Gibt es eine Archäologie der Bewegungen …? Ich werde nicht immer so intelligent wach, doch dieser Gedanke ist das Überbleibsel eines Halbtraums, aus dem nun langsam der Anlaß zu der Frage verschwindet. Wiegend verschwindet, sollte ich sagen, denn es handelt sich hier um einen schlanken, anmutigen Frauenarm, der sich nach einem flachen geflochtenen Korb hinaufstreckt, in dem hoch aufgetürmt Früchte auf tiefgrünen Palmblättern liegen. Bananen von einem tiefen Ocker, Orangen in der Farbe von Ringelblumen, alles in einer perfekten Geometrie, eine Komposition von höchster Ordnung, die die Vorstellung von Vollkommenheit erweckt, von einer Gesetzmäßigkeit, die sich nur durch ewige Wiederholung erzielen läßt. Ich möchte noch kurz bei diesem Traumbild verweilen und würde gern auch Kopf und Körper der Frau sehen, doch sie verschwindet mit langsamen, wiegenden Bewegungen aus dem Bild, wie nur Frauen in Träumen das können, ihre Opfer verstört der Welt überlassend, die hier das Aussehen einer vanillefarbenen Wand hat, an der eine tote Mücke im Kranz des eigenen getrockneten Blutes klebt.

Ich kenne diesen Raum, hier war ich schon mal. Nun bin ich wiedergekommen, die Wand hat auf mich gewartet, fünf lange, geduldige Jahre. Ich wollte nach Bali zurückkehren, ich bin wieder da, das Gedächtnis rekonstruiert den Raum, den Nachttisch mit der Zeitung aus Singapur, der Zeitung von gestern. In Singapur war alles mögliche passiert, doch hier hat es seine Gültigkeit verloren. Nachtschränkchen, Tisch, Buch, Ventilator, das Moskitonetz gleich einem zerrissenen Brautschleier, als ich es zur Seite schiebe, rückt die Welt näher. Ich höre nun auch das Geräusch des Wassers, der Grund, weshalb ich erneut um dieses Zimmer gebeten habe. Jetzt weiß ich auch wieder, wie mein Körper in die Maße dieses Zimmers paßt. Ich sehe meinen Koffer, die Mattglastür zum Bad, den Weg zum Balkon, hoch über dem Fluß. Das war das Geräusch, das ich im Traum gehört habe. Die Frau war nicht eine Frau, es war eine langsame Prozession entlang einem Fluß, Frauen mit Opfergaben auf dem Weg zu einem Gott, den ich nicht kannte, ihrem hiesigen Gott. Ich trete hinaus auf den Balkon. Von hier geht es steil hinunter, das Grün ist unglaublich. Es ist grell, es ist gemein, es schneidet in die Augen, es ist barbarisch, es ist wild, es ist unbeschreiblich, weil es nicht beschrieben werden will, eine orgiastische Ansammlung von Organen, Lappen, Dolchen, Fetzen, noch weinend vom Tau, der bereits zu dampfen beginnt. Tief unten der Fluß. In diesen fünf Jahren hat er keine Sekunde stillgestanden, ich hätte genausogut bleiben können. Er wird mir heimzahlen, daß ich dachte, ich könnte durch die Welt gondeln, er rauscht wie toll, hat nicht vor, je damit aufzuhören, er muß das Tal auswaschen, hat einen Auftrag, ist beschäftigt. Ich lasse dieses Geräusch in mich hineinfließen und spüre, wie die Reise hierher langsam von mir geschält wird. Jetzt kehrt auch der Gedanke aus meinem Traum wieder zurück: Gibt es eine Archäologie der Bewegungen? Wie alt ist die Bewegung, in der eine Frau einen Opferkorb voller Früchte auf ihren Kopf hebt? Sie ist in Sarong und Kabaja gekleidet, golddurchwirkt, ihre Haut glänzt, sie verläßt ihr Haus und schließt sich den anderen Frauen an, gemeinsam bilden sie eine Prozession, jede Frau hat in der gleichen Bewegung die Opfergaben emporgehoben, jetzt sind sie auf dem Weg zu ihrem Gott, sie müssen ihn ehren oder feiern oder Unheil beschwören. Der Fremde weiß das nicht genau, doch das Bild genügt, er hat sie gesehen, er hat dieses Bild in seinem Archiv gespeichert, und es ist mit dieser Frage in seinen Halbschlaf zurückgekehrt. Ist die Bewegung so alt wie der Gott? Wie alt aber ist der Gott? Wenn Sie das wissen wollen, dann fragen Sie doch, wie alt der Tempel ist. Den Gott gab es freilich schon lange vor dem Tempel, und vielleicht gab es vor diesem Tempel bereits einen anderen. Bewegungen können nicht versteinern, sie müssen lediglich stets von neuem vollführt werden, ihre Geschichte ist uralt, doch ihre Archäologie trägt keine Jahreszahl. Es sind die gleichen, aber andere Frauen, die der Fremde gesehen hat, er hat in die Zeit geschaut, vielleicht ist ihm ein wenig schwindlig. Wiederholung ist ein Versuch der zyklischen Zeit, in die Nähe der Ewigkeit zu gelangen, an manchen Orten gelingt das besser als an anderen.

