Zweites Kapitel

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Fausto Cagliari

Maria betrat wenig später einen von unzähligen Kerzen erleuchteten Raum. Stark riechendes Räucherwerk machte das Atmen schwer. Sie fühlte ein Kratzen im Hals und wie ihr Herz heftiger zu schlagen anfing.

Auf einem hölzernen Stuhl hatte eine Gestalt Platz genommen, deren Anblick Maria zusammenfahren ließ. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gegenüber wie eine Kreatur, die geradewegs dem Höllenschlund entwachsen war oder sich ebenso im Schlamm der unterirdischen Abwasserkanäle der Stadt gebildet hatte, wie man es den Ratten nachsagte; die waren viel zu zahlreich geworden, als dass sie einem natürlichen Zyklus von Geburt, Vermehrung und Tod folgten. Nein, andere Mächte mussten es sein, die sie aus dem Schlamm der Erde entstehen ließen und in erschreckenden Massen an die Oberfläche trieben! Flackernde Schatten tanzten auf der an ein vogelähnliches Wesen gemahnenden Schnabelmaske nach Art der Pestknechte. Dumpf mischte sich der Atem ihres Trägers mit dem Knistern des verbrennenden Räucherwerks, dessen freigesetzter Rauch Maria inzwischen Tränen in die Augen trieb. Der Körper jener Gestalt auf dem Stuhl war vollkommen von einer ledernen Kluft verhüllt, die wie die runzelige Haut eines urtümlichen Krokodils wirkte, wie es sie am Nil gab. Maria hatte ihren Vater einmal auf eine Handelsreise nach Alexandria begleitet und dort die Tiere auf dem Markt gesehen – sowohl in ihrem furchteinflößenden lebendigen Zustand als auch zu kostbarstem Leder verarbeitet, für das man in Genua ein Vermögen zahlen musste. Bisweilen wurden diese Geschöpfe aber ebenfalls als Mumien feilgeboten. Wie auch die Mumien von Menschen, Katzen und Ibissen, die man in Ägypten vor langer Zeit mit inzwischen unbekannten Verfahren vor der Verwesung zu bewahren gewusst hatte, waren sie als Rohstoff für Heilmittel aller Art in ganz Europa beliebt, so als könne die geheimnisvolle Lebenskraft, die diesen Artefakten innewohnte, übertragen werden, indem man die Mumie zu einem Pulver zerrieb, das dann als Beimengung von Arzneien und Heiltinkturen diente. Das Haus di Lorenzo hatte sich über Jahre hinweg immer wieder am Handel mit Mumien beteiligt, wenngleich der Anteil der Familie am Handelsumsatz bei weitem nicht so bedeutend war wie der von Zucker, Seide und Seife, die man vornehmlich aus den levantinischen Küstenstädten bezog.

Damals in Alexandria hatte Maria zum ersten und einzigen Mal auch eine vollständig erhaltene menschliche Mumie zu Gesicht bekommen, deren Anblick ihr noch jahrelang in Form von Alpträumen gegenwärtig gewesen war. Der Art und Weise, wie die Gestalt vor ihr auf dem Stuhl die Arme mit Binden umwickelt hatte, erinnerte Maria unwillkürlich an jenen Anblick. Unter diesen Binden, deren Sinn sich der jungen Frau in diesem Moment einfach nicht erschließen wollte, waren immer wieder freie Flächen zu sehen, die den Blick auf das eigentümliche Leder freigaben, aus dem der ganze Anzug bestand. Das Erstaunlichste daran waren für Maria die Handschuhe, die bemerkenswert fein gearbeitet waren. Das Material schien fast hauteng anzuliegen und musste sehr dünn sein, denn die Konturen der Fingerglieder stachen deutlich hervor.

»Ihr seid Maria di Lorenzo?«, wisperte die Stimme unter der Schnabelmaske auf Venezianisch.

»Ja, die bin ich. Und Ihr müsst der berühmte Pestarzt Fausto Cagliari sein, dem selbst der Kaiser vertraut!«

»Ja, das ist wahr. Wo ist Euer Bruder?«

»Er wartet draußen vor der Tür. Es hieß, wir sollten einzeln eintreten.«

»Zieht Euch aus«, forderte Cagliaris wispernde Stimme. »Legt alle Kleidung, die Ihr am Leib tragt, ab! Ich muss Euren Körper nach den Zeichen der Krankheit untersuchen!«

»Ich trage keine Pestbeulen! Dann wäre ich in Pera geblieben und hätte den stillen Tod erwartet, so wie er meine Eltern ereilte!«

»Tut, was ich sage!«, forderte Cagliari. Seine Stimme war nur ein leises, krächzendes Flüstern und schien doch eine geradezu unheimliche Kraft in sich zu tragen. Eine Kraft, deren Einfluss man sich kaum entziehen konnte. »Es geht mir nicht nur um die Pestbeulen, deren Anfangsstadium Ihr vielleicht selbst gar nicht bemerken würdet. Es gibt noch weitere Zeichen. Und nun ziert Euch nicht länger oder sucht Euch jemand anderen, der Euch die Pestfreiheit bestätigen könnte! Jemanden, dem der Kaiser vertraut, was ja nicht ganz unwichtig ist. Schließlich sollt Ihr ja einige wesentliche Geschäfte mit dem Hof und der kaiserlichen Familie abmachen.«

