> moschee geht nicht
In genau einer Stunde war das nachmittägliche Asr-Gebet, und die Moschee würde vor Freunden ihres Vaters nur so wimmeln. Wenn nur einer von denen sie mit diesem gegelten Fremden sah – einem Hindu, dem Rakhi-Band an seinem Handgelenk nach zu urteilen –, würde ihr Vater durchdrehen.
> komm zum mahim bahnhof bei der absperrung
Zu Fuß würde sie eine Stunde dorthin brauchen. Dafür war es ein sicherer Ort.
Es gab eine Pause. Dann ein neues Bild: zwei Jungen, die auf einem der großen Zementblöcke vor dem Bahnhof saßen. Genau dort hatten auch sie und ihre Brüder gewartet, während ihre Mutter die Tickets besorgte.
> Hier?
> ja
> Okay, gut. Ich komme mit einem Tata-620-Roller.
Ein weiteres Bild, diesmal von einem liebevoll polierten Roller, grün, mit einem Tank in stolzem Lila. Es gab Tausende davon in Dharavi, meist im Besitz von Möchtegern-Rowdys, die ein bisschen Geld angespart hatten.
> ich komme
Sie reichte Mrs. Dottas Neffen ihre Tasse, ignorierte seine Grimasse und eilte nach draußen und dann nach Hause, um sich umzuziehen und ein paar Sachen zu packen, ehe ihre Mutter und ihre Brüder nach Hause kamen. Sie wusste nicht, wohin sie fahren und wie lange sie weg sein würde. Und das Letzte, was sie jetzt wollte, war, ihrer Mutter das alles erklären zu müssen. Sie würde ihr eine Nachricht schreiben. Einer ihrer Brüder würde sie ihr vorlesen. So was wie: »Bin geschäftlich für die Gewerkschaft unterwegs. Bin bald zurück. Liebe Grüße.« Das musste reichen, denn mehr wusste sie schließlich auch selbst nicht.
Auf dem langen Weg zum Bahnhof schwankte ihre Stimmung zwischen Nervosität, Neugierde und Angst. Es war dumm, was sie tat, aber ihr blieb keine andere Wahl. Wenn Schwester Nor sich für diesen Mann verbürgte – sie kannte nicht mal seinen Namen! –, wie konnte Yasmin ihn da infrage stellen?
Je näher sie dem Rand von Dharavi kam, desto breiter wurden die Straßen. Bald waren sie breit genug, dass ein paar dürre Jungs barfuß Cricket auf ihr spielten. Sie riefen ihr Sachen zu – »Anstößigkeiten«, wie ihr Lehrer Mr. Hossain es immer genannt hatte, wenn die Jungen vor der Schule die Mädchen auf dem Heimweg belästigten. Sie hatte aber gelernt, so was zu ignorieren, und außerdem hatte sie den lathi ihres Bruders Abdur dabei und benutzte ihn als Spazierstock. Die Oberseite hatte sie mit einem alten Hidschab umwickelt, damit die Spitze nicht so auffiel. Auf dem Schulhof hatte sie mit ähnlichen Stöcken gespielt, allerdings ohne das Metall an der Spitze. Sie glaubte aber, dass sie gut genug damit umgehen konnte, um jeden zu vertreiben, der sich ihr an diesem wichtigen Tag in den Weg stellte. Erst als sie schon den Bahnhof erreichte, fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie den Stock auf dem kleinen Roller transportieren sollten.
Sie hatte ihr Handy mitgenommen, damit sie wenigstens wusste, wie spät es war. Und obwohl nun eine Stunde vergangen war, war von dem Fremden mit dem kurzen gegelten Haar nichts zu sehen. Weitere zwanzig Minuten verstrichen. Für sie war das nichts Neues: Nichts in Dharavi war pünktlich, außer den Rufen des Muezzins, den morgendlichen Hahnenschreien und dem Appell in Malas Armee. Nachzügler, die zu spät zur Schlacht erschienen, wurden streng diszipliniert.
Züge fuhren ein und wieder ab. Sie erkannte ein paar Leute: Freunde ihres Vaters, die im richtigen Mumbai arbeiteten. Vielleicht hätten die auch sie erkannt, wenn sie ihren Hidschab nicht bis über die Nase gezogen hätte. Sie war sich der starrenden Hindujungs mehr als bewusst. Offiziell kamen Hindus und Moslems ja nicht miteinander aus. Inoffiziell kannte sie natürlich genauso viele Hindus wie Moslems in Dharavi, in der Armee oder Schule. Doch im unpersönlichen großen Gesamtbild gehörte sie immer zu den anderen. Die Hindus waren die »echten« Einwohner Mumbais. Ihre Eltern beharrten darauf, die Stadt »Bombay« zu nennen, wie sie früher geheißen hatte, bevor die strengen Hindu-Nationalisten den Namen geändert und verkündet hatten, Indien gehöre allein den Hindus; sie und ihre Leute sollten doch zurück nach Bangladesch oder Pakistan gehen, wo die Moslems in der Mehrzahl waren, und Indien den echten Indern überlassen.
Meistens kümmerte sie das nicht, denn in der Regel traf sie sich nur mit den Leuten, die sie kannte. Und ihre Netzbekanntschaften interessierten sich eher dafür, ob sie ein Ork oder eine Feuerelfin war – ob sie eine Muslima war, spielte keine Rolle. Doch hier, am Rand ihrer Welt, war sie nur ein Mädchen mit einem Hidschab, einem bodenlangen, sittsamen Gewand mit Augenschlitz, und einem langen Stock, und alle starrten sie an.
Sie vertrieb sich die Zeit damit, sich vorzustellen, wie sie den Bahnhof mit Waffensystemen aus verschiedenen Spielen angreifen oder verteidigen würde. Wenn alle Menschen wären, würde sie ihre Mechs hier, hier und hier positionieren und das Schienenbett als Graben nutzen, um die Gegner in Reichweite der Flammenwerfer zu locken. Wenn sie mit Fahrzeugen kämpfte, würde sie diese Straße mit ihren Autos einkreisen, diese mit ihren Motorrädern, und mit dem Schlachtwagen von dort kommen. Sie lächelte im Schutz ihres Hidschab.
Endlich kam der junge Mann, auf den sie wartete. Er hielt mit seinem grünen Roller auf dem Parkplatz und rieb sich mit dem Hemd den Straßenstaub von der Brille. Dann warf er nervöse Blicke zu den Leuten vor dem Bahnhof hinüber – Arbeiter, die es eilig hatten, Jugendliche, die herumhingen, und Bettler, die sich jedem in den Weg stellten. Mehrere davon kamen nun auf ihn zu: Kinder mit ausgestreckten Händen, die kleinere Kinder auf den Hüften trugen. Selbst über den Lärm der Menge hinweg konnte Yasmin ihre klagenden, einstudierten Betteleien hören.
Sie überprüfte den Sitz ihres Hidschab und näherte sich ihm. Die Bettler beachteten sie gar nicht, doch sie scheuten von ganz allein vor ihrem Stock zurück, wie Fliegen vor einer erhobenen Hand. Der Fremde war von den Bettlern so abgelenkt, dass er das verschleierte Mädchen mit seinem anderthalb Meter langen, metallverstärkten Stock erst gar nicht bemerkte.
»Yasmin?« Sein Hindi klang wie aus einem Bollywood-Streifen. Er sah recht gut aus, hatte ebenmäßige Zähne, einen gepflegten kleinen Bart und markante Gesichtszüge.
Sie nickte.
Er besah sich ihren Stock. »Ich habe ein paar Spanngurte dabei«, sagte er. »Ich denke, wir können den seitlich an den Roller binden. Ich hab auch einen Helm für dich.«
Sie nickte abermals, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Er ging zu seinem Gepäckfach, verscheuchte einen Jungen, der daran herumfingerte, und öffnete es mit einem Fingerabdruckscanner. Dann reichte er ihr einen Helm, der aussah wie einem Manga entsprungen: stromlinienförmig, mit verworrenen gelben und rosa Mustern. Auf der Vorderseite prangte ein Aufkleber von Sai Baba, dem Heiligen, der von Hindus und Moslems gleichermaßen verehrt wurde. Yasmin schien das ein gutes Omen zu sein. Selbst wenn der Fremde ein Hindu war, hatte er ihr einen Helm mitgebracht, den sie tragen konnte, ohne ihre eigene Religion zu entehren.
Sie nahm den Sai-Baba-Manga-Helm entgegen. Der Aufkleber war ein Hologramm, und Sai Baba schien sie direkt anzusehen. Der Helm war schwerer, als er aussah, und innen dick gepolstert. Niemand in Dharavi trug beim Fahren einen Helm, und auch der Fremde trug keinen. Doch als sie sich den schmalen Sitz ansah und sich vorstellte, bei 70 Stundenkilometern davon runterzufallen, war sie froh, dass er ihn mitgebracht hatte. Also nickte sie ein drittes Mal und zog ihn über. Es fühlte sich an, als ließe sie ihre Hand langsam in einen verknäuelten Handschuh gleiten. Alle Geräusche waren nun nur noch gedämpft und wie aus der Ferne zu hören, und durch das verspiegelte Visier hatten die Farben einen Gelbstich. Vorsichtig neigte sie den Kopf – es kam ihr so vor, als könnte er unter dem Gewicht des Helms einen Knacks bekommen, wenn sie nicht achtgab – und klappte das Visier hoch. Besser.
Begleitet von den spöttischen Ratschlägen der Bettelkinder, hatte der Fremde den lathi mittlerweile mit Spanngurten am Roller befestigt. Er hakte die Gurte an geeigneten Stellen des verchromten Fahrgestells ein und vergewisserte sich, dass er den Lenker immer noch drehen konnte. Zu guter Letzt grunzte er zufrieden, klopfte sich die Hände ab und schaute sie an.
»Können wir?«
Sie atmete tief durch und fragte ihn schließlich: »Wohin fahren wir denn?«
»Nach Andheri«, sagte er. »Wo die Filmstudios sind.«
Sie nickte, als wüsste sie, wo das lag. In gewisser Weise tat sie das auch: Es gab eine Menge Filmdokumentationen über die Goldene Zeit der Filmindustrie, als Andheri noch der Nabel der Welt gewesen war. Die meisten dieser Filme hatten aber vom Niedergang jenes glanzvollen Sterns erzählt. Und davon, wie alle großen Studios schließlich weggezogen waren. Wie es heute wohl dort aussah?
»Und wann sind wir wieder zurück?«
Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Auf jeden Fall vor heute Nacht. Dafür sorge ich schon. Und ein paar von der Gewerkschaft können dich dann sicher nach Hause begleiten. Ich habe an alles gedacht.«
»Und wie heißt du?«
Einen Moment starrte er sie mit offenem Mund an. »Okay, ich habe nicht an alles gedacht! Ich heiße Ashok. Bist du schon mal auf einem Roller mitgefahren?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte zwar schon viele Leute auf Motorrädern und Rollern gesehen, zu zweit, sogar zu dritt oder zu viert – manchmal ganze Familien, die Kinder auf dem Schoß ihrer Mütter –, aber sie hatte noch nie selbst auf einem Roller gesessen. Aus der Nähe sah er etwas dürftig und irgendwie rutschig aus. So, als ob das Runterfallen deutlich leichter als das Sitzenbleiben wäre.
»Okay«, sagte er und begutachtete ihre Kleidung. »Damit ist es natürlich nicht ganz einfach. Du wirst dich im Damensattel draufsetzen müssen.« Er zeigte es ihr: die Knie zusammengedrückt und fest gegen den Sitz gepresst, den Körper leicht nach vorne gedreht. »Du wirst dich gut an mir festhalten müssen.« Er grinste sein Bollywood-Lächeln.
Yasmin erkannte, was für einen Fehler sie begangen hatte: Dieser Fremde. Sein Motorroller. Dharavi zu verlassen. Weder zu wissen, wohin sie fuhren, noch warum. Und er hatte ihren lathi, der nicht mal ihrer war. Selbst wenn sie jetzt einfach wegging, würde sie ihrer Mutter immer noch die hinterlegte Nachricht erklären müssen. Und ihrem Bruder, was aus seinem Stock geworden war. Wahrscheinlich würden sie und dieser Fremde nie die berühmteste Geisterstadt Bollywoods erreichen, sondern im Verkehr von Mumbai tödlich verunglücken.
Doch so verzweifelt ihre Lage auch war, sie war immer noch besser, als wäre sie ganz allein gewesen – weder in der Armee noch in der Schule, aber auch nicht bei den Webblys. Besser, als nur die arme Yasmin zu sein, das Mädchen aus Dharavi, das nichts anderes kannte.
Sie setzte sich seitwärts auf den Sattel, während er vor ihr Platz nahm. Seine Lederjacke presste sich an ihre Seite. Als sie versuchte, die Hüfte mehr nach vorn auszurichten, wäre sie beinahe rückwärts vom Sattel gefallen.
»Du musst dich festhalten«, sagte Ashok, und die Bettelkinder lachten und machten obszöne Gesten. Sie schloss die Augen, legte die Arme um seine Hüften, spürte, wie dünn er unter seiner Jacke war, und verschränkte die Finger vor seinem Bauch. Sie saß jetzt etwas sicherer, aber es kam ihr immer noch so vor, als könnte sie jeden Augenblick stürzen. Dabei waren sie noch nicht mal losgefahren!
Ashok trat den Ständer zurück und ließ den Motor an. Die Wolke Biodiesel, die dem Auspuff entwich, roch scharf und abgestanden, wie altes Frittieröl – wahrscheinlich war es genau das auch mal gewesen. Yasmins Magen protestierte vernehmlich, und sie errötete unter ihrem Hidschab. Doch er drehte sich bloß um und fragte: »Fertig?«
»Ja«, erwiderte sie, aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Fiepsen.
Sie waren keine fünfzig Meter weit gekommen, als sie »Stopp! Stopp!« schrie. Ihr ganzes Leben hatte sie noch keine solche Angst gehabt. Sie löste den Griff und legte die zitternden Hände in den Schoß.
»Was ist los?«
»Ich will nicht sterben!«, rief sie. »Und schon gar nicht auf diesem irren Ding in diesem irren Verkehr!«
Er wiegte den Kopf. »Es liegt an deiner Kleidung. Wenn du dich doch nur richtig auf den Sattel setzen könntest.«
Yasmin strich sich unglücklich über die Hüften, dann zog sie ihr Kleid hoch und enthüllte die weiten Hosen, die sie darunter trug. Ashok nickte. »Das wird gehen«, meinte er. »Du solltest die Hosenbeine aber festmachen, damit sie nicht in die Räder kommen.« Erneut öffnete er das Gepäckfach und reichte ihr zwei Kabelbinder, die sie sich um die Knöchel legte.
»Okay, weiter geht’s«, rief er, und sie stieg abermals auf und legte ihm die Arme um die Hüften. Er roch nach Haargel, Leder und Schweiß von der Fahrt. Obwohl sie immer noch den Bahnhof hinter sich sehen konnte, kam sie sich so vor, als hätte sie einen anderen Planeten betreten.
Als er den Motor anließ und wieder auf die Straße hinaussteuerte, klammerte sie sich so an ihm fest, als stände ihr Leben auf dem Spiel. Ihr wurde klar, dass er aus Rücksicht auf sie und ihren unsicheren Sitz bisher eher zurückhaltend gefahren war. Jetzt, da sie sicherer saß, fuhr er wie der übelste Rowdy aus einem Actionfilm. Er schoss am Rand des Straßengrabens entlang, vorbei am langsamen, stockenden Verkehr, immer drauf und dran, in den stinkenden Graben zu rasen oder von einem abbiegenden Auto oder einer sich plötzlich öffnenden Tür erwischt zu werden, wenn der Fahrer vielleicht gerade ausspucken wollte. Ständig hatte sie Angst, er würde einen der Bettler am Straßenrand überfahren, die bei den im Stau stehenden Autos an die Scheiben klopften und die darin gefangenen Insassen mit traurigen Gesichtern bedachten.
In ihrer Spielerkarriere hatte sie zahllose Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit durch gefährliches Terrain gelenkt. Es war nicht mal ansatzweise dasselbe – obwohl das Visier des Helms alles ganz unwirklich und wie in einem Spiel erscheinen ließ. Sie konnte ihr eigenes Wimmern hören, und jede Faser ihres Körpers schrie ihr zu: Steig ab, solange du noch kannst! Doch ihr Verstand beharrte darauf, dass dieser Junge seinen Roller sicher jeden Tag durch Mumbai steuerte und bisher immer überlebt hatte.
Und während sie Straße auf Straße entlangrasten, gab es jede Menge zu sehen, und das war viel interessanter als der drohende Tod.
Sie näherten sich jetzt einer achtspurigen Hängebrücke, einem Koloss aus weißem Beton und Stahlkabeln, den ein aufwendig gestaltetes Schild auf Hindi und Englisch stolz als den Bandra-Worli Sea Link auswies, schossen eine Rampe hinauf, haarscharf an einer Reihe von Stahlträgern vorbei, und überquerten die Brücke. Unter ihnen funkelte blau das Meer, so nah, dass sie meinte, mit der ausgestreckten Fingerspitze über die Wellen streichen zu können. Die Luft roch nach Salz und der See. Eine Brise vertrieb die beißenden Abgase und fuhr durch ihre Kleidung, die ihr am Körper klebte. Ihre Angst war wie weggewischt und kehrte auch nicht zurück, als sie danach wieder in die von Menschen und Verkehr verstopften Straßen Mumbais eintauchten. Sie sahen Sadhus, nackte, mit Farbe bemalte heilige Männer, schlugen Haken um Dabbawallahs, die auf ihren Köpfen große Holzgestelle mit Essensboxen balancierten, in denen sie Ehemännern in der ganzen Stadt das von deren Frauen gekochte Essen brachten.
Als sie die riesige Infinity Mall erreichten, wusste sie, dass sie Andheri nun ganz nahe waren. Sie fuhren an einer hohen, uralten Ziegelmauer entlang, die sich über Hunderte von Metern erstreckte und einen großen Komplex umgab, bei dem es sich nur um eines der Studios handeln konnte. Vor der Mauer herrschte geschäftiges Treiben. Fliegende Händler, Straßenköche, Bettler und Handwerker drängten sich am Straßenrand, und Filmemacher in schicken Anzügen mit dunklen Brillen und Handys am Ohr bahnten sich den Weg durch das Gewühl. Der Roller fädelte sich durch alles hindurch und passierte eine schier endlose Reihe makelloser dunkler Autos, die sich vor dem Sicherheitscheck an der Einfahrt stauten.
Am Ende der Straße bogen sie scharf ab und näherten sich einem sehr viel kleineren Tor. Davor standen zwei Posten mit Gewehren am Gürtel, die nach ihren Waffen griffen, als sie den Roller näherkommen sahen. Als Ashok kurz abbremste, erkannten die Wachen ihn und traten einen Schritt zur Seite. Die Durchfahrt hinter ihnen war kaum breit genug für den Roller, doch Ashok gab gleich wieder Gas. Yasmin sog scharf die Luft ein, als ihre flatternden Ärmel die alten, schartigen Ziegel streiften.
Hinter dem Tor schien eine andere Welt zu beginnen: Vor ihnen erstreckten sich die Studios bis ins Unendliche. Die entferntesten Gebäude verloren sich im Smog, und zahllose Straßenzüge verwandelten die Anlage in ein einziges Labyrinth. Die Gebäude sahen wie Bahnhöfe oder Flugzeughangars aus Kriegsfilmen aus und waren größer als alles, was Yasmin je gesehen hatte. Dazwischen lagen gepflegte Rasenflächen mit ordentlich gepflanzten Obstbäumen. Arbeiter mit klimpernden Werkzeuggürteln trugen riesige Rohre, Holzbalken und Stoffballen ihrer geheimnisvollen Bestimmung entgegen.
Ashok passierte die Hangars. Dort drin mussten sie wohl die Filme drehen. In Zombie Mecha gab es eine gute Karte der Filmstudios, und man konnte dort, wenn man wollte, vor einer Reihe hölzerner Kulissen gegen Zombies kämpfen.
Gleich darauf bog Ashok links ab und fuhr auf mehrere Wohnwagen zu. Jeder davon war von einem kleinen Zaun und einem winzigen Garten umgeben, und all das wirkte so sauber und ordentlich, dass Yasmin zuerst dachte, die Gartenblumen müssten aus Plastik sein.
Endlich bremste Ashok, rollte noch ein paar Meter und hielt dann an. Er stellte den Motor ab, doch das Dröhnen hing ihr noch in den Ohren, und sie glaubte das Vibrieren noch eine Weile in ihren Beinen zu spüren. Erleichtert löste sie den Griff um Ashoks Taille und stieg ab, wobei sie an dem lathi hängen blieb und ins Gras fiel. Mit Schamesröte im Gesicht rappelte sie sich wieder auf.
Ashok grinste sie an. »Alles klar bei dir, Schwester?«
Sie wollte eine scharfe Antwort geben, aber ihr fiel keine ein. Die Fahrt hatte sie aller Worte beraubt. Auf einmal war ihr, als bekäme sie keine Luft mehr. Der Stoff ihres Hidschab schien voller Straßenstaub zu sein, der ihr beim Atmen in Mund und Nase gelangte. Vorsichtig löste sie die Nadel des Hidschab und öffnete ihn so weit, dass er nicht mehr ihr Gesicht verbarg.
Entsetzt starrte Ashok sie an. »Du – du bist ja noch ein kleines Kind!«
Sie warf den Kopf zurück und fand endlich wieder Worte. »Ich bin vierzehn – in Dharavi gibt es Mädchen in meinem Alter, die schon einen Mann und Kinder haben! Ich bin eine Kämpferin und Anführerin. Ich bin kein kleines Kind!«
Er errötete und legte entschuldigend die Hände vor die Brust. »Verzeih mir«, sagte er. »Aber – na ja, ich dachte, du bist achtzehn oder neunzehn. Du bist ganz schön groß für dein Alter. Ich habe dich den ganzen Weg hierher gebracht, und du … du bist noch so jung! Deine Eltern werden krank vor Sorge sein.«
Sie schenkte ihm ihren besten stählernen Blick, denselben, mit dem sie die Jungs in der Armee zur Ordnung gerufen hatte, wenn sie begannen, sich zu … jungenhaft zu benehmen. »Ich habe ihnen eine Nachricht hinterlassen. Und heute Abend bin ich ja wieder da. Ich bin alt genug, mir meine eigenen Gedanken zu machen, besten Dank auch. Also, ich nehme nicht an, dass du mich heimlich durch halb Indien geschleppt hast, nur um mir hier Vorträge über meine Familie zu halten.«
Er fing sich wieder und grinste. »Oh natürlich, tut mir leid. Wir sind wegen eines Treffens hier. Es ist sehr wichtig. Die Webblys hatten nie viel Kontakt zu richtigen Gewerkschaften, aber jetzt, wo Nor in Schwierigkeiten steckt, hat sie um ein Treffen gebeten. Auf der ganzen Welt finden heute solche Treffen statt – in China und Indonesien, Pakistan, Mexiko und Guatemala. Die Leute, die wir gleich treffen werden, vertreten die Gewerkschaften der Textil- und Stahlindustrie und sogar die der Dockarbeiter, das sind die größten Gewerkschaften Mumbais. Mit ihrer Unterstützung hätten die Webblys Zugang zu Geld, Hilfe im Falle eines Streiks und mehr Einfluss. Sie wissen aber so gut wie nichts über euch, haben noch nie ein Spiel gespielt. Sie glauben, dass das Internet nur für E-Mails und Pornografie gut ist. Also bist du – sind wir – hier, ihnen das zu erklären.«
Sie schluckte. Vieles von dem, was er sagte, verstand sie nicht. Und was sie verstand, gefiel ihr nicht besonders. Das mit den »richtigen« Gewerkschaften zum Beispiel. Die Webblys waren doch eine richtige Gewerkschaft! Es gab aber Wichtigeres als ihren Ärger. »Was meinst du mit wir? Bist du ein Spieler?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe nicht die Geduld dazu. Ich bin Wirtschaftswissenschaftler. Mein Spezialgebiet ist der Arbeitsmarkt. Nor und ich haben lange an einer Strategie gearbeitet.«
Sie war sich nicht ganz sicher, was ein Wirtschaftswissenschaftler war, aber sie hatte das Gefühl, dass sie in seinem Ansehen noch weiter sinken würde, wenn sie das zugab. »Ich brauche meinen lathi«, bemerkte sie.
»Du brauchst keine Waffe für das Treffen. Niemand wird uns angreifen.«
»Jemand könnte ihn stehlen.«
»Hier ist nicht Dharavi«, erwiderte er. »Niemand wird ihn stehlen.«
Jetzt reichte es aber. Sie kannte sich aus mit Dharavi. Sie war ein Dharavimädchen. Diesem Fremden aber stand es nicht zu, schlecht über ihre Herkunft zu reden. »Ich brauche den lathi, um dir eins über den Schädel zu ziehen, wenn du meine Heimat weiter heruntermachst«, knirschte sie.
»Tut mir leid, tut mir leid.« Er kauerte sich neben den Roller und begann die Spanngurte loszumachen. Sie bückte sich und versuchte, die Kabelbinder um ihre Knöchel zu lösen, aber sie waren so fest angezogen, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen.
Ashok blickte auf. »Du musst sie durchschneiden. Einen Moment.« Er wühlte in seiner Hosentasche, förderte ein gefährlich wirkendes Klappmesser zutage und ließ es aufschnappen. Sanft griff er nach dem Kabelbinder um ihren rechten Knöchel und schob die Klinge zwischen das Plastik und ihr Bein. Sie hielt den Atem an, als er den Kabelbinder durchschnitt, das Messer vorsichtig wegnahm, nach ihrem anderen Knöchel griff und auch diesen befreite. Gleich darauf steckte er das Messer weg und schaute sie an. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann senkte sie die Augen.
»Sei vorsichtig«, bat sie, obwohl er schon fertig war. Er reichte ihr den lathi. Mit tauben Fingern griff sie danach und ließ ihn fast fallen.
