DIE FRAU AM GITTER

Ich passierte einen kleinen, öffentlichen Brunnen, aus dem ein halbwüchsiger Junge trank. Ich bog nach links und hörte eine leise, weiche, zärtliche Stimme von der Höhe. Ich blickte an einem Hause gegenüber von mir auf und sah in der Höhe des ersten Stocks hinter einem geflochtenen Gitter das Gesicht einer jungen Frau. Sie war unverschleiert und dunkel und hielt ihr Gesicht ganz nah ans Gitter. Sie sprach viele Sätze, in leichtem Fluß, und alle diese Sätze bestanden aus Koseworten. Es war mir unbegreiflich, daß sie keinen Schleier trug. Sie hielt den Kopf leicht geneigt und ich fühlte, daß sie zu mir sprach. Ihre Stimme hob sich nie, sie blieb gleichmäßig leise; es war so viel Zärtlichkeit darin, als hielte sie meinen Kopf in den Armen. Aber ich sah keine Hände, sie zeigte nicht mehr als das Gesicht, vielleicht waren die Hände irgendwo angebunden. Der Raum, in dem sie stand, war dunkel, auf der Straße, wo ich stand, schien grell die Sonne. Ihre Worte kamen wie aus einem Brunnen und flössen ineinander über, ich hatte nie Koseworte in dieser Sprache gehört, aber ich fühlte, daß sie es waren.

Ich wollte näher treten, um das Tor des Hauses zu sehen, aus dem die Stimme kam, aber ich hatte Scheu davor, daß eine Bewegung von mir die Stimme wie einen Vogel verscheuchen könnte. Was tat ich dann, wenn sie verstummte. Ich versuchte, so zart und so leise zu sein wie die Stimme selbst und ging Schritte, wie ich sie noch nie gegangen war. Es gelang mir, sie nicht zu erschrecken. Ich hörte die Stimme noch, als ich ganz nah am Hause stand und den Kopf am Gitter nicht mehr sehen konnte. Das schmale Gebäude wirkte wie ein verfallener Turm. Man sah in eine Lücke an der Mauer, wo Steine herausgefallen waren. Das Tor ohne jeden Schmuck, aus ärmlichen Brettern gezimmert, war mit Draht festgemacht und sah aus, als würde es nicht oft geöffnet. Es war kein einladendes Haus, man konnte nicht hinein, und drinnen war es dunkel und sicher ganz verfallen. Gleich um die Ecke öffnete sich eine Sackgasse, aber da war es leblos und still und ich sah keinen Menschen, den ich etwas hätte fragen können. Auch in dieser Gasse verlor ich den Brunnen der kosenden Stimme nicht, um die Ecke klang es wie ein ganz fernes Plätschern. Ich ging zurück, stellte mich wieder in einiger Entfernung vom Hause hin und blickte auf, und da war das ovale Gesicht ganz nah am Gitter und die Lippen bewegten sich zu den zärtlichen Worten.

Es schien mir, daß sie nun ein wenig anders klangen, ein Ungewisses Bitten war darin vernehmlich, als würde sie sagen: geh nicht weg. Vielleicht dachte sie, daß ich für immer gegangen war, als ich verschwand, um Haus und Tor zu prüfen. Nun war ich wieder da und sollte bleiben. Wie soll ich die Wirkung schildern, die ein unverschleiertes weibliches Gesicht, von der Höhe eines Fensters herabblickend, in dieser Stadt, in diesen Gassen auf einen hat. Wenig Fenster gehen auf die Gassen und nie sieht jemand zu ihnen heraus. Die Häuser sind wie Mauern, man hat oft lange das Gefühl, zwischen Mauern zu gehen, obschon man weiß, daß es Häuser sind: Man sieht die Türen und spärliche, unbenützte Fenster. Mit den Frauen ist es ähnlich, als unförmige Säcke bewegen sie sich auf den Gassen weiter, man erkennt, man ahnt nichts, man ist es bald überdrüssig, sich Mühe zu geben und sich zu einer Vorstellung von ihnen anzuhalten. Man verzichtet auf Frauen. Aber man verzichtet nicht gern, und eine, die dann an einem Fenster erscheint und gar zu einem spricht und den Kopf leicht neigt und nicht mehr weggeht, als hätte sie hier schon immer auf einen gewartet, und die dann weiterspricht, wenn man ihr den Rücken wendet und sacht weggeht, die sprechen wird, ob man da ist oder nicht, und immer zu einem, immer zu jedem sprechen wird, - eine solche Frau ist ein Wunder, eine Erscheinung, und man ist geneigt, sie für wichtiger zu halten, als alles, was es sonst in dieser Stadt zu sehen gäbe.

Ich wäre viel länger hier gestanden, aber es war kein ganz unbelebtes Viertel. Verschleierte Frauen kamen mir entgegen und sie hielten sich über ihre Genossin am Gitter oben gar nicht auf. Sie gingen am turmartigen Hause vorbei, als ob niemand spräche. Sie blieben nicht stehen, sie blickten nicht hinauf. In unveränderlichem Schritt näherten sie sich dem Haus und bogen, genau unterm Fenster der Sprechenden, in die Gasse ein, wo ich stand. Wohl aber spürte ich, daß sie mir mißbilligende Blicke gaben. Was tat ich hier? Warum stand ich da? Warum starrte ich hinauf?