Staubig war es gestern abend in Ubud. Das Taxi war vom Flughafen in Denpasar hierher gefahren, das sind die Augenblicke, in denen eine Reise sich gegen einen kehren kann, dieses Gefühl kannte ich, der Schwarm lärmender Motorroller links und rechts, neue Gebäude, die aussehen wie alles im Rest der Welt, Stumpfsinn, und dann mit einemmal, als wir nach Ubud kamen, diese Frauenprozession, die von der Straße abbog. Das Taxi gebeten, anzuhalten, an das Brückengeländer getreten und gesehen, wie die Frauen am Fluß entlanggingen, ihre Farben, ihr tänzelnder Gang, ihr leises Reden, ihre Unbeirrbarkeit im Gewühl, die aufgetürmten Früchte, die dem Gott dargebracht würden.

 

Wann hört man ein Wort zum erstenmal? In der Schule mußten wir dies metrisch herunterleiern können: Java / Sumatra / Borneo / Celebes / Bali / Lombok / Sumba  / Sumbawa / Timor, halb portugiesisch. Letzteres bedeutete, daß eine dieser Inseln zur Hälfte nicht uns Niederländern gehörte, sondern den Portugiesen, alle anderen jedoch hatten auf eine nicht ganz klar ersichtliche Weise mit einem selbst zu tun, sie gehörten uns. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich bei diesem Gedanken etwas empfand. Bilder in Schulbüchern vom Borobudur, mit graziösen Gestalten unter Palmen, Wörter, die sich zum erstenmal im Gehirn einnisteten und nie mehr daraus verschwinden sollten: tuan, dessah, bandjir, sarong, sawah, nasi, später, nach dem Krieg, finden die sogenannten Polizeiaktionen statt, die nichts weiter als ein Kolonialkrieg waren, es folgt die erste Lektüre von »Kolonial«-Literatur, Couperus, Székely-Lulofs, Daum, Friedericy, Dermoût, Multatuli, Breton de Nijs1 – langsam nimmt, was im Verschwinden begriffen ist, Kontur an, es hat eine ganze Welt gegeben, die, endlos weit entfernt, zu einem gehört hatte und jetzt rasend schnell aus der Geschichte verschwand. Neue Namen, Sukarno, Hatta, Linggadjatti, eine fast in Tränen aufgelöste Königin Juliana, die alle diese Inseln auf einmal Menschen überträgt, die eben noch als Terroristen bezeichnet wurden – es war, als nähme sie diesen »Smaragdgürtel« öffentlich ab und legte ihn auf den Tisch, ihr Gesicht ist dabei benetzt, bleich, sie wirkt wie in Trance, vielleicht dachte sie an die Worte Multatulis, die sie zweifellos irgendwann gelesen hatte und in denen ihr Urgroßvater noch »Kaiser von Insulinde« geheißen hatte. Es zeigt sich, daß »Indien verloren, Unheil geboren« eine leere Phrase war, die Niederlande überleben die Amputation, und der neue Inselstaat geht seinen unsicheren Weg, die Molukker kommen in die Niederlande, die »ostindischen« Niederländer waren bereits da, Den Haag entwickelt sich zu einem kulinarischen Paradies, und das Niederländische wird mit neuen Wörtern bereichert, sajur lodeh, daging rendang, nasi puti, sateh kambing, der Blick wird nostalgisch, in den verblichenen Porträts von Breton de Nijs sehen wir, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, eine für immer entschwundene Epoche, einen schmalen, grazilen Susuhunan2 am Arm eines plötzlich groß und grob wirkenden Niederländers, Hella S. Haasse schreibt Die Teebarone, Jacob Vredenbregt, ehemaliger Kriegsgefangener während der »Polizeiaktionen«, wird in das heutige Indonesien zurückkehren, sich dort als Bürger niederlassen und die Geschichte von der anderen Seite her erzählen, wie wir dort verschwanden und was danach kam, der Staatsstreich Suhartos, die Ermordung Tausender von Kommunisten, das Land driftet von uns weg, die Generation, die noch Niederländisch sprach, lebt nicht mehr, und nur ein Idiot wie ich denkt noch an diese Dinge, wenn er ein splitje (Whisky-Soda) im Hotel des Indes in Den Haag trinkt, in Bandung oder auf Bali herumspaziert oder im früheren Buitenzorg auf den weißen Zuckerbäckerpalast des tuan besar, des Generalgouverneurs, starrt. Heimweh nach kolonialen Zeiten? Nein, das nicht, eher ein literarisches Gefühl, nichts Rationales, Dinge, die mir nach der Lektüre von Die stille Kraft, De laatste generaal (Der letzte General), Der schwarze See, Het land van herkomst (Das Herkunftsland) in Erinnerung geblieben sind, etwas von alldem spielt jetzt mit, während ich auf Bali bin mit den glänzenden Büchern von W. O. J. Nieuwenkamp und A. J. Bernet Kempers. Nieuwenkamp schilderte auf meisterliche Weise das Leben hier in den zwanziger und dreißiger Jahren, Bernet Kempers hat sich mehr als jeder andere um die Archäologie der Insel verdient gemacht. Er schrieb Monumental Bali, und an seiner Hand besuche ich hier die Tempel – pura –, es scheint, als habe er sie Stein für Stein aufgehoben und gelesen. Diese Bücher verkörpern die andere Seite des Kolonialismus, der 1906 auf Bali einen seiner dramatischsten und beschämendsten Momente erlebt hat, eine Apotheose von Unverständnis, Gewalt, Grausamkeit, Mord und Selbstmord, es sind Bücher der Liebe, dazu bestimmt, zu beschreiben, festzuhalten und zu bewahren.

