8

Min öffnete ihre Tür und stand wieder in diesem ausgeleierten alten Sweatshirt da, ohne Make-up und mit Locken, die sich wild nach allen Seiten sträubten. Sie sah einfach wunderbar aus. »Hi«, sagte sie überrascht und grinste dann. »Emilio hat dich schon wieder eingespannt, was?«

»Er sagte, du seist am Verhungern«, antwortete Cal und erwiderte das Grinsen gegen seinen Willen. »Du hast mich ins Krankenhaus gebracht. Du hast ein Glas Wasser neben mein Bett gestellt. Ich bin dir etwas schuldig.«

»Lahme Ausrede«, meinte sie, machte aber einen einladenden Schritt zurück. Er trat ein und freute sich, als er die hässliche Katze entdeckte, die ihn von der Rückenlehne des hässlichen Sofas aus einäugig anstarrte.

»Ich kann kaum glauben, dass du die Katze immer noch bei dir hast«, bemerkte Cal und packte den Karton auf dem Tisch aus. »Wie hast du sie denn genannt?«

»Und ich kann kaum glauben, dass du mir diesen Kater gebracht hast.« Min eilte in ihre Kochnische. »Und ich habe ihm noch gar keinen Namen gegeben. Wir überlegen noch, ob wir uns wirklich aneinander binden wollen. Er kommt allerdings jeden Abend nach Hause und schläft bei mir.«

»Schlauer Kater«, kommentierte Cal.

»Ich dachte erst, ich mache eine Wohnungskatze aus ihm, weil Katzen länger leben, wenn sie drinnen gehalten werden, aber da er ein Kerl ist, nehme ich an, dass er es hassen würde, angebunden zu sein.«

»Kommt darauf an, wo du ihn anbindest«, erwiderte Cal und dachte an ihr Messingbett.

Min trug Teller zum Tisch hinüber. »Weißt du, wenn du mir eine Schneekugel geschenkt hättest, könnte ich das verstehen, aber einen Kater?«

»Du hast doch gesagt, dass du keine Schneekugel willst.«

»Stimmt«, gab Min zu. »Na ja, die Kugel meiner Großmutter mit Mickey und Minnie hätte ich schon gern wieder, und wenn du mir die wiedergeben könntest, würde ich dich auf immer und ewig lieben. Aber wenn du mir noch eine Katze schenkst, überlege ich mir die Sache mit dem Marsala-Hühnchen noch mal.«

»Apropos«, warf Cal ein, »was ist denn dieses Mal schief gegangen?«

Min stöhnte und ging zu ihrer Kochnische zurück, Cal folgte ihr und fühlte sich fast wie zu Hause. »Sieht doch gar nicht schlecht aus«, meinte er, als er ihr aktuellstes Werk begutachtete. »Nur nicht wie Chicken Marsala.«

»Ich wollte mir das Olivenöl und die Butter ersparen«, erklärte Min und hob sofort abwehrend die Hand. »Ich weiß, ich weiß, ich tu's auch nie wieder. Ich habe stattdessen Hühnerbrühe genommen. Es riecht gut, aber es sieht nicht so aus, wie es sollte.«

»Womöglich, weil Olivenöl und Hühnerbrühe nicht das Gleiche sind«, erwiderte Cal. »Aber das ist nicht schlimm. Dicke einfach die Brühe mit einer Mehlschwitze ein, und nimm es als Sauce für Fettuccine.«

»Mehlschwitze«, echote Min.

»Mehl in geschmolzener Butter verrührt«, erklärte Cal.

»Ich nehme an, es besteht nicht die geringste Chance, dass du Butter im Haus hast?«

»Vielleicht hat Bonnie welche«, meinte Min hoffnungsvoll. »Und ich habe auch keine Fettuccine und kein Mehl. Ich werde mir das alles von ihr borgen.«

»Hast du denn einen großen Kochtopf und einen Seiher?«, fragte Cal und blickte sich in der Kochnische um. Sie braucht unbedingt eine bessere Wohnung.

»Im Keller«, antwortete Min.

»Wie praktisch. Wo ist der Deckel?«

»Deckel?«, wunderte sich Min.

»Na, irgendwas, um den Kater daran zu hindern, sich über diese Pfanne herzumachen, wenn wir in den Keller gehen.«

»Wir gehen in den Keller?«

»Willst du kochen lernen oder nicht, Minnie?«, fragte er mit mehr Zuneigung in der Stimme, als er beabsichtigt hatte.

Min blinzelte verwirrt. »Ja, ja, will ich.«

»Dann brauchst du Töpfe und Pfannen«, schloss Cal.

Sie gingen in den Keller, und Cal steuerte auf gut Glück auf eine der unbeschrifteten Kisten zu und öffnete sie mit seinem Taschenmesser. Min wickelte das oberste Stück darin aus: der grüne Seiher ihrer Großmutter. »Genau die richtige Kiste«, erklärte sie und ließ den Seiher wieder hineinfallen. »Auf den ersten Versuch. Du bist ein Genie.«

»Na klar.« Cal grinste sie an und hob die Kiste auf. »Na los, Minnie, und vergiss nicht, unterwegs Butter, Mehl und Pasta zu besorgen.«

Min beizubringen, wie man eine Mehlschwitze machte, schien harmlos. Aber die Kochnische war eng, und Min stand dicht neben ihm, ihr Haar duftete nach Lavendel, und alles an ihr war appetitlich rundlich. Und nebenan stand das Messingbett mit der Satinüberdecke. Deswegen zog Cal sich zurück, nachdem er ihr die Grundprinzipien gezeigt hatte, um die Kiste weiter auszupacken.

Der Kater saß darin. »Raus«, befahl Cal, doch der Kater blickte ihn nur mit dem anderen Auge an. Cal setzte den Kater auf den Boden, und das Tier rieb sich sofort schnurrend an Cals Bein. »Ein richtiger Schmusekater«, rief Cal Min zu.

