nordgrönland davongeschlichen. In Böen bis zu Orkanstärke schoss er unterhalb der Radarerfassung in niedriger Höhe aufs offene Meer hinaus. In Ausführung des bizarren Befehls ging der Pilot nach Erreichen der Zielkoordinaten mitten im Ozean in den Schwebeflug.
»Wen sollen wir denn suchen?«, rief der Copilot irritiert. Da im Einsatzbefehl ein Hubschrauber mit Rettungsgeschirr und Seilwinde angefordert worden war, hatte die Besatzung sich auf eine Such- und Rettungsaktion eingestellt. »Sind wir auch an der richtigen Stelle?« Er leuchtete die raue See mit dem Suchscheinwerfer ab. Nichts war zu sehen.
Ohne jede Vorankündigung brach unter ihnen ein schwarzer, unmarkierter Stahlkoloss schäumend durch die Wogen.
»Oh, verdammt!« Der Pilot riss am Knüppel. Der Hubschrauber schoss etliche Meter in die Höhe.
Pilot und Copilot schauten sich mit einem verlegenen Lachen an. »Das sind sie wohl.«
Befehlsgemäß war die Übernahme bei völliger Funkstille abzuwickeln. Auf dem Rücken des U-Boots öffnete sich ein zweiflügeliges Portal. Ein Matrose gab mit dem Stroboskopstrahler Blinksignale nach oben. Der Hubschrauber glitt über die Öffnung und warf ein dreisitziges Rettungsgeschirr ab – im Prinzip drei schaumgummigepolsterte Schlaufen an einem Stahlseil. Innerhalb von sechzig Sekunden waren die drei unbekannten »Pendler« im Sturmwind der Rotoren zum Hubschrauber hinaufgeholt.
Während der Copilot die menschliche Fracht noch an Bord hievte – zwei Männer und eine Frau – blinkte der Pilot schon »Alles klar« nach unten. Binnen Sekunden war das gewaltige U-Boot in der windgepeitschten See verschwunden, als wäre es nie da gewesen.
Der Pilot drehte den Helikopter auf Heimatkurs, nahm die Nase nach unten und beschleunigte Richtung Süden, kaum dass die Passagiere sicher an Bord gelangt waren. Ein Orkan braute sich zusammen, und der Auftrag war erst erledigt, wenn die drei Unbekannten unversehrt auf dem Luftwaffenstützpunkt Thule abgeliefert waren, von wo sie mit einer Düsenmaschine weitertransportiert werden sollten. Der Pilot hatte keine Ahnung, wer seine Fluggäste waren. Es musste sich aber um eine sehr wertvolle Fracht handeln, denn der Befehl war von ganz oben gekommen.
74
Über dem Milne-Eisschelf explodierte der Orkan. Mit Urgewalt warf er sich gegen die NASA-Kuppel. Das futuristische Gebäude erbebte in seinen Grundfesten, als würde der Sturm es im nächsten Moment vom Eis losreißen und aufs Meer hinausschleudern. Die Stahltrossen der Verankerung strafften sich wie große Gitarrensaiten und sangen ein klagendes Lied. Die außerhalb der Kuppel installierten Dieselgeneratoren begannen zu stottern, und das Licht flackerte. Immer wieder drohte der riesige Innenraum in Dunkelheit zu versinken.
NASA-Direktor Ekstrom befand sich auf dem Weg quer durch die Kuppel. Er wäre liebend gerne noch in dieser Nacht verschwunden, aber es sollte nicht sein. Er würde einen weiteren Tag hier bleiben und Pressekonferenzen vor Ort geben müssen.
Außerdem hatte er die Vorbereitungen für den Transport des Meteoriten nach Washington zu überwachen. Im Moment sehnte er sich nach nichts sosehr wie nach ein paar Stunden Schlaf. Die unerwarteten Probleme des heutigen Tages hatten ihm alles abgefordert.
Seine Gedanken wanderten wieder einmal zu Wailee Ming, Rachel Sexton, Norah Mangor, Michael Tolland und Corky Marlinson. Das Fehlen der Zivilisten war einigen NASA-Mitarbeitern inzwischen schon aufgefallen.
Keine Aufregung, suchte Ekstrom sich zu beruhigen, alles unter Kontrolle.
»Hallo, Chef!« Ein NASA-Techniker kam ihm über das Eis hinterhergelaufen. »Im Kommunikationsmodul ist ein dringender verschlüsselter Anruf für Sie angekommen.«
Ekstrom blieb stehen. Was, zum Teufel, ist denn nun schon wieder…? Seufzend machte er sich auf den Weg zum PSC.
Der Techniker lief neben ihm her. »Sir, die Jungs am Radar im PSC wüssten gern, was es mit dem U-Boot auf sich hat…«
»Ach ja?« Ekstrom war in Gedanken ganz woanders.
»Dieses Aufklärungsboot, das da vor der Küste stationiert ist… wir haben uns schon gefragt, warum Sie uns nichts davon gesagt haben.«
Ekstrom blickte verwundert auf. »Wie bitte?«
»Ja, das Unterseeboot, Sir. Sie hätten doch wenigstens den Jungs am Radar Bescheid sagen können. Es ist ja verständlich, dass auch vor der Küste Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden sind, aber unsere Radarmannschaft war im ersten Moment total perplex.«
Ekstrom blieb ruckartig stehen. »Was für ein U-Boot?«
Der Techniker hielt nun ebenfalls inne. Die Überraschung seines Chefs hatte er nicht erwartet. »Das U-Boot gehört nicht zu unserer Operation?«
»Nein! Wo liegt es denn?«
Der Techniker schluckte. »Drei Meilen vor der Küste. Es ist ein paar Minuten lang aufgetaucht. Durch Zufall haben wir es auf dem Radar entdeckt. Ziemlich großer Pott. Wir dachten, Sie hätten die Navy ohne unser Wissen gebeten, ein Auge auf unsere Operation zu haben.«
»Ach was, keine Spur!«
»Sir, dann sollte ich Ihnen wohl sagen, dass das U-Boot gerade eben vor unserer Küste ein Rendezvous mit einem Hubschrauber hatte«, sagte der Techniker besorgt. »Es sah nach einer Personenübernahme aus. Wir waren ziemlich beeindruckt, dass die bei diesem Wetter eine See-Luft-Übergabe durchziehen.«
Ekstrom spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Was hat ein U-Boot vor unserer Nase zu suchen, und du weißt nichts davon, verdammt noch mal? »Haben Sie feststellen können, in welcher Richtung der Hubschrauber davongeflogen ist?«
»Nach Süden. Ich nehme an, zur Air Base Thule, für den Transport zum Festland.«
Wortlos legte Ekstrom den Rest des Weges zum Kommunikationsmodul zurück. Als er in der beengten dunklen Kammer den Kopfhörer aufsetzte, schnarrte die vertraute raue Stimme in seinem Ohr.