Der Gedanke daran, sich vor Fausto Cagliari zu entkleiden, war ihr äußerst unangenehm. In seiner eigenartigen, ihn vollständig bedeckenden Kluft wirkte er kaum noch wie ein Mann, sondern eher wie ein der Hölle entstiegener Tiermensch. Zugleich war ihr klar, dass sie keine andere Wahl hätte. Der Kaiser hatte seine Frau durch die Pest verloren, und seitdem verfolgte ihn eine geradezu panische Furcht vor dieser Krankheit. Zugang zum Kaiserhof ohne eine Bestätigung darüber, dass man frei von Zeichen des Übels war, galt als schier undenkbar. Aber Geschäfte in Konstantinopel zu machen ohne eine gute Verbindung zum Kaiserhaus war ebenfalls nicht vorstellbar. Das Urteil eines Arztes, dem der Kaiser vertraute, war für den Fortbestand des Handelshauses überlebenswichtig, das allein durch die Erkrankung und den Tod seines Herrn bis an den Rand seiner Existenzfähigkeit gebeutelt worden war. Es kam einer besonderen Gnade des Hofs gleich, dass dieser Arzt des kaiserlichen Vertrauens die Untersuchung durchführen sollte. Maria war das sehr wohl bewusst. Es war ein Akt des Vertrauens, der von Generationen der di Lorenzos verdient worden war – angefangen mit Niccolò Andrea, der geholfen hatte, die Franken und Lateiner zu vertreiben, bis hin zu ihrem Vater. Was war dagegen ihre Scham? Wie hätte sie sich angesichts dessen zieren können – zumal sie fest entschlossen war, das Handelshaus weiterzuführen. Und dem musste sich alles andere unterordnen. So soll geschehen, was zu geschehen hat, dachte sie. Der Herr hat mich bisher beschützt, warum sollte er es nicht auch in Zukunft tun?

Maria ließ das graue Büßergewand hinabgleiten, und mehr als das trug sie ohnehin nicht mehr am Leib. Im Grunde genommen hatte sie so ein aufrichtiges Zeichen der Buße zum Herrn senden wollen, wie Pater Matteo es ihr geraten hatte. Unter all den Mitteln, deren tatsächliche Wirkung gegen die Pest höchst zweifelhaft waren, erschien es ihr noch am vielversprechendsten, sich auf diese Weise direkt an die höchste Macht selbst zu richten.

Eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, als der Arzt an sie herantrat und sie zu untersuchen begann. Maria fühlte tiefe Scham, derart den Blicken dieses Fremden ausgesetzt zu sein. Er kam ihr nahe genug, um die Farbe seiner Augen erkennen zu können: Sie waren eisgrau, und der Blick wirkte so kalt, dass ihr Schauder über den Rücken jagten. Ein Blick, der alles zu durchdringen schien und vor dem man nichts verbergen konnte. Ein Blick aber auch, dem alles Menschliche zu fehlen schien. Maria schob diesen Umstand auf die optische Wirkung der Schnabelmaske. In ihrem tiefsten Inneren ahnte sie freilich, dass es damit nichts zu tun hatte. Selbst wenn er ihren Körper mit Lüsternheit und Begierde gemustert hätte, wie sie zunächst befürchtet hatte, dann wäre darin zumindest eine Spur von Menschlichkeit zu finden gewesen. Die Art und Weise jedoch, wie diese grauen Augen sie betrachteten, war dermaßen unangenehm, dass sie keine Worte gefunden hätte, um es zu beschreiben. Die Tücher, mit denen seine Arme umwickelt waren, strömten den Duft ätherischer Öle aus, in die sie offenbar getränkt worden waren. Ein Geruch, der so stark war, dass Maria kaum noch atmen konnte und dass das Wasser aus Augen und Nase zu laufen begann. Cagliaris behandschuhte Hände tasteten unter ihre Achseln und an den Leistenbeugen. Er ging dabei ziemlich grob vor, sodass Maria beinahe schreiend zurückgewichen wäre. Doch sie beherrschte sich. So ähnlich musste es sein, wenn die nackten Menschenseelen in der Hölle von den tierhaften Dämonen gequält würden. In Genua hatte sie Gemälde gesehen, die dies in aller drastischen Deutlichkeit darstellten. »Keine Schwellungen«, murmelte Cagliaris Stimme unter seiner Schnabelmaske, und der dumpfe, fast röchelnde Laut, der dann folgte, mochte in Wahrheit ein Aufatmen sein. »Stellt Euch mehr ins Licht!«, verlangte er dann. »Hierhin!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Position. Maria trat ein paar Schritte zur Seite, der helle Schein des Kerzenlichts erfasste sie nun noch deutlicher. Cagliari hob ihr Gewand vom Boden auf, eilte damit zum Kamin und warf es in die Flammen. Knisternd begann es zu verbrennen. Dann kehrte der Arzt zurück. Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er ein Vergrößerungsglas hervor und machte sich daran, nun mit diesem Hilfsmittel ihren gesamten Körper eingehend zu betrachten. Fingerbreit für Fingerbreit ging er vor, und er musste dabei den Schnabel seiner Maske stets gesenkt halten, um eine der Augenöffnungen näher an das Glas halten zu können. »Habt Ihr Stiche oder Bisse kleinster Tiere an Euch bemerkt?«, erkundigte er sich. »Von Flöhen zum Beispiel?«

»Nein, Meister Cagliari. Allerdings habe ich auch nicht sonderlich darauf geachtet, denn wie Ihr wisst, sind Flöhe überall, und man kann ihnen nicht entweichen.«

»So wie der Pestilenz«, ergänzte der Arzt, während er mit seinem akribisch ausgeführten Handwerk fortfuhr. Dass die Pest oft gerade dann auftauchte, nachdem vermehrt Ratten auf den Straßen zu sehen gewesen waren, wusste Maria natürlich. Die Nager waren daher als Boten der Krankheit berüchtigt. Boten, die das Miasma im Schlamm urplötzlich entstehen, an die Oberfläche kriechen und einem unbändigen Drang zur unaufhörlichen Wanderung folgen ließen. Aber Flöhe? Als jene unsichtbaren Insekten, von denen gemunkelt wurde, dass sie die Krankheit möglicherweise verursachten, hatte sich Maria jedenfalls anderes Ungeziefer vorgestellt.

»Ich habe keine Flohbisse bemerkt«, teilte sie ihm mit. »Allerdings gibt es so vieles winziges Getier, das sticht und zwickt.«

»Doch nur Flöhe beißen mehrfach und in einer geraden Reihe«, erklärte der Arzt.

