6
Noch lange, nachdem das aufgeregte Meckern der Ziegen, die Männerstimmen und der Lärm des davonbrausenden Motorrads verklungen waren, blieb der Junge in seinem Versteck. Die giftigen Rauchschwaden hatten sich verzogen, und er stellte sich die vom Feuer zerstörten Eier der hier nistenden Tauben vor, die geschwärzte Schale, darin die halb ausgebrüteten Küken. Seit Stunden hockte er schon mit schmerzenden Beinen eingezwängt auf dem Sims, doch er beschloss, weiter auszuharren, um ganz sicherzugehen, dass der Polizeiwachtmeister nicht mehr vor dem Turmeingang auf ihn wartete. Dort oben, rußgeschwärzt, aber lebendig, ließ er die Stunden verstreichen, unschlüssig, wie er die durchlittenen Qualen deuten sollte. Er fragte sich, ob sie den Turm auf einen Fingerzeig des Hirten hin in Brand gesetzt hatten oder nur, weil er weit und breit das einzig mögliche Versteck bot.
Durch die Schießscharte sah er den Abend heraufziehen, während ihm das Brennen seiner wie von Salz zerfressenen Haut zusetzte. Er hörte seinen Magen knurren, und nach dem langen Kauern war längst jegliches Gefühl aus den angewinkelten Knien, den gequetschten Muskeln gewichen. Die Stimme des Hirten erklang nicht. Er schlief ein.
Mitten in der Nacht weckte ihn ein Geräusch. Ein erstickter Schrei, der vom Fuß des Turms zu ihm hinaufdrang. Die Wände rochen nach abgestandenem Rauch, und er spürte wieder das Ziehen der Haut und seinen pappenden Gaumen. Durch die Schießscharte blickte er nach draußen. Der zunehmende Mond tauchte die Ebene in ein fahles Licht und rang der Erde einige Blauschattierungen ab. Die Stimme, die ihn rief, wurde lauter, nicht deutlicher.
»Bist du da, Junge?«
Er hörte den Hirten husten und kurz darauf den dumpfen Aufprall eines Körpers. In der Dunkelheit des Turms fühlten sich die Steine glitschig an, und beim Herunterklettern musste er mit den harten Stiefelspitzen tastend nach Mulden suchen, die ihm Halt boten. Das Absteigen dauerte länger als gedacht, und als er endlich unten ankam, lag der Alte dort mitten auf dem Boden. Er zupfte ihn am Ärmel, klatschte ihm ins Gesicht – keine Reaktion. Dann legte er ihm das Ohr auf die Brust, um nach den Herztönen zu horchen, doch durch die Kleidung war kein Puls zu spüren. Auf der Suche nach dem Gesicht hatte er in etwas klebrig Feuchtes auf der Brust des Alten gefasst. Er beschloss, ihn aus dem Turm hinauszuschaffen, um im schwachen Mondschein nachzuschauen, was ihm fehlte. Doch er brauchte eine Ewigkeit, um ihn an den Beinen auch nur bis zur Tür zu zerren. Als er den Mann endlich draußen hatte und sich mit dem Gesicht über seinen Mund beugte, stellte er fest, dass sein Atem schwach und unregelmäßig ging. Doch den Grund für seine Hinfälligkeit konnte er nicht erkennen.
Die Nacht über kauerte er an der Seite des reglos daliegenden Alten. Es wehte eine laue Brise, untermalt vom unruhigen Lärmen einiger Ziegen. Die Stirn des Mannes glühte, und er stöhnte im Schlaf vor Schmerzen, eine endlose, eintönige Litanei.
Der Junge war so erschöpft, dass er erst wach wurde, als es längst tagte. Nun fand er heraus, was geschehen war. Der Alte lag immer noch regungslos neben ihm, die Kleidung in Fetzen. Der Polizeiwachtmeister und seine Schergen hatten ihm das Jackett heruntergerissen und ihn nur mit dem Hemd am Leib ausgepeitscht. Der Stoff klebte längs der Striemen am Körper. Sein Gesicht war blutverkrustet. Die übel zugerichteten Lippen wulstig, mit geröteten Pusteln. Die geschlossenen Lider wund und aufgequollen wie reife Feigen, Arme und Beine übersät mit blauen Flecken. Seitlich blitzten Peitschenstriemen hervor wie zusätzlich aufgemalte Rippen. Der Junge versuchte, ihn sanft wachzurütteln, aber der Mann reagierte nicht. Er zog ihn heftig am Arm, um ihn aufzurichten, doch sein Körper wirkte wie an die Fundamente der Burg festgenagelt. Erst als er ihn kräftig ohrfeigte, gab der Alte ein Lebenszeichen von sich.