»Ich weiß. Ich liebe dieses verflixte Vieh«, antwortete Min. »Jeden Abend rollt er sich neben mir zusammen und begleitet Elvis mit Schnurren. Und er ist schlau. Er hat schon gelernt, mit der Pfote auf die Wiedergabetaste zu drücken, so dass er Elvis auch ohne mich hören kann.«

Cal zog das erste Päckchen hervor und wickelte einen dicken, rechteckigen Glasbehälter aus, der aussah, als hätte er eine ganz bestimmte Funktion.

»Was ist denn das?«

Min kam und sah. »Das ist ein Gefäß zum Eierschlagen. Dazu gehört noch ein Metalldeckel mit dem Quirl daran.«

Cal wühlte in der Kiste, bis er ihn fand. Der Deckel saß fest auf dem Gefäß, so dass der Quirl hineinragte und die Kurbel nach oben stand. »Wirklich nett«, kommentierte er und holte das nächste Paket heraus, das sich als mehrere ineinander ruhende Rührschüsseln aus dickem, weißem Porzellan mit blauem Rand herausstellte.

»Oh«, rief Min, »an die erinnere ich mich noch gut. Meine Grandma hat in der großen immer Plätzchenteig gerührt. Früher, als ich noch Plätzchen gegessen habe.«

»Ja, die guten alten Zeiten.« Cal nahm das nächste Päckchen heraus. Es war schwer und rund, und beim Auswickeln dämmerte ihm, was das war. Als er das letzte Papier entfernt hatte, war er nicht mehr überrascht, die Schneekugel mit Mickey Mouse und Minnie Mouse vor sich zu sehen. Schockiert blickte er sie an.

»Wie lange muss man das jetzt köcheln lassen?«, fragte Min. »Ich meine, bis die Mehlschwitze richtig ist? Cal?« Sie sah nach ihm. »Was ist denn passiert?«

Er hielt die Schneekugel in die Höhe, und Min erstarrte.

Sie lag schwer in seiner Hand, schwerer als eine Schneekugel normalerweise war. Er drehte sie und entdeckte den Schlüssel an der Unterseite. »Eine Spieluhr?«, fragte er, und Min nickte. »Was spielt sie?«

»›It Had to Be You‹«, antwortete Min schwach.

»Natürlich.« Cal betrachtete Mickey und Minnie, die für immer in der Schneekugel gefangen waren. Wenn du mir die Schneekugel meiner Großmutter wiedergeben könntest, würde ich dich auf immer und ewig lieben.

»Ich habe fünfzehn Jahre lang danach gesucht«, sagte Min tonlos. »Und du findest sie sofort. Wie machst du das?«

»Das liegt doch nicht an mir.« Cal stellte die Kugel ab.

»Hast du etwa einen Pakt mit dem Teufel geschlossen?«

»Was?«

»Du weißt schon, irgendein Handel mit dem Teufel, damit alles, was du tust, einfach perfekt ist, so dass dir keine Frau widerstehen kann; nur dass du vergessen hast, ihm zu sagen, es solle nur bei Frauen wirken, die du willst; und jetzt sitzen wir in diesem Teufelskreis fest.«

Cal atmete tief durch. »Also, mal abgesehen davon, dass du glaubst, der Teufel existiert und schließt irgendeinen Handel ab, finde ich es ein starkes Stück, dass du glaubst, ich hätte was mit ihm zu tun.«

»Ha, von wegen, du bist praktisch sein Cousin«, gab Min zurück. »Du bist groß, ein dunkler Typ, du siehst gut aus, bist charmant, du trägst Anzüge, du schwitzt nie, und du tauchst ständig ausgerechnet mit dem auf, was ich gerade brauche. Diese Schneekugel war fünfzehn Jahre lang verschollen. Ich hab immer mehr das Gefühl, wenn ich Ja zu dir sage, lande ich direkt in der Hölle.«

Cal nickte. Warum bin ich bloß wieder hergekommen? »Okay. Weißt du, ich habe keinen Hunger mehr. Ich glaube, ich gehe lieber.«

»Das wäre vielleicht nicht schlecht«, stimmte Min zu und starrte weiter die Schneekugel an.

Er nahm seine Jacke und strebte der Tür zu, hielt dann in der offenen Wohnungstür noch einmal inne. »Ich wünsche dir …«, begann er und brach dann ab.

»…noch ein schönes Leben?«, beendete Min, die noch immer die Schneekugel anstarrte.

Er schüttelte den Kopf. »Irgendwie hat das seinen Witz verloren«, meinte er und verschwand im Treppenhaus.

Als er fort war, ging Min zu der Schneekugel und zog sie auf. Sie begann, die ersten Töne von ›It Had to Be You‹ zu klimpern, und Min blickte hinein und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Die Glaskuppel war schwer und perfekt geformt und saß fest auf dem schwarzen Art-Deco-Sockel. Drinnen wirbelten silbrige Glitzerflocken und winzige silbrige Sterne umher, während Minnie strahlend glücklich heraussah und Mickey Minnie anstrahlte.

Vielleicht habe ich das so sehr geliebt, dachte Min. Dass sie so glücklich war und er sie für wundervoll hielt. Und außerdem das wirbelnde rosarote Kleid, das Minnie trug, und die dazu passenden schicken rosaroten Schuhe. Nun ja, so elegant waren die Schuhe gar nicht. Min stieß noch einmal mit dem Finger gegen die Kugel, und der Glitzerstaub und die Sterne wirbelten von neuem hoch, während das Lied langsam ausklang und verstummte.