»Verzeiht, wenn ich Euch noch einmal darauf anspreche – indes höre ich die Ansicht, dass Flöhe etwas mit der Pest zu tun hätten, zum ersten Mal. Ich dachte, diese Insekten wären unsichtbar und flögen einem in Mund und Nase, wenn man den Pesthauch einatmet.«

»Achtet stets darauf, Euch von allen Tieren und Menschen fernzuhalten, die auf Euch Flöhe übertragen könnten«, sagte Cagliari, ohne weiter auf Marias Nachfrage einzugehen. »Ich kann keine Zeichen der Krankheit an Euch erkennen und auch keine frischen Flohbisse, was nicht heißt, dass Ihr nicht vor kurzem noch solche Bisse an Eurem Körper getragen habt und dass das krankmachende Dämonengift dieser Kreaturen in Euren Leib gedrungen ist. Vierzig Tage werdet Ihr nicht sicher sein, ob Ihr die Seuche in Euch tragt. Meidet in dieser Zeit alle Kontakte, soweit dies irgend möglich ist! Auch untereinander, auch wenn es Euren Bruder betrifft – letztendlich ist es durchaus möglich, dass einer von Euch die Krankheit in sich trägt und der andere nicht.« Er drehte sich um und ging zur Seite. Dort stand ein Bottich, den Maria bisher nicht bemerkt hatte. Aus dem Behälter zog er ein großes, dünnes Tuch heraus. Es wirkte feucht und schwer. Damit kam er zurück und schlang dieses Tuch um ihren bloßen Körper. Der unfassbar scharfe Geruch, den dieses Tuch ausströmte, brannte wie Feuer in Nase und Rachen. Marias Augen begannen so stark zu tränen, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. »Lasst dieses Tuch, solange Ihr es ertragen könnt, auf Eurer Haut. In vierzig Tagen werde ich Euch erneut untersuchen. Und wenn Ihr dann nach wie vor ohne Befund seid, kann man davon ausgehen, dass Ihr nicht von der Krankheit befallen seid!«

Maria wollte antworten, der beißende Geruch hinderte sie jedoch daran, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.

»Jetzt soll Euer Bruder zu mir kommen!«, ordnete Cagliari zum Abschluss noch an. Er wandte sich in Richtung der Tür und rief mit überraschender Stimmgewalt: »Bringt den anderen!«

Die Tage bis zur nächsten Untersuchung durch Meister Cagliari waren für Maria und Marco dazu bestimmt, jeweils in der Abgeschiedenheit eines eigenen Zimmers zu verweilen, das man eigens für jeden von ihnen hergerichtet hatte. Eine Dienerin brachte Maria die Mahlzeiten und frische Kleidung. Die Frau kam nur bis zur Tür, legte an der Schwelle alles auf den Boden, klopfte dann an und verschwand sofort wieder.

Maria wartete, bis sie ein paar sich entfernende Schritte gehört hatte, und öffnete schließlich, um die Sachen hereinzuholen.

Bereits am zweiten Tag jedoch entdeckte sie die Dienerin an einer Ecke des Korridors, sie war dort stehen geblieben. Die junge levantinische Frau hatte blauschwarzes Haar und war sicher nicht älter als Maria selbst. Der Blick ihrer dunklen Augen senkte sich.

»Wie heißt du?«, fragte Maria. Eigentlich kannte sie jeden der zahlreichen Angestellten und die umfangreiche Dienerschaft, die im Dienst des Hauses di Lorenzo standen. Selbst viele der Tagelöhner, die nur für bestimmte Aufgaben und für die Dauer von ein paar Stunden angeheuert wurden, um Waren ins Kontor zu bringen, waren ihr zumindest dem Gesicht nach bekannt. Von vielen wusste sie auch den Namen, denn die meisten dienten dem Handelshaus schon seit langem und wurden immer wieder verpflichtet. Früher, so hatte Maria noch die Erzählungen ihres längst verstorbenen Großvaters Francesco di Lorenzo im Ohr, hätten sich Tausende von Arbeitswilligen im Hafen gedrängt und darauf gewartet, dass man ihnen für ein paar Kupfermünzen Arbeit gab. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Manchmal war es inzwischen schon schwierig geworden, genügend Träger zu einem bestimmten Termin zu bekommen. All diese Veränderungen hatten wohl damit zu tun, dass die wiederholte Rückkehr des Schwarzen Todes die Stadt regelrecht hatte ausbluten lassen und ihre Bevölkerung auf ein Minimum geschrumpft war. »Nenn mir deinen Namen!«, wiederholte Maria ihre Aufforderung in sehr deutlichem Griechisch, nachdem sie die junge Frau zunächst ganz selbstverständlich in ihrem Genueser Dialekt angesprochen hatte.

»Seriféa«, antwortete sie nun.

»Ich habe dich hier früher noch nie gesehen.«

»Euer Schreiber Davide hat mich angestellt. Ich bin die Tochter seines Neffen Walid und erst vor einigen Wochen nach Konstantinopel gekommen.«

»Und woher?«

»Aus einem Ort, der auf Griechisch Chrysopolis heißt. Ihr könnt ihn sehen, wenn Ihr über das Meer blickt.«

