NEUNZEHNTES KAPITEL

»Das ist eine Falle«, sagte Tzigone knapp.

Matteo zögerte, da er nicht sicher war, ob er glauben sollte, was er mit eigenen Augen sah. »Andris war mein bester Freund. Ich kann nicht einfach wortlos fortgehen. Ich kann verstehen, wenn du mir nicht folgen möchtest, aber ich muß gehen.«

Sie dachte nach, dann zuckte sie die Achseln. Matteo trat auf die Lichtung. Kurz darauf hörte er Tzigone dicht hinter sich.

Andris kam auf ihn zu, und einen Moment später lagen die beiden einander in den Armen. Schließlich löste sich Matteo aus der Umarmung und sah Andris an. Er hatte durch die Zeit, die er in der Sonne verbracht hatte, Farbe im Gesicht bekommen, und er war auch etwas muskulöser geworden.

»Für einen Toten siehst du bemerkenswert gut aus.«

Bedauern prägte den Gesichtsausdruck des Mannes. »Mein ›Tod‹ war eine Täuschung, um mich hierher zu holen. Ich habe mir oft gewünscht, ich könnte dir eine Nachricht zukommen lassen. Aber das hätte die Schlacht gefährdet.«

»Eine Schlacht?« fragte Matteo ungläubig. »Hier in diesem Sumpf? Andris, was denkst du dir? Wie viele Leben hat Akhlaur auf dem Gewissen? Hast du eine Ahnung, wogegen du antrittst?«

»Gegen einen Laraken«, sagte der Mann beiläufig. »Ein Geschöpf, das Magie aufsaugt. Aber keiner dieser Männer besitzt irgendeine magische Fähigkeit, und niemand führt eine magische Waffe. Wir kämpfen wie Jordaini gegen Magier – mit Verstand und Waffen.«

»Verstand und Waffen?« wiederholte Tzigone. Sie kam herüber zu Andris und betrachtete die Dolche, die er an der Seite trug. »Hmmm. Waffen. Sieht aus, als hättest du zur Hälfte Recht.«

Andris hob eine Augenbraue und sah Matteo fragend an.

»Das ist Tzigone«, sagte der schlicht. »Sie wurde von Kiva hergelockt. Glaub mir, der Laraken ist nicht dein einziger Feind.«

»Kiva ist keine Feindin«, sagte Andris ruhig. »Ich führe diese Männer, aber ich folge der Elfe.«

»Andris, es gibt Dinge, die Kiva dir nicht erzählt hat. Es gibt Dinge, die du nicht über sie weißt.«

»Zweifellos. Kannst du von dir behaupten, jedes Geheimnis jedes Magiers zu kennen, dem du schon gedient hast?«

»Ich bin ziemlich sicher, das von denen keiner Cassia umgebracht hat«, sagte Matteo mit schneidendem Tonfall.

Andris wurde ernst. »Cassia ist tot. Von Kiva ermordet? Bist du sicher? Ohne jeden Zweifel? Ist Kiva magisch getestet worden?«

»Noch nicht.«

»Dann warte, ehe du Anschuldigungen aussprichst. Kiva reist seit vielen Tagen mit uns. Wir waren nie in Halarahh. Sie kann Cassia nicht umgebracht haben.«

Tzigone rollte mit den Augen. »Kiva ist Magierin, richtig? Glaubst du, ein gutes Pferd oder ein schnelles Schiff sind für sie die schnellsten Transportmittel, die es gibt?«

Andris dachte darüber nach, zuckte dann aber die Achseln und wandte sich wieder an Matteo. »Laß mich dir erzählen, was wir vorhaben. Hör dir an, was Kiva getan hat, was sie plant, ehe du über sie urteilst.«

»Ich kann mir nicht viel vorstellen, was es rechtfertigen würde, mit diesen Männern nach Akhlaur zu gehen! Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen!«

»Wir haben in Kilmaruu gewonnen«, erwiderte Andris. »Wir haben das Kilmaruu-Paradox gelöst, wie ich es dir gesagt habe.«

Matteo starrte ihn an. »Darum hat Kiva dich also mitgenommen. Aber wie konnte sie von deiner Beschäftigung mit Kilmaruu wissen? Hast du außer mit mir und den Jordaini-Meistern sonst noch mit jemandem darüber gesprochen?«

»Mit niemandem.«

»Woher wußte sie es dann?«

Beide dachten schweigend über dieses beunruhigende Rätsel nach.