Das liegt doch nicht an mir, hatte Cal gesagt, aber es lag sehr wohl an ihm. Sie hatte vor sich hin gelebt, vollkommen glücklich, und dann war er in der Bar erschienen und hatte ihr Leben durchgeschüttelt, und plötzlich war alles voller Glitzern und Sternen. Und jedes Mal, wenn sich die Dinge wieder beruhigten, wenn sie ihr Leben wieder in normale Bahnen lenkte, kam er zurück und schüttelte …

Etwas Pelziges strich um ihre Beine, und sie schrak auf. Der Kater miaute sie an, und sie nahm ihn hoch und versuchte, logisch zu denken. Natürlich lag es nicht an ihm. Es geschahen eben einfach Zufälle. So war das Leben. Solange nichts Schlimmeres passierte …

»Wir halten uns einfach fern von ihm«, erklärte sie dem Kater. »Wir gehen nur noch ins ›Long Shot‹, wenn er nicht dort ist; alles geht vorüber, und wir leben wieder normal. Kein verdammter Glitzer mehr.«

Der Kater blickte sie nun mit dem anderen Auge an, und Min wurde sich bewusst, dass es wohl auch nicht sehr normal war, in der Wir-Form mit einem Tier zu sprechen. »Hühnchen?«, fragte sie den Kater, indem sie es aufgab, logisch zu denken, und machte sich über ihr Abendessen her.

Mittwochabend saß Liza an der Bar und versuchte, Shanna heranzuwinken, da tauchte Cynthie neben ihr auf, setzte sich und lächelte sie an. »Hi. Wo ist Ihre Freundin?«

»Sie sagte, sie müsste bei ihrer Katze zu Hause bleiben«, antwortete Liza. »Aber ich glaube, sie geht Cal aus dem Weg.«

»Das ist klug«, meinte Cynthie. »Die beste Methode, ihm zu widerstehen, ist, sich fern von ihm zu halten.« Sie blickte sich in der Bar um. »Sehen sie ihn irgendwo?«

»Nein«, erwiderte Liza. »Tony sagt, er arbeitet noch. Warum?«

»Weil er, wenn sie nicht hier ist, eigentlich Sie bearbeiten müsste.«

»Mich?«, rief Liza erschrocken. »Wenn sie nicht da ist, versucht er, mich anzumachen?«

»Nein«, entgegnete Cynthie. »Es ist für eine gute Beziehung wichtig, dass ihre Freundinnen und ihre Familie ihn mögen. Ich wundere mich, dass er bis jetzt noch nicht versucht hat, Sie einzuwickeln.«

»Er ist nicht dumm«, erwiderte Liza. »Und wir sind uns nicht besonders grün.«

»Na ja, jedenfalls ist es richtig von Ihrer Freundin, ihm aus dem Weg zu gehen«, meinte Cynthie. »Dann kann er ihr nicht wehtun.«

»Aber Ihnen hat er wehgetan, nicht?«, fragte Liza.

Cynthie hob das Kinn. »Ich …«

Liza wartete.

»Ja«, gab Cynthie zu. »Er hat mir wehgetan.«

»Elende Ratte«, stieß Liza hervor.

»Nein, das ist er nicht«, widersprach Cynthie. »Nur …«

»…dass er wegen der lieben Mammi die Anerkennung aller Frauen braucht«, setzte Liza fort. »Wissen Sie, mit dem, was Sie alles über ihn wissen, könnten Sie ein Buch schreiben.«

Cynthie nippte an ihrem Drink.

»Ah«, machte Liza, »Sie schreiben ein Buch.«

»Ja«, antwortete Cynthie, »aber nicht über … na ja, nicht nur über …«

»Junge, Junge«, meinte Liza, »also haben Sie mit ihm einen Lover und ein Studienobjekt verloren. Ich verstehe das nicht. Sie sind doch Expertin für dieses Beziehungszeug, und trotzdem konnte er Ihnen wehtun?«

Cynthie biss sich auf die Lippe. »Was man rein logisch weiß, hilft einem nicht unbedingt, wenn man emotional engagiert ist.«

Der Schmerz in ihrem Gesicht war echt, und Liza legte ihr eine Hand auf den Arm. »Tut mir Leid.«

»Ach, wissen Sie« - Cynthie streckte ihr Kinn vor -, »das ist kein Problem. Es gibt Leute, die haben viel schlimmere Probleme.«

»Das macht Ihres aber auch nicht leichter«, entgegnete Liza.

»Nein«, gab Cynthie zu. »Aber es hilft gegen Selbstmitleid.« Sie schob ihr Glas zur Seite. »Wenn ich Cal als bösen Buben dargestellt haben sollte …«

»Haben Sie nicht«, wehrte Liza ab. »Eigentlich haben Sie ihn mehr durch eine rosa Brille gezeichnet.«

»Nein«, widersprach Cynthie. »Er ist ein guter …«

»Ist mir egal. Ich will nur, dass er Min in Ruhe lässt.«

»Ich auch«, stimmte Cynthie zu.

Sie trank aus und verabschiedete sich, dann kam Shanna heran und fragte: »Noch mal das Gleiche?«

Liza lächelte. »Erzählen Sie mir was über Cal Morrisey.«

»Warum?«, fragte Shanna wachsam.

»Weil er meine beste Freundin küsst und ich erfahren habe, dass er Probleme hat, sich zu binden.«

Shanna zuckte die Schultern. »Er und die Hälfte der männlichen Bevölkerung.«

»Aber die Hälfte der männlichen Bevölkerung küsst Min nicht«, versetzte Liza. »Er meint es nicht ernst mit ihr, oder?«

Shanna biss sich auf die Lippen. »Er ist der beste Kerl, den ich kenne. Wenn ich in Schwierigkeiten wäre, würde ich Cal rufen, und er würde kommen und mir heraushelfen. Das weiß ich tief im Herzen.«

»Aber das ist keine Antwort auf meine Frage«, erwiderte Liza.