»Okay«, sagte er. »Okay.« Er schüttelte den Kopf. »Die Leute dort drin wissen nichts von dir oder dem, was du tust. Sie sind ein wenig … du weißt schon, altmodisch.« Er lächelte, als ihm etwas einzufallen schien. »Sehr altmodisch in einigen Fällen. Und sie können nicht so gut mit Kindern. Jungen Leuten, meine ich.« Er streckte abwehrend die Hände hoch, als sie ihren lathi hob. »Ich wollte dich bloß warnen.« Er sah sie nachdenklich an. »Vielleicht solltest du dein Gesicht wieder verhüllen?«
Yasmin dachte kurz darüber nach. Eigentlich wollte sie das nicht. Sie wollte dort reingehen, wie sie war. Warum auch nicht? Doch der Hidschab hatte einige Vorteile: Zum Beispiel würde sich niemand darüber wundern, dass sie ihr Gesicht verbarg. Ashok hatte sie eindeutig für älter gehalten, bis sie ihr Gesicht enthüllt hatte.
Kommentarlos machte sie den Stoff los, zog ihn höher über das Gesicht und befestigte ihn wieder. Er reckte seinen Daumen. »Also dann! Es sind gute Leute, weißt du. Sehr gute Leute. Sie wollen auf deiner Seite sein.« Er schluckte, dachte nach, wiegte das Kinn. »Vielleicht wissen sie es bloß noch nicht.«
Er ging zu der schweren Metalltür hinüber, öffnete sie und ließ ihr mit einer ausholenden Geste den Vortritt. So würdevoll wie möglich trat sie ins Zwielicht des Wohnwagens. Drinnen war es kühl und roch nach Betel, Chai und Bleichmittel. Ein träger Ventilator an der Decke zog lange, staubige Schmutzfahnen hinter sich her.
Erst jetzt bemerkte sie Leute im Raum, die regungslos auf den weichen Sofas und Sesseln saßen, die Augen in Schatten gehüllt. Ashok trat hinter ihr ein und sagte: »Hallo! Hallo! Es freut mich, dass Sie alle kommen konnten.«
Da erhoben sie sich. Sie waren alle sehr viel älter als sie, auch älter als Ashok. Der Jüngste hatte das Alter ihrer Mutter. Er war fett, trug gepflegte Kleidung, hatte dicke Wangen und kurzes Haar. Dann waren da noch ein Muslim in einer Kurta mit einer Mütze und zwei sehr alte Frauen in Saris, die den Blick auf ihre faltigen Bäuche freigaben.
Ashok stellte sie vor: Mr. Honnenahalli von den Dockarbeitern, Mr. Phadkar von den Stahlarbeitern und Mrs. Rukmini und Mrs. Muthappa von den Textilarbeitern. »Diese ehrenwerten Leute interessieren sich für Schwester Nors Arbeit und haben mich gebeten, dich zu ihnen zu bringen, damit du ihnen mehr darüber erzählen kannst. Meine Damen und Herren, dies ist Yasmin, eine treue Aktivistin innerhalb der IWWWW. Sie ist hier, um Ihre Fragen zu beantworten.«
Sie grüßten alle höflich, doch ihr Lächeln stand nur auf ihren Lippen, nicht in ihren Augen. Ashok machte sich an einer Kanne Chai in der Ecke zu schaffen, goss für alle ein und reichte die Tassen herum, die er von einem Tablett nahm. »Ich kümmere mich um den Tee«, sagte er. »Sie unterhalten sich einfach.«
Yasmins Hals war schrecklich trocken, und sie bereute es bald, dass sie sich wegen ihres Schleiers keinen Tee genommen hatte.
»Soweit ich es verstanden habe, besteht deine ›Arbeit‹ eigentlich nur im Spiele spielen, oder?«, fragte Mr. Honnenahalli, der fette Mann von der Dockarbeitergewerkschaft.
»Wir arbeiten innerhalb der Spiele, das ist richtig«, erwiderte Yasmin.
»Also spielen die Leute in deiner Organisation Spiele. Inwiefern sind sie Arbeiter? Für mich klingen sie nach Spielern. In unserem Geschäft arbeiten wir.«
Yasmin schüttelte den Kopf. Jetzt war sie dankbar für den Schleier. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Sushant. »Ich schätze, wir arbeiten wie alle anderen auch. Wir haben einen Boss, der lässt uns arbeiten, und unsere Arbeit macht ihn reich.«
Das ließ die beiden alten Tantchen lächeln, und obgleich es dunkel war im Raum, glaubte sie, dass das Lächeln diesmal aufrichtig war.
»Schwester«, sagte Mr. Phadkar, »erzähl uns von diesen Spielen. Wie werden sie gespielt?«
Also fing sie an, von Zombie Mecha zu erzählen. Dass Mr. Phadkar einen der vielen Filme gesehen hatte, die auf dem Spiel basierten, machte es etwas einfacher, doch als sie mit Charakterklassen, neuen Levels und Achievements begann, war klar, dass auch er ihr nicht mehr folgen konnte.
»Das klingt alles sehr kompliziert«, bemerkte Mr. Honnenahalli nach einer guten halben Stunde. Yasmins Mund war mittlerweile so trocken, dass es sich anfühlte, als hätte sie eine Handvoll Sand mit Salz gegessen. »Wer spielt nur diese Spiele? Wer hat überhaupt die Zeit dazu?«
Diese Frage hatte sie schon häufig von ihrem Vater gehört, also gab sie Mr. Honnenahalli dieselbe Antwort wie ihm: »Millionen von Menschen, arm und reich, Männer wie Frauen, Jungen wie Mädchen, auf der ganzen Welt. Sie geben Millionen und Abermillionen Rupien dafür aus und verwenden Tausende von Stunden aufs Spielen. Es ist ein Spiel, richtig, aber in vieler Hinsicht genauso kompliziert wie das Leben.«
Mr. Honnenahalli verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. »Menschen machen Dinge. Das allein zählt. Sie verbringen nicht ihre Zeit mit …« Er wedelte mit der Hand und deutete irgendeine nutzlose Betätigung an. »Sie drücken nicht bloß auf Knöpfen herum und spielen So-tun-als-ob.«
Sie fühlte, wie die Röte in ihre Wangen stieg, und war abermals dankbar für den Schleier. Ashok hob eine Hand. »Wenn Ihr ergebener Chai-Wallah hierzu etwas sagen dürfte.« Mr. Honnenahalli warf ihm einen feindseligen Blick zu, nickte dann aber. »›Auf Knöpfen herumdrücken und so-tun-als-ob‹ beschreibt mehrere wichtige Bereiche der Wirtschaft, nicht zuletzt das gesamte Finanzwesen. Was sind Bankgeschäfte denn anderes, als auf Knöpfe zu drücken und jedermann weiszumachen, dass das Ergebnis irgendeinen Wert hätte?«
Die alten Tantchen lächelten und Mr. Honnenahalli grunzte. »Du bist ein cleveres Kerlchen, Ashok. Das ist ja alles gut und schön, aber es bringt den Leuten kein Essen auf den Tisch und verschafft ihnen auch keine fairen Arbeitsverträge.«
Ashok nickte, als wäre ihm dieser Punkt noch nie bewusst gewesen, auch wenn Yasmin sich ziemlich sicher war, dass er mit all dem gerechnet hatte, so, wie er lächelte. »Mr. Honnenahalli, über neun Millionen Menschen arbeiten in diesem Sektor und erwirtschaften Jahr für Jahr über fünf Milliarden Rupien. Das vierteljährliche Wachstum liegt bei etwa sechs Prozent. Und acht der zwanzig größten Wirtschaftsräume der Welt sind keine Länder, sondern Spiele, die ihre eigene Währung herausgeben, ihre eigene Finanzpolitik gestalten und ihr eigenes Arbeitsrecht beschließen.«
Mr. Honnenahalli machte ein finsteres Gesicht, sodass seine Wangen schlackerten, und hob die Brauen. »Es gibt verbindliche Gesetze in diesen Spielen?«
»Allerdings«, erwiderte Ashok. »Und die Gesetze der Spielbetreiber besagen, dass in ihren Welten niemand ohne ihre Erlaubnis arbeiten darf, dass sie die absolute Macht über Löhne und Beschäftigung innehaben, dass sie einen jederzeit feuern können, wenn ihnen etwas nicht passt, und dass jeder, der gegen die Regeln verstößt, seinen ganzen virtuellen Besitz verliert und ohne Gerichtsbeschluss oder Anspruch auf rechtlichen Beistand rausgeworfen wird.«
Das erregte ihre Aufmerksamkeit. Yasmin merkte sich die Beschreibung. Sie hatte Schwester Nor schon Ähnliches sagen hören, aber Ashok hatte es besser auf den Punkt gebracht. Und es hatte eindeutig Wirkung auf die Anwesenden: Sie zuckten zusammen, als hätten sie einen elektrischen Schlag erhalten, öffneten die Münder, als wollten sie etwas sagen, und schlossen sie wieder.
Schließlich ergriff eine der alten Frauen das Wort. »Du sagst, neun Millionen Menschen arbeiten in diesen Welten? Wo? Bangalore? Pune? Kalkutta?« Das waren die alten IT-Städte, wo die Technologieunternehmen und deren Banken saßen.
Ashok nickte. »Einige dort. Einige direkt hier in Mumbai.« Er sah Yasmin an und wartete offensichtlich darauf, dass sie etwas sagte.
»Ich arbeite in Dharavi«, erklärte sie. Und bildete sie es sich nur ein, oder rümpften da alle ein wenig die Nase, verlagerten ihr Gewicht weg von ihr, als ob sie dem Kotgeruch eines Dharavimädchens entkommen wollten?
»Sie arbeitet in Dharavi«, wiederholte Ashok. »Und ein oder zwei Millionen arbeiten in ganz Indien. Die Mehrheit aber sitzt in China, Indonesien und Vietnam. Ein paar auch in Südamerika und den USA. Wo immer es die nötige Infrastruktur gibt, gibt es auch Leute, die in den Spielen arbeiten.«
Daraufhin ließ die alte Frau sich zurücksinken. »Ich verstehe«, sagte sie. »Nun, das ist sehr interessant, Ashok, aber was haben wir mit China zu schaffen? Wir sind nicht in China.«
Yasmin schüttelte den Kopf. »Das Spiel ist auch nicht in China«, gab sie zurück, als erklärte sie einem kleinen Kind eine schwierige Sache. »Das Spiel ist überall. Die Spieler sind alle am selben Ort.«
»Du verstehst nicht, Schwester«, warf Mr. Phadkar ein.
»Die Arbeiter in diesen Ländern konkurrieren mit unseren eigenen. Die großen Firmen gehen dahin, wo die Arbeit am billigsten ist und am wenigsten organisiert. Unsere Mitglieder verlieren ihre Arbeitsplätze an sie, weil die Menschen in diesen Ländern nicht genug Selbstachtung haben, für gerechte Löhne zu kämpfen. Wir können mit den Chinesen, Indonesiern und Vietnamesen nicht mithalten. Selbst die Bettler hierzulande erwarten bessere Löhne, als diese Leute sie fordern!«
Mr. Honnenahalli tätschelte seinen Bauch und nickte. »Wir sind indische Arbeiter. Die repräsentieren wir. Was mit den anderen ist, das betrifft uns nicht.«
Ashok nickte. »Nun, das ist schön für Ihre Gewerkschaften und Mitglieder. Die Gewerkschaft aber, für die Yasmin arbeitet …«
Mr. Honnenahalli schnaubte, seine Wangen zitterten. »Das ist keine Gewerkschaft, sondern ein Haufen spielender Kinder!«
»Es sind zehntausend organisierte Arbeiter, die solidarisch füreinander einstehen«, korrigierte Ashok ihn geduldig wie ein Lehrer. »In vierzehn verschiedenen Ländern. Spieler sind ohnehin in Gilden organisiert. Das ist schon fast so was wie eine Gewerkschaft. Sie machen sich Sorgen, Gewerkschaftsjobs in Indien an nicht organisierte Arbeiter in Vietnam zu verlieren? Hier haben Sie einen Weg, die Arbeiter in Vietnam mit einzubinden! Firmen sind längst multinational. Warum sollten die Arbeiter sich da noch an die Grenzen halten? Sind Grenzen denn wirklich so wichtig?«
»Sehr wichtig sogar, wenn man sich ein einziges Pakistan teilt. Menschen sterben für Grenzen, mein Kleiner. Du kannst uns hier mit deiner Collegebildung lange was davon erzählen, dass Grenzen nicht so wichtig sind, aber das zeigt doch nur, dass du völlig den Draht zu den indischen Arbeitern verloren hast. Indische Arbeiter wollen indische Jobs, nicht Jobs für Chinesen oder sonst wen. Sollen die Chinesen sich doch selbst organisieren.«
»Das tun sie auch«, mischte Yasmin sich ein. »Sie streiken in China, in diesem Moment! Eine ganze Fabrik hat die Arbeit niedergelegt, und die Polizei hat sie niedergeknüppelt. Ich habe ihre Streikposten unterstützt!«
Mr. Honnenahalli wollte schon weiterpoltern, doch eines der alten Tantchen legte ihm die gebrechliche Hand auf den Arm. »Wie hast du denn von Dharavi aus die Streikposten in China unterstützt, mein Kind?«
Also erzählte Yasmin ihnen von der Schlacht um das Pilzkönigreich und den Kämpfen in Shenzhen – alles, was sie gesehen oder gehört hatte.
»Unorganisierte Streiks«, sagte Mr. Honnenahalli. »Was für eine Torheit! Keine Strategie, nichts. Diese Arbeiter sind zum Scheitern verurteilt und werden vielleicht nie mehr das Tageslicht sehen.«
»Nur, wenn ihre Freunde ihnen nicht helfen«, erwiderte Ashok. »Freunde wie Yasmin und ihre Gruppe. Sie wollen etwas sehen, für das Arbeiter zu kämpfen bereit sind? Dann besuchen Sie ein Internetcafé. Sehen Sie selbst, wer hier den Draht zu den Arbeitern verloren hat. Sie können über ›indische Arbeiter‹ reden, so viel Sie wollen, doch solange Sie sich nicht mit allen Arbeitern solidarisch stellen, werden Sie nie Ihre wertvollen indischen Arbeiter schützen können.«
Allmählich schwand seine Geduld und die schulmeisterliche Gelassenheit. »Diese Arbeiter wurden von ihren Arbeitgebern schlecht behandelt, also sind sie in den Streik getreten. Ihre Jobs können einfach verlegt werden – nach Vietnam, nach Kambodscha, nach Dharavi –, und der Streik ist gebrochen. Erkennen Sie es denn nicht? Wir haben endlich dieselben Mittel wie die Bosse! Für einen Fabrikbesitzer sind alle Orte gleich, und es macht keinen Unterschied, ob die Hemden hier oder dort zusammengenäht werden, solange man sie hinterher ja noch verschiffen kann. Doch jetzt sind auch für uns alle Orte gleich! Wir können überall hin, einfach dadurch, dass wir uns an einen Computer setzen. Vierzig Jahre lang ist es für die Arbeiter immer schwieriger geworden. Jetzt ist es an der Zeit, das zu ändern.«
Yasmin grinste breit unter ihrem Schleier. Genau, Ashok, gib’s ihm! Doch dann sah sie die Gesichter der alten Leute im Zimmer: steinern und herzlos.
»Das sind schöne Worte«, meinte eines der Tantchen. »Wirklich. Es ist eine wunderbare Vision. Doch meine Arbeiter haben keine Computer. Sie gehen nicht in Internetcafés. Sie färben den ganzen Tag Stoffe. Wenn ihre Jobs ins Ausland abwandern, können sie sie nicht mit einem Computer zurückholen.«
»Sie können aber auch den Webblys beitreten!«, sagte Yasmin. »Das ist das Tolle daran. Über die Spiele kommt man überallhin, kann sich überall organisieren, und wo immer Ihre Arbeiter sind, sind auch die Webblys! Wir kommen an jeden Ort. Niemand kann uns daran hindern. Wir können überall Färber zusammenbringen – mithilfe der Spieler.«
Mr. Honnenahalli nickte. »Das dachte ich mir. Und wenn alles vorbei ist, organisieren die Webblys alle Arbeiter auf der Welt, und was wird dann aus unseren Gewerkschaften? Lösen sie sich einfach auf? Oder werden sie von euch geschluckt? Oh, ich verstehe sehr gut. Ein sehr geschickter Schachzug. Du bist sicher eine gute Spielerin bei den Webblys.«
Ashok und Yasmin wollten beide etwas auf den Vorwurf erwidern, doch dann hielten sie inne und tauschten Blicke. »Das ist nicht wahr«, sagte Yasmin. »Wir bieten nur unsere Hilfe an. Wir wollen niemanden übernehmen.«
»Du vielleicht nicht, jemand anders aber vielleicht schon«, gab Mr. Honnenahalli zurück. »Kannst du für alle sprechen? Du hast gesagt, du hast diese Schwester Nor nie getroffen. Und ihre Helfer ebenso wenig, diesen mächtigen Was-auch-immer und Justbob.«
»Ich habe sie sogar sehr häufig getroffen«, widersprach Yasmin leise.
»Oh, natürlich. Im Spiel. Wie geht noch gleich dieser alte Witz aus Amerika? ›Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist.‹ Vielleicht sind deine Freunde ja alte Männer oder kleine Kinder. Vielleicht sitzen sie in Dharavi, ein Internetcafé neben deinem. Das Internet ist voller Lügen, Tricks und Schmutz, kleine Schwester …«
Yasmin versteifte sich. »Schwester« genannt zu werden, war eine Sache, aber »kleine Schwester« war nicht gerade freundlich. Es war herabwürdigend.
»Und wer weiß, ob du nicht auf einen solchen Trick hereingefallen bist?«
Ashok hob die Hand. »Vielleicht ist das alles hier ja nur ein Traum. Vielleicht existieren Sie alle nur in meiner Einbildung. Warum sollten wir überhaupt an irgendwas glauben, wenn dies die Standards sind, an denen wir uns messen müssen? Ich habe Schwester Nor häufig gesprochen, und auch viele andere Mitglieder der IWWWW. Sie, Mr. Honnenahalli, repräsentieren zwei Millionen Arbeiter. Wie viele von denen haben Sie getroffen? Woher sollen wir wissen, dass die real sind?«
»Das führt uns alles nirgendwohin«, bemerkte eines der Tantchen. »Es war sehr nett von dir, dich mit uns zu treffen, Ashok, und von dir auch, Yasmin. Es war sehr höflich, dass du uns über diese Vorgänge in Kenntnis gesetzt hast. Vielen Dank.«
»Warten Sie«, sagte Ashok. »Das kann doch nicht alles gewesen sein! Wir kamen her, Sie um Hilfe zu bitten – um Solidarität. Wir hatten gerade unseren ersten Streik, und unsere Führungsriege ist offline und verschwunden …«
Yasmin horchte auf. Was bedeutete das?
»Und wir brauchen Hilfe: einen Streikfonds, behördlichen und rechtlichen Beistand und …«
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, unterbrach ihn Mr. Honnenahalli.
»Ich fürchte, ich muss ihm recht geben«, sagte Mr. Phadkar. »Es tut mir leid, Bruder. Unsere Satzung gestattet es uns nicht, uns in die Angelegenheiten anderer Gewerkschaften einzumischen. Schon gar nicht, wenn es sich um Organisationen wie eure handelt.«
»Es geht auch gar nicht«, pflichtete eines der Tantchen ihm bei und presste die Lippen bedauernd zusammen. »So was können wir einfach nicht tun.«
Ashok ging an den Kessel zurück und begann, neuen Chai aufzubrühen. »Dann tut es mir leid, Ihre Zeit in Anspruch genommen zu haben«, erwiderte er. »Uns fällt schon etwas ein.«
Sie starrten einander an. Gleich darauf erhob sich Mr. Honnenahalli mit einem Schnaufen, schnappte sich die pralle Aktentasche zu seinen Füßen und verließ den Wohnwagen. Mr. Phadkar schenkte den beiden Frauen ein warmes Lächeln, winkte Yasmin zögerlich zu und folgte ihm. Yasmin wich seinem Blick aus. Eine der alten Frauen stand auf und wollte Ashok noch etwas sagen, doch er zuckte nur die Schultern. Danach half sie ihrer Kollegin auf die unsicheren Beine. Zum Abschied drückten sie Yasmin noch kurz die Schulter, dann gingen sie.
Sobald die Tür sich wieder geschlossen hatte, drehte Ashok sich um und zischte einen Fluch. Yasmin hatte beim Spielen oder in den Gassen Dharavis schon Schlimmeres gehört, und aus dem Mund dieses gepflegten jungen Manns klang es beinahe lustig. Doch sie hörte auch, wie ihm fast die Stimme versagte, als kämpfte er gegen Tränen an, und da verging ihr das Lachen. Sie befreite ihr Gesicht aus dem Hidschab, um in der schwülen Luft etwas Kühlung vom Ventilator zu bekommen. Dann ging sie zu Ashok, nahm eine Tasse entgegen und nippte hastig. Der warme Tee war eine Wohltat für ihren trockenen, kratzenden Hals. Ohne den Hidschab vor dem Gesicht konnte sie den Gestank nach alter Betelnuss riechen und sah, dass die Leisten der verschrammten Wände vor alter Spucke ganz rosa waren.
»Ashok«, sagte sie mit derselben Stimme, mit der sie in der Armee ihre Kämpfer zur Ordnung gerufen hatte. »Ashok, sieh mich an. Was war der Sinn dieses … dieses Treffens? Weshalb war ich hier?«
Er setzte sich in Mr. Phadkars Sessel und nippte seinen Chai.
»Ich fürchte, ich habe es ganz schön vermasselt«, bemerkte er.
»Ashok«, sagte sie mit strenger Stimme. »Klagen kannst du später noch. Jetzt rede. Wozu hast du mich gerade durch halb Mumbai geschleppt?«
»Ich habe dieses Treffen vorbereitet, seit mich Schwester Nor vor ein paar Monaten darum gebeten hat. Ich hatte geglaubt, die Gewerkschaften würden die Webblys mit offenen Armen empfangen, würden das Potenzial einer globalen Bewegung erkennen, die sich überall im Handumdrehen formieren kann. Nor war von der Idee ganz begeistert, und von da an habe ich die Gewerkschaftsfunktionäre bearbeitet und ihnen klarzumachen versucht, was für Möglichkeiten sich uns derzeit bieten. Würden sie uns unterstützen – und wir sie –, könnten wir die Welt verändern. Einfach so!« Er schnippte mit den Fingern.
»Aber dann ist der Streik ausgebrochen, und Schwester Nor sagte, sie brauche hier und jetzt Hilfe, weil unsere Gefährten sonst für immer ins Gefängnis kämen, oder Schlimmeres. Sie dachte, du könntest vielleicht helfen, und wir wollten uns vorher eigentlich noch absprechen, aber dann, als ich schon auf dem Weg zu dir war …«
Er brach ab, trank einen Schluck Tee und starrte aus den schmierigen Fenstern auf die gepflegten Rasenflächen des Filmstudios. »Ich habe einen Anruf vom Mächtigen Krang bekommen. Man hat sie zusammengeschlagen. Sehr schlimm sogar. Sie liegen im Krankenhaus, und Schwester Nor ist noch bewusstlos. Krang meinte, es sei einer der chinesischen Fabrikbesitzer gewesen. Sie hatten schon seit Längerem den Ton verschärft und ihnen gedroht. Und sie haben viele Kontakte in Singapur.«
Yasmin leerte ihren Chai, fuhr sich mit der Hand durchs staubige Haar und wischte sich eine kitzelnde Schweißperle weg. »Okay. Und was hast du dir von den Leuten versprochen?«
»Geld«, sagte er. »Unterstützung. Sie finden immer ein offenes Ohr bei der Presse. Würden ihre Mitglieder Gerechtigkeit für die Arbeiter in Shenzhen fordern und überall in Indien vor den chinesischen Konsulaten demonstrieren …« Er winkte ab. »Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht. Es hätte eigentlich erst in ein paar Wochen zu diesem Treffen kommen sollen, nach einer Menge Überzeugungsarbeit. Jedenfalls nicht mitten in einem Streik. Im Vorfeld wollte ich mir erst Klarheit über deren Ziele verschaffen und meinerseits Klarheit haben, was wir ihnen anzubieten hätten.« Er starrte unglücklich zu Boden.
Yasmin dachte an Sushant und dessen Angst, aus Malas Armee auszuscheiden. Solange Soldaten wie er für die andere Seite kämpften, würden die Webblys die Streikenden im Spiel nicht beschützen können. Also … würde sie Malas Armee aufhalten müssen. Alle Armeen. Die Soldaten, die für die Bosse kämpften, kämpften auf der falschen Seite. Das mussten sie erkennen.
»Was, wenn wir uns selbst helfen würden?«, fragte sie. »Was, wenn wir so groß würden, dass die Gewerkschaften sich uns anschließen müssten?«
»Ganz genau. Wenn, wenn, wenn. Was-wäre-wenn zu spielen ist leicht. Aber ich sehe nicht, wie wir das schaffen könnten.«
»Ich glaube, ich kann weitere Kämpfer für die Spiele rekrutieren. Dann könnten wir jeden Streik schützen.«
»Das ist schön für die Spiele, aber den Spielern hilft es derzeit nicht. Schwester Nor liegt noch immer im Krankenhaus. Die Webblys in Shenzhen sitzen immer noch im Gefängnis.«
»Ich kann eben auch nicht alles«, sagte Yasmin. »Was kannst du denn? Was machen Wirtschaftswissenschaftler denn so?«
Er senkte reumütig den Blick. »Wir gehen auf die Uni und lernen eine Menge Mathe. Auf dieser Grundlage versuchen wir vorherzusagen, was eine große Anzahl von Menschen wahrscheinlich mit ihrem Geld und ihrer Arbeit tun wird. Dann sprechen wir nach Möglichkeit Empfehlungen dafür aus, wie man das Ergebnis verändern könnte.«
»Und damit verbringt ihr euer Leben?«
»Tja, ich schätze, das klingt alles verdammt sinnlos, nicht? Vielleicht bin ich deshalb bereit, die Spiele so ernst zu nehmen – sie sind auch nicht unwirklicher als alles, womit ich sonst meine Zeit verbringe. Ich bin Wirtschaftswissenschaftler geworden, weil ohne Wirtschaftskenntnisse gar nichts einen Sinn ergibt. Weshalb waren meine Eltern arm? Und unsere Verwandten in Amerika so reich? Weshalb schickt Amerika seinen Müll nach Indien? Und Indien sein Holz nach Amerika? Weshalb schert sich irgendwer um Gold?