»Hör auf, mich zu schlagen, Junge. Ich bin schon genug verprügelt worden.«
Er sprach halb benommen, mit belegter Stimme und geschlossenen Augen, so als meldete sich weniger seine Stimme als sein Geist. Der Junge schlug die Hände vor das rußgeschwärzte Gesicht. Versuchte sich mit den schwieligen Handflächen die Haut abzurubbeln. Zerkratzte sich die Wangen, eine sinnlose Geste, die ihm keine Linderung brachte, sondern seine Anspannung noch verschärfte. Unfähig, das Geschehene zu begreifen, hätte er am liebsten losgeheult, geschrien, sich etwas angetan.
»Bring mir Wasser!«
Der Junge rannte los. Jenseits der Mauer lag ein halbes Dutzend Ziegen mit durchgeschnittener Kehle verstreut auf dem Gelände. Fliegen zierten ihre Wunden wie grinsende Kinnriemen. Sie krabbelten über- und untereinander in die klaffenden Wunden im Fell, durchtränkten sie mit Bakterien und legten ihre Eier ab. Die drei überlebenden Tiere grasten in der von dem Gemetzel verschonten Umgebung, selbstvergessen ihren Mägen ergeben. Etwas weiter entfernt der Esel. Von Hund und Ziegenbock keine Spur.
Der Inhalt der Tragekörbe lag längs der Mauer verstreut. Die verschüttete Ölkanne, die Pfanne, die Lappen, der Hirtenstab und die Schere zum Trimmen des Ziegenfells. Der Rosinenkorb geplündert, der Tabakbeutel umgestülpt. Die Wasserflaschen ausgeleert ohne Korken am Boden. Als der Junge sie aufhob und versuchte zu trinken, kam kaum mehr ein Tropfen heraus.
Er trug die Behälter an den Platz, an dem der Alte lag, und zeigte sie ihm mit der Öffnung nach unten. Ein Seufzer, Ausdruck der Verzweiflung oder Resignation, entfuhr dessen Lippen. Er schien seine Augen noch fester schließen zu wollen, zumal diese Situation den brennenden Schmerz auf seiner Haut verschärfte und zugleich seine Wut schürte. Bei all dem geballten Leid, dachte der Junge, halte ihn wohl nur seine geschwächte Verfassung davon ab, sich umzubringen.
»Melk eine Ziege!«
Er entschied sich gegen die Methode des Hirten, da er es für viel zu zeitaufwendig hielt, den Kübel mit den Stäben am Boden zu fixieren und der Ziege die Beine daran festzubinden. Seine Trinkbüchse fand er an der Stelle, an der er sie weggeworfen hatte, als er den Polizeiwachtmeister und seine Männer hatte kommen sehen. Mit einem Hemdzipfel wischte er sie aus und machte sich auf den Weg zu den Ziegen. Lautlos schlich er sich an eine heran, doch sobald das Tier ihn bemerkte, sprang es davon. Er nahm sich die nächste Geiß vor, aber auch die wich vor seinem Gefäß aus. Eine ganze Weile jagte er so den Tieren hinterher, ohne Erfolg. Schließlich kehrte er zu der Mauer zurück, um den Hirtenstab zu holen, bemüht, sich zu erinnern, wie der Alte ihn benutzt hatte. Don Quijote gleich klemmte er die Stange unter den Arm und hob das vordere Ende in Richtung der Tiere in die Luft. Der Stab wog schwerer als gedacht, und als er sich den Ziegen nähern wollte, geriet das Eisen bedenklich ins Schwanken und bohrte sich schließlich mit der Spitze in den Boden. Als Nächstes umklammerte er den Stab fest mit beiden Händen und pirschte sich von hinten an sein Opfer heran. Zur Attacke bereit, schob er dem Tier den Fanghaken zwischen die Beine, doch als hätte das Vieh es gerochen, nahm es erneut Reißaus. Nach zahlreichen weiteren gescheiterten Versuchen wurde er immer brutaler, hetzte die Ziegen, während er versuchte, sie mit dem Hirtenstab zu Fall zu bringen. Als er endlich eine Ziege am Boden hatte, warf er den Stab weg, stürzte sich auf sie und hielt sie so lange an den Hufen fest, bis er sie gebändigt hatte.