Shanna schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Sagen Sie Ihrer Freundin, sie sollte keine Gefühle investieren. Er bleibt nicht bei ihr.«

»Danke«, erwiderte Liza.

»Aber er ist wirklich ein guter Kerl«, versicherte Shanna.

»Das höre ich andauernd«, entgegnete Liza und erhob sich. »Nur fällt es mir schwer, es zu glauben.«

Gegen sieben Uhr kam Cal zu dem Schluss, dass er, wenn er sich noch eine einzige Minute mit den Seminarunterlagen beschäftigte, wahrscheinlich mit dem Kopf gegen die Wand rennen würde, und sein Kopf hatte bereits genug abbekommen. Andererseits würde er, wenn er ins ›Long Shot‹ ging und Min über den Weg lief, nur wieder als Teufel bezeichnet. Oder, wenn sie einen guten Tag hatte, als Biest. Er erhob sich, dehnte und streckte sich, machte sich dann auf den Heimweg. Als er am Gryphon-Kino vorbeikam, zögerte er. Sie zeigten gerade mehrere Werke von John Carpenter, und im Schaufenster wurde Big Trouble in Little China angekündigt.

Kurt Russell schlägt die Bösewichter, dachte er. Das habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Er ging hinein und kaufte sich eine Karte. Besser, als den ganzen Abend allein zu verbringen und ständig zu versuchen, nicht über … irgendjemanden nachzudenken.

Als er den Zuschauerraum betrat, lief gerade eine Vorschau für eine Elvis-Presley-Serie, und er musste an Min denken. Vergiss sie, befahl er sich selbst und suchte sich ein paar Sitz-reihen tiefer einen Platz aus, der von anderen leeren Sitzen umgeben war. Doch als der Film begann und Kurt begann, den üblichen Unsinn zu reden, kam noch eine fünfköpfige Familie herein und bat ihn, weiterzurutschen. Die Person neben ihm war still, und so machte er es sich bequem und konzentrierte sich auf den Film, und zum ersten Mal seit dem vergangenen Abend fühlte er Friede in seiner Seele.

Als schließlich die Lichter wieder angingen, erhob er sich gleichzeitig mit der Frau zu seiner Rechten. Sie war mittelgroß, hatte kurzes, goldbraunes, lockiges Haar, wandte sich jetzt um, um ihre grau karierte Kostümjacke anzuziehen …

Sie starrten sich gegenseitig einen endlosen, verblüfften Augenblick lang an, dann wandte sie sich ab und ging hinaus, und er folgte ihr. Draußen auf der Straße drehte sie sich um und sah ihn an.

»Wie groß war die Wahrscheinlichkeit?«, fragte Cal.

»Ich weiß nicht mal, wie man die Wahrscheinlichkeit berechnen sollte«, erwiderte Min und setzte sich in Marsch, und er fiel neben ihr in Gleichschritt, denn sie sollte nicht alleine durch die dunkle Stadt nach Hause gehen.

Zufall, sagte Cal sich. Passiert dauernd. Nichts Besonderes. Das heißt gar nichts.

Als sie ihr Haus erreichten, marschierte sie die Stufen hinauf, ohne darüber zu streiten, wer zuerst gehen sollte, und er war zu sehr verblüfft, um an ihr Hinterteil zu denken. Vor ihrer Wohnungstür sagte Min nur: »Danke für die Begleitung«, und er erwiderte: »Gern geschehen.« Einen endlosen Augenblick lang sahen sie sich an, und Cal blieb die Luft weg, er verlor sich in ihren Augen und dachte nur: Oh Gott, nein, nicht mit dir. Dann schüttelte sie den Kopf, betrat ihre Wohnung und schloss die Tür. Cal drehte sich um und ging die achtundfünfzig Stufen zur Straße hinunter, und er war sich nicht sicher, ob er erleichtert war oder nicht.

Er blieb stehen und blickte zu dem Mansardenfenster hinauf, hinter dem ihr Schlafzimmer lag. Dort saß der Kater, vor dem Licht nur als Silhouette zu erkennen, und wahrscheinlich blickte er wieder nur mit einem Auge in die Dunkelheit. Er stellte sich vor, wie Min sich auf der Satindecke niederließ, sich in die gehäkelten, nach Lavendel duftenden Kissen zurücksinken ließ, wie ihre goldgesprenkelten Locken auf dem blauen Satin lagen, und in Gedanken lag er neben ihr, zog sie zu sich, fühlte ihre Arme, die ihn umschlangen, ihre warme Rundlichkeit an seinem Körper, weich und nachgiebig, er stellte sich vor, wie er ihren üppigen Mund nahm, ihre schwellende Brust unter seiner Hand und ihre ausladenden Hüften an seiner fühlte, stellte sich vor, wie er in all diese Weichheit vorstieß, in ihrer heißen Feuchte erzitterte, sie bei jeder seiner Bewegungen stöhnen und seufzen hörte, und es wurde ihm bewusst, dass er sie mehr begehrte, als er je irgendetwas oder irgendjemanden begehrt hatte.

In ihrem Schlafzimmer verlöschte das Licht und brach den Bann, und er schloss seine Augen vor der Dunkelheit und dem unbarmherzigen Schock der Realität. Dann wandte er sich um und wanderte zurück zur Hauptstraße, zu Licht und Lärm und Sicherheit.

Als Liza am Donnerstag zu ihrem Wenn-Abendessen an Mins Wohnungstür läutete, öffnete Bonnie vorsichtig die Tür. Liza hob fragend eine Augenbraue, aber Bonnie schüttelte nur den Kopf und trat zurück, um sie einzulassen.

»Hi«, begrüßte Min sie etwas gedämpft, und Liza dachte: Diese elende Ratte Cal.