Ich lasse Bernet Kempers‘ Gelehrsamkeit durch mich hindurchfließen, lese an den Orten, die ich aufsuche, was ich wieder vergessen werde, die Sagen von Königreichen aus Zeiten, lange bevor die Niederländer kamen, von Kriegen untereinander, aus denen das Blut verschwunden ist, von moosbewachsenen Ornamenten als Merkmalen bestimmter Stile, erfahre die Bedeutungen von Fabelwesen, Göttern samt ihren in all diesen Jahrhunderten verwitterten und in Mitleidenschaft gezogenen Attributen: der komplexe, aufgeladene Hintergrund all dessen, was ich mit meinen Händen berühren kann, so daß ich es während eines klaren, erleuchteten Augenblicks auch wirklich sehe, ohne all dieses Spezialistenwissen mit mir herumschleppen zu müssen, eine Erleuchtung, die einen in die Lage versetzt, in einem früheren Augenblick irgendwo anders in der Zeit zu sein, weil man gerade jetzt an diesem Ort im Raum steht und jemanden bei sich hat, der mit seinen Worten den Eindruck vermittelt, er sei dabeigewesen, als diese Figur gemeißelt, dieser Tempel erbaut wurde. Ist es schlimm, daß ich vieles von diesem Wissen wieder vergessen werde? Nein, denn die Essenz werde ich nicht vergessen, die Erfahrung, in solchen Augenblicken findet eine Erweiterung des eigenen Seins statt, das Denken weitet sich.

Ohne jeden Zweifel ist Bali hinter dem Müll des einundzwanzigsten Jahrhunderts, den allgegenwärtigen Bildern der großen Entzauberung noch immer eine von Geistern beseelte Insel. Es bedarf lediglich einer inneren Wünschelrute und der Bereitschaft, ihr zu gehorchen, sobald sie zu zittern beginnt.

Ubud

Alles wie beim letzten Mal. Die Hitze, die tausend Motorroller und Mopeds, das Schlappen der vielen Füße, das Restaurant am Lotusteich, die Männer und Jungen, die früher »Transport, Transport« riefen und jetzt »Taxi, Taxi«, wiedergefunden den Ort, wo ich damals geschlafen habe, 15 Euro auch heute noch und dasselbe Zimmer mit der vanillefarbenen Wand und der Mattglasscheibe zum winzigen Bad, der Hang voll tropischem Grün und unten an seinem Fuß der schnelle Fluß. Und genau wie damals, auf dem Weg zu meinem Zimmer, vorbei an der Bar mit dem Schilfdach, in der niemand je sitzt, gleich vor der kleinen Steintreppe nach unten: ein kleiner Kreis aus Blumen auf dem Boden, eine Opfergabe, um den Zorn der Unterwelt zu bannen. Von Geistern beseelt, wie gesagt. Hier kostet es wenig Mühe, es zu glauben. A bouquet a day keeps the demons away. Die Benediktiner beten am Ende jedes Tages vor dem Schlafen procul recedant somnia, et noctium fantasmata, halte uns fern die Träume, die Trugbilder der Nacht.

Und Nacht wird es früh. Wenn ich bei Dunkelheit ins Hotel zurückkomme, gehe ich am Wächter vorbei, er lacht, ich lache, ich mache ein Kreuz neben den Dingen, die ich zum Frühstück möchte. Das Kreuz bedeutet leise Schritte auf der Terrasse um sieben Uhr, in der Kühle des Morgens. Die Frau von Zimmer 3, die immer hinter einem Moskitonetz auf ihrer Terrasse sitzt und liest und deren Gesicht ich während der ganzen Zeit nie richtig gesehen habe, liest auch jetzt noch zu dieser späten Stunde, weiß der Himmel, mit welchem Universum sie durch ihr Buch verbunden ist.