Das war das wirklich Faszinierende für mich. Gold ist eigentlich völlig nutzlos, weißt du? Es ist schwer und ziemlich ungeeignet dafür, irgendwas daraus herzustellen – viel zu weich. Aus Edelstahl könnte man viel besseren Schmuck machen.« Er klopfte mit dem verzierten Ring an seiner rechten Hand auf die Sessellehne. »Es ist wirklich nicht sonderlich einleuchtend. Wir graben das Gold aus irgendeinem Loch aus und stecken es in ein anderes, einen Tresor, und nennen es dann Geld. Es kommt einem wie ein Witz vor.
Trotzdem wissen alle, dass Gold wertvoll ist. Wie haben sie das bitte schön vereinbart? Da wird es dann richtig interessant, denn Gold und Geld sind wirklich eng miteinander verflochten. Ursprünglich war Geld bloß ein leichterer Weg, Gold zu transportieren. Die Regierung füllte irgend so ein Loch mit Gold, druckte ein paar Scheine und erklärte: ›Dieser Schein ist soundsoviel Gramm Gold wert.‹ Statt also schweres Gold zum Einkaufen mit uns herumzuschleppen, konnten wir von nun an leichtes Papiergeld benutzen.
Ist schon komisch, nicht? Was nützt einem Gold? Nun, es begrenzt die mögliche Menge an Geld, die eine Regierung herstellen kann. Wenn sie mehr wollen, müssen sie sich von irgendwo auch mehr Gold besorgen.«
»Wieso ist es so wichtig, wie viel Geld ein Land druckt?«
»Na ja, stell dir mal vor, die Regierung beschließt, für jeden Bürger Indiens zehn Millionen Rupien zu drucken. Dann wären wir doch alle reich, oder nicht?«
Yasmin dachte kurz nach. »Nein, natürlich nicht. Alles würde teurer werden, oder?«
»Sehr gut«, lobte er sie im Ton eines Oberlehrers. »Das nennt man Inflation: Mehr Geld im Umlauf macht alles teurer. Wenn sich die Inflation gleichmäßig vollzieht, ist es eigentlich auch nicht so schlimm. Angenommen, dein Lohn verdoppelt sich über Nacht, alle Preise aber auch – dann wärst du auf der sicheren Seite, denn du könntest immer noch so viel kaufen wie vorher, obwohl es jetzt doppelt so viel ›kostet‹. Es gibt bloß eine Schwierigkeit dabei. Weißt du auch, welche?«
Sie überlegte. »Keine Ahnung.« Sie grübelte weiter, und Ashok nickte ihr aufmunternd zu, als ob es etwas ganz Offensichtliches wäre. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich gebe dir einen Tipp«, sagte er. »Die Ersparnisse.«
»Die Ersparnisse«, überlegte sie. »Die würden sich nicht mit den Löhnen verdoppeln, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe aber nicht, warum das so schlimm sein sollte. Wir haben uns zwar auch was zurückgelegt, das sind aber nur ein paar Tausend Rupien. Bei doppelten Löhnen hätten wir das doch schnell wieder drin.«
Er schaute überrascht drein, dann lachte er. »Entschuldigung«, sagte er. »Du hast ja recht. Nur gibt es Leute, Firmen und Regierungen, die sehr viele Ersparnisse haben. Reiche Leute verfügen vielleicht über viele Millionen. Und diese Sparvermögen wären über Nacht nur noch die Hälfte wert. Vielleicht hat ein Krankenhaus Geld gespart, um einen neuen Flügel zu bauen. Die Regierung oder eine Gewerkschaft hat Rücklagen, um die Renten davon zu bezahlen. Was würdest du machen, wenn du dein ganzes Leben lang gearbeitet hast, um mal eine Rente von zweitausend Rupien im Monat zu kriegen, und ein Jahr, bevor es so weit ist, halbiert sie sich auf einmal?«
Yasmin kannte niemanden, der eine Rente bekam, aber sie hatte schon davon gehört. »Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Dann müsste ich wohl arbeiten gehen.«
»Du machst mir das nicht gerade leicht«, bemerkte Ashok. »Lass es mich mal so ausdrücken: Es gibt einen Haufen reicher, mächtiger Leute, die sehr, sehr wütend wären, wenn die Inflation sie auf einmal um ihre Ersparnisse bringen würde. Für Regierungen sind Inflationen aber trotzdem sehr verführerisch. Stell dir zum Beispiel vor, dass du einen teuren Krieg führst. Da musst du Panzer kaufen, Soldaten bezahlen, Flugzeuge in den Himmel schicken und dafür sorgen, dass der Nachschub an Raketen nicht abreißt. Das ist richtig teuer. Du musst es irgendwie bezahlen. Du könntest dir das Geld natürlich leihen und dann …«
»Regierungen leihen sich Geld?«
»Aber sicher! Sie sind schreckliche Bettler. Sie leihen sich Geld von anderen Regierungen, von Firmen und sogar von ihren eigenen Bürgern. Wenn es aber nicht danach aussieht, dass du deinen Krieg gewinnen kannst – oder nur um den Preis, dass du danach selbst am Boden liegst –, wird dir kaum jemand freiwillig Geld dafür leihen. Regierungen sind aber nicht angewiesen auf freiwillige Zahlungen, oder?«
Yasmin ahnte, worauf er hinauswollte. »Sie können einfach Steuern erheben.«
»Ganz genau. Wenn du nicht ein so sichtlich vernünftiges Mädchen wärst, würde ich dir zu einer Karriere als Wirtschaftswissenschaftlerin raten. Okay, Regierungen können also Steuern erheben. Leute, die zu viel Steuern zahlen müssen, werden bei den nächsten Wahlen aber wahrscheinlich nicht mehr für dich stimmen. Und wenn du ein Diktator bist: Nichts bringt die Revolutionäre schneller auf die Straße als maßlose Steuern. Von daher sind Steuern nur bedingt nützlich, wenn du einen Krieg finanzieren willst.«
»Und deshalb mögen Regierungen Inflation?«
»Wieder richtig! Zunächst mal drucken sie bergeweise Geld für Raketen, Panzer und so weiter. Gleichzeitig leihen sie sich noch so viel zusammen wie möglich. Später, wenn die Preise und die Löhne immer mehr steigen – sagen wir mal, auf das Hundertfache –, ist es auf einmal ganz leicht, alle Schulden zurückzuzahlen. Denn vorher hat man dafür vielleicht den Lohn von tausend Leuten gebraucht, jetzt reicht auf einmal ein einziger Lohn dafür. Natürlich steckt derjenige, der dir das Geld geliehen hat, jetzt ganz schön in der Klemme; aber bis dahin hast du deinen Krieg gewonnen und bist wiedergewählt, und das alles, ohne dass du dein Land mit Schulden in die Knie zwingen musstest. Bravo!«
Yasmin ließ sich das durch den Kopf gehen. Sie fand es erstaunlich einleuchtend: Sie musste dazu nur an die Preisentwicklung bestimmter Güter in den Spielen denken. Manche Spieler würden von einer Inflation wahrscheinlich profitieren, andere nicht. »Regierungen können eine Inflation aber auch für andere Dinge als zum Kriegführen benutzen, oder?« Sie dachte an die Politiker, die sich im Wahlkampf gelegentlich nach Dharavi verirrten, und deren Versprechungen. »Man könnte mit einer Inflation doch auch Schulen und Krankenhäuser und so was bezahlen. Auf die Art bekommt man sicher eine Menge Stimmen.«
»Aber sicher, das ist die andere Seite der Gleichung: Regierungen versuchen immer, wiedergewählt zu werden – mit Waffen, Butter oder beidem. Natürlich kriegt man eine Menge Stimmen, wenn man viele Krankenhäuser oder Schulen baut. Aber Inflation ist wie fettiges Essen: Irgendwann zahlt man immer den Preis dafür. Sobald die Hyperinflation einsetzt, kann niemand mehr die Lehrer, Krankenschwestern und Ärzte bezahlen. Von daher wird die nächste Wahl dann wahrscheinlich auch diejenige sein, bei der die amtierende Regierung abgewählt wird.
Die Versuchung ist trotzdem groß, sehr groß sogar. Und hier kommt nun das Gold ins Spiel. Hast du schon eine Ahnung, wie?«
Yasmin überlegte. Gold, Inflation; Inflation, Gold. Beides tanzte in ihrem Kopf herum. Dann hatte sie es: »Man kann nicht mehr Geld drucken, wenn man nicht auch mehr Gold besitzt, richtig?«
Er strahlte sie an. »Hundert Punkte!«, rief er. »Genau darum geht es. Deshalb mögen reiche Leute Gold so sehr. Es diszipliniert einen, wie ein Polizist in der Schatzkammer, und hält Regierungen davon ab, ihre Dummheiten mit frisch gedrucktem Geld zu finanzieren. Wenn du viele Ersparnisse hast, dann willst du, dass sich die Druckfreudigkeit deiner Regierung in Grenzen hält, denn jede Rupie, die neu gedruckt wird, schmälert deinen eigenen Reichtum. Aber keine Regierung hat genug Gold, um alles Geld abzudecken, das sie gedruckt hat. Manche Regierungen füllen ihre Schatzkammern deshalb mit anderen Währungen, zum Beispiel mit Dollar oder Euro.«
»Dollar und Euro basieren also auf Gold?«
»Nicht im Geringsten! Nein, sie werden bloß von anderen Währungen gestützt. Dazu etwas Metall, viele Träume und Prahlerei. Unterm Strich basiert es alles auf gar nichts!«
»Genau wie das Gold im Spiel!«, rief sie.
»Wieder hundert Punkte! Selbst Gold wird nicht von Gold gestützt! Wenn du dir im wirklichen Leben Gold kaufst, bekommst du meistens nur ein Zertifikat, auf dem steht, dass dir jetzt irgendwo auf der Welt in irgendeinem Tresor ein Barren Gold gehört. Der Postbote wirft ihn dir aber nicht durch den Briefschlitz. Und das ist das schmutzige Geheimnis: Es ist mehr Gold über Zertifikate erhältlich, als jemals aus dem Boden geholt wurde.«
»Wie ist das denn möglich?«
»Was glaubst du?«
»Irgendwer druckt Zertifikate, ohne überhaupt Gold zu besitzen?«
»Gute Idee. Ich glaube ja, dass Folgendes passiert: Nehmen wir mal an, du hast einen Tresor voller Gold in Hongkong. Sagen wir mal, tausend Barren. Du verkaufst die tausend Barren über Zertifikate und schließt die Tür ab. Eine Weile später geht irgendein Sicherheitsmann oder jemand von der Bank in den Tresor und spaziert mit zehn Barren Gold wieder raus. Diese zehn Barren werden dann wirklich verkauft und landen in einem anderen Tresor irgendwo in der Schweiz. Die Schweizer wiederum drucken Zertifikate für ihre Bestände und verkaufen auch die. Eines Tages dann bedient sich der Manager der Schweizer Bank bei seinem Tresor, und wieder werden zehn Barren verkauft. Ehe du dichs versiehst, sind deine zehn Barren an hundert verschiedene Leute verkauft.«
»Eine Inflation!«
Er klatschte in die Hände. »Glückwunsch! Ganz genau. Unter Physikern gibt es eine Art Sprichwort: ›Schildkröten bis ganz nach unten.‹ Kennst du die Geschichte? Ein britischer Physiker, Bertrand Russell, hält eine Vorlesung über das Universum, erklärt, dass die Erde sich um die Sonne dreht und so fort. Eine alte Frau im Publikum sagt: ›Alles Blödsinn! Die Erde ist flach und steht auf dem Rücken einer Schildkröte!‹ Und Russell fragt: ›Wenn dem so ist, worauf steht dann die Schildkröte?‹ Die alte Frau sagt: ›Auf einer anderen Schildkröte!‹ Russell denkt, dass er sie jetzt in der Falle hat, und fragt: ›Und worauf steht diese Schildkröte?‹ Und sie antwortet: ›Du kannst mich nicht reinlegen, Söhnchen – es sind Schildkröten bis ganz nach unten!‹ Mit anderen Worten, unter der Illusion befindet sich eine weitere Illusion, und unter dieser wieder eine. Eine harte Währung wird von Gold gestützt, das es aber gar nicht gibt. Eine weiche Währung wird nicht von Gold, sondern anderen Währungen gestützt, die es, so gesehen, aber auch nicht gibt. Unterm Strich basiert das alles also nur auf … Weißt du die Antwort?«
»Glauben«, erwiderte Yasmin. »Vielleicht auch Angst? Angst, dass man sich gar nichts mehr kaufen kann, wenn man den Glauben ans Geld verliert. Es ist wirklich ganz genau wie mit Spielgold! Ich kann mich noch erinnern, wie Zombie Mecha anfing, Geld für Buffs zu verlangen, die vorher kostenlos gewesen waren. Viele Spieler sind über Nacht gegangen. Die anderen haben noch versucht, ihre Waffen und ihr Gold loszuwerden, doch sie haben kaum noch was dafür gekriegt. Es war, als hätten alle aufgehört, an Zombie Mecha zu glauben, und damit existierte es auch nicht mehr! Dann senkte das Spiel die Kosten wieder, die Spieler kamen zurück, und die Preise zogen wieder an.«
»Wir Wirtschaftswissenschaftler nennen das Vertrauen«, sagte Ashok. »Wenn man Vertrauen in eine Wirtschaft hat, kann man auch ihre Währung verwenden. Wenn nicht, will man möglichst viel Abstand zu ihr halten. Dabei sind es bis ganz nach unten nur Schildkröten. Es gibt so gut wie nichts, das wirklich was wert wäre, außer Vertrauen. Geh zu irgendeiner Gießerei in Mumbai, und du siehst Männer, die ihr Leben riskieren. Sie schuften barfuß in den Feuern der Hölle, ohne Helme und Handschuhe, und gießen riesige runde Platten, die später mal Gullydeckel in Amerika werden. Wieso machen sie das? Weil man ihnen Rupien dafür gibt – die nicht das Geringste wert sind, wenn man kein Vertrauen in sie hat. Und wieso gibt man ihnen Rupien? Weil irgendein Boss denkt, dass er Dollar für seine Gullydeckel bekommt. Und was sind Dollar wert?«
»Gar nichts?«
»Gar nichts! Es sei denn, man glaubt an sie. Und was die Gullydeckel angeht: Wozu sind die denn gut? Für die Kanalisation von Mumbai haben sie das falsche Format. Man könnte sie einschmelzen und etwas anderes aus ihnen machen, doch abgesehen davon sind sie bloß verdammt schwere Deckel, die keinem ersichtlichen Zweck dienen. Wieso das alles?«
»Diese Frage ist leicht zu beantworten. Weißt du’s wirklich nicht?«
Er schaute überrascht drein. »Leicht? Dann erklär es mir bitte. Ich finde es gar nicht leicht, und ich beschäftige mich schon mein ganzes Leben lang damit.«
»Weil alles ein Spiel ist!«
Er wirkte gekränkt. »Für die Reichen und Mächtigen vielleicht. Aber für die Armen, die Arbeiter und die Sparer, die um ihr Geld gebracht werden, ist es ganz sicher kein Spaß.«
»Spiele müssen keinen Spaß machen, sie müssen bloß, ich weiß auch nicht … interessant sein? Nein, fesselnd! Es passiert mir ganz oft, dass ich spiele und spiele und nicht mehr damit aufhören kann, obwohl es immer dasselbe und eigentlich ziemlich langweilig ist. ›Nur noch ein Raid‹, sage ich mir. ›Nur noch eine kleine Quest.‹ Und immer wieder: ›Noch eine, noch eine, noch eine.‹ Es geht nicht darum, wie viel Spaß ein Spiel macht, sondern wie leicht es einem fällt, damit anzufangen, und wie schwer, wieder damit aufzuhören.«
»Okay, das klingt plausibel. Was genau macht das Aufhören denn so schwer?«
»Ach, alles Mögliche. Wenn man in Zombie Mecha zum Beispiel für längere Zeit aufhört zu spielen, ohne zur Basis zurückzukehren, wird man als erschöpft, fatigued, eingestuft. Wenn man das Spiel dann fortsetzt, schneidet man schlechter ab und bekommt weniger Punkte für die gleichen Gegner und Aufträge. Also denkt man sich: ›Gut, das war’s für heute. Zeit, nach Hause zu gehen.‹ Die Stützpunkte sind aber immer ziemlich weit weg, und auf dem Rückweg bekommt man dann noch eine Quest, eine kleine, mit einer guten Belohnung. Man erledigt die also noch schnell, dann macht man sich wieder auf den Heimweg. Man kriegt noch eine Quest, diesmal eine schwierigere, und man spielt auch die. Schließlich kommt man an der Basis an. Aber jetzt hat man bereits so viel gespielt, dass man fast schon eine Stufe aufgestiegen ist. Und es wäre doch schade aufzuhören, wenn einem nur noch ein paar Gegner fehlen. Auf der nächsten Stufe könnte man sich ein paar echt gute Waffen und neue Skills zulegen. Also geht man schnell noch ein paar Zombies erledigen. Man steigt auf, erhält seine Waffen und auch gleich ein paar neue Aufträge dazu, von denen ein paar echt interessant klingen. Mittlerweile sind auch ein paar Freunde angekommen, also könnte man die Mission ja zusammen erledigen. Das geht schneller und macht auch mehr Spaß. Und bis man dann endlich fertig ist, hat man drei, vier Stunden länger gespielt, als man eigentlich vorhatte.«
»Das passiert häufig?«
»Klar. Mir mehrmals die Woche. Und ich spiele nicht mal wegen der Punkte – ich spiele, um der Gewerkschaft zu helfen! Aber je mehr man spielt, desto reizvoller wird es weiterzuspielen. Dieses ganze Spiel mit Gold, Rupien, Dollar und Gullys: Wir spielen es die ganze Zeit. Klar funktioniert es. Jeder spielt mit, weil jeder es schon sein ganzes Leben lang tut.«
»Jetzt wird mir klar, wieso Schwester Nor wollte, dass wir uns mal unterhalten«, sagte er. »Du bist ein ganz schön schlaues Mädchen.«
Sie senkte den Blick. »Was machen wir mit Schwester Nor?«
»Sie glaubt, wir brauchen Geld und Hilfe für die Streikenden. Ich glaube allerdings, dass sie selbst Geld und Hilfe braucht. Sie sagt, es geht ihr gut, aber sie liegt im Krankenhaus, und es klang so, als wäre sie schwer verletzt.«
»Und wie können wir ihr von hier aus helfen? Sie ist so weit weg.« Schon das andere Ende von Mumbai ist weit weg für mich, dachte Yasmin. China könnte genauso gut auf dem Mond oder im Pilzkönigreich liegen. »Und woher wollen wir wissen, dass sie in Sicherheit ist?«
»Zwei gute Fragen«, erwiderte er. »Es ist alles sehr deprimierend. Online sind wir uns so nahe, aber wenn wir in der physischen Welt was tun müssen, sind alle so weit weg.« Er begann auf und ab zu tigern. »Genau damit beschäftigt sich Schwester Nor. Sie hofft, dass die virtuelle und die physische Welt näher zusammenrücken, damit Arbeit, Ideen und Geld von der einen in die andere fließen können.«
»Vielleicht sollten wir uns dann nur auf die Spiele konzentrieren? Mit denen kennen wir uns aus.«
»Unsere Leute haben aber in der wirklichen Welt Probleme.« Ashok ballte die Fäuste.
Da musste Yasmin auf einmal kichern, und schließlich lachte sie laut heraus. Plötzlich war alles sonnenklar!
»Oh, Ashok«, sagte sie, »du hast ja so recht!«
Und sie wusste genau, was sie zu tun hatten.
Lu wusste nicht, wohin er gehen sollte. Die Schlafsäle Boss Wings schieden selbstverständlich aus. Und obwohl er ein Dutzend Internetcafés in Shenzhen kannte, wo er sich hätte hinsetzen und spielen können, stand ihm momentan nicht der Sinn danach. Nicht, solange alle anderen im Gefängnis saßen.
Er musste sich aber eine Weile ausruhen, denn er hatte Schläge auf Kopf und Schultern bekommen, und ihm war schwindlig. An einer Bushaltestelle hatte er sich bereits in den Gully übergeben. Eine alte Frau, die gerade mit einem riesigen Schubkarren voll alter Elektrogeräte an ihm vorbeizog, hatte ihn dabei beobachtet und missbilligend mit der Zunge geschnalzt.
Er hatte daran gedacht, Matthew und den anderen eine SMS zu schreiben, um herauszufinden, ob die Polizei sie in Gewahrsam genommen hatte, befürchtete aber, dass die Polizei ihn über das Telefonnetz zurückverfolgen konnte.
Dabei hatte sich alles so gut angefühlt. Unter wütenden Rufen, den Kriegsrufen aus ihren Spielen, waren sie von ihren Rechnern aufgestanden. Boss Wing und seine Schläger waren völlig perplex gewesen, weil sie selbst die Spiele ja gar nicht kannten. Auf ihren Gesichtern hatte sich erst Verblüffung, danach Wut und schließlich Angst abgezeichnet, als die Jungen gemeinsam aus dem Internetcafé hinausmarschiert waren und die Eingänge blockiert hatten, damit niemand mehr hineinkam.
Bewundert von Mädchen, alten Frauen und jungen Männern, die ihnen zuschauten, bildeten sie gleich darauf eine Phalanx, Schulter an Schulter, und trotzten mit ihren stolzen Rufen Boss Wings feigen Schlägern. Wenige Minuten zuvor hatten die noch sehr mutig getan – Typen, die jederzeit bereit waren, einem ins Gesicht zu schlagen oder den Lohn zu kürzen, wenn man bei der Arbeit zu viel redete.
Seit sie versucht hatten, auf eigenen Füßen zu stehen, war alles nur noch schlimmer geworden. Boss Wing führte jetzt ein riesiges Unternehmen. Zwar schützten seine Aufpasser sie im Spiel vor reichen Spielern, die Goldfarmer zum Spaß jagten, aber Boss Wing hatte sich inzwischen als geizig und gemein entpuppt. Man durfte sich schon glücklich schätzen, wenn man nach all den Abzügen für »Regelverstöße« noch die Hälfte seines Lohns bekam.
Ihre Handys klingelten und brummten vor Bildern aus anderen Fabriken, wo die Arbeiter ebenfalls in Streik getreten waren. In Mushroom Kingdom fand ein regelrechter Krieg statt, weil die Webblys verhindern wollten, dass irgendwer in ihrem Gebiet farmte. Dann tauchte die Polizei auf, doch Matthew, Ping und seine anderen Freunde wichen nicht zurück. Sie waren Arbeiter, sie waren Krieger, sie waren eine Armee – und sie kämpften für eine gerechte Sache. Sie würden sich nicht einschüchtern lassen.
Bald darauf setzte die Polizei Tränengas ein und schlug mit Knüppeln auf die Streikenden ein. Ringsum wurde geschrien und gebrüllt. Schließlich flüchtete Lu vor dem beißenden Gas und dem Chaos der Schlacht – den unzähligen Schlachten im Spiel so ähnlich, und doch so verschieden. Dann musste er sich übergeben, und jetzt …
… hatte er keine Ahnung, an wen er sich wenden sollte.
Sein Telefon klingelte. Als er sah, dass die Nummer unterdrückt wurde, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Unterdrückte die Geheimpolizei ihre Nummer, wenn sie einen anrief? Doch wenn die Geheimpolizei von ihm wusste und seine Handynummer besaß, dann würde sie auch mühelos seinen Standort bestimmen und ihn festnehmen können.
Es war nicht die Polizei. Beklommen nahm er den Anruf entgegen.
»Wei?«, fragte er vorsichtig.
»Lu? Bist du das?« Die Stimme hörte sich leicht verzerrt an und hatte den hallenden Klang eines billigen VOIP-Dienstes, so als ob die Datenpakete dritter Klasse durchs Netz gereist wären. Auch der Akzent war schwer zu verstehen, unbeholfen und etwas daneben. Doch er kannte den Klang – und er kannte die Stimme.
»Wei-Dong?«
»Ja!«
»Wei-Dong aus Amerika?« Seit sie zu Boss Wing zurückgekehrt waren und Ping den Gweilo aus der Gilde hatte werfen müssen, hatte er nichts mehr von ihm gehört. Boss Wing erlaubte ihnen nicht mehr, mit Außenseitern zusammenzuspielen oder sich auch nur im Spiel mit ihnen zu unterhalten. Er hatte Spyware auf seinen PCs installiert, die ihn darüber informierte, wenn man sich nicht an die Regeln hielt, und man verlor einen Tageslohn für den ersten Verstoß und einen Wochenlohn für den zweiten.
»Lu, ich bin’s! Du, habe ich da gerade gesehen, wie die Polizei dich und Ping zusammenschlägt?«
»Keine Ahnung.« Wegen der Kopfwunde war Lu immer noch so desorientiert, dass er sich fragte, ob er diese Unterhaltung wirklich führte. Es war alles sehr seltsam.
»Ich … Ich habe dich gerade auf einem Video aus Shenzhen gesehen. Glaube ich zumindest. Warst du das, den sie dort zusammengeschlagen haben?«
»Man hat uns tatsächlich gerade zusammengeschlagen. Mir tut alles weh.«
»Hat es dich schlimm erwischt? Ich habe Ping nicht erreicht, also habe ich es bei dir probiert.« Wei-Dong klang sehr aufgeregt und besorgt. »Was ist passiert?«
Lu versuchte immer noch in den Kopf zu kriegen, dass der Gweilo ihn gerade aus Amerika anrief. »Du hast mich bei dir daheim im Internet gesehen?«
»Jeder Spieler auf der Welt hat dich gesehen, Lu! Du hättest es nicht besser timen können! Nach dem Abendessen ist am meisten los im Netz, und die Nachricht hat sich schneller verbreitet als alles, was ich je gesehen habe. Alle haben über euch gechattet und Links zu Videos und Fotos rumgeschickt. Es war sogar in den offiziellen Nachrichten! Mein Nachbar hat bei mir an die Wand geschlagen und mich gefragt, ob ich irgendwas darüber weiß. Unglaublich!«
»Du hast gesehen, wie ich zusammengeschlagen werde?«
»Alter, jeder im Netz hat gesehen, wie du zusammengeschlagen wirst.«
Lu wusste nicht, was er sagen sollte. »Sah ich gut aus?«
Wei-Dong kicherte. »Du hast toll ausgesehen.«
Ein Damm brach. Lu lachte und lachte, als die ganze Spannung endlich nachließ. Schließlich hörte er auf, weil er Angst hatte, dass er sich sonst wieder würde übergeben müssen. Er war jetzt am Bahnhof, mitten im Gedränge. Die Leute um ihn eilten ihren Zielen entgegen, doch er stand benommen da und rührte sich nicht, eine Insel in einem reißenden Fluss. Er ging ein paar Schritte zur Seite und hockte sich auf die Stufen am Eingang eines Schönheitssalons.