»Ich kann das beantworten«, sagte Tzigone widerwillig. »Du hast es den Jordaini-Meistern gesagt, ja? Dann ist es doch klar. Einer von ihnen gab die Information an Kiva weiter.«

»Unmöglich«, erklärte Andris.

»Vor einem Jahr hätte ich dir bedenkenlos zugestimmt«, sagte Matteo mit sorgenvoller Miene und sah zu Tzigone. »Gibst du hier eine Möglichkeit zu bedenken oder weißt du, daß es wirklich so ist?«

Tzigone wand sich. »Sagen wir, einer der Magier hat vielleicht ein Geheimnis, das nicht ausgesprochen werden soll. Kiva kennt dieses Geheimnis und tauscht ihr Schweigen gegen Informationen. Sie wollte einen Schlachtenspezialisten, richtig? Wer war dafür die beste Wahl?«

»Andris und ich waren in den meisten Fächern fast ebenbürtig«, sagte Matteo.

»Nun, das erklärt, warum Kiva Andris wählte. Ich vermute, der Meister stimmte ohne ein Wort des Protests zu. Wahrscheinlich war es ihm lieber, wenn sie Andris nahm, nicht dich.«

»Was ist sein Geheimnis?« fragte Matteo ruhig.

Sie schwieg einen Moment. »Angesicht aller Dinge, die du weißt ... wie würdest du reagieren, wenn man dir sagen würde, daß einer der Jordaini-Meister dein leiblicher Vater war? Wie lange würde es dauern, bis du die Geheimnisse der Jordaini-Klasse herausgefunden hast, bis du deine Mutter findest? Und wie lange würde es dauern, bis alle deine Brüder eine ähnliche Suche beginnen? Der gesamte Orden würde ins Chaos gestürzt.«

Matteo dachte nach. »Einer meiner Meister hat mich gezeugt. Und die Frau, die du mir gezeigt hast ... sie war meine Mutter?«

»Ja.«

Er nickte. Seine Miene war düster. »Dann hatte der Magier Grund, sein Geheimnis zu wahren. Für das, was er ihr antat, hätte ich ihn getötet. Vielleicht werde ich das noch tun. Du kennst seinen Namen, nicht?«

Tzigone zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe immer nur nach meiner Mutter gesucht. Als ich deine Abstammung sah, fiel mein Blick sofort auf den Namen deiner Mutter. Ich las alles, was da über sie geschrieben stand, aber ich habe kaum auf die Informationen zum Vater geachtet. Ich weiß nur mit Sicherheit, daß er ein Magier am Jordaini-Kolleg ist.«

Andris verfolgte diesen Wortwechsel mit zunehmend ungläubigem Gesichtsausdruck. »Matteo, das ist absurd! Du wirst doch nicht die Lügengeschichten dieses Jungen glauben! Es steht schlecht um den Orden, wenn sich die Männer auf offensichtliche Falschheit einlassen.«

»Paß auf, wen du hier einen Jordain nennst«, zischte Tzigone und pochte mit ihrem Zeigefinger auf Andris’ Brust. »Leg dich nicht mit mir an, sonst hörst du ein paar Dinge über dich, die du lieber nicht wüßtest.«

Der Mann wirkte ungewollt fasziniert. »Die Herkunft eines Jordain ist egal.«

»Du siehst aus, als seiest du davon sehr überzeugt«, sagte sie sarkastisch. »Belassen wir’s dabei: Du hast Elfenblut. Es reicht zwar ein paar Generationen zurück, aber du kannst mir glauben, daß es vorhanden ist.«