Unter den sanften Rufern auf den Gehwegen habe ich einen ausgesucht, Ketut, immer zum Lachen aufgelegt, Muslim ohne Probleme mit den Hindutempeln. Heute wollen wir nach Pura Sakenan fahren, Ketut, die Fotografin, unser ostindischer (und das ist etwas anderes als indonesischer) Freund Max, der aus seiner frühkolonialen Jugend die Wörter ausgräbt, die wir brauchen, sein Freund Will. Jedes Auto auf Bali fährt inmitten eines Luftgeschwaders aus Motorrollern, eines wilden Mopedschwarms. Luftgeschwader ist das richtige Wort, sie fahren nicht, sondern scheinen zu fliegen, man weiß nie genau, wo sie sich gerade befinden. Sollte sich der Fortschritt irgendwann einmal durchsetzen, so wird dieser besessene Schwarm in Form von Autos auf die Erde zurückkehren, dann bekommt das Paradies vierspurige Straßen, und die Engel werden vertrieben. Doch soweit ist es noch nicht. Ketut weiß, wie er sich durch tausend Engel hindurchmanövrieren muß, ohne einen zu streifen, ich muß mir manchmal die Augen zuhalten, denn meine Bilder sind nicht übertrieben, es sind zu manchen Zeiten Tausende, die auf den schmalen Straßen unterwegs sind. Durch die Helme ähneln die fernöstlichen Gesichter den Maskierten aus dem Mahabharata, doch sogar das Schwärmen ist ästhetisch, die Anmut der einzelnen Fahrer ist auf den gesamten Schwarm übergeschlagen, sie surfen auf Wellen, die niemand sieht.

Pulau Serangan

Zur Zeit Bernet Kempers‘ war Pulau Serangan noch eine Insel an der Südostküste Balis. Man konnte sie mit einer prahu (Prau) erreichen, mußte jedoch achtgeben, bei Ebbe nicht auf Grund zu laufen, weil man dann nicht mehr von der Insel kam. Diese Probleme gibt es nicht mehr, man hat eine Brücke gebaut. Auf den beiden Karten, die ich von Bali habe, ist sie nicht eingezeichnet, das heißt, ich weiß noch immer nicht, wie wir zu den beiden pura auf der Nordseite der Insel gekommen sind, vielleicht ist Ketut ja geflogen. Er bringt uns bis zu einem großen Schild, das Aufmerksamkeit erheischt: PERHATIAN! ATTENTION PLEASE!

Mag er auch Muslim sein – die Tabus anderer nimmt er ernst, und das Schild fordert uns auf, to keep the sacral and the clean of this temple, so that: for women who are in coming moon is forbidden to enter the temple – is forbidden to climb the building – to make dirty the wall of the building, is not allowed for having sex, and it is forbidden to enter the temple without sarong. Keines dieser verbotenen Dinge führen wir im Schilde, und für das Problem des Sarong gibt es eine alte Frau, die uns einen leiht. All diese verblichenen Fotos aus den Familienalben werden wird plötzlich unangenehme Wirklichkeit, nur Max und Simone können einen Sarong anmutig tragen, Will und ich werden sofort zu grobschlächtigen holländischen Verwaltungsbeamten neben einem javanischen Fürstenpaar. An diese Fotos aus der Kolonialzeit erinnere ich mich am besten, eine Veranda, ein javanischer oder balinesischer Regent mit all seinen Insignien und daneben derjenige, der wirklich das Sagen hatte, der niederländische Resident, fast immer etwas zu groß und etwas zu schwer, das Körpergewicht proportional zum Machtgewicht. Die Niederlande hatten den Adel seiner Macht beraubt und regierten trotzdem mit Hilfe dieser zuweilen uralten Geschlechter, die sich nach wie vor auf die Loyalität und den Gehorsam des Volkes stützen konnten.

Vorbei das alles, und so schlurfe ich mühsam in meinem etwas zu fröhlichen Sarong durch diese heilige Stätte an der Meerenge zwischen der Insel und dem Festland.

Wann ist ein Ort heilig?

Heidegger, einst ertappt in einer Abteikirche, als er sich mit Weihwasser bekreuzigte, antwortete auf die Frage, warum er das tue, da er doch nicht mehr glaube: »Wo so viel gebetet worden ist, waltet das Göttliche.« Hier trifft es zu, man kann sich dem nicht entziehen, die Stille will es, die Abwesenheit von Menschen, der Wind in den Waringinbäumen, das Alter, die riffelige Struktur aus Korallengestein der massiven prasada, einer gen Himmel strebenden Konstruktion aus verschiedenen Etagen, über die ich meine Hand wandern lasse, Fleisch über Stein. Meine papiernen Führer streiten sich. »Gegründet vom Reformer und Priester Dang Hyang Niratha im sechzehnten Jahrhundert«, sagt der eine, nein, entgegnet der andere, »gegründet im elften Jahrhundert vom javanischen buddhistischen Priester Mpu Kuturan«.

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Pura Sakènan auf der Insel Serangan, candi bentar, das gespaltene Tor

Tausend Jahre alt, fünfhundert Jahre alt, spielt das eine Rolle? Derselbe Boden, derselbe Blick aufs Wasser, dieselbe fossile Koralle, die im Morgenlicht so tut, als lebe sie noch, eine versteinerte polynesische Erinnerung an große Völkerwanderungen über das Wasser, Urzeitreisen, die ihr Logbuch in Stein hinterlassen haben.