»Was hat er dir angetan?«

»Nichts«, erwiderte Min. »Setz dich. Ich habe eine riesige Schüssel Maissalat vorbereitet und sterbe vor Hunger. Lass uns gleich essen.«

Liza wandte sich der Couch zu und sah ein einäugiges Tier, das sie anblickte. »Du hast die Katze ja immer noch.«

»Ich liebe diesen Kater«, entgegnete Min. »Er ist immer für michda.Stupstmichmit der Pfote an,wennichdeprimiert bin, hält mich nachts warm, und er hat eine wunderschöne Stimme. Ich habe beschlossen, dass er die Wiedergeburt von Elvis ist.«

»Das lange Warten ist vorüber«, kommentierte Liza. Er hat ihr etwas geschenkt, von dem sie nicht einmal ahnte, dass sie es brauchte. Der Mistkerl.

Nach zehn Minuten Salat mit Brot und gezwungener Unterhaltung über den Kater hatte Liza genug. »Ich habe mich gestern Abend mit Cynthie unterhalten. Sie meinte, Cal würde versuchen …«

»Ich mag ihn«, unterbrach Bonnie.

Liza lehnte sich abrupt in ihrem Stuhl zurück. »Was?«

»Ich mag ihn«, wiederholte Bonnie.

»Das ist aber kein Grund, Min zu ermutigen …«

»Spielt keine Rolle«, erklärte Min, und beide wandten sich ihr zu. »Ich versuche ständig, von ihm loszukommen, aber es klappt nicht. Erinnert ihr euch an die Schneekugel, die mir verloren ging? Er hat sie gefunden. Er kam Dienstagabend vorbei, ging in den Keller und suchte sich genau die Kiste heraus, in der sie ganz unten verpackt war.«

»Blinder Zufall«, meinte Liza.

»Und gestern Abend ging ich allein ins Kino«, fuhr Min fort. »Und als die Lichter wieder angingen, ratet, wer neben mir saß!«

»Also das ist unheimlich«, erwiderte Liza. »Er verfolgt dich.«

»Nein«, widersprach Min. »Ich hob die Zeitung auf, und die Seite mit dem Kinoprogramm fiel heraus, und da sah ich, dass im Gryphon-Kino Big Trouble in Little China lief. Und da dachte ich ›Oh gut, Kurt Russell schlägt die Bösewichter‹, und ging ganz spontan hin. Ich hab niemandem ein Wort gesagt, nicht mal dem Kater. Aber er war dort. Als ob er hexen könnte.«

»Als ob er der Teufel persönlich wäre«, versetzte Liza.

»Als ob er dein Märchenprinz ist«, erklärte Bonnie.

Liza und Min blickten sie an.

»Im Märchen«, fuhr Bonnie fort, »muss er Prüfungen bestehen, um dich zu bekommen. Und die Schneekugel war eine.«

»Bonnie, Süße, lass uns lieber unser Wenn-Spiel spielen«, schlug Min vor, aus ihrer Betäubung erwacht. »Wenn ich vernünftig wäre, würde mir das alles nicht einen solchen Horror einjagen. Also werde ich jetzt vernünftig und lasse mich nicht mehr verrückt machen. Liza? Was ist dein Wenn?«

»Wenn ich herausfinden sollte, dass Cal dich verfolgt, dann zerreiße ich ihn in der Luft«, erklärte Liza. »Bonnie?«

»Wenn ihr beiden noch ein bisschen mehr verblödet, muss ich mir andere Freundinnen suchen«, grollte Bonnie, zu Min gewandt. »Cal ist dabei, dich zu erobern. Wie im Märchen. Du hast gesagt, sein Kuss hätte dich aufgeweckt.«

»Ich habe gesagt, sein Kuss hätte mich schwer angemacht«, entgegnete Min. »Das ist was anderes.« Sie beugte sich ein wenig vor. »Ich finde es ja okay, diese Märchengeschichten als eine Art Metapher zu verwenden, Bon, aber das hier ist die Realität. Da gibt's keine Prinzen, keine bösen Stiefmütter und keine vergifteten Äpfel.«

»Und kein Happy End, wenn du so denkst«, versetzte Bon-nie. »Da ist die wahre Liebe, die dir dauernd auf die Füße trampelt, um deine Aufmerksamkeit zu erringen, und du weist sie zurück, weil du nicht daran glauben willst. Das Wunder ist zum Greifen nahe, direkt vor deiner Nase …«

»Augenblick mal«, rief Liza in dem verzweifelten Versuch, eine Katastrophe abzuwehren.

»Und du bist noch schlimmer«, wandte Bonnie sich ihr zu. »Min glaubt nicht an die Liebe für sich selbst, aber du glaubst nicht an die Liebe für egal wen. Du bist ein Liebes-Nihilist.«

»Ein Liebes-Nihilist.« Liza dachte darüber nach. »Das gefällt mir irgendwie.«

»Na, mir nicht«, warf Min ein. »Ich glaube an die Liebe. Glaube ich. Aber ich glaube nicht an Märchen.«

»Und ich habe mein ganzes Leben lang gewusst, dass früher oder später mein Prinz kommen würde«, antwortete Bon-nie. »Wie oft hast du mir schon gesagt, dass im Berufsleben jeder mal einen Glücksfall erlebt, aber dass nicht jeder dafür bereit ist und ihn erkennt? Na ja, das Gleiche gilt für die Liebe. Ich habe mein ganzes Leben lang über meine Ehe nachgedacht und sie geplant, weil ich genau weiß, dass das die wichtigste Entscheidung in meinem Leben wird, und jetzt ist Roger hier, und ich bin bereit dazu. Ihr beide aber, ihr werdet diese Gelegenheit verpassen, wenn sie kommt, weil ihr nicht daran glauben wollt, denn ihr könntet ja eine Enttäuschung erleben, falls es nicht die wahre Liebe ist.«