Andris sah sie an, als hätte sie ihm ein Schwert durch den Leib gejagt. Matteo seufzte und sah Tzigone an, die offenbar vergessen hatte, daß sie die »ausgeliehene« Kleidung des Jordaini-Ordens trug. »Mußte das sein?«

»Ich war in diesem Sumpf«, sagte sie düster. »Nicht weit, aber weit genug. Glaub mir, es mußte sein. Niemand, der auch nur einen Tropfen Elfenblut im Leib hat, sollte sich dem Sumpf nähern.«

»Im Gegenteil«, gab Andris zurück. »Ich habe nun noch mehr Grund als vorher.«

Tzigone schnaubte und warf die Hände in die Luft. »Da versucht man, jemandem zu helfen, und wer hört einem zu?«

Andris legte einen Arm um die Schultern seines Freundes. »Wir tun hier etwas Großartiges. Ich hoffe, du wirst dich entscheiden, dich uns anzuschließen.«

Sie drehten sich um, um die Kämpfer zu beobachten, die ihr Training wiederaufgenommen hatten. Während Matteo die Gruppe betrachtete, erkannte er einige Männer von seiner Schule wieder, Studenten, die in jungen Jahren für das Leben als Jordain als ungeeignet eingestuft und entlassen worden waren. Er entdeckte auch zwei oder drei Männer, die von der Bluthündin als mit Magie befleckt verurteilt worden waren. Und trotzdem hatten sie voller Leidenschaft und Stolz gekämpft und sich darauf vorbereitet, der Elfe zu dienen, die ihr Leben zerstört hatte.

»Wir sind Jordaini«, sagte Andris ruhig. »Ausgesucht wegen unserer Begabungen, geschult, den Magiern Halruaas zu dienen. Kein Magier kann Akhlaurs Sumpf hindern, sich immer weiter auszudehnen. Wir schon.«

Matteo war interessiert. »Du kennst das Geheimnis des Sumpfs?«

»Akhlaur öffnete ein Tor zur Ebene des Wassers. Ein Rinnsal ist verblieben, und der Laraken ernährt sich von der Magie, die von der Elementarebene überläuft. Es ist unsere Aufgabe, uns bis zum Tor vorzukämpfen und Kiva den Weg zu ebnen. Während wir gegen den Laraken kämpfen, wird sie in den Sumpf vordringen und das Tor schließen.«

»Aber das ist ja noch schlimmer als das Kilmaruu-Paradox«, warf Matteo ein. »Wenn das Tor geschlossen wird, wird der Laraken auf das Land losgelassen. Viele Magier werden ihm zum Opfer fallen.«

Tzigone schniefte. »Nun, an Kiva ist offenbar doch mehr dran, als ich immer dachte! Ich war immer der Ansicht, ich sei die einzige mit diesem Traum.«

Andris betrachtete sie interessiert. »Du hast keine Achtung vor Magiern. Eine seltsame Einstellung für einen Jordain-Knaben.«

»Ich bin weder ein Knabe noch ein Jordain«, sagte sie nachdrücklich. »Ich bin randvoll mit Magie. Der Laraken ernährt sich von Magie. Da kann ich mir nur einen Grund denken, warum Kiva mich hierhaben will: als Köder.«

Das Gesicht des Jordain hellte sich auf. »Du bist die junge Frau, von der Kiva sprach! Die den Laraken rufen kann!«

Tzigone kniff die Augen zusammen. »Wie kommst du auf die Idee, daß es diesen Laraken interessiert, wenn ich ihn rufe?«

»Du hast die Begabung. Kiva sagt, daß es so ist – ein Erbe deiner Mutter, der Magierin Keturah.«

Tzigone wurde kreidebleich. »Keturah«, wiederholte sie den Namen, der plötzlich vertraut klang. »Natürlich. Alle Kreaturen kamen, wenn Mutter rief.«

»Du besitzt Magie und zugleich Widerstandskraft dagegen. Der Laraken wird sich von deiner Stimme angezogen fühlen. Du wirst ihn von dem magischen Tor fortlocken, dann kann Kiva den Spalt für immer verschließen. Aber wenn Kiva Recht hat, dann wird der Laraken die Magie nicht antasten können, die in dir steckt.«

»Und wenn Kiva sich irrt?« fragte Tzigone und imitierte den ehrerbietigen Tonfall des Jordain.