»Wir haben hier ein Problem bekommen«, hustete Marjorie Tench. »Es geht um Rachel Sexton.«
75
Es pochte. Senator Sexton wusste nicht mehr, wie lange er schon ins Leere gestarrt hatte. Als er merkte, dass das Pochen nicht aus seinem Brummschädel kam, sondern von der Wohnungstür, rappelte er sich von der Couch hoch, ließ die Cognacflasche verschwinden und schlurfte in die Diele. Er hatte keine Lust auf Besucher. »Wer ist da?«, rief er unwillig. Die Stimme des Leibwächters meldete den unerwarteten Gast. Sexton wurde augenblicklich nüchtern. Das ging aber schnell. Er hatte gehofft, sich diesem Gespräch nicht vor dem kommenden Vormittag stellen zu müssen.
Er ordnete das zerwühlte Haar, atmete tief durch und öffnete.
Das harte, ledrige Gesicht des trotz seiner mehr als siebzig Jahre drahtigen Mannes war ihm nur allzu vertraut. Erst am Vormittag noch hatte er sich im Ford Minivan in jener Tiefgarage mit ihm getroffen. War das erst heute Vormittag gewesen?, wunderte sich Sexton. Mein Gott, wie hat sich seitdem alles verändert.
»Darf ich hereinkommen?«, sagte der dunkelhaarige Mann.
Sexton trat beiseite und ließ den Präsidenten der Space Frontier Foundation eintreten.
»Ist die Zusammenkunft zufriedenstellend verlaufen?«, erkundigte sich der Mann, während Sexton die Tür schloss.
Zufriedenstellend? Der Mann lebte wohl auf einem anderen Stern. »Bis zur Fernsehansprache des Präsidenten lief alles prima.«
Der alte Herr nickte indigniert. »Ja. Ein unglaublicher Sieg der Gegenseite. Unsere Sache wird sehr darunter leiden.«
Darunter leiden? Der Mann war wirklich ein Optimist. Nach dem heutigen Triumph der NASA würde er längst tot und begraben sein, bevor seine Space Frontier Association an die Privatisierung des Weltraums auch nur wieder denken konnte.
»Seit Jahren habe ich damit gerechnet, dass ein solcher Beweis auftaucht«, sagte der alte Herr. »Ich wusste nicht wie und wann, aber früher oder später musste es zur Gewissheit werden.«
»Es hat Sie nicht überrascht?«, fragte Sexton verdutzt.
»Aus mathematischen Erwägungen sind andere
Lebensformen im Kosmos geradezu unausweichlich«, sagte der Alte.
»Diese Entdeckung überrascht mich keineswegs. Intellektuell und
spirituell bin ich begeistert und von Ehrfurcht ergriffen, aber
politisch bin ich zutiefst beunruhigt. Ein ungünstigerer Zeitpunkt
war nicht denkbar.«
Sexton fragte sich, warum der Mann eigentlich gekommen war.
Doch bestimmt nicht, um ihn aufzuheitern.
»Wie Sie wissen«, sagte der Mann, »haben die Mitgliedsfirmen der SFF Millionen ausgegeben, um den Weltraum für den Normalbürger zugänglich zu machen. In jüngster Zeit ist ein Großteil dieses Geldes Ihrem Wahlkampf zugeflossen.«
Sexton glaubte, sich verteidigen zu müssen. »Das Fiasko von heute Abend habe ich nicht zu verantworten. Das Weiße Haus hat meinen Angriff auf die NASA mit einem Trick provoziert.«
»Ja, ja, der Präsident hat das schlau eingefädelt. Aber vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.« Ein Hoffnungsfunke glitzerte in den Augen des alten Mannes.
Er ist senil, sagte sich Sexton. Es war definitiv alles im Eimer.
Jeder Fernsehsender im Land berichtet von nichts anderem als der Bruchlandung von Sextons Wahlkampagne.
Der alte Herr ging unaufgefordert in Sextons Wohnraum und setzte sich auf die Couch. »Erinnern Sie sich noch«, sagte er, »dass die NASA mit dem PODS-Satelliten anfangs Computerprobleme hatte? Wie Sie sicher noch wissen, hat die Software an Bord des Satelliten nicht funktioniert. Sie haben damals in der Presse viel Wind darum gemacht.«
»Und das war auch richtig so!«, sagte Sexton. »Es war wieder mal einer der vielen Fehlschläge der NASA.«
Aber was macht das jetzt
noch, nachdem PODS den verfluchten
Meteoriten mit den Fossilien gefunden hat?
Sexton setzte sich dem Mann gegenüber.
»Kurz darauf hat die NASA eine Pressekonferenz gegeben«, fuhr der Mann fort, »und angekündigt, sie hätte eine Ausweichlösung gefunden – eine Art Pflaster für die kaputte Software.«
Sexton hatte diese Ankündigung nicht im Fernsehen verfolgt, aber man hatte ihm gesagt, sie sei sehr kurz und nichts sagend gewesen – der Leiter des PODS-Programms hätte mit langwierigen technischen Erläuterungen beschrieben, auf welche Weise die NASA eine kleine Störung der Software des Anomaliendetektors behoben und alles wieder zum Funktionieren gebracht hatte.
»Ich habe PODS seit der Funktionsstörung mit Interesse verfolgt«, sagte der Mann. Er holte eine Videokassette hervor, ging zu Sextons Fernsehapparat und steckte die Kassette in den Videorekorder. »Das dürfte Sie interessieren.«
Zu Beginn der Aufzeichnung war der Pressesaal des NASA-Hauptquartiers in Washington zu sehen. Ein gut gekleideter Herr betrat das Podium und begrüßte die Anwesenden. Am unteren Bildrand stand:
CHRIS HARPER, Abteilungsleiter Polar-Orbit Dichtescanner (PODS)
Chris Harper war hoch gewachsen, kultiviert und sprach mit der selbstsicheren, geschliffenen Ausdrucksweise eines gebildeten, europäischstämmigen Amerikaners, der sich seiner Herkunft durchaus bewusst ist. Selbstbewusst wandte er sich mit den schlechten Neuigkeiten an die Journalisten. »Der PODS-Satellit hat sicher seine Umlaufbahn erreicht und funktioniert erwartungsgemäß gut, allerdings gibt es zurzeit noch ein kleines Problem mit den Bordcomputern. Es handelt sich um einen unbedeutenden Programmierungsfehler, für den ich die volle Verantwortung übernehme. Der FIR-Filter hat einen falschen Voxel Index, was zur Folge hat, dass die Software des Anomaliendetektors nicht optimal arbeitet. Wir sind dabei, eine Lösung zu erarbeiten.«
Aus der Journalistenmenge erhob sich ein mürrisches Brummen. Offensichtlich war man die Pannen der NASA schon gewohnt. »Was bedeutet das für die augenblickliche Leistungsfähigkeit des Satelliten?«, fragte jemand.
Harper reagierte professionell. Er blieb unbeirrt und sachlich.