»Wei-Dong?«
»Ja?«
»Warum rufst du mich an?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte betretenes Schweigen, nur von vereinzelten Interferenzen unterbrochen. »Ich wollte euch helfen«, erwiderte Wei-Dong schließlich. »Euch und den Webblys.«
»Du hast von den Webblys gehört?« Manchmal hatte Lu fast angenommen, Matthew habe die Webblys nur erfunden, eine Fantasiearmee aus tausend imaginären Freunden, die bereit waren, für einen zu kämpfen.
»Gehört? Lu, das ist die geilste Gilde auf der ganzen Welt! Niemand kann die Webblys schlagen! Coca-Cola-Games schickt uns dreimal am Tag Memos dazu!«
»Wieso schickt Coca-Cola-Games dir Memos?«
»Oh.« Erneute Stille. »Hab ich dir das nicht erzählt? Ich arbeite jetzt für sie. Als Mechanischer Türke.«
»Oh«, sagte Lu jetzt seinerseits. Er hatte von den MTs gehört, sich aber nie gefragt, was für Leute da im Sekundentakt Dialoge für NSCs improvisierten oder sich überlegten, was geschah, wenn man mit einer Donnerbüchse auf einen Bürostuhl schoss. »Muss interessant sein.«
Wei-Dong grunzte schwach. »Es ist das Letzte«, sagte er. »Ich habe vier Sessions gleichzeitig offen und verdiene kaum genug, die Miete zu bezahlen. Und sie verdienen jede Menge an uns! Letzten Monat haben sie ihre Quartalszahlen veröffentlicht. Die Spiele mit MTs fahren dreißig Prozent mehr Profit ein als die ohne. Deshalb stellen sie jetzt immer mehr Leute dafür ein – das Board hier ist voller Angebote. Unsere Löhne steigen aber nicht. Also habe ich über die Webblys nachgedacht, weißt du …« Er stockte. »Ich dachte, vielleicht könntet ihr uns ja helfen, wenn wir euch helfen? Wir spielen schließlich alle für Geld. Warum sollten wir also nicht auf derselben Seite stehen?«
»Klingt vernünftig.« Immer noch versuchte Lu zu verarbeiten, dass die Webblys unter amerikanischen Teenagern offenbar bekannt wie bunte Hunde waren. »Moment mal«, sagte er und spulte im Geiste zurück, was Wei-Dong, abgesehen von den vielen Grammatikfehlern, gerade erzählt hatte. »Du zahlst Miete?«
»Ja genau. Ich stehe jetzt auf eigenen Füßen. Ist wirklich toll! Hab zwar nur ein mieses Zimmer in einem, keine Ahnung, wie ich das nennen soll, Hotel oder so. Eine Unterkunft für Leute ohne Geld. Hab aber WLAN und vier Rechner, und es gibt ’ne Menge Plätze, wo ich hin kann, verglichen mit daheim zumindest.« Er begann von seinen Lieblingsrestaurants zu plappern, von den Clubs, zu denen er jetzt Zugang hatte, erzählte lauter unwichtige Kleinigkeiten. Was Lu anging, hätte Los Angeles genauso gut im Pilzkönigreich liegen können. Er ließ es über sich ergehen, während er erneut überlegte, wo er sich ausruhen konnte. Einen flüchtigen Moment sehnte er sich nach seiner Mutter, die ihm immer traditionelle chinesische Medizin gegeben hatte, wenn er krank war. Es hatte nicht immer geholfen, manchmal aber schon, und die liebevolle Pflege hatte ihr Übriges getan.
Auf einmal hatte er schreckliches Heimweh, so schlimm, dass ihm ganz schwindlig wurde. »Wei-Dong«, unterbrach er die virtuelle Führung durch Los Angeles. »Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin verletzt, ich sitze auf der Straße, und ich kann niemanden anrufen, weil die Polizei den Anruf vielleicht zurückverfolgt. Was soll ich tun?«
»Oh … Hm. Ich weiß es auch nicht. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du könntest mir sagen, was ich tun soll. Ich will doch mitmachen!«
»Ich glaube, ich will einfach nur noch raus.« Lus Heimweh wurde allmählich zu Wut. Was bildete dieser Junge sich eigentlich ein, ihn von der anderen Seite der Welt anzurufen und zu fordern, dass man ihn »mitmachen« ließ? Hatte er nicht schon genug Probleme? »Was kannst du da drüben schon für mich tun? Was nützt mir dieser ganze – Schwachsinn? Was bringt es mir, wenn alle, die ich kenne, ins Gefängnis wandern? Oder wenn man mir den Schädel einschlägt? Wird mein Leben dadurch vielleicht besser?«
»Ich weiß es auch nicht«, wiederholte Wei-Dong kleinlaut. Lu gab sich Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Der Gweilo wollte ihm nur helfen. Er konnte nichts dafür, dass er nicht wusste, wie. Lu wusste es ja selbst nicht.
»Ich hab auch keine Ahnung«, sagte Lu. »Warum überlegst du dir nicht was und rufst mich dann zurück? Ich muss mich irgendwo hinlegen. Oder vielleicht zu einem Arzt. Okay?«
»Klar«, sagte der Gweilo. »Na klar. Ich ruf dich bald zurück, keine Sorge.«
Aus jedem Zug, der aus Hongkong nach Shenzhen kam, ergoss sich ein Strom von Menschen: Männer in elegant geschnittenen Anzügen, Kinder aus wohlhabenden Familien, Ausländer und Zeitarbeiter mit ihren Rucksäcken auf dem Weg in die Heimat. Die Menschenflut umspülte zuerst den Taxistand und das Einkaufszentrum und erreichte danach die Straße, auf der sich Lu befand. Während Lu sich durch die Menge kämpfte, lauschte er den zahllosen Gesprächsfetzen über Geschäfte, Produktion – und Goldfarmer.
Der Streik, der Polizeieinsatz und die Farmer waren in aller Munde. Natürlich hatten die meisten Chinesen schon von Goldfarmern gehört, doch normalerweise hörte man nie Geschäftsleute über so was reden. Keine schicken, reich gekleideten Herrschaften, die die ganze Zeit zwischen Hongkong und Shenzhen pendelten und ihren Untergebenen per Headset Befehle gaben.
Was hatte der Gweilo gesagt? Jeder im Netz hat gesehen, wie du zusammengeschlagen wirst! Schauten diese Leute ihn etwa an? Fast kam es ihm so vor. Natürlich hatte er Blut im Gesicht und gerötete Augen – klar, dass sie ihn anstarrten. Vielleicht aber …
»Du bist einer von denen, nicht wahr?« Sie mochte 22 oder 23 sein, und die Nägel der Hand, die sie ihm von hinten auf den Arm legte, waren perfekt manikürt. Als er unwillkürlich einen Satz nach vorn machte und aufschrie, kicherte sie. »Muss wohl so sein«, sagte sie und streckte ihr Handy hoch. »Ich hab mir das Video im Zug fünfmal angesehen. Du solltest dir mal die Kommentare durchlesen. So was Übles!«
Er kannte das: Immer, wenn etwas seinen Weg ins Netz fand, das die Regierung schlecht aussehen ließ, rückte eine Armee von Leuten aus, die eine ganze Flut von Kommentaren abließ: die Regierung sei im Recht, die ganze Geschichte erlogen, die Leute auf dem Video hätten alle möglichen furchtbaren Dinge verbrochen. Lu war klar, dass man nichts davon für bare Münze nehmen durfte. Trotzdem war es unmöglich, so was zu lesen, ohne dass der Zweifel an einem nagte – zuerst nur ganz leicht, dann immer stärker. Und schließlich war die Empörung so betäubt, als hätte jemand eine Prellung mit Eis gekühlt.
Bei der Vorstellung, dass er nun selbst ins Fadenkreuz einer solchen Schmutzkampagne geraten war, hätte er sich fast noch einmal übergeben. Das Mädchen musste es bemerkt haben, denn sie drückte ihn kurz. »Schau doch nicht so. Du hast eine gute Figur gemacht. Diesen Mist wird bestimmt niemand glauben!« Sie schürzte die Lippen. »Na ja, vielleicht ein paar Idioten. Aber weit mehr Leute wird diese Geschichte inspirieren, da bin ich mir sicher. Übrigens heiße ich Jie.«
»Und ich Lu«, sagte er, da ihm kein falscher Name einfallen wollte. Für die Rolle eines Menschen auf der Flucht war er nun mal nicht geschaffen. »War nett, dich kennenzulernen.« Er löste sich aus ihrem Griff und wollte in die Menge abtauchen, doch sie fasste ihn erneut am Arm. »Bitte, nur ganz kurz. Ich muss mit dir reden. Darf ich?«
Er blieb stehen. Zwar hatte er nicht viel Erfahrung mit Mädchen, aber etwas in ihrer Stimme weckte in ihm den Wunsch, Jie anzuhören. »Und wieso?«
»Ich möchte deine Geschichte«, erklärte sie. »Für meine Show.«
»Deine Show?«
Sie kam näher – so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte – und flüsterte: »Ich bin Jiandi.«
Er sah sie verständnislos an.
Sie schüttelte den Kopf. »Jiandi«, wiederholte sie leise. »Jiandi! Von der Factory Girl Show!«
Er zuckte die Schultern. »Was für eine Show soll das sein?«
»Die läuft jeden Abend! Um neun! Zwölf Millionen Arbeiterinnen hören mir zu! Sie rufen mich wegen ihrer Probleme an. Wir senden über Internet, Audio und, äh …«, sie senkte die Stimme, »über die Falun-Gong-Proxys.«
»Oh!« Er beschloss, den Rückzug anzutreten.
»Hat mit Religion nichts zu tun«, versicherte sie hastig. »Ich will den Frauen nur bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Die Proxys«, sagte sie kaum hörbar, »brauchen wir nur, um die Sendung in die Fabriken zu kriegen. Die Regierung versucht uns zu blockieren, weil wir die Wahrheit über die Arbeitsbedingungen sagen. Zum Beispiel, dass die Mädchen von ihren Bossen sexuell belästigt, abgezockt, ihrer Freiheit beraubt werden …«
»Okay«, erwiderte er. »Ich kann es mir vorstellen. Danke, aber nein.«
»Ach bitte!« Sie sah ihm tief in die Augen. Ihre waren dunkel und mit dünnem grünen Kajal umrandet. Die Brauen wölbten sich in elegantem Schwung. »Du siehst so aus, als könntest du ein Plätzchen zum Frischmachen brauchen, vielleicht auch ein Mittagessen. Ich kann dir in dieser Hinsicht helfen.«
»Ach ja?«
»Lu, ich bin eine Berühmtheit! Ich habe Sponsoren, die meiner Show viel Geld für Werbung zahlen, und Millionen von Unterstützerinnen in Shenzhen, aber auch in Guangzhou und Dongguan. Sogar in Peking und Shanghai! Für die bin ich so was wie eine Heldin, Lu. Ich kann deine Geschichte ins Ohr jeder Arbeiterin im Perlflussdelta übermitteln, einfach so!« Direkt vor seiner Nase schnippte sie mit den Fingern, sodass er blinzeln musste und zurückschrak. Sie lachte. »Du bist wirklich süß«, sagte sie. »Komm schon, das wird eine tolle Sache.«
»Wohin gehen wir denn?«, fragte er vorsichtig.
»Oh, ich habe da was Bestimmtes im Auge.«
Als sie nach seiner Hand griff, fiel ihm auf, dass ihre Finger kühl und trocken waren. An den Stellen, wo ihre Ringe seine Haut trafen, spürte er Kälte. Sie führte ihn durch die Menge, die sich wie durch Zauberhand vor ihnen teilte. Mittlerweile kam Lu das alles wie ein Traum vor, zudem verengte der Schmerz sein Blickfeld zu einem trüben, unscharfen Tunnel. Er fragte sich, ob er von ihr irgendein Schmerzmittel bekommen konnte. Oder ob sie sich vielleicht mit traditioneller Medizin auskannte und ihm einen bitteren Tee mit fremden Düften zubereiten würde, in dem viele kleine Stückchen schwammen.
Derweil glitten Straßen und Gehwege wie durch Magie unter ihren Füßen dahin. Im Spiel konnte man den anderen Mitgliedern seiner Gilde automatisch folgen: Einfach anklicken und »Follow« anwählen. Bei einem langen Weg konnte das die ganze Gilde so machen, sodass nur ein Spieler wirklich achtgeben musste, während sie die halbe Welt durchquerten. Die anderen konnten sich zurücklehnen, rauchen, essen oder aufs Klo gehen, und ihre Charaktere trotteten wie eine Reihe von Packeseln hinter ihrem Führer her.
Genauso kam es ihm jetzt vor: Als wäre er nur ein gedankenloser Toon, dessen Spieler mal eben pinkeln war oder eine Kippenpause eingelegt hatte.
»Hast du deine Wohnung hier?«, fragte er, als sie den Eingangsbereich eines hohen Wohnhauses erreicht hatten. Die Häuser standen in dieser Gegend so eng beieinander, dass die Bewohner des einen denen des anderen aus dem Fenster die Hand reichen konnten. In den Fluren roch es nach Essen und Schweiß, doch es war sauber, und es gab auch funktionierende Gegensprechanlagen und ein Schloss an jeder Tür.
»Nein«, sagte sie. »Ich mache hier nur manchmal meine Show. Ich habe ein paar solcher Verstecke, um die jingcha zu verwirren.« Er fand es lustig, dass sie den Gamer-Ausdruck für »Polizei« verwendete. Sie merkte es und grinste: »Aber sicher doch, die zengfu hält mich für ganz schön biantai. Sie würden mich echt killen, wenn sie könnten.« Er lachte über den Slang: Die Regierung hält mich für eine Perverse – so Ausdrücke hörte man sonst vielleicht von Jungs mit hochgekrempelten T-Shirts und Zigaretten im Mundwinkel. Von den Lippen eines zierlichen Mädchens mit teurer Schminke im Gesicht klang es ziemlich ungewohnt.
Der Aufzug war kaputt, also gingen sie zu Fuß in den fünften Stock. Die Wände waren mit farbenfrohen Graffiti verziert: Jede freie Stelle war mit Szenen aus dem Arbeiterleben, Flüchen oder auch Telefonnummern belegt, unter denen man gefälschte Papiere, Titel und Zertifikate bekam.
Lu war täglich fast doppelt so viele Stufen gestiegen – zum Schlafsaal, der sich in einem von Boss Wings Gebäuden befand –, doch diese Treppe gab ihm fast den Rest. Auf Jies Etage saß eine alte Frau an der Tür zum Treppenhaus. Sie nickte ihnen beiden zu.
»Frau Yun«, sagte Jie, »ich möchte Ihnen gerne Hui vorstellen. Er ist ein Mechaniker, der nach meiner Klimaanlage sehen will.« Die alte Frau nickte höflich und wandte den Blick ab.
Jie machte sich mit ihrem Schlüsselbund an einer Tür zu schaffen, öffnete vier verschiedene Schlösser mit großen, komplizierten Schlüsseln und schob die Tür danach mit der Schulter auf, bis sie mit einem metallischen Klang gegen einen Türstopper stieß. Gleich darauf winkte sie Lu herein, schloss die Tür, legte die vier Riegel vor und schlug auf mehrere Lichtschalter.
Es gab zwei große Zimmer in der Wohnung: das Wohnzimmer, in dem sie standen, und ein daran angrenzendes Schlafzimmer. Neben ihnen befand sich eine kleine Kochnische. Den Rest des Zimmers nahmen ein Sofa und ein großer Schreibtisch mit Bürostühlen auf beiden Seiten ein, der von Aufnahmegeräten übersät war. Lu entdeckte ein Mischpult, mehrere Kopfhörer und ein paar Mikros auf ihren Ständern. Jeden Quadratzentimeter Wand bedeckten Papiere: Zeitungsausschnitte, Briefe, Zeichnungen, dazwischen Aufkleber, Herzchen und Abziehbilder niedlicher Tiere.
Jie machte eine einladende Geste: »Mein Studio!«, rief sie und drehte eine Pirouette. »Meine Fanpost und Presse.« Sanft fuhr sie mit dem Finger über die Wand. Lu trat näher und sah, dass jeder Brief mit Liebe Jiandi begann und in säuberlicher Mädchenschrift verfasst war. »Ich habe ein Postfach in Macao. Dahin schicken meine Fans die Briefe. Die scannt man mir dort ein und mailt sie mir zu. Alles unter den Augen der zengfu!«
»Und die alte Frau auf dem Flur?«
Sie warf sich auf das Sofa, sodass ihr der Rock an den Schenkeln hochrutschte, und schleuderte ihre Schuhe in geübtem Bogen Richtung Fußmatte. »Unsere hauseigene Antwort auf die lotosfüßige Omapolizei«, sagte sie, und er lachte wieder über ihre Ausdrucksweise. In Sichuan hatten sie die kleinen alten Frauen so genannt, die einem immerzu nachschnüffelten und darüber tratschten, wer gerade etwas Falsches oder Verbotenes getan hatte. Eigentlich hatten sie gar keine Lotosfüße. Die Praxis, die Füße kleiner Mädchen so fest zusammenzubinden, bis sie nicht mehr richtig laufen konnten, war längst ausgestorben. Außerhalb eines Museums hatte er nie einen gebundenen Fuß gesehen, auch wenn die Alten noch immer giftige Bemerkungen machten, wenn ein Mädchen zu große Füße hatte, und kleine Füße lobten – doch verklemmt benahmen sie sich allemal.
»Und das mit dem Mechaniker kauft sie dir ab? Ich hab nicht mal Werkzeug dabei!«
»Aber nein«, lachte Jie abermals. Es war ein hübscher Klang. Kein Wunder, dass sie eine beliebte Moderatorin war. Das Lachen war ansteckend. »Nein, sie wird denken, dass wir miteinander schlafen!«
Er errötete und rang nach Worten. »Oh – äh …«
Sie brach lauthals in Gelächter aus und warf den Kopf zurück, sodass ihr Haar sich über die Kissen ausbreitete. »Du solltest dich sehen! Weißt du, solange Großmütterchen Mao da draußen mich für eine gewöhnliche Feld-Wald-und-Wiesen-Schlampe hält, wird sie nicht auf den Gedanken kommen, dass ich in Wahrheit Jiandi, die Geißel des Politbüros und Stimme des Perlflussdeltas bin. Oder? So, jetzt zieh mal deine Schuhe aus, und lass uns einen Blick auf deinen Kopf werfen.«
Er tat, wie ihm geheißen, und stellte seine Schuhe ordentlich bei der Tür ab. Jie stand auf und führte ihn bei den Schultern zu einem der Bürostühle am Tisch. Dort beugte sie sich über ihn und studierte seine Kopfhaut. »Okay«, sagte sie. »Zuallererst musst du dein Shampoo wechseln. Du hast echt fettiges Haar, das ist eine Schande. Zweitens scheint dir ein Taubenei aus dem Kopf zu wachsen, was sicher ganz schön wehtut. Weißt du was? Ich bring dir erst mal was Kaltes zum Draufdrücken. Dann möchte ich, dass du duschen gehst und das mal richtig sauber machst. Es wirkt, als hätte es etwas geblutet, aber nicht schlimm. Du hast Glück gehabt – Kopfverletzungen bluten normalerweise wie verrückt. Sobald ich dich in einem zivilisierten Zustand habe, gehen wir online und machen dich noch berühmter. Klingt das gut?«
Er machte den Mund auf, um zu protestieren, aber sie wirbelte bereits davon und wühlte sich durch den kleinen Kühlschrank. Als sie sich davor hinkauerte, fiel ihr das Haar auf eine Weise über die Schultern, dass Lu den Blick nicht mehr von ihr abwenden konnte. Sie fand eine Packung Teigtaschen, gefüllt mit Hühnchen – er erkannte es an der Verpackung; genau die hatten sie bei Boss Wing oft zu Abend gegessen –, wickelte sie in ein Geschirrtuch und legte sie ihm auf den Kopf. Ihm war, als wöge die Packung eine halbe Tonne und wäre bis auf den absoluten Nullpunkt gekühlt, doch seine Kopfschmerzen wurden augenblicklich besser. Er ließ sich zurücksinken, schloss die Augen und hielt das Tuch dorthin, wo die zengfu (dieser Slang war ansteckend) ihm ihren Liebesbeweis hinterlassen hatte. Jies Bewegungen nahm er nur anhand der Geräusche, ihres Parfüms und ihres Haardufts wahr. Nicht schlecht, dachte er. Sehr viel besser als die Situation vor gerade einer Stunde, als ich zusammengekauert vor dem Bahnhof gesessen und mit dem Gweilo telefoniert habe.
»In Ordnung«, sagte sie. »Nimm die hier.« Er öffnete die Augen und sah, dass sie ihm zwei weiße Tabletten und ein Glas Wasser reichte.
»Was ist das?« Er blinzelte ins Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel. Fast war er eingeschlafen.
»Gift. Ich habe beschlossen, dich von deinem Elend zu erlösen. Nimm.«
Er nahm die Tabletten.
»Die Dusche ist da hinten.« Sie deutete Richtung Schlafzimmer. »Auf dem Toilettendeckel liegt ein Handtuch, und ich hab auch Klamotten gefunden, die dir passen müssten. Deine spülen wir aus und legen sie auf die Heizung zum Trocknen, während wir uns unterhalten. Nichts für ungut, mein Arbeiterheld, aber du riechst, als wärst du schon eine Weile tot.«
Er wurde wieder rot, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als mit gesenktem Kopf durchs Schlafzimmer zu huschen. Flüchtig sah er ein enges Bett mit dünner Decke, die zerknittert am Fußende lag, einen Haufen Stofftiere und Berge gefälschter Markentaschen, die vor Kleidungsstücken und Toilettenartikeln überquollen.
Die Ablage über dem Waschbecken im Badezimmer war mit mysteriösen Döschen und Tuben übersät – mit all den kleinen Dingen, die den Mädchen von einer Million Werbetafeln herab angepriesen wurden, er aber nie von Nahem gesehen hatte. Die meisten Deckel dieser Kosmetikartikel waren geöffnet, ihr Inhalt teilweise herausgespritzt. Es war alles sehr viel weniger glamourös als in der Werbung, wo alles frisch und glänzend wirkte. Dafür aber sehr viel aufregender.
Jede horizontale Fläche in der Dusche schien irgendeine Flasche einzunehmen. Lu fand zwei große Litertuben Duschgel, das man auch als Shampoo verwenden konnte. Doch bei näherer Inspektion schien eine mehr für die Haut und die andere eher für Haare gedacht zu sein, also benutzte er beide. Das Wasser auf seinem Kopf fühlte sich wie ein Schauer scharfkantiger Kiesel an, und seine Schultern schmerzten beim Schamponieren.
Nach getaner Arbeit wischte er den Dampf vom Spiegel und verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Er konnte die riesige Beule gerade noch erkennen: eine knüppelförmige, violette Schwellung, von einem grünlich-gelben Kranz umgeben.
»Auf dem Bett liegt was zum Anziehen«, rief Jie von der anderen Seite der Tür. Vorsichtig drehte er am Türknauf und stellte fest, dass sie einen Vorhang zwischen Schlaf- und Wohnzimmer zugezogen hatte, sodass er allein und nackt im Halbdunkel stand. Auf dem Bett lagen, sauber gefaltet, ein Paar Jogginghosen und ein T-Shirt, wie man es manchmal bei der Arbeitsvermittlung geschenkt bekam. Das T-Shirt war eng, doch es gelang ihm, es überzustreifen. Seine eigenen Klamotten, die wirklich stanken, ballte er zusammen, dann linste er durch den Vorhang.
»Hallo?«
»Hier, mein Schöner!«, rief sie, als er barfuß auf die staubigen Dielen hinaustrat. Sie reckte den Hals und schnüffelte ein paar Mal im Scherz. »Mm, du hast dich für das dang-gui-Shampoo entschieden. Gute Wahl. Prima gegen Frauenleiden.« Sie tätschelte seinen Bauch. »Du wirst da im Handumdrehen ein süßes kleines Baby drin haben!«
Jetzt war ihm so, als würde er wirklich gleich vor Scham in den Boden versinken.
Sie musste es ihm angesehen haben, denn sie hörte auf zu lachen und drückte seine Hand. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich zieh dich doch nur auf. Dang-gui ist für so ziemlich alles gut. Deine Mutter hat es dir sicherlich auch gegeben.« Und tatsächlich, so erkannte er jetzt, war ihm der Geruch vertraut vorgekommen. Der Gedanke an seine Mutter und ihre Heilkräuter musste seine Hand bei der Wahl zwischen den vielen verschiedenen Fläschchen gesteuert haben.
»Ich dachte, du wohnst gar nicht hier«, sagte er. »Oder doch?«
»In diesem Loch?« Sie verzog das Gesicht. »Aber nein! Das ist bloß eines meiner Studios. Ist gut, viele Orte zum Arbeiten zu haben. Macht der zengfu das Leben schwerer.«
»Aber die Kleider, das Bett?«
»Sind nur für die Abende, wenn ich spät arbeite. Meine Show geht manchmal die ganze Nacht, je nachdem, wie viele Anrufe ich habe.« Als sie lächelte, sah er, dass sie tiefe Grübchen hatte – so was war ihm noch nie bei einem Mädchen aufgefallen. Die Kopfverletzung ließ ihn schwindeln. Vielleicht hatte er sich aber auch verliebt.
»Und jetzt?«
»Jetzt reden wir darüber, was du gesehen hast. Meine Show fängt gleich an.« Sie sah auf ihr Handy. »Noch zwölf Minuten! Du hast gerade noch Zeit, was zu trinken und es dir gemütlich zu machen.« Sie holte einen Krug mit gefiltertem Wasser aus dem Kühlschrank, füllte damit ein Glas, das sie von einem kleinen Regal neben der winzigen Spüle nahm, und reichte es ihm. Er trank so gierig, dass sie ihm den Krug auf seine Seite des Tisches stellte. Dann nahm sie im gegenüberliegenden Stuhl Platz.