»Ich würde sie darum nicht bitten«, sagte Matteo leise. »Sie mag das Talent ihrer Mutter haben, aber ich vermute, sie hat auch etwas Talent als Erkenntniszauberin. Sie blickt nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Ich habe es erlebt. Diese Gabe ist in ihr neu erwacht. Ich weiß nicht, ob der Laraken sie wahrnehmen kann oder nicht.«

Andris überlegte. »Wenn das stimmt, wäre der Kampf nicht nur für sie gefährlich, sondern auch für uns. Nur wer ganz frei von Magie ist, kann sich dem Laraken entziehen.«

»Das Risiko ist zu groß«, entschied Matteo. »Tzigone, du mußt gehen, sofort.«

Seine Worte weckten Erinnerungen, die erst durch die Erwähnung des Namens ihrer Mutter wieder in greifbare Nähe gerückt waren.

Lauf, Kind, hatte sie gesagt. Ihre schöne Stimme war vor Angst schrill geworden. Bleib nie stehen! Nie!

Die Worte hallten in Tzigones Geist und legten sich eisig um ihr Herz, wie sie es vor fast zwanzig Jahren schon einmal getan hatten. Sie reagierte instinktiv, wie das Kind, das sie gewesen war, drehte sich auf der Stelle um und rannte los.

Am nächsten großen Baum blieb sie stehen und suchte Zuflucht in seinen tröstenden, belaubten Armen. Sie ballte die Fäuste und preßte sie auf ihre Augen, um mit Gewalt die Dunkelheit zu schaffen, die sie in die Erinnerungstrance führen sollte.

Tzigone glitt zurück, immer weiter zurück, bis sie wieder das kleine Mädchen war, das zusammen mit seiner Mutter floh. Sie befanden sich im Palast der Rätsel, dem magischen Labyrinth, das einen weitläufigen Hof erfüllte. Schritte donnerten durch die Villa auf sie zu.

Tzigone wandte sich um, wollte zurück zum wahnsinnigen Hof. Statt etwas zu sagen und so entdeckt zu werden, zog sie am Rock ihrer Mutter, um ihr ihre Absicht klarzumachen. Doch diese löste die kleinen Finger.

»Geh«, sagte sie. »Meine Magie ist fast verbraucht. Das Amulett ist zerbrochen. Sie werden mich bald finden, ob ich fortlaufe oder hierbleibe.«

»Ich lasse dich nicht allein«, sagte Tzigone.

»Du mußt. Sie suchen dich.«

Sie nickte. Irgendwie hatte sie das schon immer gewußt. Aber etwas zu wissen war nicht das gleiche wie etwas zu tun, und sie brachte es nicht übers Herz fortzugehen.

Eine Gestalt tauchte in der offenstehenden Tür auf, obwohl die Schritte noch viel weiter entfernt zu sein schienen. Tzigone starrte voller Ehrfurcht und Angst das hübscheste Wesen an, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

In der Türöffnung stand eine Elfe von seltener, exotischer Schönheit. Ihre Haut hatte den kupfernen Farbton eines Sonnenuntergangs in der Wüste, und ihr kunstvoll gelocktes, geflochtenes Haar war vom dunklen Grün des Mooses in einem Dschungel. Gold, Smaragde und Malachite glitzerten an ihrem Hals und an ihren Händen. Über ihrem gelben Seidenkleid trug sie einen dunkelgrünen Überwurf, der mit Goldfäden durchwirkt war. Ihre geschminkten Lippen deuteten ein Lächeln an, das sich aber nicht in ihren Augen widerspiegelte, die golden und unerbittlich waren wie die einer jagenden Katze. Sie war schön und schrecklich zugleich.