»Stellen Sie sich zwei hervorragende Augen vor, aber das Gehirn funktioniert nicht. Der PODS-Satellit sieht im Prinzip alles, weiß aber nicht, was er sieht. Der Zweck des PODS-Programms ist das Aufspüren von Schmelzwassereinschlüssen in den polaren Eiskappen. Aber wenn der Computer die Daten, die er von den Scannern geliefert bekommt, nicht analysieren kann, kann PODS auch nicht die Stellen anzeigen, die für uns von Interesse sind.
Das Problem wird behoben sein, wenn mit der nächsten Shuttle-Mission eine Umprogrammierung des Bordcomputers möglich ist.«
Die Journalisten machten sich mit einem enttäuschten Stöhnen Luft.
Der Alte schaute Sexton an. »Er versteht ziemlich gut, wie man schlechte Nachrichten verkauft!«
»Er ist schließlich von der NASA«, spottete
Sexton. »Die tun ja nichts anderes.«
Nach einem kurzen Stück Leerband kam wieder eine NASA-Pressekonferenz.
»Diese zweite Pressekonferenz fand erst vor ein paar Wochen statt«, sagte der alte Herr. »Ziemlich spät abends. Nur wenige Leute haben sie gesehen. Diesmal gibt Dr. Harper gute Nachrichten bekannt.«
Nach dem Vorspann trat Chris Harper auf. Er sah mitgenommen aus. »Mit großer Freude kann ich Ihnen mitteilen«, sagte er und sah dabei alles andere als erfreut aus, »dass die NASA eine Möglichkeit gefunden hat, das Software-Problem des PODS-Satelliten zu umgehen.« Er rang sich mühsam eine Erläuterung ab – irgendwie wurden die Rohdaten von PODS vom gestörten Bordcomputer abgezweigt, zur Erde geleitet und hier durch den Computer geschickt. Alle Anwesenden waren sehr beeindruckt.
Die Lösung hörte sich sehr plausibel an und klang nach frischem Wind. Als Harper endete, spendete der ganze Saal ihm begeistert Applaus.
»Dann können wir also bald mit Daten rechnen?«, fragte jemand.
Harper war schweißnass. Er nickte. »In ein paar Wochen.«
Erneuter Applaus. In ganzen Saal schossen Hände von Leuten nach oben, die um Wortmeldungen baten.
»Mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen«, erklärte Harper und raffte seine Unterlagen zusammen. Er sah elend aus. »PODS funktioniert wieder. Wir werden in Kürze Daten bekommen.«
Fluchtartig verließ er den Saal.
Sexton runzelte die Stirn. Er musste zugeben, dass es seltsam war. Warum war Chris Harper bei der schlechten Meldung so gelassen und bei der guten so gestresst? Eigentlich hätte es doch genau andersherum sein müssen!
Der alte Herr schaltete den Fernseher aus. »Die NASA hat erklärt, Harper hätte sich an jenem Abend gesundheitlich nicht wohl gefühlt.« Er machte eine Pause. »Ich bin allerdings der Meinung, Dr. Harper hat gelogen.«
Gelogen? Sexton schaute verdutzt drein. Er konnte sich keine logische Erklärung zusammenreimen, weshalb Harper gelogen haben sollte. Andererseits hatte Sexton in seinem Leben oft genug gelogen, um schlechte Lügner auf Anhieb zu erkennen. Harper hatte keinen guten Eindruck bei ihm hinterlassen.
»Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass diese kleine Erklärung, die wir soeben von Dr. Harper gehört haben, die wichtigste Pressekonferenz in der Geschichte der NASA war«, sagte der alte Herr.
»Ohne diese von Dr. Harper so beiläufig beschriebene Software-Reparatur hätte PODS den Meteoriten nicht finden können.«
Sexton überlegte. Harper soll gelogen haben? »Aber wenn Harper gelogen hat und folglich die Software von PODS immer noch nicht funktioniert – wie hat die NASA dann den Meteoriten gefunden?«
Der alte Herr lächelte. »Eben!«
76
Bei der Verhaftung von Drogenkriminellen hatte das U.S.-Militär eine ganze Reihe von Privatjets beschlagnahmt. Dazu gehörten auch drei Flugzeuge des Typ G4, die man anschließend für den Transport von militärischen VIPs umgebaut hatte.
Vor einer halben Stunde hatte eine G4 in Thule abgehoben, sich durch den Sturm auf Reisehöhe gekämpft, und donnerte jetzt mit Kurs auf Washington durch die kanadische Nacht die Küste entlang gen Süden. Rachel Sexton, Michael Tolland und Corky Marlinson hatten die achtsitzige Kabine für sich allein. In ihren einheitlichen blauen Overalls und Mützen der U.S.S. Charlotte sahen sie aus wie eine abgekämpfte Sportlermannschaft.
Corky Marlinson schlief ungeachtet des Lärms der Triebwerke auf seinem Sitz im Heck der Kabine. Tolland saß fast ganz vorne und schaute hinunter aufs Meer. Er sah erschöpft aus. Rachel saß auf der anderen Seite des Mittelgangs neben ihm. Nicht einmal unter Beruhigungsmitteln hätte sie schlafen können. Das Geheimnis des Meteoriten und das zurückliegende Gespräch mit Pickering ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Pickering hatte Rachel zum Abschluss noch zwei beunruhigende Informationen übermittelt.
Die erste besagte, dass Marjorie Tench behauptete, eine Videoaufzeichnung von Rachels vertraulicher Aussage vor den Mitarbeitern des Weißen Hauses befände sich in ihrem Besitz – eine Aufzeichnung, mit der sie den Beweis antreten könne, dass Rachel sich von ihrem Eintreten für die Korrektheit der Meteoritendaten distanzieren wolle. Diese Information war insofern besonders beunruhigend, als Zach Herney sich offenbar über seine Zusage hinweggesetzt hatte, Rachels Aussage nur zur internen Information des Stabs im Weißen Haus zu verwenden.
Die zweite wenig erfreuliche Neuigkeit betraf die CNN-Fernsehdebatte ihres Vaters vom frühen Nachmittag. Marjorie Tench hatte einen ihrer seltenen Auftritte gegeben und Rachels Vater geschickt dazu gebracht, sich rückhaltlos zu seiner NASA-feindlichen Haltung zu bekennen. Sie hatte ihm sogar das Bekenntnis entlockt, er halte die Hoffnung auf außerirdisches Leben für völligen Blödsinn.
Dann frisst er einen Besen? Das hatte, laut Pickering, ihr Vater zu tun behauptet, falls die NASA jemals außerirdisches Leben fände. Rachel fragte sich, wie Marjorie Tench es geschafft hatte, diesen Satz, der so wunderbar in ihr Konzept passte, aus dem Senator herauszukitzeln. In einem raffinierten Blindekuh-Spiel hatte das Weiße Haus die Falle sorgfältig aufgebaut, Marjorie Tench hatte Sexton an den Rand des Abgrunds geführt, und der Präsident hatte Sexton zu guter Letzt den tödlichen Schubs verpasst.