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Pura Sakènan

Ein Tempel ist nicht nur ein Gebäude, es sind Tempelgründe, Land zwischen hohen Bäumen, auf der einen Seite ein kleiner Flußlauf mit schwarzem Wasser und Mangroven, auf der anderen das weiträumigere Braungrün des Meeres, auf dem Fischer in Auslegerbooten vorbeifahren. Diese Prauen tragen ein weitgespanntes doppeltes Joch, das auf beiden Seiten in Schwimmkörpern endet, die im rechten Winkel zu den Enden der beiden zierlich gebogenen Bambusflügel angebracht sind. Vor dem Hintergrund der hohen Bäume steht das gemeißelte gespaltene Tor, das candi bentar, das man überall auf der Insel sieht, als sei eine geometrische göttliche Gestalt kerzengerade durch den weißen Stein geschritten und habe das geschlossene Tor magisch und mit mathematischer Präzision auseinandergedrückt.

Ein riesengroßes Ungeheuer blickt mich an. Wildschweinartige Hauer, hervorquellende Augen, dieser kala ist durch und durch abschreckende Drohung, sollte ich noch nicht wissen, daß ich mich in der Nähe des Göttlichen befinde, dann wird er mir das schon klarmachen. Ich versuche mir vorzustellen, welches Geräusch er dabei von sich geben würde, falls er könnte, die gesamte Insel würde erzittern. Leere Stellen zwischen den verwitterten Monumenten, zu anderen Zeitpunkten gehen hier Menschen umher, die die Ornamente und Symbole deuten können, die für sie zur täglichen Wirklichkeit gehören, Throne oder Sessel, die sie bei einem odalan, einem Tempelfest, ihren Göttern anbieten, damit diese darauf Platz nehmen können, aber auch, um an die Verstorbenen zu erinnern, die von allem befreit sind, was zur Erde gehört. Dann wimmelt es an einem jetzt so stillen Ort wie diesem ein paar Tage lang nur so von Menschen, die hierherkommen, um den Gott ihres Tempels zu ehren, ihm Opfer darzubringen, ihn zu feiern. Die Monstergestalten, die den Tempel immer bewachen, werden mit bunten Tüchern und Blumen geschmückt, als müsse ihr abschreckendes Äußeres für kurze Zeit gemildert und gezähmt werden. Ein von Geistern beseelter Ort, an dem Wort kommt man nicht vorbei.

In anderen pura werde ich später erkennbare Götter aus dem unendlichen Pantheon sehen, Shiva, Garuda, Ganesha als tanzenden Elefanten, der den Tempel bewacht, Traumfiguren für mich, lebende Wesen für denjenigen, der hierherkommt, um etwas zu erbitten, um zu gedenken, zu beschwören. Ein Stück weiter auf der kleinen Insel steht ein anderer Tempel, der pura Susunan Wadon. Wieder so eine nach oben strebende Konstruktion aus aufeinandergetürmten schweren Steinen, eine kleine Treppe aus drei ausgehauenen Stufen, wer zur obersten hinaufsteigt, steht mit seinem Körper vor einer Verzierung aus gemeißelten Blättern zwischen zwei Wächterfiguren. Ich bleibe unten und schaue auf das kleine Holztor inmitten des moosbedeckten Vulkangesteins, eine Art Tabernakel, doch es gibt niemanden, der mir sagen könnte, was sich in ihm befindet. Und als müsse es so sein, höre ich plötzlich aus der Ferne das an diesem Ort und in diesem Augenblick so verfremdende Rufen eines Muezzins, der die Welt daran erinnert, daß es auch andere Götter gibt. Nicht weit von hier befindet sich eine Siedlung buginesischer Fischer, Muslime, einst gefürchtete Seefahrer und Söldner, die vor Jahrhunderten aus Celebes nach Bali kamen. Jetzt beginnen die Bilder übereinanderzutaumeln, denn als wir auf dem Rückweg kurz bei einer Steinmetzwerkstatt anhalten, sehe ich, sehr kontrastreich, die Figur eines indonesischen Freiheitskämpfers mit drohend gehobenem Revolver und direkt daneben einen genauso hohen Buddha, der die Linke in der Mudra des Predigens hält, ein fremder Gott, der hier nicht hergehört und zugleich doch. Erst später erinnere ich mich, daß an dem eisernen Gitterzaun, der das Tempelgelände zur Flußseite hin abschloß, ein kolonialer niederländischer Löwe angebracht war, ein anachronistischer Tempelwächter, der seine Wirkung für immer verloren hat.