»Sei gegrüßt, Keturah«, sagte die Elfe zur Mutter des Kindes. »Du hast uns ganz schön durch die Gegend gehetzt. Und das ist dein verfluchter kleiner Bastard.«

Ihre Stimme war angenehm klar wie eine Tempelglocke, doch Tzigone ließ sich nicht täuschen. »Bastard« war die übelste Beschimpfung, die ein Halruaaner kannte. Tzigone war bewußt, daß es nicht nur eine Beleidigung, sondern auch wahr war.

Das Crescendo aus Schritten kam gleich hinter der Tür zum Stillstand, die Elfe sah über die Schulter zurück. »Ergreift sie«, sagte sie kühl und zufrieden.

Doch Keturah machte einen Satz nach vorn und legte ihre Hände zu beiden Seiten an den Türrahmen. Sie warf ihrer Tochter einen verzweifelten Blick zu. »Lauf«, flehte Keturah. »Bleib nie stehen! Nie!«

Tzigone zögerte. Ein grüner Lichtschein begann um ihre Mutter zu kreisen und legte sich um sie wie Ranken, die sie ersticken wollten. Keturah taumelte und ging in die Knie, während sie die Hände voller Panik an den Hals legte.

Entsetzen drängte das Kind zur Flucht, aber Schuldgefühle hielten es zurück. Sie hatte ihre Mutter angebettelt, ein böses Geschöpf zu beschwören. Wurde so ihr Wunsch Wirklichkeit?

Die Elfe drängte sich an der zusammenbrechenden Magierin vorbei und griff nach ihrer Beute. Doch das Mädchen ließ sich fallen, und durch die plötzliche Gewichtsverlagerung glitt sie wie ein Fisch durch die schlanken kupferfarbenen Hände. Sie rollte sich zur Seite und rannte auf den Hof.

Die Stimme ihrer Mutter folgte ihr, drängte zur Flucht. Sie lief zum zersplitterten Wasserfall und tauchte, ohne zu wissen, ob sie sich den Kopf an den Kacheln stoßen oder in die Scherben geraten würde, die Selune durch den Nachthimmel folgten. Doch sie fiel sanft durch den Wasserfall und landete im Teich. Ihre wild rudernden Hände entdeckten eine Tunnelöffnung in der gekachelten Wand. Die letzten Worte ihrer Mutter folgten ihr ins Wasser und jagten ihr nach, während sie schwamm.

»Vergiß mich!«

Tzigone erwachte schlagartig aus ihrer Erinnerungstrance, rang nach Luft und schluchzte. Kiva war es gewesen, die ihre Mutter mitgenommen hatte! Sie hatte sie schon damals gejagt! Sie schrie laut und ließ Verlust, Furcht und Zorn freien Lauf, die sich in einem ganzen Leben angesammelt hatten.

»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte sie, während sie die Tränen wegwischte. »Ich habe dich nie vergessen.«

Und doch hatte sie sie vergessen. Plötzlich verstand sie auch den Grund dafür. Die letzten Worte waren nicht einfach nur ein Lebewohl gewesen, sondern ein Zauber. Offenbar war Tzigone nicht ganz gegen Magie unempfindlich. Wenngleich es vielleicht niemand sonst schaffte, hatte zumindest ihre Mutter einen Weg durch ihre Immunität gefunden.

Doch der Zauber war gebrochen, und die Erinnerungen kehrten zurück. Lange saß Tzigone im Baum und ließ die Bilder und Klänge auf sich einstürmen, um sie alle zu genießen. Es hatte schlechte Zeiten gegeben, aber auch die gehörten zu ihrer Vergangenheit. Die längste Zeit befaßte sie sich mit der Erinnerung, die ihr am meisten bedeutete – wenn sie hörte, wie Keturah in den Wind der Nacht sang und dann wartete, welche Geschöpfe dem Ruf der wunderschönen Magierin folgten.