An einem der Hinterbeine schleifte er die Ziege zur Mauer. Rückwärts geriet das Tier ständig ins Stolpern und fiel alle paar Meter hin, doch der Junge zerrte sie weiter, als schleppte er einen Fellsack voller Kaninchen. Allein seine Fangversuche hatten ihn schon viel zu viel Zeit gekostet, und jetzt musste er die Ziege auch noch melken. Am liebsten wäre er gleich, nachdem der Hirte ihm den Auftrag erteilt hatte, mit dem sauberen Gefäß voller Milch hinter dem Turm wieder aufgetaucht. Hätte dem Alten bewiesen, dass er die gemeinsam verbrachten Tage genutzt hatte. Dass er ihn still beobachtet und sich einen Teil seiner Weisheit abgeschaut hatte. Unbewusst wünschte er sich, dass der Alte stolz auf ihn sei. Er fesselte der Ziege die Vorderbeine und band sie an einem Felsklotz fest. Dann stellte er ihr die Büchse unter das Euter und kniete sich hinter sie. Der erste Tritt traf ihn unter dem Brustbein und der zweite mitten auf die Wange. Die Wunde, die von der zu engen Schießscharte stammte, platzte wieder auf und fing heftig an zu bluten. Erschöpft ließ er sich hinterrücks fallen, unfähig, seine Lungen wieder aufzupumpen. Das Zwerchfell vom Schock wie gelähmt. Dann rappelte er sich jedoch wieder auf, rang keuchend, mit weit offenem Mund nach Luft. Bald hatte er sich so weit gefasst, dass er auf das Tier zugehen konnte, um ihm einen gehörigen Tritt in die Flanke zu verpassen. Die Ziege meckerte kurz auf und wandte sich gleich wieder der Nahrungssuche am Boden zu. Als der Junge sich an die Wange fasste, glitten seine Finger über einen freiliegenden, tauben Knochen. Er besah sich seine Hand, die leuchtend rot verschmiert war. Wie karamellisierte Jahrmarktsäpfel. Ehe er noch einen anderen Gedanken fassen konnte, fing sein Gesicht an zu pochen, und er erinnerte sich an die Zeit im Turm. Mit rußgeschwärzter Haut und vom brutalen Druck der Schießscharte wunden Wangen. Die Haare wie Putzwolle und der Geruch nach abgestandenem Rauch, den wieder loszuwerden er ein ganzes Leben brauchen würde.
Er hörte den Alten hinter der Mauer stöhnen und vergaß seine Verletzungen und Schicksalsschläge. Hastig klaubte er in der Umgebung etwas Stroh zusammen und legte es der Ziege vor das Maul. Dann schnappte er sich mit den blutverschmierten Fingern die Zitzen und zog an ihnen. Sie dehnten sich, als wären sie aus warmem Gummi, doch heraus kam nichts. Er lockerte sich die Fingerglieder und massierte das Euter. Spuckte sich in die Handflächen und rieb sie, wobei sich ein Film aus Blut, Ruß und Spucke auf der Haut bildete. Ein erneuter Versuch. Ungelenk glitten die Finger abwärts, bis endlich ein paar Tropfen hervorquollen. Derweil kaute die Ziege knackend vor sich hin. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er halbwegs etwas wie einen Strahl zustande brachte. Aber die Büchse war zu eng, weshalb es ihm zunächst nicht gelang, die Flüssigkeit in die Öffnung zu lenken, und die Milch auf den staubigen Boden spritzte. Schließlich hielt er die Büchse direkt unter die Zitze und molk mit einer Hand weiter. Als er ein paar Fingerbreit Flüssigkeit zusammengebracht hatte, sprang er auf, um nach dem Alten zu sehen.
Während er mit dem Tier beschäftigt gewesen war, hatte die Sonne den Mauerrand überschritten und prallte nun auf der anderen Seite des Turms herab. Der Alte lag vollkommen ungeschützt am Boden, scheinbar bewusstlos, sodass der Junge schon glaubte, er käme zu spät. Vergebens zerrte er ihn am Ärmel, ohrfeigte ihn. Dann beschloss er, ihn in den Schatten zu bringen. Er packte ihn unter den Achseln und zog, aber er war zu schwer. Plötzlich befiel ihn eine bleierne Müdigkeit und er bemerkte den seit Stunden an seinem Gaumen lauernden Durst, den er in der Hektik verdrängt hatte. Er löschte ihn mit der Milch aus der Blechbüchse, die er noch lange, nachdem er sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, an die Lippen gepresst hielt.
Er marschierte über hart verkrustetes Erdreich auf der Suche nach dem Esel, der Erinnerungen an alte Ackerfurchen abweidete. Beleg dafür, dass schon andere vor ihnen hier gewesen waren, bemüht, der Einöde abzutrotzen, was sie hartnäckig festhielt. Die verfallene Burg war Zeuge. Am zerfledderten, bis zum Boden herabhängenden Seil führte er den Esel schließlich zurück. Ein folgsames Tier, das klaglos die Geschwüre von den scheuernden Fußfesseln an den Gelenken hinnahm. Schütteres Fell mit kahlen Stellen, getrocknete Lehmreste im Schopf. Spuren vom Röhrichtfeld bei dem verlandeten Teich.