Sie klickte, tippte und zog in bezaubernder Weise die Brauen zusammen, dann streifte sie sich ein Paar riesiger Kopfhörer über, brachte ein Mikrofon in Stellung und bedeutete ihm, sich bereit zu machen. Er setzte sich und schenkte sich nach.
»Was für eine Show ist das noch gleich?«
»Du bist wirklich ein Junge!« Sie sah vom Bildschirm auf, während ihre manikürten Nägel wie Insekten über das Keyboard huschten und klickten.
Er schaute an sich herab. »Kann schon sein.«
»Ich will damit nur sagen, dass ein Mädchen das nicht gefragt hätte. Die Fabrikarbeiterinnen hören alle meine Sendung, das kannst du mir glauben. Nach dem Abendessen geht’s los, dann rufen sie an und chatten mit mir und beichten mir ihre Sorgen. Und ich sage ihnen, was sie hören wollen. Meistens läuft es auf Folgendes hinaus: Wenn dein Boss dich über den Tisch ziehen will, suchst du dir besser einen neuen Job, sonst läufst du Gefahr, gleich in vielfacher Hinsicht über den Tisch gezogen zu werden. Wenn dein Freund ein Versager ist, der bloß rumhängt und sich Geld von dir leiht, such dir einen neuen, selbst wenn er die ›Liebe deines Lebens‹ ist. Wenn deine Freundinnen Müll über dich reden, konfrontier sie damit, heult euch gegenseitig aus und fangt von vorn an. Wenn deine Freundin mit deinem Freund rummacht, schieß alle beide ab. Wenn du mit dem Freund deiner Freundin herummachst, lass es sein – mach Schluss mit ihm, beichte es ihr, und tu es nicht wieder.« Sie zählte die möglichen Themen wie die Posten auf einem Einkaufszettel an den Fingern ab.
»Klingt ein wenig gebetsmühlenartig«, bemerkte er. Er fragte sich, ob sie es nur erfand oder vielleicht an Größenwahn litt. Gab es wirklich eine Show, die jede Fabrikarbeiterin kannte, von der er aber noch nie gehört hatte? Er dachte daran, wie wenig die Mädchen in Shilong mit ihm geredet hatten, als er dort Wachmann gewesen war, und kam zu dem Schluss, dass es durchaus sein konnte.
»Ist es auch, aber so mögen das meine Mädchen und ich. Bestimmte Probleme bleiben einfach die gleichen. Manche Sachen kann man gar nicht oft genug sagen. Das ist aber noch lange nicht alles, worüber wir reden. Wir haben auch Abwechslung – dich zum Beispiel!«
»Mich«, sagte er. »Du willst mich in eine Sendung mit diesen ganzen Mädchen bringen? Wieso? Wird die Polizei mich dann nicht noch eifriger suchen?«
»Süßer, die Polizei sucht dich jetzt schon. Denk an das Video. Dein Gesicht ist überall. Je berühmter du bist, desto schwieriger wird es für sie, dich festzunehmen. Glaub mir.«
»Wie kannst du das so sicher wissen? Hast du das denn schon mal persönlich erlebt?«
»Täglich«, sagte sie mit weit geöffneten Augen. »Ich bin meine eigene Fallstudie. Die Polizei ist jetzt seit zwei Jahren hinter mir her, und ich bin ihr immer entwischt. Und zwar deswegen, weil ich zu berühmt bin, um gefasst zu werden!«
»Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.«
Sie schaute auf ihr Handy. »Wir haben nur noch eine Minute. Also in aller Kürze: Wenn du auf der Flucht bist, ist Armut ein echtes Problem. Mehr noch als für die anderen. Auf der Flucht zu sein, ist teuer. Du brauchst viele Verstecke. Viele Handys, die du auch mal wegwerfen kannst. Du musst Schmiergelder zahlen und schnell reagieren. Wenn du berühmt bist, hast du immer Geld, und alle möglichen Leute schulden dir was. Meine Hörerinnen unterstützen mich. Entweder mit direkten Spenden oder durch Werbung.«
»Du hast Werbung? Wer kauft denn einen Werbeblock in der Show einer Flüchtigen?«
Sie zuckte die Schultern. »Die Taiwanesen zum Beispiel.« Die Insel Taiwan betrachtete sich seit 1949 als unabhängig, aber China hatte den Anspruch auf die Insel nie aufgegeben – mit wenig Erfolg. »Manchmal kauft sich auch Falun Gong ein. Dass ich sie in meiner Show durch den Kakao ziehe, ist denen egal, solange ich auch ihre Werbung bringe.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist alles echt seltsam.« Sie bedeutete ihm, still zu sein, klappte ein kleines Mikro auf und hielt es sich vor den Mund. »Hallo, Mädels!«, rief sie und klickte mit der Maus. »Hier ist eure beste Freundin, Schwester Jiandi, auf die ihr euch immer verlassen könnt, die Freundin, die euch nie im Stich lässt, der ihr all eure Geheimnisse anvertrauen könnt – solange es euch nichts ausmacht, dass acht Millionen Mädchen sie erfahren!« Sie kicherte über ihren eigenen Witz. »Oh, liebe Schwestern, es wird eine tolle Nacht, das kann ich euch versprechen! Später hab ich noch eine besondere Überraschung für euch, zuerst aber wollen wir uns unterhalten! Heute Abend benutze ich den Chat von Amazon Frankreich, chat.amazon.fr, also los, meldet euch an. Ihr findet mich unter jiandi88888. Denkt daran, die neuesten FLG-Proxys zu benutzen. Sieht so aus, als wären die Übersetzungsdienste von yahoo.ru und 123india.in momentan nicht gesperrt, das sollte euch die Anmeldung erleichtern. Also, worauf wartet ihr? Los geht’s!«
Sie klickte, und eine Werbung für Falun Gong plärrte Lu ins Ohr. Er streifte eine der Ohrmuscheln ab. Jie klappte ihr Mikro weg und deutete mit dem Finger auf ihn. »Na, spürst du den Zauber schon?«
»Das ist es? Das ist deine große Show?«
»Ja doch. Wahrscheinlich müssen wir im Laufe des Abends drei- oder viermal den Chat wechseln, weil sie die Firewall aktualisieren. Das macht Spaß! Du wirst schon sehen.« Die Werbung kam zum Ende.
»Sag was«, bat Jie mit warmer Stimme. Er brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass sie ins Mikro sprach, und nicht mit ihm.
»Hallo?«
»Ja, Schätzchen, hallo. Du bist live. Na los, rede! Wir haben bloß die ganze Nacht!«
»Oh, ähm …« Die Stimme war weiblich, mit einem starken Henan-Akzent, und er hörte die Angst darin.
»Ist schon okay, Süße, mein Herzchen, ist schon okay. Rede mit mir.« Jies Stimme war ein Locken, ein Schnurren, eine Versuchung. Ihre Augen schimmerten feucht, und sie schürzte ihre Lippen in einer Geste reinen Mitgefühls. Am liebsten hätte Lu ihr seine Geheimnisse erzählt.
»Es ist bloß …« Die Stimme brach ab. Das Mädchen weinte. Im Hintergrund hörte er die Geräusche eines Schlafsaals in einer geschäftigen Fabrik: rufende Mädchen, Gelächter, Gespräche.
Jie beruhigte die Anruferin.
»Es geht um meinen Boss«, erklärte das Mädchen schließlich. »Zuerst war er so nett zu mir. Er sagte, ich sei ihm sehr wichtig, weil wir doch beide aus Henan stammen. Er sagte, er werde mich beschützen. Er hat mir die Stadt gezeigt. Ein Restaurant an der Börse. Den Window-of-the-World-Park.«
»Er wollte aber auch was im Gegenzug, richtig?«
»Das war mir auch klar. Ich höre ja deine Show. Ich dachte aber, bei mir sei es anders. Ich dachte, er sei anders. Aber er … Nachdem wir uns geküsst hatten, sagte er, er wolle mehr. Alles. Er sagte, ich schuldete ihm das. Es müsse mir doch bewusst gewesen sein, als ich seine Einladung annahm. Und jetzt würde ich ihn betrügen, wenn ich nicht …« Sie fing an zu weinen.
Jie zog ein Gesicht und ließ ungeduldig den Finger kreisen. Ihre Gefühllosigkeit schockierte Lu. Doch als das Weinen aufhörte, war ihre Stimme wieder voller Mitgefühl und Verständnis.
»Mein Armes, dich hat es wirklich schlimm erwischt, was? Natürlich hast du gewusst, was passieren würde, aber Kopf und Herz wollen nicht immer das Gleiche, richtig? Die Frage lautet aber nicht, ob du einen Fehler gemacht hast – denn das hast du, du hast so ziemlich alles falsch gemacht –, sondern was wir jetzt dagegen tun können. Habe ich recht?«
»Ja.« Die Stimme war so leise und eingeschüchtert, dass er sie kaum hören konnte. Er stellte sich ein Mädchen vor, das auf die Größe einer Maus zusammengeschrumpft war und vor Angst zitterte.
»Es ist eigentlich ganz einfach. Nicht leicht, aber einfach. Schlag dir deinen letzten Lohn aus dem Kopf und verlass die Fabrik, gleich morgen früh. Geh zu einem Arbeitsvermittler in der Xi-Li-Straße, such dir was, irgendwas, und fang von vorn an. Dann rufst du die Frau von deinem Boss an. Ist er verheiratet?«
»Ja.« Die Stimme klang jetzt ein wenig lauter.
»Ruf seine Frau an und erzähl ihr alles. Erzähl ihr, was er getan und gesagt hat. Sag ihr, dass es dir sehr leidtut, auch, dass ihr Mann ein so verlogener, stinkender Drecksack ist. Erzähl ihr, dass du deinen Job und deinen Lohn verloren hast. Dann gehst du wieder arbeiten. Und egal, was dein neuer Boss sagt oder tut, du gehst nicht mit ihm aus. Hast du verstanden?«
»Seine Frau anrufen …«
»Ruf sie an, vergiss das Geld und beginn von vorn. Das ist das Einzige, was funktionieren wird. Mit ihm kannst du nicht reden. Er hat dich vergewaltigt – so nennt man das, wenn jemand dich zum Sex zwingt, weißt du. Das ist Vergewaltigung, nichts sonst, und er wird es immer wieder tun. Auch mit anderen Mädchen aus der Fabrik. Wenn du gehst, erzähl so vielen davon, wie du kannst. Weißt du was? Erzähl mir hier und jetzt, wo du arbeitest und wie dein Boss heißt, damit Millionen Mädchen davon erfahren. Sie werden künftig einen Bogen um das Schwein schlagen, und vielleicht kannst du ein paar Seelen retten, wenn du tapfer bist. Also, wie sieht’s aus?«
»Du willst, dass ich dir sage, wie er heißt? Jetzt? Ich dachte, das sei alles vertraulich …«
»Du musst ja nicht. Aber willst du, dass ein anderes Mädchen durchmacht, was du gerade hinter dir hast? Was meinst du, wäre passiert, wenn du die Geschichte letzten Monat von einer anderen gehört hättest? Wärst du dann auch noch mit ihm ausgegangen? Überleg es dir gut. Willst du deinen Schwestern diesen Schmerz ersparen? Oder willst du dein verletztes Ego schützen und sie und alle anderen leiden lassen?« Sie wartete kurz. Das Mädchen am anderen Ende sagte nichts, obwohl die Hintergrundgeräusche des Schlafsaals immer noch hörbar waren. Lu stellte sich vor, wie sie in ihrem Etagenbett unter der Decke lag und flüsternd ihre Geheimnisse preisgab, während Millionen anderer Mädchen ihr zuhörten. Was für eine seltsame Welt. »Nun?«
»Ich mache es«, sagte sie.
»Wie war das? Lauter bitte!«
»Ich mache es!«, rief das Mädchen und lachte, und das Lachen wurde von den Stimmen hinter ihr aufgegriffen, als den anderen Mädchen klar wurde, dass das Geständnis, dem sie da auf ihren Handys und Computern lauschten, von einer aus ihrer Mitte stammte. Es gab eine Rückkopplung, als einer der Empfänger ihr zu nahe kam. Jie tippte etwas und unterdrückte die Rückkopplung, ohne das Quietschen der anderen Mädchen auszublenden. Alle Mädchen im Schlafsaal feuerten ihre Kollegin nun an und riefen ihren Namen – ihren echten Namen, sodass alle ihn hörten. Doch es war egal, denn sie lachte nun noch lauter als zuvor.
»Er heißt Bau Peixiong«, lachte sie befreit. »Bau Peixiong von der HuaXia-Sportartikelfabrik.«
»Also, Mädchen«, sagte Jie im Befehlston. Die Hintergrundgeräusche verstummten. »Eure Schwester hat gerade ein großes Opfer für euch gebracht, also müsst ihr jetzt ihr helfen. Sie braucht Geld. Euer Schwein von einem Boss wird ihr die acht Wochen Lohn, die er zurückhält, nämlich nicht auszahlen, schon gar nicht, nachdem sie mit seiner Frau gesprochen hat. Sie braucht Hilfe beim Packen und bei der Jobsuche. Wenn eine von euch sich mit dem Gedanken trägt, die Stelle zu wechseln, oder weiß, wo dieses Mädchen Arbeit finden könnte – sagt es ihr. Helft ihr, vorwärtszukommen und neue Arbeit zu finden. Das seid ihr eurer Schwester schuldig. Versprecht es mir!«
Aus dem Telefon drang ein Plappern von Mädchenstimmen: »Ich verspreche es! Ich verspreche es!«
»Sehr gut«, erwiderte Jie. »Spitzt die Ohren, meine Lieben, denn ich habe schon bald eine wundervolle Überraschung für euch!« Ein Mausklick, und es gab wieder Werbung, diesmal für eine Firma, die falsche Empfehlungsschreiben verkaufte, die angeblich jeder Überprüfung standhielten.
Sie nahmen die Kopfhörer ab, und Jie leerte ihr Wasserglas. Ein kleiner Tropfen rann ihr Kinn und Hals herab. Lu unterdrückte ein Stöhnen. Sie war so umwerfend schön, und all diese Macht und Zuversicht …
»Das war ein ziemlich guter Opener, oder?«, fragte sie mit hochgezogener Braue.
»Geht das die ganze Zeit so?«
»Das eben lief schon ziemlich gut. Aber eigentlich ist es die meisten Nächte so. Sechs bis sieben Stunden lang. Findest du es immer noch langweilig?«
»Ich kann mir schon denken, dass es auch abwechslungsreich sein kann.«
»Ihr bringt schließlich auch die ganze Nacht die gleichen Gegner um, oder? Das muss doch auch langweilig sein.«
Er überlegte. »Eigentlich nicht. Das liegt wohl an der Teamarbeit. Es läuft auch nicht immer gleich. Die Monster tauchen immer woanders auf, und manchmal kriegt man echt gute Drops – das kann richtig spannend sein! Du gehst einen Weg entlang, den du schon ein Dutzend Mal freigeräumt hast, und auf einmal warten da zweihundert Vampire auf dich, und einer hat ein besonderes Schwert. Das ist überhaupt nicht langweilig.« Er zuckte die Achseln. »Matthew von der Gilde meint, in der Psychologie heißt das partielle Verstärkung.«
Sie hob den Finger. »Einen Moment«, sagte sie, klickte und nahm einen weiteren Anruf entgegen.
Dieses Mädchen klang eher wütend als traurig. »Eine Freundin von mir hat Verkäuferinnen für Kräutermedizin gesucht«, begann sie, und Jie verdrehte gelangweilt die Augen.
»Erzähl weiter«, forderte Jie sie auf. »Klingt nach einem tollen Geschäft.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Dachte ich auch«, sagte die Anruferin. Sie klang, als würde sie am liebsten etwas kaputt schlagen. »Zuerst dachte ich, es geht einfach nur um die Medizin, und ich fand das gut, weil meine Mutter mir auch immer Heilkräuter gegeben hat, als ich klein war. Ich dachte, dass viele Mädchen hier Kräuter kaufen würden, schon weil sie Heimweh haben.«
»Klar«, warf Jie ein. »Wer denkt nicht gern an seine Mami?«
»Genau das hab ich auch angenommen! Und meine Freundin meinte, ich könne damit viel Geld verdienen. Aber nicht mit dem Verkauf selbst – für den sollten die Leute unter mir in der Hierarchie zuständig sein, ich aber nur für das Franchise. Wie ein richtiger Boss!«
»Wer wäre nicht gern mal Boss.«
»Genau! Sie sagte, sie wolle mich für die Führungsebene anwerben. Und ich solle dann meinerseits zwei Freundinnen als Verkäuferinnen anwerben. Die müssten mir dann Geld zahlen, um eigene Verkäufer anzuwerben, und alle würden die Kräuter von mir beziehen, und ich bekäme einen Teil ihres Umsatzes. Wenn meine beiden Verkäuferinnen also selbst zwei Verkäuferinnen anwarben – und die auch wieder zwei und so weiter –, würden in ein paar Tagen Hunderte von Leuten für mich arbeiten! Und wenn ich von jeder nur ein paar Yuan bekäme, würde ich jeden Monat Unsummen verdienen, einfach deswegen, weil alles über mich liefe. Zumindest hat sie mir das alles so erklärt.«
»Ein sehr großzügiges Angebot«, bemerkte Jie, und obwohl es klang, als ob sie scherzte, lächelte sie nicht.
»Ja, nicht? Dachte ich auch! Und alles, was ich tun müsse, sei, ihr eine kleine Franchisegebühr zu zahlen. Sie werde mich dann mit Kräutern, Verkaufstaschen und allem Nötigen versorgen. Sie sagte, sie werbe mich an, weil ich aus Fujian stamme, so wie sie, und sie mir einen Gefallen tun wolle. Sie meinte, ich solle Mädchen anwerben, die noch auf dem Land wohnen, alte Schulfreundinnen oder so, weil die das Geld am dringendsten bräuchten.«
»Wieso sollten Mädchen auf dem Land wohl Kräutermedizin kaufen? Haben die nicht ihre Mütter?«
Das unterbrach den wütenden Redefluss der Anruferin. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, gab sie kleinlaut zu. »Es klang so, als würde ich eine Heldin werden, als könnte ich der Fabrik entkommen und reich werden. Meine Freundin sagte, sie wolle in ein paar Monaten kündigen und sich eine eigene Wohnung suchen. Ich hab davon geträumt, aus dem Schlafsaal rauszukommen, Geld nach Hause zu schicken und …«
»Du hast die ganze Zeit über das Geld und alles, was du dir davon kaufen kannst, nachgedacht, aber ob dieses ganze Geschäftsmodell überhaupt funktionieren kann, die Frage hast du dir nicht gestellt?«
Wieder Stille. »Stimmt«, sagte sie schließlich. »Ich muss zugeben, das habe ich nicht.«
»Und dann?«
»Zuerst lief es ganz okay. Ich habe das Franchise ein paarmal weiterverkauft, aber die Verkäuferinnen hatten Schwierigkeiten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Dann begann meine Freundin, nach ihren Prozenten zu fragen. Als ich ihr sagte, ich hätte selbst kein Einkommen, weil meine Verkäuferinnen mit der Zahlung im Rückstand seien, war sie auf einmal wie verwandelt.«
»Erzähl weiter.« Jies Augen waren auf die Wand hinter Lus Kopf gerichtet. Sie schien in einer anderen Welt zu sein, bei dem Mädchen und ihren Problemen.
»Sie wurde sehr wütend. Sie sagte, ich sei eine Verpflichtung eingegangen. Sie selbst sei ihren Franchisegebern auch etwas schuldig. Also müsse ich sie bezahlen, damit sie ihre Schulden abtragen kann. Sie gab mir das Gefühl, sie hintergangen und eine unglaubliche Chance vermasselt zu haben. Sie sagte auch, ich sei eben nur ein einfaches Mädchen vom Land und tauge nicht zur Geschäftsfrau. Sie rief mich den ganzen Tag über an, immer wieder, und schrie: Wo ist mein Geld?«
»Was hast du dann gemacht?«
»Irgendwann bin ich zu ihr gegangen. Ich habe geweint und ihr gesagt, dass ich nicht mehr weiter weiß. Und sie meinte: Du weißt sehr wohl, was zu tun ist, dir fehlt bloß der Mut dazu. Dann sagte sie: Du musst nur zu deinen Verkäuferinnen gehen und etwas unfreundlich werden, bis du dein Geld von ihnen bekommst. Und wenn das nicht funktioniert, musst du dir eben etwas anderes einfallen lassen und auf deine Eltern, deine Freunde oder deine Ersparnisse zurückgreifen. Nächsten Monat kannst du ja neue Verkäuferinnen anwerben.«
»Und? Hast du deine Verkäuferinnen angerufen?«
»Das habe ich.« Sie atmete tief durch. »Zuerst war ich freundlich und verständnisvoll, aber meine Freundin hat mich immer wieder angerufen, also wurde ich wütend. Aber nicht auf sie, sondern auf die anderen. Es war ja deren Schuld, dass mich das alles so viel Zeit und Energie kostete. Ich konnte schon nicht mehr schlafen oder essen. Also wurde ich gemein zu ihnen. Ich drohte ihnen, beschwor sie, schrie sie an. Dabei waren die beiden Mädchen doch alte Freundinnen. Ich kannte sie seit frühester Kindheit. Und ich kannte ihre Geheimnisse. Einer drohte ich, ich würde ihrem Vater erzählen, dass sie mit fünfzehn einem Jungen erlaubt hat, Nacktfotos von ihr zu machen. Der anderen drohte ich, ihrer Schwester zu erzählen, dass sie ihren Freund geküsst hat.«
»Haben sie ihre Schulden daraufhin bezahlt?«
»Im ersten Monat schon. Doch einen Monat später musste ich sie wieder anrufen und anschreien. Es war so, als säße ich neben mir und sähe zu, was diese Wahnsinnige meinen alten Freundinnen antat. Sie zahlten aber, auch das zweite Mal. Im dritten Monat dann …« Sie brach abrupt ab. Stille breitete sich aus. Lu fühlte sie anwachsen wie eine statische Ladung.
»Was ist passiert?«
»Eine von ihnen hat Rattengift geschluckt.« Ihre Stimme war ein winziges, fernes Flüstern. »Ich hatte ihr damit gedroht, mit ihrem Vater zu reden, und – und …« Stille. »Schon ihre Mutter hat sich auf diese Weise umgebracht, als wir noch klein waren. Mit dem gleichen Gift. Ihr Vater ist ein strenger Mann, ein Traditionalist, der noch die Kulturrevolution erlebt hat und keine Gnade kennt. Als sie das Geld nicht anders kriegen konnte, hat sie es gestohlen. Und wurde geschnappt. Irgendwann hätte er es herausgefunden. Und wenn nicht, hätte ich ihm von den Nacktfotos erzählt. Das hat sie nicht ertragen. Ich habe sie dazu gebracht. Ich habe sie getötet.«
»Sie hat sich selbst getötet«, bemerkte Jie voll Mitgefühl. »Das ist die chinesische Frauenkrankheit. Wir sind das einzige Land auf der Welt, in dem sich mehr Frauen als Männer umbringen. Du darfst dir nicht die Schuld daran geben.« Sie machte eine kurze Pause. »Zumindest nicht die ganze.«
»Das ist noch nicht alles«, fuhr das Mädchen fort. Alle Wut war nun aus ihrer Stimme gewichen. Was blieb, war die reine Verzweiflung.
»Klar«, sagte Jie. »Du musst immer noch deine Schulden für diesen Monat bezahlen. Und den nächsten. Und den danach.«
»Meine Freundin, also die, die mich zuerst angeworben hat, sie weiß … bestimmte Sachen über mich. Ähnlich wie die Sachen, die ich von meinen Freundinnen wusste. Dinge, die mich meinen Job kosten könnten, mein Zuhause, meinen Freund …«
»Natürlich. Nur so funktioniert cuanxiao.« Lu hatte den Begriff schon mal gehört. Er bezeichnete Schneeballsysteme, wie sie einem immer wieder mal unterkamen. Früher pflegte er darüber zu lächeln, doch jetzt war ihm nicht mehr nach Lachen zumute.
»Und irgendwo weiter oben auf der Leiter gibt es jemanden, der etwas gegen sie in der Hand hat. Und es gibt Leute, die den ganzen Tag nur davon predigen, dass man auf die Art ein Vermögen machen kann. Man muss nur seine Freunde und Familie davon überzeugen.«
»Kennst du vielleicht Mr. Lee? Meine Freundin nahm mich mit zu so einem Treffen. Mr. Lee hielt eine tolle Rede, und danach war ich so sicher, dass ich reich werden könnte, wenn ich nur …«
»Nein, ich kenne ihn nicht. Aber es gibt Hunderte Mr. Lees in Guangdong. Weißt du, wie man sie nennt? Pharaos – wie die ägyptischen Herrscher, die man in den Pyramiden begrub. Sie sitzen nämlich auf einer Pyramide aus gutgläubigen Trotteln wie dir. Der Pharao hat zwei Untergebene, und die wieder je zwei, und die noch mal je zwei, und so weiter. Und alle reichen ihr Geld nach oben weiter, an irgendeinen feudalistischen Vollidioten vom Land, der gut reden kann und noch nie in seinem Leben gearbeitet hat. Hast du je etwas Mathe gelernt?«
»Ich hab mal eine Goldmedaille in der Matheolympiade unseres Kantons gewonnen!«
»Sehr gut! Mathematik ist sehr nützlich in unserer Welt. Dann lass uns mal ein bisschen rechnen: Wenn auf jeder Stufe der Pyramide doppelt so viele Leute wie auf der vorherigen stehen, wie viele Leuten stehen dann auf der zehnten?«
»Was? Oh. Ähm. Zwei hoch zehn, das ist …«
10 24, dachte Lu.
»Tausendvierundzwanzig, stimmt’s?«
»Ganz genau. Und auf der dreißigsten?«
»Äh …«
Lu nahm sein Handy und benutzte den Taschenrechner.