Herney zufolge hatte die NASA auf seine Bitte die Meldung der Entdeckung zurückgehalten, weil er ausreichend Zeit haben wollte, den Sachverhalt zu überprüfen. Aber wie Rachel jetzt bemerkte, hatte das Weiße Haus die Verzögerung bedenkenlos benutzt, um die Schlinge auszulegen, in der sich der Senator verfangen hatte.
Rachel empfand kein Mitleid mit ihrem Vater, doch sie musste gestehen, dass in dem warmherzigen Krauskopf Zach Herney ein Hai lauerte. Ohne Killerinstinkt wurde man nicht zum mächtigsten Mann der Welt. Jetzt stellte sich die Frage, ob Herney mit im Spiel steckte, oder ob er nur zufällig davon profitierte.
Rachel kroch aus dem Sitz und streckte die Beine. Es war frustrierend, nichts passte zusammen. Sie ging im Mittelgang der Kabine auf und ab. Pickering mit seiner bekannt nüchternen Logik hatte den Schluss gezogen, dass der Meteorit gefälscht war.
Corky und Tolland hatten mit wissenschaftlicher
Akribie dagegengehalten, dass er echt sein müsse. Rachel wusste
nur, was sie gesehen hatte – einen verbrannten Felsbrocken mit
Fossilien, den man aus dem Eis geholt hatte. Im Vorbeigehen schaute
sie den schnarchenden Corky an. Die Wange mit der genähten
Platzwunde war schon nicht mehr so dick. Die Meteoritenprobe in den
Wurstfingern, schlief er den Schlaf des Gerechten.
Rachel beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihm behutsam die Steinscheibe ab. Sie betrachtete die Fossilien. Vergiss alles, was du darüber weißt. Sie zwang sich, ihre Gedanken neu zu ordnen.
Sie versuchte es mit dem alten NRO-Trick, wenn die Teile nicht zusammenpassen wollten: die Beweiskette von Null an neu aufbauen. Jeder Datenanalyst hatte den »Nullstart« trainiert.
Wie gehören die Beweise zusammen?
Sie ging wieder im Mittelgang auf und ab.
Liefert dieser Stein den Beweis für außerirdisches Leben?
Vergiss alles, was nur auf Annahmen beruht. Fang wieder ganz von vorne an.
Was haben wir denn?
Einen Felsblock mit versteinerten Lebewesen.
Sie setzte sich wieder auf ihren Sitz neben Michael Tolland.
»Mike, lassen Sie uns ein Spiel spielen.«
Tief in Gedanken wandte Tolland den Blick vom Fenster. »Ein Spiel?«
Rachel reichte ihm die Meteoritenprobe. »Lassen Sie uns so tun, als würden Sie diesen Stein mit Fossilien zum ersten Mal sehen. Was könnten Sie mir darüber sagen?«
Tolland seufzte bedrückt. »Seltsam, dass Sie mich das fragen. Ich hatte mir gerade selber Gedanken gemacht…«
Hunderte von Kilometern hinter Rachel und
Tolland jagte ein seltsames Flugzeug mit der Delta Force an Bord im
Tiefflug über den öden Ozean nach Süden. Die Männer waren schon
öfter in aller Eile von einem Einsatzort abgezogen worden, aber so
hastig noch nie. Alles war Hals über Kopf gegangen.
Ihr Einsatzleiter kochte.
Delta-1 hatte ihn zuvor informiert, dass sein Team wegen einer unerwarteten Wendung der Lage auf dem Eisschelf notgedrungen zu gewaltsamen Maßnahmen gegriffen habe, was den Tod der fünf Zivilpersonen zur Folge gehabt hätte, einschließlich Rachel Sexton und Michael Tolland.
Der Einsatzleiter war schockiert gewesen. Im äußersten Notfall war Töten zwar zulässig, doch es war nie ein Bestandteil seines Plans gewesen.
Später, als er erfuhr, wie die Mordanschläge im Einzelnen verlaufen waren, war sein Missfallen in unverhohlenen Zorn umgeschlagen.
»Ihr Team hat versagt«, hatte der Einsatzleiter gezischt.
Der androgyne Klang des CrypTalk hatte den Zorn des Sprechers kaum zu kaschieren vermocht. »Drei von Ihren Zielpersonen sind nach wie vor am Leben!«
Unmöglich! dachte Delta-1. »Aber wir haben doch mit eigenen Augen gesehen…«
»Sie haben Kontakt mit einem Unterseeboot aufgenommen und befinden sich zurzeit auf dem Weg nach Washington!«
»Was?«
»Hören Sie mir gut zu«, sagte der Einsatzleiter mit tödlicher Bestimmtheit. »Ich gebe Ihnen jetzt neue Befehle. Und diesmal werden Sie nicht versagen!«
77
Als Senator Sexton seinen unerwarteten Besucher zum Aufzug begleitete, sah er einen kleinen Hoffnungsschimmer. Der Präsident der SFF war nicht gekommen, um ihn fertig zu machen, sondern um ihn aufzubauen und ihm zu verdeutlichen, dass die Schlacht noch nicht vorüber war.
Der Panzer der NASA hatte vermutlich ein kleines Loch. Das Videoband von der merkwürdigen Pressekonferenz der NASA hatte Sexton überzeugt, dass der alte Herr richtig gesehen hatte.
Chris Harper, der Leiter der PODS-Mission, hatte gelogen. Aber warum? Und wie konnte die NASA den Meteoriten finden, wenn die PODS-Software gar nicht in Ordnung gebracht worden war?
»Manchmal braucht man nur an einem kleinen Fädchen zu ziehen, damit der ganze Knoten sich löst«, sagte der alte Herr auf dem Weg zum Aufzug. »Vielleicht gelingt es uns, der NASA ihren Sieg madig zu machen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass ein Schatten des Misstrauens auf die NASA fällt. Wir werden sehen, was dann passiert.« Der alte Herr sah Sexton in die Augen. »Ich bin noch nicht bereit, mich hinzulegen und zu sterben. Und ich hoffe, Sie sind es auch nicht, Senator.«
»Natürlich nicht«, sagte Sexton, um eine feste Stimme bemüht.
»Wir sind schon so weit gekommen.«
»Chris Harper hat gelogen«, sagte der alte Herr beim Einsteigen in den Fahrstuhl. »Wir müssen herausfinden, warum.«
»Ich werde mich darum kümmern, dass wir es umgehend erfahren«, gab Sexton zurück. Ich weiß auch schon, wer uns die Information besorgt.
»Gut. Ihre Zukunft hängt davon ab.«
Als Sexton zu seiner Wohnung zurückging, war sein Schritt schon wieder ein bisschen schwungvoller, sein Kopf ein bisschen klarer. Die NASA hat in Sachen PODS Lügen aufgetischt. Für Sexton blieb nur noch die Frage, wie er es beweisen konnte. Gabrielle Ashe! Wo immer sie im Moment steckte, es musste ihr beschissen zu Mute sein. Ohne jeden Zweifel hatte sie die Pressekonferenz gesehen. Jetzt stand sie wohl irgendwo auf einem Fenstersims und machte sich zum Sprung bereit. Ihr Vorschlag, die NASA zu einem Hauptthema von Sextons Wahlkampf zu machen, hatte sich als der größte Flop in Sextons Karriere erwiesen.