Natürlich kannte Maria Chrysopolis, es lag am asiatischen Ufer. Früher hatte es nicht nur eine Eisenkette gegeben, die den Zugang zum Kriegshafen und zum Goldenen Horn versperrte, sondern auch noch eine zweite, die sich von der innerhalb des kaiserlichen Palastbezirks gelegenen Gotensäule bis zum hölzernen Leuchtturm, dem Leanderturm, kurz vor dem asiatischen Ufer spannte – und von dort aus weiter bis nach Chrysopolis. Auf diese Weise war es in besseren Zeiten des byzantinischen Kaiserreichs möglich gewesen, die Einfahrt in den Bosporus für sämtliche Schiffe vollkommen abzusperren und damit eine der wichtigsten Handelsstraßen unpassierbar zu machen. Mittlerweile gehörte Chrysopolis zum Reich des Sultans. Er kontrollierte die Meerenge am Bosporus und an den Dardanellen. Zwar vermochten die Osmanen nicht, es den Rhomäern gleichzutun und Ketten über das Wasser zu spannen, die Zahl ihrer Kriegsschiffe war jedoch der Konstantinopels überlegen; dasselbe galt für die Anzahl der Kanonen, die in den Festungen zu beiden Seiten des Bosporus stationiert waren. Konstantinopel hatte schon lange nicht mehr die Macht, den Bosporus zu verschließen, dazu fehlte dem Kaiser in diesen Tagen schlicht und ergreifend jener wenn auch noch so kleine Landstreifen am asiatischen Ufer, auf dem Chrysopolis lag. Der Sultan hingegen hatte diese Macht jederzeit. So hatten sich die Gewichte im Laufe der Zeit verschoben.

»Darf ich gehen?«, fragte Seriféa.

»Nein, warte noch einen Augenblick.«

»Ja, Herrin.«

»Was hat dir Davide über mich und meinen Bruder berichtet?«

»Ich fürchte die Pest nicht«, sagte sie. »Sie schlägt den, den der Herr damit schlagen will. Es liegt nicht in unserer Hand. Also habe ich nichts dagegen einzuwenden, Euch die Nahrung zu bringen. Davon abgesehen bin ich verschwiegen. Alles, was ich in Ihrem Haus höre oder sehe, bleibt in seinen Mauern.«

Anscheinend hatte Davide umfassender mit seiner Großnichte Seriféa gesprochen, als es Maria im ersten Moment genehm war. Aber vielleicht war das auch gut so. Wenn sich Davide Scrittore durch eine besondere Eigenschaft auszeichnete, dann war dies neben seiner absoluten Loyalität ganz gewiss seine gute Menschenkenntnis. Und wenn er jemanden seines Vertrauens für würdig hielt, dann lag er damit normalerweise richtig. Immer wieder hatte er Marias Vater Berater und Helfer empfohlen, deren Tätigkeit sich im Nachhinein als äußerst wertvoll erwiesen hatte. Warum sollte ich ihm in dieser Sache also nicht auch trauen?, ging es Maria durch den Kopf.

»Erzähl mir etwas mehr über dich«, forderte Maria. »Dann weiß ich besser, ob und inwieweit ich dir trauen kann.«

»Meine Eltern und drei meiner Geschwister starben ebenfalls an der Pest, so wie es mit Euren Eltern geschah«, sagte Seriféa, ohne dabei den Blick zu heben. Während sie mit einer Stimme sprach, die sehr gefasst und stark klang, griff sie mit einer schnellen Bewegung nach dem messingfarbenen Kreuz, das sie an einem Lederband um den Hals trug. Offensichtlich war es die Kraft des Glaubens, die ihr angesichts dieser Schicksalsschläge die nötige Kraft verlieh, um weiterleben zu können, ohne die Hoffnung zu verlieren.

»In den Ländern des Sultans wütet diese Krankheit anscheinend genauso wie innerhalb der Mauern unserer Stadt«, stellte Maria fest.

Seriféa nickte.

»Was wohl heißt, dass die Anhänger Mohammeds und die Christen Gott in gleichem Maße fernstehen müssen, denn sonst würde er sie nicht in derselben Weise geißeln!« Ein Anflug von Bitterkeit klang jetzt in ihrem Tonfall mit, obgleich sie davon in ihren Gesichtszügen nichts erkennen ließ.

»Es ist nicht so, dass ich über deine Dienste hier unglücklich wäre oder etwas daran auszusetzen hätte«, legte Maria schließlich klar. »Aber ich weiß nicht, ob du dir wirklich einen Gefallen damit getan hast, in diese Stadt zu kommen, die langsam vor sich hin stirbt.«

»Ich hatte keine Wahl – und bin sehr froh, im Haus von Davide untergekommen zu sein. Ihr müsst nämlich wissen, dass mancherorts in den Ländern des Sultans die Christen für den Ausbruch der Seuche verantwortlich gemacht werden – so, wie es heißt, dass in den Städten der christlichen Kaiser eher die Juden als Sündenböcke herhalten müssen, obgleich aller Wahrscheinlichkeit nach keine der beiden Gruppen irgendetwas mit dieser Plage zu tun hatte.«

»Nein, gewiss nicht.«

»Diese Geißel Gottes ist wie ein unsichtbarer Krieger, der seine Opfer blindwütig und anscheinend ohne Wahl erschlägt. Also sollten wir dem Herrn für jeden Tag danken, der uns bleibt.«

»Du scheinst dir viele Gedanken zu machen, Seriféa. Mehr, als ich dir zugetraut hatte.«

Tage waren in Abgeschiedenheit dahingegangen. Abgesehen von Seriféa suchte Davide sie fast jeden Tag auf. Es gab viele Dinge für das Handelshaus zu entscheiden, und manche waren von einer dermaßen großen Tragweite, dass Davide sich der Zustimmung der Erben sicher sein wollte. In dem letzten Willen, den Luca di Lorenzo lange vor seinem Ableben zu Papier in Anwesenheit seiner Kinder sowie Davide Scrittores und Pater Matteos schriftlich niedergelegt hatte, war unter anderem auch festgelegt worden, dass Davide für seine langjährigen treuen Dienste einige Anteile an dem Handelshaus erbte. Anteile, die ihn zum Zünglein an der Waage machten und ihm, falls es zwischen den Erben zum Zerwürfnis käme, die ausschlaggebende Stimme gaben. Maria hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, da Davides Loyalität dem Haus und der Familie gegenüber außerhalb jeden Zweifels stand. Dasselbe galt überdies für seine Fähigkeiten als Geschäftsmann und Verwalter. Marco allerdings hatte an jenem Tag völlig die Fassung verloren. Diese Regelung war in seinen Augen nichts anderes als ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sein Vater ihm und seinen Fähigkeiten letztlich misstraute und wie wenig er ihn verstand. Der heftige Streit, der danach folgte, war Maria bis zum heutigen Tag in lebhafter Erinnerung geblieben – verletzende Worte waren dabei von beiden Seiten gefallen. Worte, die sich nicht mehr zurücknehmen und ungeschehen machen ließen.