Liza verdrehte die Augen. »Ach, komm schon …«

»Ihr geht von vornherein davon aus, dass ihr enttäuscht werdet. Ihr wärt enttäuscht, wenn ihr nicht enttäuscht werdet. Eure ganze Weltsicht beruht darauf, dass Männer euch enttäuschen.« Bonnie nahm ihren Teller auf. »Und das ist einfach feige. Besonders du«, grollte sie Min an. »Du hast Cal direkt vor der Nase, und er liebt dich so sehr, dass er nicht mehr gerade sehen kann, und das Schicksal sendet dir ein Signal nach dem anderen, dass sogar ich sie erkenne, aber nein, du klammerst dich an diese Wette wie an ein Rettungsseil. Du hast ihn nicht mal danach gefragt, oder?«

»Was würde er mir denn wohl antworten?«, gab Min zurück. »Na klar, aber ich bin dein Märchenprinz und liebe dich wirklich, und jetzt komm ins Bett?«

»Normalerweise bist du nicht so schwer von Begriff«, antwortete Bonnie. »Also kann es nur gottserbärmliche Angst sein. Was aber, wenn es doch die Wahrheit wäre? Wenn er dich wirklich so sehr liebt, dass es für immer hält? Was tust du dann?« Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt es nicht. Du hast dich nie auf so etwas vorbereitet. Du hast an alles gedacht, was dir im Leben passieren könnte, aber daran nicht. Du bist wirklich hoffnungslos.« Sie trug ihren Teller in die Küche hinaus, kam zurück und schob ihren Stuhl unter den Tisch. »Wir sehen uns morgen im ›Long Shot‹. Ich treffe mich jetzt mit Roger, damit ich wieder weiß, warum ich glaube.«

»Bon, warte doch mal«, rief Min und erhob sich, aber Bon-nie war schon an der Tür.

Als diese hinter ihr ins Schloss krachte, setzte Min sich Liza gegenüber wieder hin.

»Na ja, wenigstens sind wir noch bei Verstand«, stellte sie fest.

»Tja«, meinte Liza. »Und wie kommst du damit zurecht?«

»Nicht so besonders«, gab Min zu. »Hast du ein Dessert mitgebracht?«

»Kirsch-Schoko-Riegel«, antwortete Liza.

»Na, dann her damit«, bat Min. »Vernünftig sein kann ich auch noch morgen.«

Freitagabend wollte Cal es sich zur Abwechslung einmal zu Hause gemütlich machen gemäß der Theorie, dass ihm nichts Schlimmes passieren könnte, wenn er in seiner Wohnung blieb. Da hörte er »She« durch die Wand.

»Ach, um Himmels willen«, stieß er hervor und hielt dann inne, denn das sagte Min immer. »Nein«, ermahnte er sich selbst und ging dann zur Nachbartür, um sich bei Shanna abzulenken. »Hat man dich schon wieder sitzen lassen?«, fragte er, als sie die Tür öffnete.

»Nein«, erwiderte sie, ernst, aber nicht tränenverschmiert. »Ich versuche gerade, mein Leben in den Griff zu kriegen. Na, komm rein.«

»Dein Leben in den Griff zu kriegen?«, wunderte sich Cal und folgte ihr hinein.

»Ich hoffe stets, dass es mir vielleicht hilft, wenn ich diesem Lied zuhöre«, erklärte Shanna und holte die Flasche Glenlivet hervor.

»Wenn du deinem Leben einen Popsong zugrunde legen willst, hast du den Scotch nötiger als ich«, meinte Cal.

»Das ist es nicht.« Shanna schenkte seinen Drink ein. »Ich habe immer gedacht, dass eines Tages die richtige Frau kommen und ich es dann einfach wissen würde.«

»Na, dafür hast du so ziemlich den Gegenbeweis geliefert«, versetzte Cal und nahm sein Glas entgegen.

»Also dachte ich, wenn Elvis Costello bereits die Eigenschaften einer perfekten Frau aufgelistet hat, dann fange ich mal damit an und überlege mir, mit welcher Art von Mensch ich gern den Rest meines Lebens verbringen würde. Und wenn ich dann eine kennen lerne, die nicht der Liste entspricht …«

»Na, das hört sich ja sehr systematisch an.« Cal ließ sich auf der Couch nieder und dachte, das hört sich ja sehr nach Min an.

»Aber die Sache ist die«, fuhr Shanna fort. »Elvis sagt nicht, dass sie perfekt sein soll. Also brauche ich vielleicht nur ein paar Schlüsselvorstellungen. Zum Beispiel dass sie gutherzig sein sollte.«

»Ja«, stimmte Cal zu und dachte an Min mit Harry.

»Und klug«, setzte Shanna fort. »Jemand, dem ich nicht alles erklären muss.«

»Vielleicht«, meinte Cal und dachte daran, wie er Min das Chicken Marsala beigebracht hatte. »Aber es ist kein Verbrechen, wenn man etwas nicht weiß. Ich würde lieber sagen: Jemand, der für neue Ideen offen ist und bereit ist zu lernen. Und von dem du auch etwas lernen kannst.«

»Ah, ja, das ist gut«, gab Shanna zu und ließ sich auf ihrer Couchtisch-Truhe nieder. »Und ich dachte, Sinn für Humor wäre auch wichtig.«

»Richtig«, stimmte Cal zu. »Wenn man nicht über Missgeschicke lachen kann, was soll's dann?« Er dachte daran, was Min bei ihrem Missverständnis über die beiden Elvis gesagt hatte: ›Gut, dass das kein Date ist‹, und …

»Und da ich oberflächlich bin, gehört für mich auch körperliche Attraktivität dazu«, erklärte Shanna.