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Der Buddha und der Freiheitskämpfer

Goa Gajah

Wieviel muß man wissen? Was muß ich in einer romanischen Basilika wissen, wieviel in einer gotischen Kathedrale verstehen? Und wieviel muß ich wissen, wenn ich frühmorgens aufgestanden bin, nachdem jemand das Frühstück lautlos auf die Terrasse gestellt hat, vielleicht dieselbe Person, die bereits zuvor, als ich die Hähne krähen hörte, die ersten Opferblumen auf den Innenhof gelegt hat, den ich auf dem Weg zum Tor überqueren muß, wo Ketut mich erwarten wird, um mich zur Goa Gajah, der Elefantenhöhle, zu bringen. Mit einem Elefanten hat diese Höhle nichts zu tun, soviel weiß ich. Wie jeden Abend vor dem Schlafengehen habe ich gelesen, bis mir schwindlig wurde, mit jeder Sekunde ist die Insel, auf der ich mich befinde, älter geworden, Kulisse mythischer Kämpfe zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse sowie anderer, historischer Kriege zwischen verschiedenen balinesischen Königreichen und des vergessenen Kampfes zwischen balinesischen Fürsten und dem javanischen Reich Majapahit. In allen diesen Geschichten wirkt die kleine Insel wie sich selbst weggenommen, Spielball äußerer Kräfte, der große Strom der Geschichte ist über sie hinweggegangen, alles, was ich sehen werde, ist das Produkt eines unaufhörlichen Wandels, in dem die Zeit der niederländischen Herrschaft trotz dramatischer Ereignisse zu Beginn des vorigen Jahrhunderts lediglich eine flüchtige Episode ist. Es beginnt düster wie immer, Prähistorie, Geschichte ohne Geschichte, man starrt in seinem Buch auf geheimnisvolle Gegenstände, die von einer Vorzeit erzählen wollen, dann kommt die große Maschinerie in Gang, Einflüsse aus dem, was wir heute Indien und China nennen, Götter, Heilige und Dämonen sind in veränderter Gestalt in diesen Regionen zurückgeblieben, Hinduismus hat sich mit Buddhismus vermischt, Tempelwächter haben sich chinesische Masken aufgesetzt, die Richtung, in der ein Berg liegt, will etwas Günstiges über die Zukunft erzählen, alles, aber auch wirklich alles wird vom Kampf zwischen der Oberwelt aus Bergen und Göttern und der Unterwelt der Dämonen bestimmt. Dazwischen liegt die madyapada, die Welt der Menschen, die zusehen müssen, wie sie mit Gut und Böse zurechtkommen, Unheil mit magischen Handlungen und Opfern beschwören, auf der Suche nach der Freistatt, an der all diese Gegensätze nichts mehr bedeuten, wo die Seele von der Welt befreit ist und ins Unbenennbare heimkehrt.

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Goa Gajah, die Elefantenhöhle

Sind die Menschen auf den Motorrollern um mich herum die gleichen wie die von den Tempelzeremonien? Und was für eine Transformation ist das dann? Ich sehe mir ihre Gesichter unter den Helmen an, paßt ein hoher Stapel Opferfrüchte noch darauf? An der Ampel kann ich schauen, soviel ich will, es ist nichts zu sehen. Nicht eines dieser Gesichter will verraten, daß sein Besitzer ein individuelles Produkt einer vieltausendjährigen asiatischen Geschichte ist, einer gigantischen Mischung aus Kosmologie, Mythos, Religion, Krieg und Frieden, und das ist eine historische Sichtweise und zugleich eine objektive Wahrheit. Was Ketut darüber denken würde, werde ich nie erfahren. Er erzählt von seiner Tochter, die mit Erfolg die Schule besucht, von seiner Frau, die in dem Hotel in der Hauptstraße arbeitet, in dem ich mittags manchmal einen Ingwerpfannkuchen esse, eine der grazilen Gestalten, die sich lautlos über die Terrasse bewegen und einem mit sanften Worten etwas servieren. Über die Wahlen will er auch mit mir sprechen, aber eigentlich interessiert ihn das nicht, sagt er. Der große Anschlag hier auf der Insel, das machen Menschen, mit denen er nichts zu tun haben will, das ist nicht sein Islam. Er will, daß weiterhin Fremde auf die Insel kommen und daß er sie nach Bedulu und Goa Gajah bringen kann, wie jetzt.

 

Der Kolonialismus hatte viele Gesichter, die meisten wollen wir nicht mehr wahrnehmen. Doch als ich die steile Treppe in die Höhle hinabsteige, denke ich an die Niederländer, die dies als erste angetroffen und für die Nachwelt erhalten haben. Bernet Kempers hat sein monumentales Werk Willem Frederik Stutterheim gewidmet, einst Direktor der archäologischen Behörde im verschwundenen Niederländisch-Indien, der die japanische Besetzung nicht überlebte. Er war einer der größten Balikenner, jemand, den Bernet Kempers wegen seines profunden Wissens sehr bewunderte, doch er nennt auch andere, wie zum Beispiel den jungen Verwaltungsbeamten L. C. Heyting, der 1923 den ersten Bericht über Goa Gajah schrieb, den Maler W. O. J. Nieuwenkamp, der jahrelang auf Bali lebte und ein glänzendes Buch hinterlassen hat, und vor allem den Archäologen J. C. Krijgsman.