Kerzengerade saß Maria di Lorenzo vor dem aus dunklem Holz kunstvoll gedrechselten Tisch, der in ihrem Zimmer stand. Sie strich sich eine verirrte Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus dem Gesicht, die sich irgendwie aus ihrer Frisur gestohlen hatte, nahm mit der Rechten den Stift aus Blei und trug damit sorgfältig Zahlen in die vorgezeichneten Spalten ein. Hinter jeden dieser Beträge machte sie ein Zeichen, das für die jeweilige Münze stand – denn auf den Märkten und in den Häfen am Bosporus wurde in allen Währungen der Welt gezahlt.

Das Sonnenlicht fiel in ihr feingeschnittenes Gesicht, und ihre blaugrauen Augen erinnerten an die Farbe des Meeres. Trotz ihrer zierlichen Figur wirkte sie keineswegs zerbrechlich, sondern sie strahlte eine innere Stärke aus, die wohl nur ein aufrichtiger Glaube verlieh. Die Zeit, da sie ein Büßergewand getragen hatte, war vorbei. Nichtsdestotrotz war ihre Kleidung schlicht geblieben. Schlichter, als es sonst unter den Kaufleuten Konstantinopels üblich war – besonders dann, wenn sie ihre Wurzeln in Italien hatten! Ihr erschien das in Anbetracht ihrer Trauer allerdings angemessen zu sein.

Sie hielt inne, und ein leichter Zug von Wehmut trat in ihre Züge. Durch das Fenster, das mit echtem venezianischen Glas versehen war, leuchteten die letzten Strahlen der über dem Bosporus stehenden Abendsonne und tauchten den ganzen Raum in ein warmes rotgoldenes Licht.

Das Gesicht ihres Vaters stand ihr plötzlich vor Augen, wie es so häufig geschah, wenn sie in Gedanken war, ein Gesicht, so bleich wie eine Totenmaske, die Augen von schwarzen Ringen umgeben und der Ausdruck so elend im Angesicht des sicheren Todes. So oft war der üble Hauch der Pest über Konstantinopel gekommen – mehr als zehnmal in den letzten hundert Jahren. Der schmale Meeresarm, den man das Goldene Horn nannte und der diese große und einstmals so ruhmreiche Stadt von Pera trennte, hatte Marias Eltern nicht davor bewahrt, von diesem bösen Hauch hinweggerafft zu werden, sodass sie und ihr Bruder Marco nun allein dastanden. »Du musst stark sein, Maria, und das Erbe unseres Handelshauses bewahren!«, hatte ihr Vater ihr auf dem Totenbett gesagt. »Wir schaffen Reichtum nicht um seiner selbst willen, sondern um Gutes damit zu bewirken und das Leben künftiger Träger unseres Namens zu sichern …«

Wahrscheinlich war mein Vater der Einzige, der diesem Gedanken in aller Ernsthaftigkeit folgte!, dachte Maria nicht zum ersten Mal.

Es klopfte an der Tür.

»Herein!«, bat Maria.

Davide Scrittore betrat im nächsten Moment den Raum. Eigentlich hätte er sich von ihr fernhalten müssen, doch die Geschäfte waren ihm wichtiger als das Verbot des Pestarztes. Er sah mit einem Blick, womit sie sich gerade beschäftigte, und nickte zufrieden. »Wie ich sehe, widmet Ihr Euch den Dingen, die für unser Geschäft wichtig sind.«

»Ich bemühe mich darum, schnell zu lernen«, antwortete Maria. »Habt Ihr Neuigkeiten aus Pera?«

»Nach allem, was ich gehört habe, wütet die Seuche dort nicht mehr ganz so heftig. Jedoch gibt es inzwischen gerüchteweise sogar ein paar Pestleichen im Konstantin-Hafen. Es sollen aragonesische Seeleute gewesen sein!«

»Wer weiß, was davon wahr ist!«, meinte Maria. »Ihr wisst, wie wenig beliebt die Männer aus Aragon sind! Vielleicht hat man ihnen die Pest bloß an den Hals gewünscht.« Seit Jahren schon versuchte König Alfonso von Aragon in Konstantinopel Einfluss zu gewinnen und konkurrierte darin mit den Venezianern und Genuesern. Manche spotteten, der Kaiser hätte langfristig nur die Wahl, sich dem muslimischen Sultan oder dem katholischen König von Aragon zu ergeben. Gerade in den Reihen der orthodoxen Kirche gab es nicht wenige, die es vorgezogen hätten, sich den Muslimen zu ergeben, anstatt sich den Katholiken unterzuordnen – ganz gleich, ob diese nun aus Italien, Spanien oder von irgendwo sonst stammten.

»Eigentlich müsste Euer Bruder an dieser Unterredung teilnehmen«, erklärte Davide. »Es geht nämlich um außerordentlich wichtige Entscheidungen.«

»Entscheidungen?«

»Es gibt Schwierigkeiten mit einigen unserer Schiffe. Wie Ihr wisst, hatte Euer Vater über einen Mittelsmann aus Chrysopolis dafür gesorgt, dass unsere Schiffe nicht von türkischen Kanonen beschossen werden, wenn sie das Marmarameer verlassen. Der Mann, der diese Art Geschäfte für uns abwickelt, heißt Andreas Lakonidas. Ich hatte Euren Vater stets vor ihm gewarnt, denn ich halte ihn für einen der größten Halsabschneider rund um den Eutherios-Hafen.«

»Welcher Art sind die Probleme, die es mit ihm gibt?«, fragte Maria.