Sie ist mir etwas schuldig, dachte Sexton. Und sie weiß es auch.
Gabrielle hatte schon bewiesen, dass sie an NASA-Interna herankommen konnte. Sie muss da jemand kennen. Seit Wochen hatte sie Insiderinformationen beschafft. Gabrielle hatte Verbindungen, über die sie sich ausschwieg – Verbindungen, die sie auch in Sachen PODS anzapfen konnte. Und vor allem, heute Abend würde Gabrielle hoch motiviert sein. Sie hatte eine Scharte auszuwetzen. Sexton vermutete, dass sie zu jeder Schandtat bereit war, um sich wieder bei ihm beliebt zu machen.
Als Sexton zu seiner Wohnungstür zurückkehrte, nickte der Leibwächter ihm zu. »‘n Abend, Senator. Ich hoffe, es war Ihnen recht, dass ich Gabrielle vorhin reingelassen habe. Sie hat gesagt, es brennt. Sie müsste Sie unbedingt sprechen.«
Sexton hielt inne. »Bitte noch einmal.«
»Miss Ashe. Sie hat gesagt, sie müsste Ihnen dringend etwas sagen. Deshalb habe ich sie reingelassen, am frühen Abend.«
Sexton war baff. Er betrachtete seine Wohnungstür. Wovon redet der Kerl eigentlich?
Der Leibwächter schaute Sexton verwirrt und
besorgt an.
»Geht es Ihnen gut, Senator? Sie müssen sich doch daran erinnern! Gabrielle ist gekommen, als Ihre Freunde noch hier waren.
Sie hat doch mit Ihnen gesprochen? Sie muss mit Ihnen gesprochen haben, sie war doch eine ganze Weile bei Ihnen drinnen.«
Sexton spürte seinen Puls auf hundertachtzig steigen. Er starrte den Leibwächter an. Dieser Blödmann hat Gabrielle während meines Treffens mit SW-Leuten in meine Wohnung gelassen? Und sie hat sich da drinnen eine ganze Weile herumgetrieben, hat sich nicht gemeldet und ist dann wieder abgehauen? Sexton konnte nur raten, was Gabrielle alles mitbekommen hatte. Er schluckte seinen Ärger herunter und lächelte den Leibwächter gequält an. »Oh, ja, tut mir Leid, ich bin ziemlich geschafft. Habe mir auch ein paar Drinks genehmigt.
Natürlich habe ich mit Miss Ashe gesprochen. War schon richtig, was Sie getan haben.«
Dem Leibwächter war die Erleichterung deutlich anzusehen.
»Hat Miss Ashe beim Rausgehen gesagt, wo sie hin will?«
»Nein, aber sie hatte es sehr eilig.«
»Okay, danke.«
Sexton ging in seine Wohnung. Er kochte vor Zorn. Ich hatte gesagt, keine Besucher! Ist das denn so schwer zu begreifen? Wenn Gabrielle eine nennenswerte Zeit in seiner Wohnung gewesen und ohne ein Wort wieder verduftet war, musste sie Dinge gehört haben, die nicht für ihr Ohr bestimmt waren. Ausgerechnet heute Abend!
Senator Sexton wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, Gabrielle Ashes Vertrauen zu verlieren. Wenn Frauen sich hinters Licht geführt fühlten, konnten sie rachsüchtig und borniert reagieren. Sexton musste Gabrielle wieder in sein Boot holen. Heute Abend konnte er weniger denn je auf sie verzichten.
78
Gabrielle Ashe saß auf der vierten Etage der ABC-Fernsehstudios allein in Yolandas Büro-Glaskasten und starrte auf den abgetretenen Teppichboden. Sie war immer stolz darauf gewesen, instinktiv zu wissen, wem sie vertrauen konnte. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich allein und unfähig zu entscheiden, wohin ihr Weg gehen sollte.
Das Trillern des Handys riss sie aus ihren Gedanken. Zögernd nahm sie den Anruf entgegen. »Gabrielle Ashe.«
»Gabrielle, ich bin’s.«
Sie erkannte Sextons Stimme sofort. Angesichts dessen, was soeben passiert war, klang Sexton erstaunlich kühl.
»Heute Abend war bei mir der Teufel los«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben die Pressekonferenz des Präsidenten gesehen.
Mann o Mann, was haben wir aufs falsche Pferd gesetzt. Mir könnte übel werden. Wahrscheinlich geben Sie sich jetzt die Schuld. Das brauchen Sie aber nicht. Wer in aller Welt hätte mit so etwas rechnen können? Sie können nichts dafür. Aber ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir wieder festen Boden unter die Füße bekommen können.«
Gabrielle stand auf. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte keine Ahnung, worauf Sexton anspielte.
»Ich hatte heute Abend ein Treffen mit ein paar Vertretern aus der Raumfahrtbranche…«
»Tatsächlich?«, platzte Gabrielle heraus. Sein Eingeständnis erwischte sie auf dem linken Fuß. »Davon wusste ich ja gar nichts.«
»Es war auch nicht weiter wichtig. Ich hätte Sie eigentlich gern dabeigehabt, aber diese Leute sind in Sachen Vertraulichkeit sehr pingelig. Ein paar von ihnen betätigen sich als Spender für meinen Wahlkampf. Sie möchten das ungern an die große Glocke hängen.«
Gabrielle war vollkommen entwaffnet. »Aber… ist das denn nicht illegal?«
»Illegal? Ach was! Die Spenden liegen alle im erlaubten Zweitausend-Dollar-Bereich. Das ist sauberes Geld, vollkommen legal. Für mich fällt das überhaupt nicht ins Gewicht, aber ich höre mir halt die Wehwehchen dieser Leute an. Nennen Sie’s eine Investition in die Zukunft. Ich rede nicht davon, weil es sich ehrlich gesagt nicht so gut ausnimmt. Wenn das Weiße Haus Wind davon bekommt, machen die wieder aus einer Mücke einen Elefanten. Egal, darum geht es im Moment auch nicht. Ich habe Sie angerufen, weil ich im Anschluss an das Treffen noch mit dem Präsidenten der SFF gesprochen habe. Er hat mich…«
Gabrielle schoss die Schamröte ins Gesicht. Ohne von ihr auch nur im Geringsten dazu gedrängt worden zu sein, hatte Sexton sich zu dem Treffen mit den Vertretern der Raumfahrtbranche bekannt. Vollkommen legal! Wenn sie daran dachte, was sie beinahe getan hätte, wäre Yolanda nicht dazwischengegangen! Um ein Haar wärst du Marjorie Tench auf den Leim gegangen!