Der Halfterstrick war nicht lang genug, um den Körper des Alten daran festzubinden. Unschlüssig stand der Junge da und schaute sich nach etwas um, das ihm als Geschirr oder Seil für den Transport des reglosen Körpers dienen konnte. Doch statt etwas Brauchbarem entdeckte er auf der Suche die braunen Kippen des Polizeiwachtmeisters neben dem Kopf des Hirten. Bei der Vorstellung, dass seine Häscher geraucht hatten, während sie zusahen, wie die Tragekörbe in Flammen aufgingen, presste er unwillkürlich die Zähne zusammen.
Er hob die Füße des Hirten an und band das Seilende um dessen Knöchel. Der Strick war so kurz, dass die Stiefel des Alten fast unter dem Maul des Esels hingen. Widerwillig wich das Tier zurück, als er es an der Brust anschob. Es iahte so dicht an seinem Ohr, dass ihm der Kopf dröhnte. Doch sie kamen ein paar Meter voran. Beim Ziehen blieben die schlaffen Arme des Hirten zurück, als seien sie am Boden festgenagelt. Die von der Mauer abgebröckelten Kalksteinplatten bohrten sich dem Alten in den Rücken wie ein hölzerner Dreschschlitten. Als der Mann aufstöhnte, legte der Junge das Ohr an seinen Mund, und zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass er noch atmete, wenn auch unregelmäßig.
Geschwind lief er los, um die Eselsdecke zu holen, die jenseits der Mauer lag. Vergeblich versuchte er, sie dem Alten unter den Rücken zu schieben, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die bis zum Schatten noch verbleibende Strecke von Steinchen zu säubern. Von der stechenden Sonne juckte ihm die Kopfhaut. Das Gesicht des Alten war sonnenverbrannt und aufgedunsen. Fliegen wie schwarze Zähne. Er hätte eine Verschnaufpause gebraucht, aber der Hirte konnte nicht warten. Auf allen vieren kriechend bereitete er eine Schneise im Staub. Säuberte sie von Steinen und Mörtelresten. Dann trieb er den Esel an. Doch schon beim ersten Ruck bäumte der wehrlose Alte sich auf. Sein Stöhnen unüberhörbar. Die in der Luft hängenden Füße am Seil straff gespannt, der Rücken über den Boden schrammend, und zum Schluss die Arme wie herrenlose Ruder. Ein Trauerzug.
Vor dem vermauerten Burgtor breitete der Junge die Decke aus, um den Alten darauf zu betten. An Armen und Beinen ziehend, versuchte er, es ihm so bequem zu machen wie möglich. Den Kopf des Hirten legte er auf einen unter die Decke geschobenen Stein, bereit zu hören, was er ihm zu sagen hatte.
Den Auftrag, eine Ziege zu melken, erfüllte er ihm dieses Mal mit ermutigendem Geschick. Im Nu brachte er ihm die bis zur Hälfte mit Milch gefüllte Blechbüchse. Mit den Fingern schob er ihm die Lippen auseinander und flößte ihm Schluck um Schluck die Milch ein. Als die erhobene Hand des Alten schließlich Einhalt gebot, setzte er sich die Büchse selbst an die Lippen und leerte sie in einem Zug.
Hinter dem Rücken des Alten versuchte er, in die Büchse zu urinieren, mit spärlichem Erfolg. Schon seit Tagen gab die Blase wenig her. Dennoch brachte er ein paar Fingerbreit konzentrierter, dunkelgelber Flüssigkeit mit starkem Ammoniakgeruch zustande. Damit kehrte er zu dem Alten zurück, um ihm die Wunden mit einem in Urin getränkten Stofffetzen seiner Hose zu reinigen. Bei jeder Berührung merkte er, wie der Alte zusammenzuckte, sah, wie unter seinen geschlossenen Lidern ein paar Tränen hervorquollen. Irgendwann packte der Alte den Jungen am Arm und bat um eine Verschnaufpause. Der Junge wartete, solange der Mann seinen Unterarm drückte. Sobald die Umklammerung nachließ, fuhr er mit der Behandlung fort, wie der Hirte ihn angewiesen hatte. Als er fertig war, wollte er sich erheben, doch die Hand des Alten gab seinen Arm nicht frei. Da stellte er die Büchse beiseite und streckte sich neben ihm aus. So schliefen sie ein.