»Für mich auch«, sagte Cal und versuchte, nicht an Min in ihrer aufregenden Pracht zu denken. »Und tolle Schuhe.«

»Was?«, fragte Shanna.

»Ach, nichts. Was sonst noch?«

»Das war's schon«, antwortete Shanna. »Ich wollte die Liste nicht zu lang machen. Freundlich, klug, witzig, attraktiv. Wie klingt das?«

»Verdammt gut, wenn du so eine findest«, versetzte Cal.

»Hast du das denn nicht?«, fragte Shanna. »Mit Min? Mir schien …«

»Wir sind kein Paar«, wehrte Cal ab. »Ich kenn sie kaum.«

»Ahaa«, machte Shanna. »Und wieso das? Sie ist hübsch und freundlich und klug, sie bringt dich zum Lächeln, und du bist vollkommen weg vom Fenster, wenn du sie küsst. Was hast du an ihr auszusetzen?«

»Na ja«, machte Cal und dachte nach. »Sie hackt dauernd auf mir rum.«

»Hasenfuß«, stichelte Shanna. »All die anderen hast du verlassen, weil sie nicht die Richtigen waren. Jetzt ist sie's, und du rennst davon.«

»Und das von einer Frau, die gerade eine Einkaufsliste in Sachen Liebe aufgestellt hat.« Cal erhob sich und gab ihr das Glas zurück. »Ich gehe wieder rüber. Viel Glück mit deiner Liste.«

Shanna gluckste, als er durch die Tür verschwand, doch er ignorierte sie und zog sich in seine Wohnung zurück. Dort wurde er sich bewusst, dass er noch nicht zu Abend gegessen hatte, aber er wollte nicht ausgehen, da er sonst unvermeidlich über Min stolpern würde.

»Kein Problem«, sagte er zu sich selbst und ging in die Küche. Da gab es noch Brot und Erdnussbutter und sonst nicht viel, also steckte er Brotscheiben in den Toaster und lehnte sich dann gegen den Kühlschrank und wartete darauf, dass das Brot heraussprang.

Als er sich müßig umblickte, fiel ihm zum ersten Mal auf, wie hässlich die Küche war. Und durch den Bogendurchgang hindurch sah er, dass das Wohnzimmer noch schlimmer aussah. Wenn er die Wohnung ein wenig aufmöbelte, vielleicht würde er dann öfter einmal zu Hause bleiben wollen. Allmählich wurde er sowieso zu alt dafür, immer nur in Bars herumzuhängen. Als das Telefon klingelte, griff er danach, froh um die Ablenkung.

»Calvin«, hörte er die Stimme seiner Mutter, aber sogar sie war noch besser als die Grabesstille.

»Mutter«, erwiderte er. »Wie geht's dir?« Die Toastscheiben sprangen heraus, also klemmte er sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und öffnete das Glas mit Erdnussbutter.

»Ich rufe wegen des Abendessens am Sonntag an«, sagte sie.

»Ich werde kommen, Mutter«, versicherte er und fuhr in Gedanken fort: Ich komme doch jeden dritten Sonntag im Monat, Mutter. Immer der gleiche Trott.

»Ich möchte, dass du unseren Gast abholst und mitbringst.«

»Gast?«, echote Cal, während er ein Streichmesser herausholte, um die Erdnussbutter zu verstreichen.

»Minerva Dobbs«, sagte seine Mutter.

»Was?« Cal ließ das Messer fallen.

»Ich habe sie angerufen, weil Harrison so oft von ihr erzählt hat, und ich dachte, es wäre nett für ihn, wenn sie einmal zu Besuch käme.«

Cal seufzte. »Was hat sie denn dazu gesagt?«

»Sie schien überrascht zu sein«, antwortete seine Mutter. »Aber als ich erklärte, dass Harrison sich sehr freuen würde, wenn sie käme …«

»…da sagte sie zu«, vollendete Cal und angelte nach dem Toast. »Nun ja, aber ich kann sie nicht mitbringen, weil ich sie nicht meh…« - seine Finger berührten das heiße Metall des Toasters, und er ließ den Hörer fallen. »Verdammt«, zischte er und steckte die verbrannten Fingerspitzen in den Mund.

»Calvin?«, rief seine Mutter aus dem Hörer.

Er hob ihn auf. »Entschuldige. Ich habe mich am Toaster verbrannt.« Cal drehte das kalte Wasser auf und hielt seine schmerzenden Finger darunter. »Na, jedenfalls sehe ich Minerva Dobbs nicht mehr.« Als er einen Schritt zurückmachte und auf etwas Hartes trat, rutschte sein Fuß aus und knallte gegen den Unterschrank. »Autsch.«

»Calvin?«, fragte seine Mutter.

»Ich bin auf ein Messer getreten.« Cal bückte sich, um das Erdnussbutter-Messer aufzuheben, und schlug sich den Kopf an der Arbeitsplatte an. »Zum Teufel

»Hast du dich geschnitten?«, fragte seine Mutter.

»Nein. Ich …« Er warf das Messer ins Spülbecken. »Ich rufe dich morgen an, Mutter.«

»Calvin?«, rief seine Mutter, aber er legte auf und machte eine kurze Bestandsaufnahme seiner Lage.

Anscheinend sabotierte er sich selbst. Er war schlecht gelaunt, er war müde, er war hungrig, und er war unachtsam. Er nahm das Telefon wieder auf und wählte die Nummer von Tonys Handy.

»Hallo?«, schrie Tony über den Lärm in der Bar hinweg.

»Ist Min bei euch?«, fragte Cal.