»… und ich habe ihm gesagt, Sie könnten uns vielleicht bestimmte Informationen beschaffen.«
Gabrielle war wieder ganz Ohr. »Und welche?«
»Sie haben doch diese Kontaktperson, von der Sie in den letzten Monaten zahlreiche NASA-Interna erfahren haben. Ich nehme an, der Kontakt besteht immer noch.«
Marjorie Tench. Niemals
würde Gabrielle dem Senator beichten dürfen, dass er mit diesen
Informationen von Anfang an manipuliert worden war. »Äh… ich glaube
schon«, schwindelte Gabrielle.
»Gut. Es gibt da etwas, das ich unverzüglich in Erfahrung bringen müsste, ganz schnell.«
Während Gabrielle Sexton zuhörte, kam sie nicht an der Erkenntnis vorbei, dass sie den Senator in letzter Zeit gewaltig unterschätzt hatte. Seit den Anfangstagen ihres Interesses für die Karriere des Senators hatte Sexton in ihrer Wertschätzung einiges an Glanz eingebüßt, aber heute Abend war er wieder voll da.
Angesichts eines Ereignisses, das der Todesstoß für seine Wahlkampagne hätte sein müssen, trat er zum Gegenangriff an. Und er strafte Gabrielle nicht ab, obwohl sie ihn auf seinen Pleitekurs geführt hatte. Er gab ihr vielmehr die Chance, sich zu bewähren.
Sie würde sich bewähren. Ohne Rücksicht auf Verluste.
79
William Pickering lehnte an der gläsernen Fensterfront seines Büros und starrte hinaus auf das ferne Lichtband der Scheinwerfer auf dem Leesburg Highway. Wenn er einsam hier oben auf dem Gipfel seiner Welt stand, dachte er oft an seine Tochter.
So viel Macht… und du konntest sie nicht retten.
Pickerings Tochter Diana war im Roten Meer ums Leben gekommen. Auf einem kleinen Begleitschiff der Navy hatte sie eine Ausbildung zur Navigatorin absolviert. An einem sonnigen Nachmittag lag ihr Schiff in einem sicheren Hafen vor Anker, als ein handgezimmertes Ruderboot, von zwei Selbstmordattentätern gesteuert, langsam übers Hafenbecken herangefahren kam.
Beim Aufprall auf den Schiffsrumpf explodierte der mit Sprengstoff voll beladene Kahn. Diana Pickering und dreizehn weitere junge amerikanische Soldaten wurden an diesem Tag getötet.
William Pickering war untröstlich. Wochenlang war er vor Schmerz wie von Sinnen. Als der Anschlag zu einer bekannten Terroristenzelle zurückverfolgt werden konnte, der die CIA seit Jahren ohne greifbare Erfolge auf der Spur gewesen war, verwandelte sich Pickerings Trauer in rasenden Zorn. Er marschierte ins Hauptquartier der CIA und verlangte Antworten.
Die Antworten, die er bekam, waren nicht leicht zu verdauen.
Die CIA war schon vor Monaten im Begriff gewesen, diese Zelle unschädlich zu machen. Zur Planung einer konzentrierten Kommandoaktion wartete man nur noch auf hochaufgelöste Satellitenaufnahmen vom Schlupfwinkel der Terroristen im Bergland von Afghanistan. Die Fotos sollten von dem 1,2 Milliarden teuren NRO-Satelliten mit dem Codenamen Vortex 2 geliefert werden, eben jenem Satelliten, der bei der Explosion seiner NASA-Trägerrakete auf der Startrampe zerstört worden war.
Wegen des Betriebsunfalls der NASA hatte das Kommandounternehmen noch nicht stattgefunden – und jetzt war Diana Pickering tot.
Der Verstand sagte Pickering, dass er die NASA nicht unmittelbar für den Tod seiner Tochter verantwortlich machen konnte, aber sein Herz wollte sich damit nicht abfinden. Die Untersuchung der Raketenexplosion brachte an den Tag, dass die NASA-Ingenieure aus Kostengründen für das Treibstoff-Einspritzsystem kein erstklassiges Material verwendet hatten.
»Bei unbemannten Flügen ist die NASA vor allem um ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis bemüht«, hatte Lawrence Ekstrom auf einer Pressekonferenz erklärt. »Das Ergebnis war diesmal zugegebenermaßen nicht optimal. Wir werden uns mit dem Fall befassen.«
Nicht optimal! Diana Pickering war tot!
Der Spionagesatellit des NRO war natürlich ein Geheimprojekt. Die amerikanische Öffentlichkeit erfuhr deshalb nie, dass die NASA 1,2 Milliarden Dollar in die Luft gesprengt hatte, mit der indirekten Folge des Todes von vierzehn jungen Amerikanern.
»Sir?« Die Stimme der Sekretärin aus der Rufanlage riss Pickering aus seinen Gedanken. »Ein Anruf auf Apparat eins. Es ist Marjorie Tench.«
Pickering betrachtete das Telefon. Schon wieder?
Das Blinklicht am Apparat eins schien mit zorniger Ungeduld zu pulsieren. Pickering runzelte die Stirn und hob ab.
»Pickering.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?«, zischte es aus dem Hörer.
»Bitte?«
»Rachel Sexton hat mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Was hat sie Ihnen gesagt? Sie sprach auch noch von Bord eines Unterseeboots! Erklären Sie das gefälligst!«
Pickering begriff sofort, dass er hier mit Leugnen nicht weiterkam. Marjorie Tench hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Es überraschte ihn, dass sie schon über die Charlotte im Bilde war, aber sie hatte sich offensichtlich über Beziehungen Auskünfte zu verschaffen gewusst. »Miss Sexton hat mit mir Kontakt aufgenommen. Das ist richtig.«
»Sie haben ihre Übernahme arrangiert! Und Sie hielten es nicht für nötig, mich zu unterrichten?«
»Gewiss, ich habe den Transport veranlasst.« In zwei Stunden würden Rachel Sexton, Michael Tolland und Corky Marlinson auf dem nahe gelegenen Luftwaffenstützpunkt Bolling Air Force Base eintreffen.
»Aber Sie hielten es für angezeigt, mir die Information vorzuenthalten!«
»Miss Sexton hat einige sehr schwerwiegende Vorwürfe erhoben.«
»Sie meinen, bezüglich der Echtheit des Meteoriten… und irgendeines Anschlags auf ihr Leben?«
»Unter anderem.«
»Sie lügt doch ganz offensichtlich!«
»Ist Ihnen bekannt, dass ihre Aussagen von zwei weiteren Personen bestätigt werden?«
Eine Pause entstand.