 

Etwas in Wirklichkeit zu sehen, was man bis dahin nur von Fotos kannte, ist immer merkwürdig. Ein riesenhaftes Gorgonenhaupt, das ist meine erste Assoziation. Es sind keine anderen Besucher da, die Stille ist absolut, die beiden riesengroßen, wütenden Augen der steinernen Hexe sind zur Seite gerichtet, das Haupt herausgehauen aus einer Berglandschaft mit alptraumartigen Figuren, ein asiatischer Hieronymus Bosch in Stein, ein bärenähnliches Wesen, das mit einem Stock gepiekst wird, eine Landschildkröte, ein kleiner Mann, der, während er über den Felsen klettert, sein Lendentuch verliert und so seine Hoden den Blicken preisgibt, es ist ein Wald, in dem man sich nachts nicht verirren möchte. Auf einem Foto von 1925 habe ich gesehen, daß einst Frauentorsi auf dem Boden neben dem Eingang standen, mit den vollkommen runden Brüsten der geometrischen Erotik. Wie alle vor mir trete ich in die T-förmige Höhle ein, es ist dunkel, feucht, ich sehe die angekündigten Nischen, die beiden schwarz gewordenen Lingam, von denen Bernet Kempers in seinem Buch schreibt, Shiva-Symbole, Häupter ohne Gesicht, jedes mit einem Tuch um einen Hals, der kein Hals ist. Das Relief einer Blume? eines Bandes? in der Mitte, sie haben keine Augen, und doch hat es den Anschein, als sähen sie mich an. Shiva-Linga, Weltenlenker, in dem das Universum entspringt und untergeht, Symbol eines höchsten Wesens, das keine Form hat und jede Form. Sie sehen in diesem Halbdunkel phallisch aus, doch indische Gelehrte weisen diese »westlichen« Vorstellungen zurück, und wer mischt sich schon gern in eine Auseinandersetzung unter Spezialisten ein? Ich belasse es beim Schauen, bin mir aber meiner unglaublichen Unwissenheit in bezug auf die Bedeutung dieser Bilder bewußt, was mich, während ich schaue, gleichzeitig für vieles von dem blind macht, was ich sehe. Ich streiche mit der Hand über die dunklen Wände, fühle mich in dieser Höhle wie eine nicht ganz gelungene Fledermaus, denke an die wimmelnden Ungeheuer über meinem Kopf, beschließe, mich den Rätseln einfach zu überlassen, und bin erleichtert, als ich wieder nach draußen ins plötzlich blendende Licht komme. Wo ich jetzt stehe, stand 1954 der Archäologe Krijgsman zwischen den Frauenfiguren auf dem Foto aus 1925 und blickte auf so etwas wie einen Innenhof. Etwas daran jedoch war merkwürdig. Daß die Frauenfiguren einst die Funktion eines Wasserspeiers gehabt hatten, war ihm klar, aber wie? Es bestand keine Verbindung zwischen den steinernen Frauen und dem nahe gelegenen kleinen Teich. Und doch berichteten die Leute aus der Umgebung von einer Wasserstelle oder einer Quelle, die es dort früher gegeben haben mußte. Krijgsman ließ graben, stieß zunächst auf ein paar Treppenstufen, danach auf eine tief aus dem Boden ausgehauene zweiteilige Badestelle, eine für Männer, eine für Frauen. Das Wasser aus der Quelle wurde über die fehlenden Unterkörper der jetzt wieder miteinander verbundenen Torsi in die großen Becken geleitet, Wassernymphen, die auf einmal wieder Beine hatten und unter ihren runden Brüsten Krüge hielten, aus denen das Wasser in die Becken strömte. Ich setze mich an den Beckenrand und betrachte die Frauen. In den fünfzig Jahren seit ihrer Entdeckung sind die steinernen Tücher um ihre Lenden durch das unaufhörlich strömende Wasser mit Moos bewachsen. Ich studiere ihre Gesichter, jedes mit dem gleichen Ausdruck, Augen und Mund geschlossen, abwesend, als wären sie mit den Gedanken woanders. In der Stille lausche ich dem Plätschern des Wassers. Als ich später aufstehe und mich von der Höhle entferne, ist es, als käme ich in einen kleinen Regenwald, Palmen und große Farne beiderseits eines Pfads, der, bergauf und bergab, weiter in die Schlucht hineinführt. Ich begegne einem Jungen, der im Spalt eines zerborstenen Felsblocks steht, ein umgestürztes Monument, dessen Verzierungen er mit einer Bürste säubert. Später sehe ich in einer Nische zwei Buddhas, weiter unten einen Teich mit Seerosen, und als der Pfad wieder ansteigt, habe ich den Eindruck, ich könnte Stunden so weitergehen zwischen den Hügeln. Alles ist Fruchtbarkeit, Schwere, es riecht nach Morast oder Moschus, unter den hohen Bäumen tanzen fächelnde Licht- und Schattenflecken, mir ist, als sei ich erst jetzt angekommen.