»Er will mit einem Mal die doppelte Summe haben. Dagegen habe ich nicht den Eindruck, dass er seine Aufgabe besonders zuverlässig erfüllt und seine Kontakte zu den Türken wirklich so gut sind, wie er behauptet …«

Maria wusste, worauf Davide damit anspielte. Vor kurzem erst war ein dringend erwartetes Schiff aus dem an der Schwarzmeerküste gelegenen christlichen Kaiserreich Trapezunt bei seiner Durchfahrt durch den Bosporus schwer beschossen worden. Nur mit Mühe hatte es schließlich noch den Hafen von Konstantinopel erreichen können. Der Kapitän war ein Genueser, die Mannschaft hatte hingegen vorwiegend aus angeheuerten Dalmatiern, Ungarn und Serben bestanden. Das Schiff war mehrfach getroffen worden, und fast ein Drittel der Besatzung war umgekommen. Davon abgesehen hatte man auch einen Großteil der Ladung verloren. Stoffballen waren ruiniert worden, und Fässer mit Wein oder Seife mussten vorsorglich über Bord geworfen werden, damit das Schiff leichter wurde und weniger Tiefgang hatte. Einige der durch die Kanonentreffer geschlagenen Löcher waren nämlich dermaßen dicht an der Wasserlinie, dass bei voller Beladung unweigerlich genügend Wasser eingedrungen wäre, um das Schiff zum Kentern zu bringen. Auch ohne den Verlust des Schiffes waren das demnach herbe Einbußen für das Haus di Lorenzo. Das sorgenvolle Gesicht ihres Vaters, als er die Nachricht von den Geschehnissen erhalten hatte, war Maria noch lebhaft im Gedächtnis.

»Haben wir eine Alternative zu diesem Andreas Lakonidas?«, wollte Maria wissen.

»Genau das ist das Problem. Ich fürchte, wir werden in Ermangelung anderer Optionen auf eine Zusammenarbeit mit ihm angewiesen sein, auch wenn seine Leute offenbar nicht in der Lage sind, Schiffen, die in unserem Auftrag unterwegs sind, auch tatsächlich eine reibungslose Fahrt durch die von den Türken beherrschten Gewässer zu gewährleisten.«

»Ist es nicht möglich, diesen Andreas Lakonidas als Mittelsmann zu umgehen und selbst mit Männern in Verbindung zu kommen, die Einfluss auf die Kanoniere des Sultans haben?«, fragte Maria stirnrunzelnd. Das erschien ihr das Naheliegendste zu sein.

Davide lächelte mild. »Das versuchte ich Eurem Vater seit längerer Zeit schon anzuraten. Gleichwohl ist das nicht ganz so einfach, wie Ihr Euch das vielleicht vorstellen mögt. Zudem ist es sehr risikoreich, wie ich zugeben muss.«

»Inwiefern?«

»Angenommen, jemand erführe von einer solchen Verbindung, dann wäre es jederzeit möglich, Euch und alle, die davon wüssten, des Verrats zu bezichtigen.«

Maria zuckte mit den Schultern. »Kann denn irgendjemand wirklich glauben, dass auch nur einer unter denjenigen, die in Konstantinopel überhaupt noch Fernhandel betreiben, dies tun kann, ohne sich auf irgendeine Weise mit den Türken zu arrangieren?«

»Nein, natürlich nicht. Das tun alle, wenngleich niemand darüber spricht. Aber wie gesagt, wenn wir Lakonidas übergehen, dann erhöhen wir das Risiko, dass ein direkter Kontakt zu den Türken eventuell gegen uns verwendet würde. Euch wird doch auch bekannt sein, wie die Hofintrigen entstehen und wie sich hinter den erhabenen Mauern des Kaiserpalastes die unterschiedlichsten Gruppen bis auf das Messer bekriegen und vor nichts zurückschrecken.«

»Soweit mir bekannt ist, sind unsere Beziehungen zum Hof doch ausgesprochen gut«, erwiderte Maria. »Schließlich stammen wir von Niccolò Andrea di Lorenzo ab, dem das Imperium einiges schuldet!«

Imperium – dieses Wort kam Maria in diesem Zusammenhang fast wie Hohn vor. Die Grenzen dieses Staates, der sich nach wie vor als solches sah und bezeichnete, waren mittlerweile nahezu mit den Mauern seiner Hauptstadt identisch.

»Nur, weil Euer Urahn geholfen hat, die Lateiner zu verjagen, solltet Ihr Euch der Loyalität des Kaiserhauses nicht auf Dauer zu sicher sein«, warnte Davide. »Das Haus di Lorenzo hat Konkurrenten, die ebenso gut auf den Saiten jener Laute zu spielen wissen, die man Hofdiplomatie nennt und die in Konstantinopel wichtiger ist als alles andere, um Erfolg zu haben.«

»Und was schlagt Ihr vor?«

»Zunächst werden wir die Bedingungen von Andreas Lakonidas akzeptieren müssen. Doch auf lange Sicht wird uns keine andere Möglichkeit bleiben, als das Risiko einzugehen und selbst nach zuverlässigen Verbindungen zu den Türken zu suchen. Aber gnade uns Gott, wenn davon jemand erfährt, für den dieses Wissen nicht bestimmt ist!«

Maria nickte. »Was ist mit Marco?«

»Ja, da ist auch etwas, was mir Sorgen bereitet. Wie ich schon erwähnte, hätte er an diesem Gespräch eigentlich teilnehmen sollen, wobei ich mir inzwischen gar nicht mehr sicher bin, ob es nicht besser so ist …«

»Was meint Ihr damit?«

»Marco ist nicht in seinem Zimmer. Seriféa will gestern noch Schritte in seinem Zimmer gehört haben, also gehe ich davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt noch dort war.«

»Wo ist er hin?«, erkundigte sich Maria.