»Ja, das ist sehr Besorgnis erregend. Das Weiße Haus ist bestürzt über diese Behauptungen.«
»Das Weiße Haus oder Sie persönlich?«
Marjorie Tenchs Tonfall wurde rasiermesserscharf. »Was Sie betrifft, Sir, dürfte das heute Abend kaum von Belang sein.«
Pickering blieb ungerührt. Er kannte das. Politiker und ihre Mitarbeiter plusterten sich gerne auf und versuchten, den Geheimdiensten auf der Nase herumzutanzen, selten allerdings so massiv wie heute Marjorie Tench. »Weiß der Präsident von Ihrem Anruf?«
»Ehrlich gesagt, Sir, ich bin schockiert, dass
Sie sich diese hirnrissigen Ergüsse überhaupt anhören.«
Sie hat meine Frage nicht beantwortet. »Ich vermag keinen logischen Grund zu erkennen, weshalb diese Leute die Unwahrheit sagen sollten. Ich muss davon ausgehen, dass sie entweder die Wahrheit sagen oder sich guten Glaubens im Irrtum befinden.«
»Ein Irrtum? Ein erfundener Mordanschlag? Angebliche Fehler in den Erkenntnissen über den Meteoriten, die der NASA nicht aufgefallen sind? Das sind doch unverkennbar politische Machenschaften!«
»Falls dem so sein sollte, vermag ich die Motive nicht zu erkennen.«
Marjorie Tench stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und senkte die Stimme. »Sir, hier sind Kräfte am Werk, die sich offenbar Ihrer Kenntnis entziehen. Wir können das gerne später ausgiebig diskutieren, aber im Moment muss ich wissen, wo sich Miss Sexton und die anderen befinden. Ich muss dieser Sache auf den Grund gehen, bevor diese Leute einen nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten. Also, wo sind sie?«
»Ich sehe mich nicht in der Lage, Ihnen diese Information zukommen zu lassen. Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald die genannten Personen eingetroffen sind.«
»Falsch! Sobald sie eintreffen, werde ich da sein, um sie zu begrüßen.«
»Angenommen, ich gebe Ihnen Zeit und Ort der Ankunft bekannt – werden wir dann wie Freunde vernünftig miteinander reden können, oder haben Sie vor, mit einer kleinen Privatarmee des Secret Service anzurücken, um die drei Personen in Gewahrsam zu nehmen?«
»Diese Leute stellen eine unmittelbare
Bedrohung des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Das Weiße
Haus hat jedes Recht, sie zu verhaften und zu verhören.«
Pickering wusste, worauf Marjorie Tench sich bezog. Den Beamten des Secret Service war es per Gesetz gestattet, Schusswaffen zu tragen, tödliche Gewalt anzuwenden und ohne richterlichen Haftbefehl die Verhaftungen von Personen vorzunehmen, allein auf den Verdacht hin, dass ein Verbrechen oder ein Akt der Aggression gegen den Präsidenten begangen oder auch nur geplant wurde. Der Secret Service hatte damit einen Freibrief.
Bei den Verhafteten handelte es sich allerdings meist um auffällig vor dem Weißen Haus herumlungernde Personen oder um Schüler, die den Präsidenten per E-Mail mit grobem Unfug belästigt hatten. Für Pickering bestand kein Zweifel, dass der Secret Service einen Grund finden würde, Rachel Sexton und die anderen in die Keller des Weißen Hauses zu schleppen und dort bis zum Sankt Nimmerleinstag schmoren zu lassen – kein ganz ungefährliches Spiel, doch Marjorie Tench hatte eindeutig begriffen, dass viel auf dem Spiel stand. Die Frage war, wie es weitergehen würde, falls Pickering die Initiative an Tench abgab. Er hatte wenig Neigung, es herauszufinden.
»Ich werde jede erforderliche Maßnahme ergreifen, um den Präsidenten vor falschen Anschuldigungen zu schützen«, erklärte Marjorie Tench. »Bereits die Andeutung, es sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, würde einen dunklen Schatten auf das Weiße Haus und die NASA fallen lassen. Rachel Sexton hat das Vertrauen des Präsidenten schmählich missbraucht. Ich bin nicht bereit, den Präsidenten für seine Vertrauensseligkeit auch noch bezahlen zu lassen. «
»Und wenn ich verlangen würde, dass man Miss
Sexton Gelegenheit gibt, die Sache vor einem offiziellen
Untersuchungsgremium vorzutragen?«
»Dann würden Sie einen unmittelbaren Befehl des Präsidenten missachten. Sie würden Miss Sexton eine Plattform bieten, von der aus sie ein politisches Chaos größten Ausmaßes anrichten könnte. Ich frage Sie zum letzten Mal, Sir: Wohin lassen Sie die drei Personen bringen?«
Pickering atmete tief aus. Marjorie Tench hatte die Mittel festzustellen, dass das Flugzeug auf der Bolling Air Force Base landen würde, gleichgültig, ob er es ihr sagte oder nicht. Die Frage war, ob sie bis zum Äußersten gehen würde. Ihrer aggressiven Stimme nach zu schließen, würde sie nicht locker lassen. Marjorie Tench hatte Angst.
»Marjorie«, sagte Pickering ruhig und kalt. »Für mich steht fest, dass hier jemand lügt. Entweder Rachel Sexton und zwei renommierte Wissenschaftler – oder Sie. Ich glaube, der Lügner sind Sie.«
»Wie können Sie es wagen!«
»Sparen Sie sich die Unmutsäußerung. Das beeindruckt mich nicht. Sie sollten wissen, ich habe stichhaltige Beweise, dass die NASA und das Weiße Haus heute Abend Unwahrheiten über die Sender geschickt haben.«
Marjorie Tench verstummte jäh.
Pickering ließ sie einen Moment lang im eigenen Saft schmoren. »Sehen Sie, mir ist an einem politischen Super-GAU genauso wenig gelegen wie Ihnen. Aber man hat Lügen verbreitet. Lügen werden nicht bestehen. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, müssen Sie mit offenen Karten spielen.«
»Wenn Sie so sicher sind, dass gelogen wurde –
warum haben Sie dann bis jetzt geschwiegen?« Marjorie Tenchs
Tonfall war nicht uninteressiert, aber sehr wachsam.
»Ich mische mich nicht in politische Angelegenheiten ein.«
Marjorie Tench murmelte irgendetwas. Es hörte sich an wie »Wer’s glaubt, wird selig«.
»Marjorie, wollen Sie mir weismachen, dass die Erklärung des Präsidenten von heute Abend in all ihren Aspekten nur der Wahrheit verpflichtet war?«
Im Telefonhörer entstand eine lange Stille.
Pickering wusste, dass er gewonnen hatte. »Hören Sie, wir wissen doch beide, dass das eine Zeitbombe ist, die jederzeit hochgehen kann. Aber noch ist es nicht zu spät. Wir könnten uns über einen Kompromiss einigen.«
Marjorie Tenchs Antwort ließ ein paar Sekunden auf sich warten. »Wir sollten uns treffen«, sagte sie schließlich mit einem Seufzer.
Treffer, dachte Pickering.
»Ich habe etwas, das ich Ihnen gern zeigen möchte«, sagte Marjorie Tench. »Dann werden Sie die Sache in einem anderen Licht sehen.«
»Ich komme zu Ihnen in Ihr Büro.«
»Nein«, sagte sie hastig. »Es ist schon spät. Ihr Erscheinen würde besorgte Fragen auslösen. Es wäre besser, wir würden die Angelegenheit unter uns ausmachen.«
Aha, der Präsident weiß nichts von dem Anruf. »Sie können gerne hierher kommen«, schlug Pickering vor.