»Äh …«
»Rate doch einfach.«
»Ziemlich viele. Hunderttausend vielleicht? Nein, eher fünfhunderttausend.«
»Du solltest deine Medaille zurückgeben, Schwester. Es sind mehr als eine Milliarde.« Jie tippte die Zahlen in ihren Computer ein. »1073741824, wenn du es genau wissen willst. In China leben eins Komma sechs Milliarden Menschen. Wenn ihr Kräuterverkäuferinnen alle zwei Wochen neue Verkäufer rekrutieren würdet …«, sie tippte kurz, »dann würde nach gut einem Jahr jeder Mensch in China in eurer Pyramide arbeiten, selbst die kleinsten Babys und die alten Frauen.«
»Oh.«
»Du musst doch von Schneeballsystemen gehört haben. Im wievielten Jahr bist du?« Damit meinte sie: Wie lange ist es her, dass du dein Dorf verlassen hast?
»Im vierten«, gab das Mädchen zu. »Und natürlich habe ich davon gehört. Ich dachte aber, das ist etwas anderes. Ich dachte, weil es doch wirklich ein Produkt gab und immer nur zwei Verkäuferinnen auf einmal …«
»Ich glaube nicht, dass du daran gedacht hast, Schwester. Ich glaube, du hast an eine eigene Wohnung und eine Menge Geld gedacht. Ist es nicht so?«
»Es brachte aber wirklich Geld! Wochenlang! Meine Freundin hatte schon so viel verdient …«
»Auf welcher Pyramidenstufe stand sie? Zehn? Zwanzig? Wenn man von den Neuen stiehlt, um die Alten zu bezahlen, ist das für die Alten eine prima Sache. Für die Neuen aber nicht – für dich und deine Verkäuferinnen.«
»Ich bin ein Dummkopf«, jammerte das Mädchen. »Ich bin ein Ungeheuer! Ich habe das Leben meiner Freundinnen zerstört!« Sie weinte jetzt, schrie ihr Geständnis hinaus, sodass Millionen es hören konnten.
»Das stimmt leider«, sagte Jie mitfühlend. »Du bist ein Dummkopf und ein Ungeheuer, genau wie tausend andere auch. Die Frage lautet jetzt, was wirst du dagegen tun?«
»Was kann ich denn machen?«
»Erst mal kannst du zu schniefen aufhören und dich zusammenreißen. Was ist mit der Freundin, die dich angeworben hat? Jemand hat was gegen sie in der Hand, so wie sie gegen dich. Setz dich also mit ihr zusammen und tu alles, um sie da rauszuholen. Das Schlimmste an diesen Pyramidensystemen ist, dass sie Freunde zu Feinden machen und uns die Menschen betrügen lassen, die wir lieben, damit uns nicht das Gleiche passiert. Selbst wenn du zu den paar Glücklichen an der Spitze gehörst, die wirklich Geld damit verdienen, hast du doch deine Integrität, deine Freunde und deine Seele verkauft. Der einzige Weg zu gewinnen besteht darin, nicht zu spielen.«
»Aber …«
»Aber, aber, aber! Jetzt hör mir mal zu! Du hast mich heute Abend angerufen, weil die Schande, die du auf dich geladen hast, dir den Seelenfrieden raubt. Hast du gedacht, ich würde bloß sagen: Okay, du hast getan, was du musstest, alles halb so wild? Nein! Du kennst mich, ich bin Jiandi. Ich erteile dir keine Absolution. Ich sage dir, was du tun musst, um deine Verbrechen wiedergutzumachen. Du kannst nicht einfach beichten, dich besser fühlen und dann gehen. Jetzt kommt der schwierige Teil! Du musst die Dinge wieder in Ordnung bringen, deinen Freundinnen helfen, deine Integrität und dein Gewissen zurückgewinnen. Hast du verstanden?«
»Ich habe verstanden.« Leise, kläglich.
»Sag das lauter.« Jiandi schnauzte das Mädchen an wie ein General, der einen Befehl erteilt.
»Ich habe verstanden!«
»LAUTER!«
»ICH HABE VERSTANDEN!«
»Gut!« Jiandi lachte und rieb sich das Ohr. »Ich glaube, in Macao haben sie’s auch noch gehört! Braves Mädchen! Jetzt geh hin und tu Gutes!«
Sie klickte, und ein weiterer Werbeblock wurde eingespielt. Lu nahm die Kopfhörer ab und stellte fest, dass seine Augen feucht vor Tränen waren. »Das arme Mädchen«, sagte er.
»Es gibt Tausende wie sie«, erwiderte Jie. »Es ist eine Krankheit, genau wie das Glücksspiel. Die Leute haben einfach keine Ahnung von Zahlen. Sie gewinnen ihre kleinen Mathepreise, aber sie glauben nicht an die Zahlen. Also, du wolltest mir gerade was von irgendeiner Verstärkung erzählen?«
»Ja, von partieller Verstärkung. Mein Freund Matthew, der unsere Gilde führt, hat mir davon erzählt. Der Begriff hat mit Tierversuchen zu tun. Stell dir eine Ratte vor, die immer was zu essen kriegt, wenn sie auf einen Schalter drückt. Wie häufig benutzt sie den Schalter wohl?«
»Immer, wenn sie Hunger hat, nehme ich an. Ich hatte mal Mäuse. Die wussten genau, wann es Essen gab. Sie rannten immer in die Ecke des Käfigs, wo ich es hinwarf.«
»Genau. Was aber, wenn es nur bei jedem fünften Mal Drücken was zu essen gibt?«
»Keine Ahnung – sie benutzen den Schalter seltener?«
»Tatsächlich genauso häufig. Nach einer Weile kapieren die Ratten, dass sie fünfmal drücken müssen, um was zu essen zu bekommen, und immer, wenn sie Hunger haben, gehen sie zum Schalter und drücken fünfmal. Und was ist, wenn man einen Zufallsgenerator benutzt, sodass man manchmal bloß ein einziges Mal, manchmal aber auch hundertmal drücken muss?«
»Sie geben es auf, oder?«
»Falsch! Sie drücken wie verrückt, Tag und Nacht. Wie jemand, der ein bisschen was in der Lotterie gewonnen hat und jetzt jede Woche spielt, bis an sein Lebensende. Die Ungewissheit macht einen verrückt. Nichts macht einen so abhängig wie das. Matthew meint, das ist der wichtigste Aspekt jedes Spieldesigns: An einem Tag besiegt man einen richtig schweren NSC mit einem Glückstreffer, er droppt ein unglaublich wertvolles Item, und man hat in zehn Sekunden mehr als in der ganzen Woche verdient. Von da an muss man immer wieder dahin, schauen, ob wieder so ein Gegner da ist, hoffen, dass es noch einmal passiert.«
»Es ist aber zufällig, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher. Matthew hält es zwar für Zufall, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass die Spielefirma die Chancen absichtlich manipuliert, sodass man gerade dann gewinnt, wenn man eigentlich schon aufgeben wollte.« Er zuckte die Achseln. »Zumindest würde ich es so machen.«
»Wenn es zufällig ist, sollte es keinen Unterschied machen, was du tust und wo du’s tust. Wenn du eine Münze wirfst und zehnmal hintereinander Kopf kommt, hast du beim elften Mal genau die gleiche Chance für Kopf wie vorher, als ständig Zahl gekommen ist. Es steht immer fifty-fifty.«
»Matthew erzählt so was die ganze Zeit. Er meint, auch wenn es unwahrscheinlich sein mag, zehnmal in Folge Kopf zu werfen, hat jeder Wurf für sich genommen die gleiche Chance.«
»Klingt so, als ob er sich mit Mathe auskennt.«
»Tut er. Du solltest ihn mal kennenlernen.« Er schluckte. »Das heißt, wenn er je wieder aus dem Gefängnis kommt.«
»Darum müssen wir uns unbedingt kümmern.«
In den nächsten zwei Stunden redete sie mit sechs weiteren Anruferinnen, und jedes Mal versprach sie ihren Hörerinnen vor den Werbepausen die spannendste Geschichte ihres Lebens, wenn sie nur dranblieben. Zuerst hörte Lu aufmerksam zu, aber sein Kopf schmerzte, und er war so müde, dass er schließlich auf seinem Stuhl zusammensackte und döste. Nur gelegentlich wurden seine Träume von Jie unterbrochen, die die törichten jungen Arbeiterinnen Südchinas schalt.
Er erwachte durch ein paar Tropfen Eiswasser auf dem Gesicht, rang nach Atem, setzte sich auf und öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um Jie lachend wegtänzeln zu sehen. Sie strahlte vor Freude. »Ich liebe meinen Job!«, rief sie. »Du bist als Nächster dran, mein Hübscher.«
Er schaute auf sein Handy und stellte fest, dass er eine ganze Stunde verschlafen hatte. Sein Magen verlangte nach Nahrung. Jie hatte ihre Socken ausgezogen und die oberen zwei Knöpfe ihrer roten Bluse geöffnet. Ihr Haar war offen und das Make-up verschmiert. Anscheinend amüsierte sie sich blendend.
»Was …« Sein Kopf schmerzte, und er hatte einen Geschmack im Mund, als hätte ihn irgendwas als Toilette benutzt.
»Na los«, sagte sie, kam wieder näher und rückte ihm das Headset zurecht. »Es ist gleich acht. Da habe ich immer am meisten Zuhörerinnen. Sie sind dann fertig mit dem Abendessen und dem Tratsch und sitzen alle auf ihren Betten vor ihren Computern und Handys. Und ich kündige dich seit Stunden an. Jedes hübsche Mädchen im Perlflussdelta wartet nur darauf, dich kennenzulernen. Bist du bereit?«
»Ich – ich …« Er hatte einen Knoten in der Zunge. »Ja!«, brachte er schließlich heraus.
»Dann los!«, rief sie, flitzte hinter den Tisch und nahm hastig auf ihrem Stuhl Platz. »Wir gehen auf Sendung in zehn, neun, acht …«
Er schob sein Mikro zurecht, griff nach dem Wasserglas, verschluckte sich beim Trinken, versuchte, das Wasser nicht wieder auszuspucken, verschluckte sich noch schlimmer und bekleckerte sich über und über mit Wasser. Jie lachte und trank selbst noch schnell, ehe sie loslegte.
»Wir sind zurück, zurück, zurück, und nun, liebe Schwestern, habe ich die besondere Überraschung für euch, die ich euch schon die ganze Zeit versprochen habe! Ein Ritter des einfachen Volks, ein Held der Fabriken, ein Piratenjäger im Weltraum und Drachentöter in den Hügeln, ein professioneller Goldfarmer namens …« Sie hielt inne. »Wie soll ich dich nennen, mein Held?«
»Oh!« Er dachte kurz nach. »Tank«, sagte er dann. »Das ist mein Job. Ich bin der Tank.«
»Ein Tank!« Sie kicherte. »Das ist großartig. Oh Schwestern, wenn ihr doch nur diesen großen, muskelbepackten Tank sehen könntet, den ich hier bei mir im Studio sitzen habe. Lasst mich euch von ihm erzählen: Ich habe heute Nachmittag ein kurzes Video gesehen, so wie viele von euch auch, und es war einfach unglaublich: Dutzende von Jungs vor einem großen Internetcafé, die Augen zusammengekniffen, so blass wie neugeborene Mäuse in der Sonne. Es schien sich um eine neue Art von Arbeitern zu handeln, die legendären Goldfarmer von Shenzhen, und sie verlangten einen besseren Job, bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen. Und dass ihren gierigen, boshaften Bossen endlich Grenzen gezogen werden. Kommt euch das bekannt vor, Schwestern?
Dann kam die Polizei, die elenden jingcha, mit Helmen und Knüppeln und Gas, maskierte Feiglinge mit brutalen Waffen gegen diese Jungen, die doch nur Gerechtigkeit wollten. Doch sind die Jungen geflohen? Nein! Sind sie wieder an die Arbeit gegangen und haben sich bei ihren Bossen entschuldigt? Nein! Die Mäusearmee hat ihren Mann gestanden, hat eingefordert, was ihr zusteht: den Arbeitsplatz und das Zuhause, für das sie mit ihren Löhnen zahlen. Und was haben die jingcha gemacht? Erzähl’s mir, Tank, was haben sie gemacht?«
Lu schaute sie an, als ob sie verrückt wäre. Während sich die Stille hinzog, machte sie drängende Bewegungen mit der Hand.
»Ich … äh … Sie haben uns zusammengeschlagen!«
»Das haben sie allerdings! Schwestern, ladet euch jetzt bitte das Video runter! Schaut, wie die jingcha von Shenzhen angreifen, den Jungen die Schädel einschlagen, sie mit Tränengas einsprühen und niederknüppeln. Und jetzt richtet euer Augenmerk mal auf einen tapferen Recken am linken Rand, bei 14:22. Kräftiges Kinn, große Augen, ein paar Sommersprossen um die Nase, Haare ganz durcheinander. Seht ihr, wie er seinen Mann steht, Seite an Seite mit seinen Freunden, die ganze Zeit? Wie man ihm von hinten den Knüppel zwischen die Schultern schlägt? Wie der Kerl den Knüppel wieder hebt und dem armen Jungen auf den Kopf schlägt? Das Blut, das aus der Wunde spritzt? Dieser Junge, meine Schwestern, das ist Tank, der mir nun gegenübersitzt, blutig, aber ungebrochen, tapfer und stark, während er für die Rechte der Arbeiter kämpft …«
Sie brach in Gekicher aus. Lu musste ebenfalls grinsen. »Tut mir leid, tut mir leid. Also, er ist ein sehr netter Junge und sieht auch nicht schlecht aus, und die jingcha haben ihn fertiggemacht, als wollten sie ein Steak weich klopfen. Dabei hat er nur auf seinem Recht beharrt, wie ein Mensch und nicht wie ein Tier behandelt zu werden. Und da ist er nicht allein. Alle reden von der ›Volksrepublik China‹, aber das Volk wird nicht gehört, wenn es um solche Fragen geht. Es dreht sich alles nur um Korruption und Ausbeutung.
Ich fand dieses Video sehr aufschlussreich, eine echte Inspiration. Und dann hab ich ihn auf einmal vor mir gesehen, unseren Tank, wie er benommen und ganz blutig durch … durch eine Gegend lief, die ich nicht nennen werde. Die jingcha brauchen nicht zu wissen, welche Überwachungsbänder sie sich anschauen müssen. Ich sah ihn und sagte ihm, dass ich ihn euch vorstellen will, meine Freundinnen. Und da erzählte er mir die erstaunlichste Geschichte, die ich je gehört habe – und ihr wisst, dass ich hier jeden Abend viele erstaunliche Geschichten höre. Eine Geschichte über eine globale Bewegung mit dem Ziel, das Los aller Arbeiter, überall, zu verbessern, und ich hoffe, dass er uns diese Geschichte jetzt erzählen wird. Also Tank, mein Schatz, fang doch mit deinen Verletzungen an. Kannst du sie unseren Freundinnen dort draußen beschreiben?«
Lu kam ihrer Aufforderung nach und erzählte schließlich die ganze Geschichte: wie er ein Goldfarmer geworden war und sein Leben heute aussah. Er erwähnte auch das, was ihm Matthew erzählt hatte – dass Boss Wing Matthew und dessen Freunde gezwungen hatte, wieder für ihn zu arbeiten, als sie hatten aussteigen wollen. Er redete und redete, bis das Wasser alle und sein Mund ganz trocken war. Barmherzigerweise brach Jie irgendwann ab, um einen neuen Werbeblock zu schalten.
Während sie ihm frisches Wasser brachte, sank er auf seinem Stuhl zusammen. »Du solltest die Chats sehen«, sagte sie. »Sie sind alle in dich verliebt, Tank. Wie du damals den Mädchen in Shilong geholfen hast! Du bist ihr Held. Dutzende hier behaupten, dass sie an dem Tag dort gewesen sind und gesehen haben, wie du über den Zaun geklettert bist. Hör dir das an: ›Seine Muskeln spannten sich wie Eisenbänder … Er erklomm den Zaun wie eine mächtige Dschungelkatze …‹«
Lu prustete so los, dass er Wasser in die Nase bekam. Jie drückte seinen Bizeps. »Du musst mehr trainieren, Dschungelkätzchen, deine Muskeln sind ja ganz weich!«
»Wieso hast du eigentlich Chats und all das? Werden die nicht blockiert?«
»Ach, das ist einfach«, erwiderte sie. »Manchmal schnappen wir uns irgendeinen Blog, normalerweise einen, der seit ein, zwei Jahren nicht mehr benutzt worden ist, und übernehmen bei einem der Einträge die Kommentarseite. Sobald die blockiert wird – oder der Server abschmiert –, springen wir zum nächsten Blog. Das ist ganz leicht. Und macht Spaß!«
Er lachte und schüttelte den Kopf, wodurch er wieder Kopfschmerzen bekam. Er zuckte zusammen und hielt sich den Kopf. »Einfach genial!«
Die Werbung war fast vorbei, und sie setzten sich rasch wieder hin und rückten ihre Mikros zurecht. Lu wurde immer besser. Das Reden fiel ihm jetzt so leicht wie der Chat mit seinen Gildies. Er war schon immer der Geschichtenerzähler gewesen.
Und die Geschichte ging noch weiter: Er erzählte, wie die Webblys auf ihn und seine Gilde zugekommen waren, ihnen von der Notwendigkeit erzählt hatten, zusammenzuhalten, sich gegenseitig zu helfen und vor den Bossen, den Firmen oder Spielern zu schützen, die Jagd auf Goldfarmer machten.
»Sie wollen die chinesischen Arbeiter vereinen«, erklärte Jie und nickte weise.
»Nein!« Seine eigene Entschiedenheit überraschte ihn. »Bloß die chinesischen Arbeiter zu vereinen, wäre sinnlos. Die Arbeit könnte leicht nach Indonesien, Vietnam, Kambodscha oder Indien ausgelagert werden – wo immer Arbeiter nicht organisiert sind. Es ist immer dasselbe, und das nicht nur bei den Goldfarmern. Man kann jeden Job in Null Komma nichts an jeden Ort der Welt verlagern, wo man eine Fabrik bauen und mit einem Schiff anlegen kann. So was wie ›chinesische Arbeiter‹ gibt es nicht mehr. Bloß Arbeiter! Und deshalb bringen die Webblys uns überall zusammen.«
»Das sind eine Menge Arbeiter«, warf sie ein. »Wie viele habt ihr schon?«
Er ließ den Kopf hängen. »Jiandi, wir können den Counter alle sehen, und klar jubeln wir, wenn es wieder ein paar Hundert mehr geworden sind, aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Hey Tank, nicht den Mut verlieren. Zehntausende von Menschen! Das ist doch fantastisch! Und ich bin mir sicher, dass wir euch noch ein paar Mitglieder mehr bringen können. Wie können meine Hörerinnen beitreten?«
»Hm? Oh!« Er versuchte sich den Ablauf wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Ihr müsst mindestens fünfzig Prozent eurer Kolleginnen davon überzeugen mitzumachen, dann bestätigen wir die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft für die ganze Firma.«
»Oh nein! Fünfzig Prozent! Die großen Fabriken haben fünfzigtausend Arbeiter! Wie wollt ihr das hinkriegen?«
Er zuckte die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Bisher haben wir vor allem kleinere Fabriken aufgenommen. Meist nicht mehr als zweihundert Arbeiter. Es muss aber gehen. Auf der ganzen Welt haben sich Belegschaften egal welcher Größe organisiert.« Er schluckte, sich vollauf bewusst, wie wenig überzeugend das klang. »Weißt du, dafür ist normalerweise Matthew zuständig. Er kennt sich mit so was aus. Ich bin bloß der Tank, verstehst du? Ich stell mich vorne hin und stecke die ganzen Schläge ein. Mit Matthew können wir aber nicht reden, weil er im Gefängnis sitzt.«
»Richtig, im Gefängnis. Erzähl uns doch, was heute passiert ist.«
Also erzählte er ihnen die Geschichte der Schlacht, all den Millionen von Mädchen dort draußen in den Städten Guangdongs, und es … trug ihn geradezu davon. Zurück zum Café, zu den Sprechchören, zur Polizei und den Schreien. Wie aus weiter Ferne, überlagert von Erinnerungen an das Gebrüll vor dem Café, drang ihm die eigene Stimme an die Ohren, und als er fertig war, sprang er zurück ins Hier und Jetzt und sah Jie, die ihn mit nassen Augen und offenem Mund anstarrte. Er schaute auf sein Handy. Es war fast Mitternacht.
Er zuckte die Achseln. Sein Mund war ganz trocken. »Ich … ich glaube, das war’s.«
»Wow«, hauchte Jie und spielte einen weiteren Werbeblock ein. »Geht’s dir gut?«
»Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er zwischen zwei schweren Felsbrocken zerquetscht worden.« Er verlagerte sein Gewicht und zuckte zusammen. »Und meine Schulter brennt wie verrückt.«
»Ich hab dich hier ganz schön auf Trab gehalten«, bemerkte sie leicht schuldbewusst. »Wir sind aber fast fertig. Du bist schon ein harter Bursche, nicht?«
Er fühlte sich keineswegs wie ein harter Bursche. Ehrlich gesagt war ihm ganz elend bei dem Gedanken, dass er davongekommen war, während all seine Freunde eingesperrt worden waren. Sein Verstand sagte ihm zwar, dass sie nichts davon hätten, säße er jetzt gemeinsam mit ihnen im Gefängnis, aber seine Gefühle sprachen eine andere Sprache.
»Okay«, sagte Jie, »wir sind wieder auf Sendung. Was für eine Geschichte! Schwestern, habe ich euch nicht versprochen, dass wir etwas ganz Besonderes für euch haben? Jetzt ist es aber langsam Zeit, uns zu verabschieden – wir brauchen alle etwas Schlaf, bevor es morgen zurück an die Arbeit geht. Nur noch eins: Was können wir dagegen tun?«
Auf einmal klang sie nicht mehr müde und beruhigend. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie umklammerte die Kante ihres Tischs. »Wir verlassen unsere Dörfer auf der Suche nach ehrlicher Arbeit und anständiger Bezahlung, um unseren Familien zu helfen und selbst über die Runden zu kommen. Und was erwartet uns hier? Schmierige Perverse, die uns nur ausnutzen wollen, auf und außerhalb der Arbeit. Verdammte Kriminelle, die jeden zerstören, der den Finger auf ihr System legt! Polizisten, die uns zusammenschlagen und ins Gefängnis stecken, wenn wir es wagen, den Status quo infrage zu stellen!
Schwestern, so kann es nicht weitergehen! Tank hier sagt, so was wie chinesische Arbeiter gäbe es nicht mehr – nur noch Arbeiter. Vor heute Nacht habe ich noch nie von seinen Webblys gehört, und ich habe keine Ahnung, ob es irgendeinen Unterschied zwischen ihnen und eurem Boss oder dem Dieb an der Spitze des nächstbesten Schneeballsystems gibt, und es ist mir auch gleich. Wenn sich Arbeiter überall für ein besseres Leben zusammentun, dann will ich dabei mitmachen, und ihr wollt das auch!
Ich sage euch, was als Nächstes passiert: Tank und ich gehen die Webblys suchen, und dann werden wir etwas Großes planen. Etwas Riesiges! Ich weiß noch nicht was, aber es wird die Dinge für immer verändern. Es gibt Millionen von uns! Alles, was wir machen, ist groß.
Ich muss euch ein Geständnis machen.« Ihre Stimme wurde leiser. »Eine Sünde beichten. Ich mache diese Show, weil sie mir Geld bringt. Eine Menge Geld. Es kostet mich ziemlich viel, der zengfu immer einen Schritt voraus zu sein, aber es bleibt genug übrig. Mehr als ihr verdient, muss ich gestehen. Es ist eine Weile her, dass ich so arm war wie ihr. Ich bin praktisch reich. Nicht so reich wie ein Boss, aber schon reich, versteht ihr?
Aber ich stehe auf eurer Seite. Ich habe mit dieser Show nicht angefangen, um reich zu werden. Ich habe damit angefangen, weil ich eine junge Arbeiterin war und meinen Schwestern helfen wollte. Die Ersten von uns kamen zu Zeiten Deng Xiaopings nach Dongguan, als die Fabriken noch florierten. Generationen später kommen wir immer noch her, wir armen Landmäuse, und stranden in den Fabriken, in denen wir schuften. Für jeden Yuan, den wir nach Hause schicken, stecken unsere Bosse hundert ein. Und wenn wir alt sind, was wird dann? Dann werden wir zu einem der alten Mütterchen, die am Straßenrand betteln.
Also schaltet morgen wieder ein. Wir werden mehr über diese Webblys herausfinden, einen Plan schmieden und ihn euch unterbreiten. In der Zwischenzeit lasst euch nicht alles gefallen. Lasst nicht zu, dass die Polizei euch oder eure Brüder und Schwestern herumstößt. Und seid nett zueinander – wir stehen alle auf derselben Seite.«
Sie klickte mit der Maus und schloss den Deckel des Laptops.
»Puh!«, rief sie. »Was für eine Nacht!«
»Ist deine Show immer so?«
»Nicht so gut, Tank. Du hast sie wirklich besser gemacht. Ich bin froh, dass ich dich vom Bahnhof entführt habe.«
»Ich auch«, sagte er. Er war so müde. »Ich rufe dich morgen dann wegen der nächsten Sendung mal an, okay? Vielleicht können wir uns ja morgen früh treffen und versuchen, die Webblys oder meine Gilde zu erreichen, wenn noch nicht alle im Gefängnis sitzen.«
»Anrufen? So ein Blödsinn, Tank. Ich lasse dich nicht aus den Augen.«
»Ist schon okay«, wehrte er ab. »Ich finde schon was zum Schlafen.« Als er damals nach Shenzhen gekommen war, hatte er ein paar Nächte in Parks geschlafen. Das konnte er auch jetzt tun. Wenn es nachts nicht regnete, war es gar nicht so schlimm. Hatte es heute Wolken gegeben? Er konnte sich nicht mehr erinnern.
»Ja, das wirst du auch – hinter diesem Durchgang, gleich da drüben.« Sie deutete zum Schlafzimmer.
Auf einmal war er hellwach. »Oh, ich kann doch nicht …«
»Klappe halten und schlafen gehen. Du hast eine Kopfverletzung, Dummerchen. Und du hast mir gerade stundenlang beste Radiounterhaltung beschert. Du brauchst es, und du hast es dir verdient. Ein Bett. Hier und jetzt.«
Er war zu müde, um zu streiten. Auf dem Weg zum Bett stolperte er, und sie fegte gerade noch rechtzeitig die Kleider, Spielsachen und Taschen vom Bett. Dann deckte sie ihn zu und küsste ihn auf die Stirn. »Süße Träume, Tank«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er fragte sich noch, wo sie wohl schlafen würde, als sie das Zimmer verließ und er sie wieder an ihrem Computer hörte. Zum Klang der Tasten schlief er ein.