»Ich hatte gehofft, dass Ihr mir das sagen könntet, Maria. Er ist Euer Bruder, und wie ich weiß, steht Ihr ihm so nahe wie sonst wohl kaum jemand anderes.«

Maria schluckte. »Ich weiß nicht, wo Ihr ihn suchen solltet«, meinte sie, während ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie ihren Bruder mutmaßlich doch weniger gut kannte, als sie es bisher geglaubt hatte.

Zwei Tage später tauchte Marco wieder auf. Er trug ein ungewöhnlich schmutziges Lederwams, und auch das Hemd darunter war besudelt. Maria stellte ihn zur Rede. Er sah sie nur an und schwieg.

»Rede mit mir! Wie kannst du einfach verschwinden, ohne zu sagen, wohin und aus welchem Grund? Davide und ich haben uns Sorgen gemacht. Und davon abgesehen wissen wir nicht, ob wir nicht doch die Krankheit in uns tragen und …«

»… falls das der Fall sein sollte, so sind wir doch nur Werkzeuge in den Händen Gottes oder Satans, wenn wir den Tod in die Stadt tragen. Aber du kannst beruhigt sein – dort ist er bereits. Auch wenn noch nicht viele davon wissen, in den Gassen am Eutherios-Hafen munkelt man davon.«

»Marco!«, stieß Maria befremdet hervor. Er sah sie wieder mit diesen glasigen Augen an. »Was redest du?«

»So ist es doch! Nicht einmal ein frommer Mann wie unser Pater Matteo da Creto kann sicher sein, ob er nicht in Wahrheit dem Satan dient, obgleich er sicherlich das Gegenteil beabsichtigt!«

Marias Blick blieb stirnrunzelnd an der besudelten Kleidung haften. »Das – das sieht aus wie … Blut!«, stellte sie fest. »Was ist geschehen?«

»Nichts, worüber ich mit dir sprechen könnte, Schwester«, murmelte er und ließ sie damit einfach stehen.

Die Tage gingen dahin, und wie sehr sich Maria auch darum bemühte, etwas mehr darüber herauszufinden, wo Marco gewesen und was in jener Nacht mit ihm geschehen war, nach der er mit blutbeschmierter Kleidung zurückgekehrt war – er schwieg darüber. Die Fragen, die die Zukunft des Handelshauses betrafen, schienen ihn nicht zu interessieren.

Als sie ihn wieder einmal in seinem Zimmer aufsuchte, saß er in sich versunken auf dem Bett und las in einem kleinen Buch. Er wirkte sehr angestrengt. Marco hatte in der Vergangenheit immer wieder ganze Tage in den Bibliotheken Konstantinopels verbracht und manchmal auf einem der Märkte Abschriften von Büchern erworben. Sein Griechisch war perfekt, sein Latein ebenfalls, und er konnte sogar genug Arabisch und Persisch, um auch Bücher lesen zu können, die in diesen Sprachen verfasst worden waren. Maria hatte das stets bewundert, denn obschon man in einer Stadt wie Konstantinopel darauf angewiesen war, sich in mehreren Zungen zu verständigen, war Marco ihr in dieser Hinsicht immer voraus gewesen.

»Marco«, brachte sie vorsichtig seinen Namen über die Lippen. Dreimal schon hatte sie ihn angesprochen, ohne dass er sie beachtet hatte. Zu sehr schien er in die Lektüre des in Leder gebundenen Buches vertieft zu sein. Ein Ruck ging nun durch seinen Körper, bevor er aufschaute. Er bedachte sie mit einem sehr eigenartigen Blick. Seine zunächst weit aufgerissenen Augen verengten sich plötzlich und bekamen einen quälend intensiven Ausdruck. Er klappte das Buch zu. »Du solltest diese Verse lesen!«, sagte er. »Sie geben Kraft und Halt!«

»Was ist es denn, was du da liest? Allem Anschein nach fesseln dich diese Zeilen ja ganz außerordentlich! Sind es Psalmen aus unserer Heiligen Schrift?«

Marco schüttelte energisch den Kopf. »Da preist man eine Schrift als heilig, und es wird dadurch nur umso offenbarer, dass alle anderen Schriften von nun an unheilig sind«, empörte er sich ziemlich düster, jedoch mit einer Entschlossenheit, die ihresgleichen suchte. »Alles kann sich im Handumdrehen ändern, werte Schwester. Dinge verkehren sich in ihr Gegenteil. Stärke verwandelt sich in Schwäche, Gutes in Böses, Wasser in Blut und Gott in den leibhaftigen Satan.«

»Marco, du redest wirr!«

Er stand auf, kam auf Maria zu und reichte ihr das Buch. »Das alles steht hier drin.«

»Was ist das?«

»Eine Abschrift des Buches der Cherubim. Ich habe sie selbst angefertigt. Sie ist nicht vollständig, aber leider gibt es dieses Buch nur in wenigen Exemplaren, und kaum eines ist wirklich lückenlos erhalten geblieben. Darin heißt es zum Beispiel, dass man selbst zum Satan werden müsse, um ihn zu besiegen. Ein interessanter Gedanke, nicht wahr?«

»Das ist gewiss eine Ketzerschrift!«, stellte Maria stirnrunzelnd fest. Sie öffnete das Buch und sah die wohlgeordneten Reihen griechischer Buchstaben.

»Was heißt schon Ketzerei, Maria? Es waren Konzilien, die bestimmt haben, welche Texte zum heiligen Kanon gezählt werden und welche nicht. Es sind Menschen, die bestimmen, welche Gedanken wahr sein dürfen und welche nicht! Nicht Gott – denn zum Herrn selbst hat offenbar sowohl unsere als auch die östliche Kirche schon längst jegliche Verbindung verloren. Es geht darum, die Macht von wenigen zu erhalten – nicht um die Wahrheit. Und diejenigen, die ihr bis auf den Grund gehen wollen, werden dann allzu leicht als Ketzer bezeichnet. Wenn du es so sehen willst, dann bin ich ein Ketzer.« Er lachte auf.