Nach einer Weile begann Tzigone, eine Melodie zu singen, an die sie sich schwach erinnerte, zuerst zögerlich, dann aber mit immer mehr Selbstvertrauen. Der Klang ihrer Stimme verblüffte sie. Sie war sonor und echt, voller Magie, aber von ganz eigener Schönheit. Die Stimme ihrer Mutter entstieg ihrer Kehle, ungeschliffen, aber doch unverkennbar.

Ein funkelndes Licht erschien neben ihr, wirbelte in einem winzigen Strudel, der langsamer wurde, während er an Farbe und Substanz gewann. Als er anhielt, trat ein winziger geflügelter Kerl vor ihr in die Luft und kam näher, um sie verwundert anzusehen.

»Keturah? Was hast du mit all deinem Haar gemacht?«

»Ich bin nicht Keturah«, sagte sie leise und erkannte plötzlich, daß sie keinen Namen wußte, mit dem sie ihn ansprechen konnte. Hoffnung keimte in ihr auf. Sicher würde ihr ältester Freund ihren Namen wissen. »Ich bin Keturahs Tochter. Erinnerst du dich an mich?«

Auf dem winzigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. »Kind? Bist du es?«

Eine düstere Vorahnung ergriff von Tzigone Besitz. »Warum nennst du mich ›Kind‹?«

»Warum nennst du mich ›Feengeist‹?« gab das Geschöpf zurück. »Du konntest meinen Namen nicht sagen, und ich konnte deinen nicht sagen.«

»Wie lautete mein Name?« fragte Tzigone voller Eifer. »Sag ihn mir, so gut du kannst.«

Der Feengeist zuckte die Achseln. »Wenn du ihn nicht kennst, warum erwartest du dann, daß ich ihn weiß? Keturah sagte, er solle nicht genannt werden, also habe ich nicht gefragt.«

Tzigone empfand große Enttäuschung, aber sie verstand, was ihre Mutter getan hatte. Namen bedeuteten Macht, und das Wissen um ihren wirklichen Namen konnte in den Händen derer, die sie suchten, zum Werkzeug werden.

Sie schüttelte den Gedanken ab und fuhr fort: »Du kamst, als ich dich rief«, sagte sie zu dem Feengeist.

Der kleine Kerl zuckte wieder die Achseln. »Mußte.«

Tzigone nickte. Offenbar war der rothaarige Jordain nicht so dumm, wie er schien. Darum hatte Kiva sie gesucht – und sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte, würde Kiva ihr mit dem nächstbesten Messer die Kehle durchschneiden.

Zorn stieg in ihr auf, als sie daran dachte, was Kiva sie gekostet hatte. »Nicht nochmal«, flüsterte Tzigone. »Diesmal wirst du nicht siegen.«

»Siegen?« Der Kobold sah sie fragend an. »Du willst spielen?« Er schoß zur Seite und beschwor mehrere winzige Lichtkugeln, die er mit unglaublichem Geschick jonglierte.

Tzigone griff nach dem leuchtenden Spielzeug und zerdrückte es in der Hand. »Keine Magie«, sagte sie nachdrücklich. »Was sie anlocken könnte, würde dir nicht gefallen.«

Der Feengeist flatterte herab, um sich auf dem Ast neben ihr niederzulassen, und legte die Flügel wie einen Umhang um sich. »Mir gefällt es hier schon jetzt nicht. Es ist kalt.«

Tzigone sah ihn verwundert an. Der Sumpf war heiß wie ein Badehaus, und mit einem Mal wurde ihr klar, in welche Gefahr sie den Feengeist gebracht hatte, indem sie ihn an diesen Ort gerufen hatte.