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Goa Gajah

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Pura Besakih

Das ist natürlich Unsinn, doch jetzt, nachdem ich eine Woche hier bin, scheint es, als hätte ich meine eigene Existenz vorübergehend abgelegt, so wie man aus einem Mantel schlüpft. Sie ist irgendwo anders, und währenddessen streife ich hier umher in einem verzierten Vakuum. Ein Tag folgt auf den anderen, abends die Frau mit dem Buch, aus der Ferne Gamelanmusik, morgens das kleine Blumenopfer auf dem Weg nach draußen, die lautlosen Füße sind mit dem Frühstück gekommen, am Tor wartet Ketut und bringt mich nach Yeh Pulu mit seinen versteinerten Wajangfiguren als Rätseln in der Felswand entlang den Reisfeldern, nach Pura Besakih, der großen Tempelanlage mit ihren endlosen Treppen in den Hügeln unterhalb des heiligen Berges Gunung Agung. Ich gehe auf schmalen Deichen durch die sawahs zu wieder anderen Tempeln, betrachte das Spiegelbild von Palmen im stillen Wasser unter den grünen Reispflanzen, sehe, wie unter einem aus Schilf geflochtenen Vordach Mr. Buddha, woodcarver, eine Götterfigur aus frischem Holz schnitzt, das noch nach Holz duftet, höre Glocken und Stimmen von Priestern, die ihre Zeremonien vollziehen, versuche, die Bilder zu behalten, und weiß, daß es mir nicht gelingen wird, daß alles sich zu einer Erinnerung verdichten wird, die ich Bali nennen werde, lese abends, was ich gesehen habe, und sehe am nächsten Tag, was ich gelesen habe, Fabeln und Traumgeschichten, übersetzt von Wort in Stein und von Stein in Wort.

Legong

Am letzten Abend wird ein Legong-Tanz im Ancak Saji Ubud Palace Court aufgeführt. Die Musik habe ich bereits an anderen Abenden von fern gehört, es klang wie eine ewig währende Wiederholung, ein Klingklang und Singen von Holz und Metall, untermalt von den dunkleren Lauten schwerer Trommeln oder Gongs, darüber ein hohes Flöten, das in Kreisen durch die Nacht zu schweben schien. Ich sitze hinter den Musikern, die wiederum hinter ihren Instrumenten einer zweiten Gruppe auf der anderen Seite der Tanzfläche gegenüberhocken. Die Musik, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint, zieht Kreise um uns, man denkt an Steve Reich oder Philip Glass, doch jeder Versuch einer Beschreibung oder Analyse verfliegt, was man hört, sind ineinanderfließende Rhythmen, manchmal ganz kurz eine abrupte Stille, dann ein Spiel fast unmerklich ansteigender und absinkender Klänge, worauf alles wieder von vorn beginnt. Man weiß, daß diese Musik auf Zählen basiert, das so natürlich geworden ist wie Atmen, Zählen, das gleich in den Rhythmus der Tänze übergehen wird, in eine Geometrie in den Raum gezeichneter Gebärden, Hände, Füße und Arme zu Positionen verbogen, die ihre je eigene Bedeutung haben. Man sieht den jungen Frauen zu, die den Tanz aufführen, sieht ihren goldenen Kopfputz, den Brokat ihrer Kleidung, die skulptierten Formen, die ihre Finger in der Luft annehmen, die großen Augen, die sich manchmal jedes für sich und entgegen der Kopfrichtung zu bewegen scheinen. Es sind Fragmente, die man wahrnimmt, eine Auswahl für den Fremden, doch das schmälert die Verzauberung nicht. Man weiß, daß jede dieser Bewegungen einer jahrhundertealten Tradition entstammt, daß es lebendes Altertum ist, was man sieht. Topeng keras, ein Maskentanz, viril und bösartig, die Geschichten, die ich im Stein betrachtet habe, nun mit Körpern erzählt, ramayana, legong, eine Liebesgeschichte von Anziehen, Abstoßen, Drama und Tod, getanzt von drei Mädchen, ich weiß, daß ich nicht sehe, was Nieuwenkamp und Covarrubias in den zwanziger und dreißiger Jahren gesehen haben, daß ich dafür zu spät gekommen bin, doch alles ist Farbe und Pracht, die Musik hebt in ihrer ewigen Wiederholung den Gedanken an die Zeit auf, als würde schon das Zählen, das ihr zugrunde liegt, in so etwas wie einem geflüsterten Wellenschlag aufgehen, der sich seinerseits in die Nacht hinein verliert. Zum Abschluß treten die Musiker noch einmal vor. Ich blicke in ihre Gesichter und denke an die Gesichter auf den Motorrollern, als könne es nicht sein, daß es die gleichen sind, daß es Zauberei wirklich gibt.

Inmitten der anderen gehe ich durch die nächtliche Straße zu meinem Zimmer zurück. Der Nachtwächter am Eingang schläft und gleicht so einem der maskierten Tänzer. Ich mache meine Kreuze auf dem Frühstückszettel, der vor ihm liegt, Toast, Kaffee, telor. Die Frau von Zimmer 3 liest, wie jeden Abend.

Auf der Terrasse rücke ich den Stuhl dicht ans Holzgeländer und lausche dem Fluß tief unter mir, der rauschend und flüsternd von allem erzählt, was ich nicht gesehen habe, ein Fragezeichen des Abschieds und der Wiederkehr, das Zeichen des Reisenden.

2010