Maria gab Marco das Buch unverzüglich zurück. Sie hatte das Gefühl, es nicht länger als unbedingt notwendig in ihren Händen halten zu dürfen, so als würde sie sonst selbst Gefahr laufen, in den eigentümlichen Bann zu geraten, den es unverkennbar auf ihren Bruder ausübte.

»Wo warst du?«, fragte sie ihn noch eindringlicher als zuvor.

Doch Marco schüttelte nur wieder den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte er. »Ich darf es nicht.«

»Warum nicht?«

»Um dich nicht in Gefahr zu bringen.«

»Von was für einer Gefahr sprichst du?«

»Jedes weitere Wort ist zu viel, Maria. Sei unbesorgt, ich habe die Pest nicht, so wie du auch nicht. Noch nicht. Sonst würden wir die Symptome der Krankheit längst an unserem Körper spüren, und dieser Quacksalber des Kaisers hat schließlich keine Zeichen an unseren Körpern entdeckt. Also kannst du unbesorgt sein, ich habe das Übel nicht in die Stadt getragen und nirgendwo Argwohn geweckt.«

»Marco, Davide und ich brauchen deine Hilfe!«

»Meine Hilfe? Maria, niemand hat je meine Hilfe gebraucht. Du solltest voll und ganz auf Davide vertrauen, das hat unser Vater auch getan. Und wenn auch ansonsten mehr Entzweiendes als Gemeinsames zwischen uns geherrscht haben mag, so wäre ich mit ihm in diesem Punkt ganz gewiss einer Meinung!«

Maria spürte in diesem Moment so deutlich wie selten zuvor, dass es ihr offensichtlich nicht mehr möglich war, ihren Bruder innerlich zu erreichen. Die ketzerischen Lehren dieses sogenannten Buches der Cherubim schienen ihm auf irgendeine, für die junge Frau kaum nachvollziehbare Art und Weise innere Kraft zu geben. Kraft, um den Schrecken zu verwinden, der hinter ihnen lag und sie beide gewiss noch lange in ihren Alpträumen verfolgen würde; Kraft, die Maria nicht mehr hatte. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht versucht, ihm diese ketzerischen Gedanken mit aller Macht auszureden, obgleich sie wusste, wie schwierig das hätte werden können. Derzeit brauchte sie einfach alle Kraft, die sie noch besaß, für sich selbst, um nicht völlig zu verzweifeln.

Eines Nachts kam Fausto Cagliari zum zweiten Mal zum Kontor des Hauses di Lorenzo, um die Körper der beiden überlebenden Erben zu untersuchen. Wieder hatte man einen Raum so herrichten lassen, wie es Meister Cagliari wünschte. Die Scham, die Maria diesmal empfand, war nicht geringer als bei der ersten Untersuchung. Dennoch ließ sie es über sich ergehen. Das Urteil dieses Arztes bedeutete zumindest gegenwärtig ein wenig Gewissheit – sofern es diese im Zusammenhang mit der Pest überhaupt geben konnte. Schließlich konnte selbst dann, wenn festgestellt würde, dass sie völlig frei von den Zeichen dieser Krankheit war, niemand ausschließen, dass sie nicht schon am Tag darauf das üble Miasma einatmete, woraufhin sie dann dem Verderben anheimgegeben wäre.

Cagliari verrichtete seine Untersuchung wortlos und mit schmerzhafter Rohheit. Bei der ersten Untersuchung war er derart grob gewesen, dass sich an einigen Stellen ihres Körpers blaue Flecken gebildet hatten, von denen sie erst befürchtet hatte, sie könnten frühe Stadien der Pestbeulen sein.

»Zieht Euch wieder an«, murmelte der maskierte Arzt hinter seiner Schnabelmaske.

»Diesmal ist es nicht nötig, die Kleider zu verbrennen?«, fragte Maria.

»Nein. Ihr seid frei von allen Zeichen der Pestilenz.«

»So sei dem Herrn Dank dafür!«

Maria streifte sich ihre Kleider rasch wieder über. Der Arzt hatte sich bereits abgewandt. Im flackernden Licht der Kerzen und Öllampen schien er kaum etwas Menschliches an sich zu haben, sondern wirkte wie ein groteskes dämonisches Mischwesen aus Vogel und Mensch.

»Meister Cagliari«, sprach Maria dann den Arzt mit fester Stimme an.

Cagliari wandte den Kopf. »Ich habe meinen Dienst an Euch verrichtet. So werdet Ihr Zugang zum Hof bekommen, was für Euch ja wohl von großer Bedeutung sein wird, wenn Ihr das Wohlwollen und die Privilegien des Kaiserhauses behalten wollt. Alles andere soll mir gleichgültig sein. Schickt also Euren Bruder zu mir – und ich will hoffen, über ihn dasselbe sagen zu können wie über Euch!«

»Ich würde gerne Euer Gesicht sehen, Meister Cagliari – nun, da Ihr bereits zum zweiten Mal alles gesehen habt, was an mir verborgen war!«

Maria sprach mit sehr klarer Stimme, von der eine Stärke ausging, die sie selbst am meisten überraschte. Sie hatte einfach das Gefühl, unbedingt sehen zu müssen, was für ein Gesicht unter dieser Maske verborgen war und zu wem diese unsagbar kalten grauen Augen gehörten, deren Blick sie auf so unangenehme Weise gemustert hatte.

Cagliari drehte sich halb um. Der Lichterschein ließ den eigentümlichen Anzug, den er trug, jetzt erst recht wie die Haut eines Reptils erscheinen. Die Augenlöcher in der Schnabelmaske lagen im Schatten. »Seid glücklich, wenn Ihr mein Antlitz niemals zu Gesicht bekommt!«, wisperte er auf eine Weise, die keinen Widerspruch duldete.

Ein kalter Schauder überlief Maria.