Nur im Halbschlaf bekam er mit, wie sie später zu ihm unter die Decke schlüpfte, sich an ihn schmiegte und sanft zu schnarchen begann.
Doch als eine Stunde später zehn Polizeiwagen mit gellenden Sirenen vorm Haus hielten und der Suchscheinwerfer eines Helikopters das gesamte Gebäude in grelles Tageslicht tauchte, war er hellwach. Jie versteifte sich und schwebte praktisch aus dem Bett.
»Zwanzig Sekunden!«, rief sie im Befehlston. »Schuhe, Handy, was du sonst noch brauchst. Wir kommen nicht wieder her!«
Dunkel verspürte Lu einen gewissen Stolz darüber, wie ruhig er blieb, als er aufstand und ohne Eile seine Schuhe – gewöhnliche, billige Tennisschuhe – band, danach seine Jacke überzog und mit wenigen Schritten ins Wohnzimmer wechselte, wo Jie gerade Lösungsmittel über alle Flächen des Zimmers vergoss. Der Geruch war so scharf wie seine Kopfschmerzen und verstärkte sie noch.
Sie nickte ihm zu und deutete auf eine weitere Flasche Lösungsmittel. »Du übernimmst Schlafzimmer und Bad.« Schnell kam er ihrer Aufforderung nach. Wahrscheinlich würde dies alle Fingerabdrücke und anderen Rückstände vernichten. In weniger als einer Minute war er fertig, da reichte sie ihm auch schon einen Frischhaltebeutel voll Staub. »Mit dem Handsauger von den Sitzen aus dem Zug nach Hongkong aufgelesen«, erklärte sie. »Hautzellen von einer Million Leute. Bitte gleichmäßig verteilen. Rasch!«
Der Staub ließ ihn niesen, klebte an seinen Händen und war wirklich ziemlich eklig, doch er nahm nur noch die Sirenen und das Donnern des Helikopters wahr. Während er das Genmaterial überall verteilte, sah er zu, wie Jie den USB-Stick aus ihrem Laptop zog und in ihren Ausschnitt rutschen ließ, und das brachte ihn schließlich doch aus der Ruhe. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er die Nacht neben diesem wunderschönen Mädchen verbracht hatte. Und er hatte sie nicht mal geküsst, geschweige denn die geheimnisvollen und faszinierenden Brüste berührt, die nun einen kleinen, aber extrem kompromittierenden Datenträger mit ihrer Wärme umschlossen – einen winzigen Chip, der sie beide für immer ins Gefängnis bringen konnte.
Jie sah sich um und ging im Kopf kurz eine Checkliste durch. Dann nickte sie bestimmt und sagte: »Alles klar, verduften wir.« Sie führte ihn auf den Flur hinaus, der hell erleuchtet und verlassen dalag. Lu kam sich extrem schutzlos vor. Hastig zog Jie eine kleine Brechstange aus ihrer Handtasche und öffnete geschickt die Abdeckung eines Sicherungskastens bei den Fahrstühlen. Eine ordentliche Reihe kleiner schwarzer Plastikschalter kam zum Vorschein. Sie suchte abermals in ihrer Tasche, fand ein Einwegfeuerzeug und hielt die Flamme an eine kleine Lasche aus weißem Vinyl oder Hochglanzpapier, die aus einer unauffälligen Naht des Kastens ragte. Es zischte und blitzte, und ein Kringel schwarzen Rauchs stieg davon auf. Das Papier verbrannte sofort, und die Glut verschwand hinter der Reihe von Schaltern.
Eine Sekunde später explodierte der Kasten in einem hellen Funkenregen. Befriedigt betrachtete Jie die Flammen und die dunklen Rauchschwaden, die aus der Wand leckten. Gleich darauf gingen alle Lichter aus, und ein Feueralarm wurde aktiviert – ein schrilles Läuten, das ihnen durch Mark und Bein fuhr und selbst die Helikopter und Sirenen übertönte.
Jie knipste eine kleine rote LED-Lampe an, die ihr Gesicht in dämonisches Licht tauchte. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich, und das beruhigte Lu.
»Was jetzt?«, fragte er.
»Jetzt spazieren wir einfach raus, zusammen mit allen anderen, die vor dem Feueralarm fliehen.«
Überall im Gebäude gingen die Türen auf. Verschlafene Familien traten heraus, und schwarzer, beißender Rauch zog durch die Flure. Sie rannten zum Treppenhaus, wo sie tags zuvor der alten Frau begegnet waren. Dort stießen sie auf Hunderte, Tausende weiterer Flüchtlinge, die ihre Babys und Besitztümer an die Brust pressten und ältere Familienmitglieder bei der Hand hielten.
Vor dem Gebäude versuchte die Polizei, sie in geordnete Gruppen einzuteilen, doch der Ansturm und die Verwirrung waren einfach zu groß. Es fiel ihnen leicht, durch die Absperrung zu schlüpfen und sich unter die Gaffer zu mischen.
Ob man nun ein Revolutionär, ein Fabrikbesitzer oder ein Hockeymanager der Zweiten Liga war, es gab etwas, das zu übersehen man sich nicht leisten konnte: die Coase-Kosten.
1937 veröffentlichte Ronald Coase, ein amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, einen Artikel namens »The Nature of the Firm«, der alles verändern sollte. Coase behauptete in seinem Aufsatz, das Kerngeschäft egal welcher Organisation bestehe darin, Menschen zu organisieren: Eine Religion sei dazu da, Leute zum Gebet zu vereinen und sie für Kirchen, Priester oder Rabbis spenden zu lassen; eine Schuhfabrik bringe Leute zur Herstellung von Schuhen zusammen; eine revolutionäre Zelle organisiere die Bestrebungen von Menschen, ihre Regierung zu stürzen.
Demnach war Organisation eine Art Steuer auf menschliche Aktivitäten. Für jede Minute, die man damit zubrachte, irgendwas zu tun, musste man auch ein paar Sekunden dem organisatorischen Aufwand opfern, damit man im Vergleich zu seinen Mitarbeitern nicht schneller, langsamer oder ganz an ihnen vorbei arbeitete. Diese paar Sekunden, die man der Organisation selbst entrichtete, waren die Coase-Kosten – der Tribut, den man der Tatsache zollte, dass Menschen eben keine Ameisen, Bienen oder sonst eine Spezies sind, die rein aus Instinkt in Formation agiert.
Natürlich war es möglich, diese Kosten zu umgehen: Man musste sich bloß an Projekte halten, für die man keinerlei Hilfe brauchte, wie zum Beispiel … hm, Schuhe binden? (Nein, es sei denn, man flocht sich seine eigenen Senkel.) Sandwichs toasten vielleicht? (Nur, wenn man sich Feuerholz, den Weizen fürs Brot und die Milch für den Käse selbst beschaffte.)
Tatsache war: Fast alles, was man tat, war Gemeinschaftsarbeit. Irgendwer dort draußen hatte immer dazu beigetragen. Und deshalb war ein Teil aller Kosten stets der reinen Koordination geschuldet: dass der Käse in den Kühlschrank kam und der Kühlschrank auch mit Strom versorgt wurde.
Man konnte die Coase-Kosten also nicht völlig vermeiden; man konnte sie nur senken, und dafür gab es zwei Möglichkeiten. Die eine bestand darin, bessere Formen der Organisation zu finden. Doppelte Buchführung zum Beispiel war eine Erfindung des dreizehnten Jahrhunderts, die einschlug wie eine Bombe und bald Grundlage des Geldverdienens auf der ganzen Welt wurde, ob bei Kirchen, Regierungen oder Firmen. Die andere Möglichkeit war, neue Technologien zu entwickeln.
Angenommen, man wollte an irgendeinem Freitagabend im Jahre 1950 einen Film sehen, und zwar nicht allein, sondern mit Freunden, dann musste man sich zunächst einmal eine Zeitung suchen und nachschauen, was lief. Danach musste man bei seinen Freunden daheim anrufen (keine Handys!) und ihnen – zum Beispiel über die Eltern – eine Nachricht hinterlassen. Als Nächstes wartete man ab, wer alles zurückrief und was die Leute gerne sehen wollten. Dann rief man wieder alle an und versuchte, eine kritische Masse von ihnen für den gleichen Film zu begeistern. Schließlich musste man zum Kino fahren oder laufen und einander dort finden, immer in der Hoffnung, dass die Vorstellung nicht schon ausverkauft war.
Wie viel das einen kostete? Man hätte auch fragen können, wie viel der Kinoabend eigentlich wert war. Anders ausgedrückt: Wie viel Geld würde jemand einem zahlen müssen, damit man auf den Filmabend verzichtete? Oder auch: Ab welchem Eintrittspreis würde man lieber etwas anderes tun?
Daraus konnte man dann die Coase-Kosten ableiten: Wie viel musste man jemandem bieten, damit er einem die ganze Organisation abnahm? Oder: Wie viel Geld konnte man in derselben Zeit in einem Nebenjob verdienen, statt mit seinen Freunden am Telefon fangen zu spielen?
Am Ende kam etwas dabei heraus, das etwa so aussah:
[Wert des Films] – [Kosten, seine Freunde dafür zusammenzutrommeln] = [Nettowert des Kinoabends]
Aus diesem Grund konnte es passieren, dass man etwas weniger Schönes, aber Einfacheres (wie daheimzubleiben und fernzusehen) einer schöneren, jedoch komplizierteren Unternehmung vorzog. Ein Kinoabend war zwar eine tolle Sache – aber wenn es einfach zu nervtötend wurde, die Leute dafür zu mobilisieren, sank die Zahl solcher Abende dramatisch.
Fünf, sechs Jahrzehnte später stellte sich das alles schon ganz anders dar. Angenommen, es war wieder Freitagabend, eine knappe Stunde vor Filmbeginn: Dann nahm man sein Handy und googelte, was in den Kinos lief, sortiert nach Entfernung. Die Auswahl schickte man dann seinen Freunden (wenn das Handy smart genug war, dann nur denen in der Nähe). Alle Leute schickten ihre Antworten an alle, und ein paar E-Mails später hatte man genügend Freundinnen und Freunde für einen schönen Abend beisammen. Die Karten kaufte man auch gleich per Handy.
Falls man sich in der Menschenmenge vor dem Kino nicht fand, telefonierte man sich einfach zusammen und machte als Treffpunkt die Snackbar aus. Und kurz darauf saß man mit einer Tüte Popcorn auf seinem Platz.
Ja und? Wieso sollte es irgendwen kümmern, wie viel es kostet, irgendwas auf die Reihe zu kriegen? Weil diese Kosten der Preis dafür sind, übermenschlich (im Sinne von über die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen hinaus) zu agieren.
In der guten alten – der sehr alten – Zeit waren unsere Vorfahren noch einzelgängerische Affen. Sie arbeiteten paarweise oder allein, sammelten Essen, versorgten die Kleinen, hielten nach Räubern Ausschau, kümmerten sich um den Schlafplatz. Das brachte gewisse Beschränkungen mit sich: Wenn man mit Babysitten beschäftigt war, konnte man schlecht gleichzeitig auf Essenssuche gehen. War man auf Essenssuche unterwegs, entging einem vielleicht der Tiger – und der Nachwuchs war futsch.
Dann betrat ein Stamm von Affen die Bildfläche, bei denen die Arbeit geteilt wurde. Der Stamm bestand nicht mehr nur aus Einzelgängern, sondern aus Gruppen, und die konnten mehr, als in der Macht eines einzelnen Affen stand. Gewissermaßen waren sie über ihre eigene Affigkeit hinausgewachsen: Sie waren zu Superaffen geworden.
Ein Superaffe zu sein, war ganz schön schwer. Für den Einzelnen boten sich zwei Möglichkeiten, davon zu profitieren: Entweder, man machte mit, fütterte gemeinsam mit seinen Affenkumpels die Kleinen und hielt ein Auge auf die Tiger – oder man hielt ein Nickerchen im Gebüsch, tat so, als arbeitete man, und kreuzte nur zum Essen auf.
Aus der Perspektive des Einzelnen war es nicht mal unvernünftig, der faule Affe zu sein: Ein oder zwei Faulpelze konnte der Stamm immer verkraften. Und wenn man damit durchkam und immer noch satt wurde, wieso auch nicht?
Kamen aber alle auf die Idee, dann war’s das mit den Superaffen: Niemand sammelte mehr Früchte, keiner kümmerte sich um die Kinder – und Mist, ich dachte, du kümmerst dich um die Tiger! Viele faule Affen plus ein Tiger machten eine ordentliche Mahlzeit.
Deshalb brauchten Affen – und ihre haarlosen Nachfahren auch – spezielle Hardware, um Mogler zu bemerken und zu bestrafen, bevor sich deren Verhalten durchsetzte und die Tiger kamen. Diese spezialisierte Hardware war das Gewebe rund um das Großhirn namens Neocortex, die »neue Rinde«. Der Neocortex war dafür zuständig, ein Auge auf die anderen Affen zu halten. Er war der Teil des Gehirns, der die sozialen Kontakte organisierte und überwachte, sich in sie verliebte oder sie hassen lernte. In ihm waren Repräsentationen aller Menschen verstaut, die man kannte. Dort gab es am meisten Aktivität, wenn man mit Facebook oder anderen sozialen Netzwerken herumspielte. Und auch die mütterliche Stimme, die einen ans Zähneputzen erinnerte, kam von dort.
So gesehen waren der Neocortex und seine Synapsen die Coase-Kosten des Gehirns. Jeder Atemzug, den man tat, jede Kalorie, die man zu sich nahm, jeder einzelne Herzschlag versorgte auch diese neue Rinde, die sich um die anderen in der Gruppe kümmerte und schaute, ob sie mitspielten oder über die Stränge schlugen.
Damit stellten die Coase-Kosten auch die natürliche Grenze übermenschlichen Strebens dar. Waren sie geringer als der Wert eines beliebigen Vorhabens, dann konnte man sich ein paar Freunde holen und es angehen; im Klartext: über die Schranken, die die Natur uns haarlosen Affen auferlegt hatte, hinauswachsen und Übermenschliches vollbringen.
Daraus folgte auch, dass geringe Coase-Kosten einen mächtiger machten. Gleichzeitig taten sich große Unternehmen mit viel Macht und Geld auch leichter, hohe Coase-Kosten zu bewältigen: Eine Regierung konnte 10000 Soldaten mit Panzern, Proviant und Sanitätern in die Schlacht schicken; ein einzelner Mensch konnte das nicht. So gesehen schränkten hohe Coase-Kosten nur das Potenzial des Einzelnen für Übermenschliches ein, während die Reichen und Mächtigen über Superkräfte verfügten, die einfache Menschen niemals erlangten.
Und das war der wahre Grund, weshalb die Mächtigen offene Systeme und Netzwerke so fürchteten: Wenn nämlich jeder jeden auf der Welt kostenlos übers Internet anrufen konnte, dann konnten alle mit derselben Leichtigkeit kommunizieren, die für die Mächtigen schon lange gang und gäbe war. Wenn jeder in der Spielwelt virtuelle Reichtümer schaffen und verkaufen konnte, dann steckten, wirtschaftlich gesehen, auf einmal alle Menschen in denselben Schuhen wie die multinationalen Megakonzerne, denen die Spiele gehörten.
Und wenn irgendein Arbeiter, egal wo, mit irgendeinem anderen Arbeiter anderswo kostenlos und ohne Verzögerung kommunizieren konnte und dafür nicht mal die Erlaubnis seines Chefs benötigte, dann taten die Bosse besser daran, sich warm anzuziehen: Denn die Kosten dafür, bessere Löhne, Arbeitsbedingungen und ein Stück vom großen Kuchen einzufordern, waren gerade mächtig gesunken.
Kein Herrscher aber hatte Lust, sich seine Macht von ein paar Gemeinen streitig machen zu lassen.
Die Kommandozentrale von Coca-Cola-Games war von einem der weltweit führenden Filmset-Designer entworfen worden. Die Auftraggeber hatten sich einen Raum gewünscht, von dem aus man auch ein böses Imperium hätte lenken können. Er hätte sich aber auch ganz gut zur Leitstelle einer intergalaktischen Raumflotte oder einer Armee von Hightech-Söldnern geeignet. Hier bestand alles nur aus Kurven, gebürstetem Edelstahl und Punktstrahlern, und was man nicht verchromt hatte, war schwarz und mit abgewetztem Vintage-Leder aus alten Bikerjacken akzentuiert. Überall schlummerten versteckte Bildschirme: in den Tischen, im Boden, an der Decke oder an der Rückseite einer Tür. An jeder Wand konnte man schreiben, indem man einen der mit RFID-Chips und Beschleunigungssensoren ausgestatteten Spezialstifte benutzte. Die Daten wurden an einen Computer übertragen, der sie wiederum auf drahtlos miteinander vernetzten Touchscreens darstellte, die überall mit Klettbändern fixiert waren.
Schicke Bilder der Kommandozentrale schmückten die Werbeseiten von Coca-Cola-Games, und natürlich hatte CCG auch ein paar selbstverliebte Dokumentationen über sich in Auftrag gegeben, in denen alles noch wie aus dem Katalog wirkte und voll mit frischen, jungen Leuten war, die modische Klamotten trugen und schrecklich fröhlich und intelligent rüberkamen.
Das alles war eine Lüge.
Zehn Sekunden, nachdem die Herren der Spiele in der Kommandozentrale Quartier bezogen hatten, war jeder Touchscreen kaputt oder gestohlen. Die in die Tische eingelassenen Terminals waren veraltet, noch bevor sie richtig liefen, und fügten sich in ihr schmähliches Schicksal als Abstellplätze für brandneue Laptops, deren Grafikkarten so heißliefen, dass ihre Kühler wie Düsentriebwerke klangen.
Weitere fünfzehn Sekunden später war jeder freie Stellplatz übersät mit Junkfood-Abfall, Pizzakartons, Energydrinks, Science-Fiction-Heftchen, gebrauchten Taschentüchern, Wollmützen, aus Notizzetteln gefalteten Orkhelm-Origamis und der unendlichen Vielfalt blödsinniger Werbegeschenke, die CCG zu seinen Spielen rausbrachte, von Bonbonspendern über Fahrradventile bis hin zu Trading-Cards und Taschenmessern.
Noch einmal zwanzig Sekunden später nahm der Raum den typischen Gamergeruch an, eine berauschende Mischung aus Achselschweiß und Pizzafett, billigem Rasierwasser, ungewaschenen Haaren, japanischen Jeans und Motorenöl.
So war die todschicke Zentrale der Supergenies zur exklusiven Versammlungshöhle eines Stamms wilder Spielbetreiber geworden, die sich, eifersüchtig und überbezahlt, fortan schreiend und Zähne fletschend darin verschanzt hielten. Keine Reinigungskraft wagte, ihr Reich zu betreten. Selbst die persönlichen Assistenten trauten sich bloß bis zur Tür, wo sie unterwürfig um Audienz baten und sich unter den nach ihnen geworfenen Abfällen wegduckten. Die Herren des Spiels ließen sich nicht gern bei der Arbeit stören.
Connor Prikkel hatte sein erwähltes Volk gefunden. Offiziell war er Vizepräsident, aber der einzige Mensch, der ihm unterstellt war, war ein persönlicher Assistent. Dessen Job war es, Connor ein paar Mal im Monat aus der Kommandozentrale zu fischen, ihn im firmeneigenen Fitnessstudio einer Dampfreinigung zu unterziehen, ihn in den firmeneigenen Jet zu setzen und ihn auf der ganzen Welt auf Presse und Spieler loszulassen, damit er ihnen – mit überlegenem Lächeln – erklärte, wie genau es Coca-Cola-Games eigentlich schaffte, drei der zwanzig größten Wirtschaftsräume der Welt zu kontrollieren.
Die restliche Zeit war es Connors Aufgabe, an dem zu arbeiten, was sich am ehesten als eine Art Fingerspitzengefühl bezeichnen ließe – jenes gewisse Prickeln, das man auf dem weichen Polster der Nervenenden an der Spitze seiner Finger zu spüren glaubt, wenn die ganze Welt darauf zur ruhen scheint. Das Gefühl, wenn man einen Basketball locker in den Händen hält und ganz genau weiß, wohin man treffen wird. Oder wenn man ein Baby hält und spüren kann, wie es einschläft oder aufwacht. Das Gefühl, wenn man den Lenker seines Rads nur ganz leicht berührt, während man einen steilen Hügel hinab schießt, und gerade so viel bremst, dass man auf der messerscharfen Linie zwischen sicherer Ankunft und einem Überschlag balanciert.
Propriozeption bezeichnet die Fähigkeit, die Lage des eigenen Körpers im Verhältnis zu seiner Umgebung wahrzunehmen. Es ist ein sechster Sinn, und in der Regel bemerkt man ihn nicht mal, bis man ihn verliert – beispielsweise dann, wenn man seine Finger miteinander verknotet und feststellt, dass man mit dem linken Zeigefinger wackelt, obwohl man den rechten hatte nehmen wollen; oder wenn man am Ende einer Treppe ins Leere tritt, weil man noch eine nicht existierende Stufe hatte nehmen wollen.
Jenes besondere Fingerspitzengefühl ist in gewisser Weise die Propriozeption der ganzen Welt, eine Ausdehnung dieses sechsten Sinns auf die gesamte Umgebung. Manche Lehrer können die schlechte Stimmung ihrer Klasse förmlich riechen. Fußballspieler können es spüren, wenn ein Mannschaftskamerad am anderen Ende des Felds auf den Ball wartet.
Connors sechster Sinn ließ ihn alles spüren, was in den von ihm betreuten Spielen vor sich ging. Er wusste es, wenn die Goldfarmer in Svartalfheim Warriors eine große Aktion vorbereiteten oder Zombie Mecha in der Spielergunst abstürzte. Er wusste Bescheid, wenn eine große Gilde einen Raid in Odins Festung durchzog, sechshundert Menschen in sechshundert Avataren, mit Generälen, Captains und Lieutenants. Er spürte es auch, wenn es in Zombie Mecha einen Stau auf der Brooklyn Bridge gab, weil zu viele Ronin nach Manhattan strömten, um das Flatiron Building leerzuräumen.
All dieses Wissen fand seinen Weg durch eine Vielzahl sich ständig verändernder Quellen zu ihm – Tabellen, Chat-Logs, Server-Logs, Balkendiagramme, die ihn über Server- und Speicherauslastung, unerwartete Ausfälle, Abwanderungsquoten und jeden noch so kleinen Vorgang informierten. Sie zogen in einer bunten Parade auf dem riesigen Breitbildmonitor seines Laptop vorüber, in halbtransparenten Fenstern, die ihm nicht die Sicht auf die jeweils vier Charaktere versperrten, die er in beiden Welten zeitgleich spielte.
Jeder Spielbetreiber erwarb seinen sechsten Sinn auf andere Weise. Der Prozess war so individuell wie die letzten Gedanken vor dem Einschlafen oder die Gründe, aus denen man sich verliebt. Manche arbeiteten am liebsten mit mehreren Bildschirmen, am besten gleich mit vier oder fünf. Einige hatten eine Sprachausgabe am Start und lauschten dem Murmeln des Chat. Andere schauten sich bloß Diagramme an oder aber nur Logs, wieder andere nur das Spielgeschehen selbst. Coca-Cola-Games hatte ein paar Psychologen angeworben, um die einzelnen Methoden aufzubereiten und zu perfektionieren. Es brauchte nur einen knappen Tag, dann flogen sie, begleitet von einem Sturm von Beleidigungen und Flüchen, aus der Zentrale.
Die Spielbetreiber wollten sich nicht in Kategorien pressen oder studieren lassen. Ein Spielbetreiber zu sein, hieß, seinen sechsten Sinn zu schulen, und dazu brauchte es keine Psychologen. Sie merkten auch so, wenn sie auf dem richtigen Weg waren. Es war so, als fiele man in ein warmes Bad oder in eine Art Koma, das paradoxerweise mit einer verschärften, hypersensiblen Wahrnehmung einherging – ein Koma, in dem einem das Wissen mit Höchstgeschwindigkeit und durch jede Pore zuströmte. Das verlangte lediglich Kaffee, Energydrinks und Junkfood, verdammt laute Musik und grunzende Mitarbeiter. Keine Psychologie.
Connors sechster Sinn war am schärfsten ausgeprägt. Er lenkte den unterbewussten Tanz seiner Finger auf dem Laptop, half ihm, den richtigen Unterhaltungen zu lauschen, die wichtigen Vorgänge zu verfolgen, den Kampf der Webblys mit den Pinkertons zu bemerken, kaum dass er begann. Er grunzte das spezielle Grunzen, das den Rest seines Stamms auf drohende Gefahr hinwies, und tippte mit einem vor Pizzafett triefenden Finger auf den Schirm. Das Wissen breitete sich in Wellen durch den ganzen Raum aus. Mit schlackernden Bäuchen und Wangen richtete sein Stamm die Aufmerksamkeit auf den anderen Stamm.
»Wir sollten ihnen den Hahn zudrehen«, meinte Fairfax, eine Designerin, die sich bis ganz nach oben hochgearbeitet hatte.
»Vergiss es«, erwiderte Kaden. »Zwanzigtausend Gold auf die Webblys.«
»Zwei zu eins?«, fragte Palmer, die Nummer zwei unter den Wirtschaftswissenschaftlern, der sich zwar seinen Ph.D. verdient, aber nicht die Prikkel-Formel erfunden hatte.
»Hier wird nicht gewettet«, sagte Connor. »Schaut einfach nur zu.«
»Du bist ein solcher Schlachtenfetischist!«, bemerkte Kaden. »Hast das falsche Fach studiert. Du hättest Militärstratege werden sollen.«
»Schlechte Bezahlung, blöde Klamotten, und außerdem muss man für die Regierung arbeiten«, gab Connor zurück und sah, wie Kaden und Bill sich versteiften. Beide hatte man von der eigentlich für Terrorismusabwehr zuständigen Delta Force des Pentagon abgeworben. Sie sollten den anderen dabei helfen, die Kommandostrukturen der großen Gilden zu analysieren und nach neuen Wegen der Profitmaximierung zu suchen.