»Lassen Sie uns lieber einen anderen Treffpunkt ausmachen.«
Marjorie Tenchs Argwohn war unüberhörbar.
Pickering hatte nichts anderes
erwartet.
»Das FDR Memorial ist vom Weißen Haus aus gut zu erreichen«, sagte Marjorie Tench. »Um diese nachtschlafene Zeit wird sich kein Mensch dort aufhalten.«
Pickering dachte über den Vorschlag nach. Das Franklin D. Roosevelt Memorial lag in einem offenen Parkgelände in der Mitte zwischen den Gedenkstätten für Thomas Jefferson und Abraham Lincoln. Nach kurzem Zögern willigte er ein.
»In einer Stunde. Und kommen Sie allein«, sagte Marjorie Tench und hängte ein.
Marjorie hatte kaum aufgelegt, als sie schon die Nummer von NASA-Direktor Ekstrom wählte. Beunruhigt übermittelte sie die schlechten Neuigkeiten.
»Pickering könnte zum Problem werden.«
80
In Gabrielle Ashe keimte neue Hoffnung. Sie stand am Schreibtisch von Yolanda Cole und wählte die Nummer der Auskunft.
Falls die von Senator Sexton soeben geäußerten Vermutungen stichhaltig waren, besaßen sie eine alarmierende Sprengkraft. Die NASA hat in Sachen PODS gelogen! Gabrielle hatte die fragliche Pressekonferenz selbst gesehen. Sie erinnerte sich, dass ihr die Veranstaltung damals seltsam erschienen war, hatte sie aber schnell vergessen. PODS war vor ein paar Wochen noch kein umstrittenes Thema; heute Abend jedoch war PODS das Thema schlechthin geworden.
Sexton brauchte Insiderinformationen, und zwar schnell. Der Weg über die »Informantin« Marjorie Tench verbot sich von selbst. Gabrielle würde auf anderem Wege an die Informationen herankommen müssen.
»Auskunft, was kann ich für Sie tun?«, sagte eine Stimme im Hörer.
Gabrielle erklärte ihr Anliegen. Sie erhielt die Nummern von drei unter Chris Harper eingetragenen Teilnehmern. Gabrielle klingelte sie der Reihe nach durch.
Die erste Nummer war eine Anwaltskanzlei. Bei der zweiten meldete sich niemand. Die dritte hatte sie soeben gewählt.
Schon nach dem ersten Klingelton meldete sich eine Frauenstimme. »Hier Harper.«
»Mrs Harper?«, sagte Gabrielle mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
»Um Gottes willen, nein! Wer liegt denn schon an einem solchen Abend im Bett und schläft?« Die Frau war aufgekratzt. Gabrielle konnte im Hintergrund den Fernseher laufen hören. »Ich nehme an, sie wollen Chris sprechen.«
Gabrielles Puls beschleunigte sich. »Ja, das wäre nett.«
»Ich fürchte, er ist nicht hier. Kaum dass die Erklärung des Präsidenten vorüber war, ist er ins Büro gerast.« Die Frau kicherte. »Ich bezweifle allerdings, dass dort gearbeitet wird. Da läuft bestimmt eine Party. Die Erklärung hat ihn ziemlich überrascht, wissen Sie. Nicht nur ihn – alle. Unser Telefon klingelt schon den ganzen Abend. Ich wette, die ganze NASA-Mannschaft ist inzwischen dort.«
Die Frau hatte vermutlich das
NASA-Hauptquartier gemeint.
»Im Komplex an der E-Street?«, fragte Gabrielle nach.
»Genau da. Nehmen Sie ein paar Luftschlangen mit.«
»Danke. Ich werde Mr Harper schon finden.«
Gabrielle legte auf und ging in die Redaktion hinaus zu Yolanda, die soeben einige Weltraumexperten instruierte, bevor sie auf Sendung gingen.
Yolanda lächelte Gabrielle zu. »Du siehst schon wieder besser aus«, sagte sie.
»Ich habe gerade mit Sexton gesprochen. Ich habe mich wohl geirrt. Sein Treffen heute Abend war nicht das, was ich dachte.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass Marjorie Tench dich über den Tisch ziehen wollte. Wie nimmt der Senator die Neuigkeiten denn auf?«
»Besser, als ich erwartet hätte.«
»Und ich dachte, er hätte sich inzwischen vor einen Bus geworfen«, sagte Yolanda überrascht.
»Er glaubt, dass an den NASA-Daten etwas faul ist.«
Yolanda schnaubte durch die Nase. »Hat er die gleiche Sendung gesehen wie wir alle? Noch mehr Bestätigung und Gegenbestätigung kann man kaum verlangen.«
»Ich gehe jetzt zur NASA rüber, etwas nachprüfen.«
Yolandas gezupfte Brauen bildeten zwei zur Vorsicht gemahnende schmale Bögen. »Die rechte Hand von Senator Sexton marschiert ins Hauptquartier der NASA? Heute Abend? Schon mal was von öffentlicher Steinigung gehört?«
Gabrielle berichtete Yolanda von Sextons Verdacht, dass der für PODS verantwortliche Abteilungsleiter Chris Harper die Reparatur der Satellitensoftware frei erfunden hatte.
Yolanda nahm es ihr nicht ab. »Wir haben von
dieser Pressekonferenz berichtet. Ich gebe ja zu, Gabs, Harper war
an dem Abend nicht gut drauf, aber die NASA hat doch selber
erklärt, dass er gesundheitlich zu kämpfen hatte.«
»Sexton ist überzeugt, dass Harper allen etwas vorgelogen hat.
Und andere, machtvolle Leute glauben das auch.«
»Wie hätte PODS den Meteoriten denn finden sollen, wenn die NASA mit der Detektor-Software keine Lösung gefunden hätte?«
Genau das sagt Sexton auch, dachte Gabrielle. »Ich weiß es nicht.
Aber der Senator möchte, dass ich einige Dinge kläre.«
Yolanda wiegte den Kopf. »Sexton macht sich was vor. Lass dich von ihm nicht in ein Hornissennest schicken. Bleib lieber hier. Du schuldest ihm gar nichts.«
»Wegen mir ist seine Kampagne jetzt völlig im Eimer.«
»Er hat einfach nur Pech gehabt. Deshalb ist seine Kampagne im Eimer.«
»Aber wenn der Senator Recht hat, und der PODS-Abteilungsleiter hat tatsächlich alle belogen…«
»Schätzchen, wenn dieser Mann die ganze Welt belogen hat, wieso sollte er dann ausgerechnet dir die Wahrheit sagen?«
Gabrielle hatte sich diese Frage ebenfalls gestellt und auch schon einen entsprechenden Plan. »Wenn ich dort auf eine Story stoße, rufe ich dich sofort an.«
»Wenn du dort auf eine Story stößt, fresse ich einen Besen!«