»Warte eine Minute«, rief Tony zurück und war eine Minute später ohne den Hintergrundlärm wieder am Apparat. »Tut mir Leid. Was wolltest du?«

»Ist Min bei euch? Ich möchte sicher sein, dass sie nicht gerade dort ist, wo ich hingehe.« Er runzelte die Stirn. »Sie macht mich vollkommen verrückt.«

»Verfolgt sie dich?«, fragte Tony ungläubig.

»Nein, sie will das auch gar nicht«, erwiderte Cal. »Es ist, als wären wir in einer Kiste zusammen gefangen. Wir versuchen dauernd, getrennte Wege zu gehen, und stoßen doch immer wieder aufeinander. Ihr geht nicht zu Emilio's, oder?«

»Chaostheorie«, stellte Tony fest. »Min ist die fremde Anziehungskraft.«

»Das ist wahr«, versetzte Cal. »Geht ihr heute zu Emilio's, oder kann ich hingehen und in der Küche essen?«

»Du kannst ruhig gehen«, antwortete Tony. »Aber im Ernst, diese Kiste, von der du sprichst, ist der Bereich deiner Anziehungskraft. Du und Min, ihr versucht, voreinander zu fliehen, aber du stößt ziellos gegen die Wände der Kiste, weil du instabil bist, und ohne Wiederholungen bewegst du dich trotzdem nach einem Muster.«

»Was für ein Glück«, knurrte Cal. »Halte Min einfach von Emilio's fern, ja? Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich glaube, sie und Liza wollten irgendwohin gehen«, erwiderte Tony. »Sie sprechen schon den ganzen Abend über irgendeinen Job, den Liza nach Mins Ansicht unbedingt annehmen soll, und ich glaube, Min will mit ihr dorthin und ihr alles zeigen. Solange Emilio keine Stellenanzeige aufgegeben hat, sind sie nicht dort.«

»Das tut er nicht«, entgegnete Cal. »Er hat das Haus voller Neffen. Danke, Tony. Wir sehen uns dann morgen.«

Er legte auf, zog sich um, machte sich auf den Weg zu Emilio's und versuchte, Min aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Es gelang ihm nicht, und so dachte er an die Chaostheorie, von der er nur eine vage Ahnung hatte. Der Schmetterlingseffekt, daran erinnerte er sich, das war die Überlegung, wonach der Flügelschlag eines Schmetterlings in Hongkong Auslöser für einen Hurrikan sein konnte, der zehn Jahre später in Florida auftrat, oder der einen Tornado zehn Jahre später in Texas verhindern konnte. Solche Auswirkungen waren einfach unvorhersehbar. Und genau das war Min. Sie hatte an jenem ersten Abend so harmlos gewirkt, aber dann hatte sie vor zwei Wochen mit den Flügeln geschlagen, und jetzt war sein Leben vollkommen durcheinander. Sie war, verdammt noch mal, in Wirklichkeit ein Schmetterling.

Er warf einen Blick die Straße hinunter bis zum Gryphon-Kino und erwartete beinahe, Min dort stehen zu sehen, denn heute begann die Reihe mit Elvis-Filmen. Aber nein. Und das schien auch logisch, denn nach der Chaostheorie wiederholten sich die Ereignisse nicht. Irgendwie erschien ihm die ganze Angelegenheit bei der Vorstellung, dass es sich um wissenschaftlich erfasste Vorgänge handelte, bedeutend weniger beängstigend. Er war nicht verrückt, er wurde nicht vom Schicksal verfolgt, er stand einfach nur am Rande des Chaos. Fast beruhigend.

Er bog in die Straße hinunter zu Emilio's ein und versuchte, sich daran zu erinnern, was ›am Rande des Chaos‹ bedeutete. Es hatte etwas damit zu tun, eine Münze zu werfen, und der ›Rand des Chaos‹ war der Augenblick, wenn sich die Münze in der Luft befand; der Punkt, an dem alles ein rein potenzielles System war, an dem sich der Weg entschied; oder auch etwas mit einem Sandhaufen, dem man nach und nach immer nur ein einziges Sandkorn hinzufügte, und der ›Rand des Chaos‹ war der Punkt, an dem das kritische Sandkorn landete und den Haufen zum Kippen brachte oder eine Lawine auslöste … Cal ging langsamer, als ihm ein Assistent am College einfiel, der in einem ausgeleierten, blauen Sweater und mit wirren Haaren voller Ernsthaftigkeit vor ihnen gestanden und erklärt hatte, dass der Rand des Chaos eine Phase der Turbulenzen, des seelischen Chaos war, wenn es sich bei dem System um einen Menschen handelte; aber auch die Phase der größten Möglichkeiten, womöglich der Punkt, an dem das Leben begann. »Der Punkt«, hatte er doziert, »an dem das System wie eine Wasserkaskade in eine neue Ordnung stürzt, sich vom Sein zum Werden wandelt.«

Cal schüttelte diese Erinnerungen ab und öffnete die Tür zu Emilio's. Als er eintrat, hörte er Roger rufen: »Cal!« Er blieb wie erstarrt stehen und wusste, noch bevor er sich umdrehte, dass er dort Min sehen würde, die fremde Anziehungskraft, den wirkungsvollen Schmetterling, das Sandkorn des Schicksals. Er wandte sich um und sah sie mit allen anderen zusammen an einem Tisch sitzen, und sie wirkte wie ein erschrockener Cherub, ihre wunderschönen Lippen vor Überraschung offen, ihre dunklen Augen weit aufgerissen. Sein Atem ging schneller, er fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, wie sein gesamtes System verrückt spielte und ziellos in seiner Haut umherprallte, wie seine Zukunft unvorhersehbar wurde und alles von seinem nächsten Sprung in das Chaos abhing.

Min biss sich auf die Lippe und lächelte ihn entschuldigend an, und ohne weiter nachzudenken ging er durch den Raum auf sie zu und empfand fast Erleichterung, dass die Lawine sich in Bewegung setzte.