Eine Gruppe von Schuljungen kam vorüber. Sie spielten und scherzten auf ihrem Wege und benahmen sich so, als hörten sie die Laute von oben nicht. Sie betrachteten mich: Ich war ihnen weniger vertraut als die unverschleierte Frau. Ich schämte mich etwas, weil ich dastand und starrte. Aber ich spürte, daß ich das Gesicht am Gitter durch mein Fortgehen enttäuschen würde; jene Worte flössen weiter wie ein Bach aus Vogellauten. Dazwischen aber tönten nun die schrillen Rufe der Kinder, die sich nur langsam entfernten. Sie hatten ihre Ränzel bei sich und kamen aus der Schule; sie suchten den Weg nach Hause zu verlängern und erfanden kleine Spiele, zu deren Regeln es gehörte, daß sie auf der Gasse bald nach vorn und bald nach rückwärts sprangen. So kamen sie nur im Schneckentempo vorwärts und machten mir das Lauschen zur Qual.

Eine Frau mit einem ganz kleinen Kind an der Seite blieb neben mir stehen. Sie mußte sich mir von hinten genähert haben, ich hatte sie nicht bemerkt. Sie blieb kurz; sie gab mir einen bösen Blick; hinterm Schleier erkannte ich die Züge einer alten Frau. Sie packte das Kind, als ob meine Gegenwart es gefährde und schlapfte, ohne mir ein Wort zu gönnen, weiter. Ich fühlte mich unbehaglich, verließ meinen Standort und folgte ihr langsam. Sie ging ein paar Häuser die Gasse hinunter und bog dann zur Seite ein. Als ich die Ecke erreichte, um die sie verschwunden war, sah ich am Ende einer Sackgasse die Kuppel einer kleinen Kubba. So heißen die Heiligengräber in diesem Land, zu denen die Menschen mit ihren Wünschen pilgern. Die alte Frau stand vor dem verschlossenen Tor der Kubba und hob das winzige Kind in die Höhe. Sie preßte seinen Mund gegen einen Gegenstand, den ich von mir aus nicht erkennen konnte. Sie wiederholte diese Bewegung einigemal, dann stellte sie das Kind auf den Boden, nahm seine Händchen und wandte sich zum Gehen. Als sie die Ecke der Sackgasse erreicht hatte, mußte sie wieder an mir vorbei, aber diesmal gab sie mir nicht einmal einen bösen Blick und ging in die Richtung zurück, aus der wir beide gekommen waren.

Ich näherte mich der Kubba und sah in halber Höhe des hölzernen Tores einen Ring, um den alte Stofflappen gewickelt waren. Diese waren es, die das Kind geküßt hatte. Es hatte sich alles in größter Stille abgespielt und in meiner Befangenheit hatte ich nicht bemerkt, daß die Schuljungen hinter mir standen und mich beobachteten.

Plötzlich hörte ich ihr helles Lachen, drei oder vier von ihnen sprangen auf das Tor der Kubba zu, packten den Ring und küßten die alten Stofflappen. Sie lachten dabei laut und wiederholten die Prozedur von allen Seiten. Einer hing rechts am Ring, der andere links, und ihre Küsse folgten sich wie lautes Schnalzen. Sie wurden bald von anderen hinter ihnen weggestoßen. Jeder wollte mir zeigen, wie es zu geschehen habe; vielleicht erwarteten sie, daß ich es ihnen nachtue. Es waren saubere Kinder, alle gut gehalten, sicher wurden sie mehrmals am Tag gewaschen. Die Stofflappen aber sahen so schmutzig aus, als wäre die Gasse mit ihnen abgewischt worden. Sie galten als Fetzen vom Gewand des Heiligen selbst und für die Gläubigen war etwas von seiner Heiligkeit in ihnen enthalten.

Als die Jungen sich alle daran sattgeküßt hatten, kamen sie mir nach und umringten mich. Einer von ihnen fiel mir durch sein kluges Gesicht auf und ich merkte, daß er gern mit mir gesprochen hätte. Ich fragte ihn auf französisch, ob er lesen könne. Er sagte sehr wohlerzogen: »Qui, Monsieur.« Ich trug ein Buch unterm Arm, ich schlug es auf und hielt es ihm hin; er las langsam, aber fehlerlos die französischen Sätze herunter. Das Buch war ein Werk über die Glaubenssitten der Marokkaner, und die Stelle, die ich aufgeschlagen hatte, handelte von der Verehrung der Heiligen und ihren Kubbas. Man mag einen Zufall darin sehen oder nicht, er las mir jetzt vor, was er mir soeben mit seinen Kameraden vorgeführt hatte. Er ließ sich aber nichts davon anmerken; vielleicht faßte er im Eifer des Lesens die Bedeutung der Worte gar nicht auf. Ich lobte ihn, er nahm meine Anerkennung mit der Würde eines Erwachsenen entgegen. Er gefiel mir so gut, daß ich ihn unwillkürlich mit der Frau am Gitter in Verbindung brachte. Ich zeigte in die Richtung des verfallenen Hauses und fragte: »Diese Frau dort am Gitter obenkennst du sie?«

»Qui, Monsieur«, sagte er und sein Gesicht wurde sehr ernst.

»Elle est malade?« fragte ich weiter.

»Elle est très malade, Monsieur.«

Das »sehr«, das meine Frage verstärkte, klang wie eine Klage, aber eine Klage über etwas, in das er ganz ergeben war. Er war vielleicht neun Jahre alt, aber er sah nun aus, als hätte er schon zwanzig Jahre mit einer Schwerkranken zusammengelebt, wohl wissend, wie man sich da aufführen müsse.

»Elle est malade dans sa tête, n'est-ce pas?«

»Qui, Monsieur, dans sa tête.« Er nickte, als er »im Kopf« sagte, aber er zeigte statt auf seinen eigenen Kopf auf den eines anderen Jungen, der von besonderer Schönheit war: Er hatte ein langes, mattes Gesicht mit weit aufgerissenen, schwarzen, sehr traurigen Augen.

Keines der Kinder lachte. Sie standen schweigend da. Ihre Stimmung hatte sich im Nu verändert, sobald ich von der Frau am Gitter zu sprechen begann.