»Geh«, drängte sie ihn. »Entfern sich so weit vom Sumpf, wie du kannst. Wir werden bald spielen.«

Der winzige Kerl zuckte die Achseln und verschwand. Tzigone atmete tief durch und beruhigte sich. Als sie wieder zur Ruhe gekommen war, tastete sie sich mit ihren Sinnen vor, die schon immer sehr leicht auf die Präsenz von Magie angesprochen hatten.

Sie nahm einen vagen magischen Schatten an der Stelle wahr, wo sich der Kobold befunden hatte. Davon abgesehen war der Sumpf sonderbar frei von jeglicher Magie. Da war so gut nichts zu fühlen, von einem sanften, ungenauen Strahlen abgesehen, das vom Lager ausging.

Aber es war nicht die Magie des Stillezaubers, sondern eine persönliche Magie, ein »Gefühl«, das bei jedem Individuum anders war. Jemand im Lager hatte magische Fähigkeiten und war sich dessen höchstwahrscheinlich nicht bewußt. Aber Kiva wußte es. Eine Bluthündin wußte, wer magische Kräfte besaß und wer nicht. Wahrscheinlich hatte die Elfe jemanden als Köder für den Laraken ins Lager geholt. Vielleicht Matteo. Kiva glaubte, sie könne alles tun und immer ungeschoren davonkommen.

»Das glaube ich aber nicht«, sagte Tzigone, während sie den Baum mit einer Entschlossenheit verließ, die sie noch nie empfunden hatte. Die Erinnerungen, die zurückgekehrt waren, hatten ihr klargemacht, wie schwierig es für sie gewesen war zu überleben. Zu überleben war eine besondere Leistung, doch jetzt war die Zeit gekommen, mehr als das zu tun.

Sie drang tiefer in den Sumpf ein, angetrieben von Zorn und dem Entschluß, Kiva davon abzuhalten, noch mehr Leben zu vernichten.

Als sie die Arme ausstreckte, um den Vorhang aus Ranken zu teilen, der sich zwischen zwei Bäumen erstreckte, fiel Farbe auf ihre Hand, ein verirrter Teil eines Regenbogens, wo es keinen hätte geben sollen. Sie blieb stehen und wirbelte nach rechts. Keine fünf Schritte von ihr entfernt stand eine gläserne, geisterhafte Gestalt.

Doch der Geist bewegte sich nicht, und nach einem Augenblick erkannte Tzigone, daß es kein Geist war – zumindest kein Geist im herkömmlichen Sinn.

Neben einer alten Mooreiche stand eine durchscheinende Statue einer schönen Frau, die viel zu hübsch war, um menschlich zu sein. Eine schmale Hand verschwand im Stamm eines großen Baums, und das erstarrte Gesicht war nach oben gewandt und hatte den Ausdruck von Hoffnung, den jemand zur Schau stellte, der eine sichere Zuflucht zu finden erwartet. Dies, erkannte Tzigone, war eine Dryade gewesen. Sie holte tief Luft und ging weiter.

Als sie weiter vordrang, entdeckte sie immer mehr dieser gläsernen Gestalten jener Kreaturen, die ihrer Magie und damit ihres Lebens beraubt worden waren. Sie sah weitere Dryaden, und zwischen den Blättern bemerkte sie die winzigen gefallenen Körper von Feengeistern und Pixies, von denen viele in zahllose Scherben zersplittert waren. Sie stieß auf einen einzelnen Faun, der mitten in der Bewegung erstarrt war, und mehr Elfen, als ihr auf all ihren Reisen durch Halruaa begegnet waren.

Sie hatte schon früher einen dieser kristallenen Schatten gesehen und gedacht, nur Elfen könnte ein solches Schicksal ereilen. Aber das stimmte nicht. Alle magischen Geschöpfe fielen dem Sumpf zum Opfer. Da war es kein Wunder, daß nur selten ein Magier aus dem Akhlaur zurückkehrte.

Eine Stimme in ihrem Kopf warnte und lockte sie zugleich. Das könntest du sein.

Tzigone verdrängte das Phantombild ihres eigenen gläsernen Schattens und drang tiefer in den Sumpf vor.