»Schaut euch das an!«, rief Fairfax. Connor hatte eine Menge für sie übrig, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Sie hatte Teams von Level- und Grafikdesignern geleitet, aber auch Gruppen von KI-Spezialisten und Programmierern, die ganze Palette, und besaß einen guten Gesamtüberblick.
»Sie sind wirklich gut«, sagte Connor. Er klickte ein wenig herum und versah jeden der Spieler mit einer kleinen Flagge, die das Herkunftsland seiner IP repräsentierte. »Und schaut euch mal diese Mischung an! Die reinste UN. Was für Sprachen haben wir?« Er klickte wieder und übernahm die Lautsprecher der Zentrale, die geschickt in Wänden und Böden verborgen und dementsprechend unter Bergen von Pizzakartons begraben waren. Ein Geschnatter von Mandarin und Englisch mit starkem Akzent erfüllte den Raum. Sein geschultes Ohr schnappte indische, chinesische und viele andere Akzente auf. War das Malaiisch? Indonesisch? Unter den Kämpfern waren Spieler von der gesamten malaiischen Halbinsel.
»Und schau dir die Pinkertons an«, sagte Fairfax. Eigentlich kam sie aus der KI-Entwicklung, ein Gebiet, das eine Menge Veränderungen durchlaufen hatte, seit sie die Mechanischen Türken zur Unterstützung bekommen hatten. Es war aber ihre Idee gewesen, dem Soundtrack des Spiels eine eigene KI mitzugeben, die den Dramatikfaktor der Musik bei Bedarf jederzeit angleichen konnte, und diese ganzheitliche Sichtweise hatte ihr einen Platz in der Kommandozentrale eingebracht. Sie war die Einzige, die sich immer gesundes Essen und riesige Salate liefern ließ, statt tonnenweise Burger und Kübel voller Eiskrem. »Ihre Verteilung ist fast dieselbe! Sieh nur«, sie zoomte eine mitlaufende Liste von IPs näher heran und sortierte sie um, »hier! Diese Pinkertons kämpfen von einem Subnetz aus, kaum zweihundert Meter von dem der Webblys. Sie sind praktisch Nachbarn! Mann, das ist echt seltsam.«
Das stimmte. Connor tippte sich ein kurzes Skript zusammen, um die Spieler, die einander am nächsten waren, zu erfassen und wo möglich auf einer Karte anzuzeigen. Leider waren Karten für die wenigsten dieser Gebiete verfügbar. Er hatte schon öfter probiert, die Ratten in ihren Löchern zu finden, doch die Suche führte meist in eine Sackgasse. Sie lebten nicht nur auf der Straße, sondern in illegalen Barackensiedlungen in den großen Slums. Das Beste, was er bekommen konnte, waren Monate alte Satellitenfotos dieser Labyrinthe. Sie zeigten verrottende Abfälle, offene, giftige Abwasserkanäle, Viehgehege … Connor überlegte, ob er nicht einem dieser Orte einen Besuch abstatten sollte, um ein paar dieser Ratten mit dem Firmenjet zur Kommandozentrale zu fliegen, sie zu Studienzwecken in ein Labor zu stecken und der Frage nachzugehen, wie man sie am besten bekämpfen konnte.
Denn es gab eine Tabelle, die Connor gar nicht zu sehen brauchte: Sein sechster Sinn sagte ihm auch so, dass ihre Spiele wirtschaftlich gesehen ziemlich im Arsch waren.
»Los, Leute, wir haben einiges zu tun. Dass mir auf diesem Server keiner mehr respawnt. Macht von den Höhlen hier eine neue Instanz, damit die normalen Spieler nicht durch dieses Chaos waten müssen. Schnappt euch ihre Konten und friert sie ein.«
Esteban, der für den Kundenservice zuständig war, stöhnte. »Du weißt doch, dass die meisten Konten gehackt sind. Es sind Hunderte! Wir werden Monate brauchen, das alles auseinanderzusortieren.«
Connor wusste das. Die zahlenden Spieler, deren Accounts von diesen Dritte-Welt-Abzockern für ihren kleinen Kriegszug gestohlen worden waren, hatten es nicht verdient, dass man ihnen das Vermögen einfror. In vielen Fällen war das Vermögen außerdem Teil einer größeren Gildenbank, in der Dutzende oder Hunderte von Spielern ihr Gold lagerten. Das wussten die bösen Jungs natürlich auch, und sie setzten darauf, dass die Spielbetreiber zögern würden, die Accounts, mit deren Hilfe sie ihre illegalen Schätze durch die Gegend schmuggelten, einfach stillzulegen.
Connor stellte Augenkontakt mit Bill her, dem Sicherheitschef. Sie hatten schon öfter darüber gesprochen, einen Teil von Connors Budget für die Entwicklung einer forensischen Software abzuzwacken, die die Transaktionen aller gehackter Konten überwachte und herausfand, was wirklich den Kunden gehörte und wo das gewaschene Geld landete, nachdem es weiterüberwiesen worden war. Connor hasste es, von seinem Budget etwas abzugeben, besonders Bill, der ein aufgeblasener Großkotz war und sich gern als eine Art Super-Cybercop aufspielte, in Wahrheit aber nicht mehr als ein hochgejubelter Systemadministrator war.
Manchmal musste man aber in den sauren Apfel beißen. »Wir kümmern uns darum. Richtig, Bill?« Der Sicherheitschef nickte und hämmerte auf die Tasten ein. Wahrscheinlich heuerte er gerade ein paar seiner alten Hackerkumpels an, die ihm für teures Geld mit seinem Code helfen würden.
»Geht klar«, erwiderte Bill. »Keine Sorge, das kriegen wir schon hin.«
Die ersten Konten wurden gesperrt. Ein Kämpfer nach dem anderen verschwand. Ein paar davon erschienen kurz darauf mit neuen Charakteren in einer anderen Instanz – einer Parallelwelt mit dem gleichen Dungeon, aber anderen Spielern –, waren aber leicht zu erkennen, da sie noch dieselbe IP-Adresse benutzten. »Klasse«, sagte Connor. »Wenn sie so weitermachen, haben wir bis heute Abend alle eingedost.«
Den Pinkertons und Webblys musste jedoch derselbe Gedanke gekommen sein, denn die Zahl der neuen Logins ging rasch gegen Null. Die Schirme wechselten die Ansicht, die Essensgeräusche setzten wieder ein, und Connor widmete sich erneut seinen Tabellen. Wie er schon vermutet hatte, drehten die Preise für Anlagen, Zahlungsmittel und Derivate völlig durch. Irgendwie ahnte der Markt, dass es Ärger mit Goldfarmern gab, und geriet ins Trudeln.
Connors eigene Anteile waren in den letzten 25 Minuten um 18 Prozent gefallen, was ihn die stattliche Summe von $ 321498,18 gekostet hatte.
Er machte einen Chat mit Bill auf.
> Was du da von meinem Geld zusammenschusterst
> Ja?
> Ich will damit jeden einzelnen Goldfarmer aufstöbern und rauswerfen
> Wie denn?
> Bei den Transaktionen muss sich irgendwas finden. Eine Art Fingerabdruck im Spielstil oder bei den Ausgaben, mit dem wir Farmer automatisch finden und rausschmeißen können. Wir werden einen perfekt kontrollierten und farmerfreien Wirtschaftsraum haben. Den ersten seiner Art
> Connor in jedem komplexen Ökosystem gibt es Parasiten
> Nicht in unserem
> Das wird nicht klappen
> Willst du wetten? Sagen wir um $ 10K. Ich geb dir 2 zu 1
Ashok schlängelte sich mit seinem hübschen Roller durch die engen Gassen Dharavis. Sein Vorderlicht schnitt durch die Nacht. Yasmins Mutter würde wahrscheinlich schon krank vor Angst und Sorge sein. Vielleicht würde sie ihre Tochter schlagen, doch Yasmin machte das nicht viel aus. Die Sache war es wert. Sie und Ashok waren noch Stunden auf dem Studiogelände geblieben und hatten alles ausdiskutiert, bis ihre Idee Gestalt angenommen hatte. Ehe sie zurückgefahren waren, hatte er noch eine lange, detaillierte Nachricht für Schwester Nor geschrieben.
An jeder Kreuzung tippte Yasmin ihm auf die Schulter und wies ihm den Weg. Bald hatten sie fast ihr Zuhause erreicht, und sie rief ihm durch den Helm zu, er solle anhalten. Er machte den Motor aus, das Licht erlosch, und Yasmins Hinterteil hörte endlich zu vibrieren auf. Ihre Schenkel schmerzten. Ungeschickt schwang sie sich vom Roller und griff nach ihrem Helm, als sie die Stimmen hörte.
»Ist sie das?«
»Bin mir nicht sicher.«
Sie flüsterten laut, und durch die Öffnung des Helms schien es ihr, als kämen die Stimmen direkt von der Seite. Sie legte Ashok die Hand auf die Schulter.
»Sie ist es.« Die Stimme klang hart. Es war Mala.
Yasmin ließ Ashok los und griff nach den Spanngurten, die den lathi am Roller hielten, während sie mit der anderen Hand das Visier hochklappte. Sie hatte den Hidschab wieder tiefer befestigt und war jetzt sehr froh darum, denn so hatte sie eine recht gute Sicht. Es war lange her, dass sie in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen war, aber mit den wichtigsten Prinzipien und der Taktik eines solchen Kampfes kannte sie sich aus.
Der lathi war wirklich gut befestigt – Ashok hatte verhindern wollen, dass er sich mitten im Verkehr löste –, und sie musste ihre zweite Hand zu Hilfe nehmen, um ihn zu lösen, während sie in die Schatten spähte und auf Schritte lauschte.
»Was ist mit dem Mann?«
»Ihn auch«, sagte Mala.
Und dann griffen sie an, eine ganze Armee, die von überallher aus den Schatten sprang. »FAHR LOS!«, rief Yasmin Ashok zu und versuchte ihn am Absteigen zu hindern, doch er sprang ab und stellte sich den Angreifern breitbeinig entgegen. Ein Stein oder Zementbrocken prallte von ihrem Helm ab. Es klang, wie wenn ein Kochtopf zu Boden fällt, und sie zerrte jetzt so fest sie konnte an dem lathi. Endlich bekam sie ihn frei. Die Haken am Ende des Gurts peitschten die Luft und trafen ihre Hände, doch sie bemerkte es kaum und wirbelte herum, den langen Stock wie einen Cricketschläger erhoben.
Sie erstarrte.
Ihr am nächsten stand Sushant. Sushant, der noch heute Nachmittag davon geredet hatte, wie gerne er sich ihrer Sache anschließen würde. In dem schwachen Licht, das aus den umliegenden Fenstern fiel, war sein Gesicht eine Maske der Angst. Die Stockspitze zitterte über ihrer Schulter, ihre Handgelenke verkrampften sich. Sie musste bloß den Schwung vollenden, die Metallspitze mit der Macht eines Peitschenknalls durch die Luft sausen lassen, und sie würde dem armen Sushant den Schädel zertrümmern.
Und wieso auch nicht? Schließlich war Malas Armee aus genau diesem Grund hier.
Die Gedanken durchzuckten sie so schnell, dass sie ihr gar nicht bewusst waren. Aber sie zielte nicht auf Sushants Kopf. Stattdessen schlug sie fest nach seinen Beinen, sodass es ihn zurückwarf. Er stolperte gegen zwei weitere Angreifer, beides Jungen, die einst Yasmins Kommandos befolgt hatten.
»Zurück!«, befahl sie und schwang den lathi abermals wie einen Besen. Die Jungen machten einen Satz rückwärts, die Augen so groß, dass sie das Weiße in ihnen sah. Sushant weinte. Sie hatte Knochen brechen gehört, als die Spitze des Stocks seinen Knöchel getroffen hatte. Er stützte sich auf seine beiden Freunde, die um ihr Gleichgewicht kämpften.
Keiner sprach ein Wort. Da war bloß der kollektive Atem Dharavis, Tausende von Brustkörben, die sich hoben und senkten und dieselbe Luft einatmeten, zusammen mit dem Gestank der Gerbereien und Färbereien und dem beißenden Plastikrauch.
Dann trat Mala vor. In der Hand hielt sie eine Flasche mit einem benzingetränkten Lumpen im Hals – einen Molotowcocktail.
»Mala!«, rief Yasmin und hörte das Entsetzen in der eigenen Stimme. »Du brennst ganz Dharavi nieder!« Es war der Tonfall, mit dem sie auch Spieler ermahnte, die drauf und dran waren, die ganze Gruppe zu töten: Lass den Quatsch, du bringst uns noch um, du Idiot!
Für Mala war es der falsche Tonfall. Sie versteifte sich und drehte das Rad eines Einwegfeuerzeugs – ritsch … ritsch …
Abermals bewegte sich Yasmin, ohne nachzudenken: zwei Schritte vor, den lathi über der Schulter, der mit dumpfem Geräusch etwas traf, als sie ausholte, dann schwang sie ihn mit aller Kraft in einem messerscharfen Bogen gegen Malas Beine. Mala stolperte zurück, versuchte dem Schlag zu entgehen, stolperte, fiel …
… und dann traf der lathi, ein sauberer Treffer, der sich so anhörte, als würde ein Metzger einer Ziege den Kopf abschlagen. Malas Schrei war so schrecklich, dass er die Leute an die Fenster rief (für gewöhnlich hätte ein nächtlicher Schrei sie eher ferngehalten). Knochen ragte aus ihrem Bein, glänzte inmitten des Bluts, das aus der Wunde schoss.
Doch immer noch umklammerte Mala den Brandsatz und das Feuerzeug – und es brannte. Yasmin holte mit dem Bein aus wie ein Fußballer, sich voll bewusst, dass sie Malas Hand jetzt ohne Mühe verkrüppeln und ihre Karriere als General Robotwallah beenden konnte.
Später dachte sie noch oft an die Stimme, die in diesem Moment zu ihr gesprochen hatte:
Tu es, mach es einfach, Mala würde das Gleiche tun. Tu es, und ihre Armee wird nicht mehr wagen, gegen dich und die Webblys zu kämpfen. Tu es, weil sie dich verraten hat. Tu es, weil du dann in Sicherheit bist.
Doch sie senkte ihren Fuß. Stattdessen sprang sie auf Malas Brustkorb und drückte ihr die Arme zu Boden. Die Flamme des Feuerzeugs flackerte auf und verbrannte sie, doch dann gelang es ihr, sie zu löschen. Sie konnte Malas keuchenden Atem an ihrem Hals spüren. Yasmin packte ihr Handgelenk, schüttelte es und schlug ihr die Bombe aus der Hand. Die Flasche zerbrach; das stinkende Benzin ergoss sich in den Straßengraben.
Schließlich stand Yasmin auf.
Malas Gesicht, das konnte sie selbst in dem schwachen Licht erkennen, war aschfahl. Ringsum roch es nach Blut und Benzin.
»Du musst sie ins Krankenhaus bringen«, sagte Yasmin zu Ashok.
»Ja.« Er hielt sich den Kopf und kniff ein Auge zusammen. »Ja, natürlich.«
»Ist dir was passiert?«
Er zuckte die Schultern. »Bin deinem lathi zu nahe gekommen«, meinte er und versuchte sich an einem tapferen Lächeln. Sie erinnerte sich, wie sie beim Ausholen etwas getroffen hatte.
»Tut mir leid.«
Malas Armee hielt Abstand und starrte sie an.
»Na los!«, rief Yasmin. »Verschwindet! Das hier war eine Katastrophe. Es war dumm und böse und falsch. Ich bin nicht eure Feindin, ihr Idioten. LOS!«
Sie zogen ab.
»Wir müssen das Bein schienen«, bemerkte Ashok. »Eine Trage brauchen wir auch. So können wir sie nicht transportieren.«
Yasmin sah ihn fragend an.
»Mein Vater ist Arzt«, erklärte er.
Unverzüglich stieg Yasmin die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Als sie eintrat, setzte sich ihre Mutter gerade auf und wollte etwas sagen, doch Yasmin hob nur die Hand, und wundersamerweise verstummte ihre Mutter. Yasmin schaute sich um, nahm den Stuhl aus der Ecke und ein paar Putzlumpen und ging wieder, ohne ein Wort.
Unten schlug Ashok den Stuhl gegen eine Wand. Das billige Stück ließ sich leicht in seine Einzelteile zerlegen. Derweil kniete Yasmin neben Mala nieder und griff nach deren Hand. Malas Atem ging schwer und flach.
Schwach erwiderte sie den Händedruck. Dann schlug sie die Augen auf, blickte sich verwirrt um und richtete die Augen auf Yasmin. Sie sahen einander an. Da versuchte Mala, ihre Hand wegzuziehen, doch Yasmin ließ sie nicht los. Ihre Hand war stark und geschickt – sie hatte unzählige Zombies und Monster damit erledigt.
Mala setzte sich nicht mehr zur Wehr und schloss die Augen. Ashok brachte die Schienen und Lumpen und hockte sich neben sie.
Gerade, als er begann, sie zu versorgen, sagte Mala etwas. Yasmin konnte es nicht richtig verstehen, aber ihr war so, als sagte sie Vergib mir.
Wei-Dong ging Lu nicht aus dem Sinn. Ein Barbar hieb auf einen Kürbis ein, und er beschloss, das Schwert solle für drei Sekunden festsitzen und der Kürbis den Standardsound für Zerquetschtes von sich geben, und ihm ging Lu nicht aus dem Sinn. Ein Dieb versuchte, die Schwanzfeder eines Phoenix zu klauen, und er ließ den Phoenix herumfahren und Feuer spucken, begleitet von Flüchen durch einen Filter, der seine Stimme vogelartig klingen ließ, und Lu ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Anführer einer Horde von Zombies versuchte, sich den Weg in einen verbarrikadierten Laden zu bahnen, mitten durch ein Schild mit der Aufschrift »Geschäftsaufgabe«, das nur eine Textur auf einer Oberfläche ohne Inhalt war. Wei-Dong gefiel der Einfallsreichtum des Spielers, also beschloss er, dass es 3000 Zombie-Minuten brauchte, das Schild kleinzuhauen, und dahinter dann das Innere des Sportartikelladens liegen würde, wo es ein paar nette Knüppel, Armbrüste und Macheten gab.
Und er bekam Lu nicht aus dem Sinn.
Er hatte Lu immer gemocht. Von allen aus der Gilde war Lu immer derjenige gewesen, der sich für die Spiele interessierte. Es ging ihm nicht bloß ums Geld oder die Freunde: Es ging ihm ums Spielen. Er löste gern Rätsel, er freute sich darauf, am Ende eines langen Raids gegen die Bosse anzutreten, neue Karten freizuspielen und Achievements zu schaffen. Manchmal, während seiner langen Schichten, in denen er seine winzigen Entscheidungen traf, dachte Wei-Dong darüber nach, wie viel besser das Spiel dank seiner Arbeit doch wurde. Er glaubte, dass Lu seine Kunstfertigkeit zu schätzen gewusst hätte. Es machte Spaß, auf der anderen Seite zu stehen und für mehr Spielspaß zu sorgen, statt bloß zu konsumieren. Die Arbeitszeit war lang, der Job nicht einfach, die Bezahlung schlecht, aber er war Teil der Show.
Nur, dass es jetzt keine Show mehr war.
Sein Handy begann in der Hosentasche zu vibrieren. Er zog es heraus, schaute aufs Display und legte es auf den Tisch. Es war seine Mutter. Er hatte schließlich nachgegeben und ihr an seinem achtzehnten Geburtstag seine neue Nummer gegeben. Er hatte es vor sich damit gerechtfertigt, dass er jetzt ja erwachsen war und sie ihn nicht mehr einfach zurückschleppen lassen konnte. In Wahrheit hatte er es nicht ertragen, seinen achtzehnten Geburtstag einsam und allein zu verbringen. Er wollte jetzt aber nicht mit ihr reden, deshalb ließ er die Mailbox antworten.
Das Handy brummte: Sie rief erneut an, und er ließ nochmals die Mailbox rangehen. Eine Sekunde später brummte das Handy schon wieder. Er wollte es eigentlich ausschalten, doch dann zögerte er und nahm ab.
»Hi, Mom.«
»Leonard«, sagte sie. »Es geht um deinen Vater.«
»Was ist mit ihm?«
Sie atmete tief aus. »Er hat einen Herzinfarkt gehabt. Einen richtig schlimmen. Sie haben ihn …« Sie stockte und holte tief Luft. »Sie haben ihn ins Hoag Center gebracht. Er liegt auf der Intensivstation. Es heißt, dort haben sie die besten …« Wieder eine Atempause. »Angeblich sind sie die Besten.«
Wei-Dongs Magen sackte ab, so tief, als fiele er unter den Stuhl. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich wegfliegen. »Wann ist das passiert?«
»Gestern.«
Er sagte nichts. Gestern? Am liebsten hätte er geschrien. Sein Vater lag seit gestern im Krankenhaus, und niemand hatte ihn informiert?
»Oh, Leonard«, fuhr sie fort, »ich wusste einfach nicht, was ich tun soll. Du hast nicht mehr mit ihm geredet, seit du weg bist. Und …«
Und?
»Ich komm ihn besuchen«, erwiderte er. »Ich kann mir ein Taxi nehmen. Ich schätze, ich brauche etwa eine Stunde.«
»Die Besuchszeiten sind aber schon um. Ich war den ganzen Tag bei ihm. Er ist nur selten wach. Ich … ich durfte dich von da aus nicht anrufen. Handys sind auf der Intensivstation verboten.«
Monatelang hatte Wei-Dong wie ein Erwachsener gelebt. Bis zu diesem Augenblick hätte er sein Leben als perfekt beschrieben. Er kannte interessante Leute, besuchte interessante Orte. Er spielte den ganzen Tag und lebte davon. Er kannte die Geheimnisse des Spiels.
Jetzt aber merkte er, dass unter der Zufriedenheit die ganze Zeit über ein starkes Gefühl der Einsamkeit gelauert hatte, eine sprudelnde Grube der Verzweiflung, die nach Elend und Versagen stank. Wei-Dong liebte seine Eltern. Er wünschte sich ihre Anerkennung. Er vertraute ihrem Urteil. Deshalb hatte er so entsetzt reagiert, als er von ihrem Plan erfahren hatte, ihn wegzuschicken. Wären sie ihm völlig egal gewesen, hätte ihn das nicht in dieser Weise berührt. Irgendwo in seinem Kopf hatte er eine Art Zwischensequenz abgelegt, in der er sich wieder mit seinen Eltern versöhnte, sie in ein schickes Restaurant in der Stadt einlud, vielleicht einen dieser Rohkostläden im Echo Park, von denen die Metroblogs die ganze Zeit schrieben. Dort führten sie eine gesittete, niveauvolle Unterhaltung über all die tollen Sachen, die er ganz allein herausgefunden hatte, und seinem Vater fiel vor Staunen die Kinnlade fast bis ins Essen. Anschließend sprang er auf seinen flotten Tata-Roller, tausend Schichten Lack auf dünnem Bambus, und kurvte davon, während seine Eltern einander noch anschauten und staunten, was für einen sensationellen Sohn sie doch in die Welt gesetzt hatten.
Er wusste, es war dumm. Doch in Wirklichkeit hatte er seine Zeit hier immer als Urlaub betrachtet, als kleines Zwischenspiel in seinem Familienleben. Eine Suche nach Visionen, von der er als Mann zurückkehren würde. Eine echte Bar-Mizwa – eine, die tatsächlich etwas bedeutete.
Der Gedanke, dass er seinen Vater vielleicht nie wiedersehen, sich nie mehr mit ihm versöhnen würde, traf ihn wie ein Schlag, als hätte er mit einem Hammer die eigene Hand statt den Nagel getroffen.
»Mom …« Seine Stimme versagte. Er räusperte sich. »Mom, ich komme morgen früh und besuche euch beide. Ich nehme mir ein Taxi.«
»Okay, Leonard. Ich glaube, dein Vater würde sich freuen, dich zu sehen.«
Fast wünschte er sich, Vorwürfe von ihr zu hören, zum Beispiel, es sei selbstsüchtig von ihm gewesen, die Eltern allein zurückzulassen, er sei ein schlechter Sohn. Er wollte, dass sie irgendwas Unfaires sagte, damit er wütend sein konnte, anstatt diese schreckliche, unerträgliche Schuld zu spüren.
Stattdessen sagte sie nur: »Ich hab dich lieb, Leonard. Ich kann’s kaum erwarten, dich zu sehen. Ich hab dich so vermisst.«
Und so ging er voller Selbsthass in seinem schäbigen Hotel zu Bett und lauschte auf die eigenen spöttischen Gedanken, die Penner und die Nachtschwärmer, die Leute, die nebenan Sex hatten, die Musik aus den Autofenstern. Stunde um Stunde verging, und er hatte kaum ein Auge zugetan, als sein Wecker schließlich klingelte. Er duschte und rasierte sich den Bartflaum mit einem Einweg-Rasierer ab. Sein Frühstück bestand aus einem Erdnussbuttersandwich und einem vierfachen Espresso aus der kleinen, mobilen Espressomaschine, die er sich von seinem ersten Geld gekauft hatte. Danach rief er sich ein Taxi und putzte sich noch rasch die Zähne, bis es kam.
Der Taxifahrer war ein Chinese, und Wei-Dong bat ihn in seinem besten Mandarin, ihn zu seinen Eltern nach Orange County zu fahren. Der Fahrer amüsierte sich sichtlich über den jungen Amerikaner, der hier Chinesisch mit ihm sprach, und sie plauderten ein wenig über das Wetter und den dichten Berufsverkehr, während sie langsam die I-5 entlangkrochen. Dann rollte Wei-Dong seine Jacke zu einem Kissen zusammen und schlief ein, trotz des Nervenflatterns und des Koffeins.
Am Ziel zahlte er dem Fahrer fast einen Tageslohn, nahm seine Schlüssel aus der Tasche, ging die Einfahrt zu seinem Elternhaus hoch und schloss die Tür auf. Drinnen saß seine Mutter im Morgenmantel am Küchentisch, die Augen rot und verquollen, und starrte ins Leere.
Eine Weile blieb er im Eingang stehen und sie schauten einander nur an. Dann erhob sie sich unsicher, ging zu ihm hinüber und schloss ihn fest in die zitternden Arme. Ihre Tränen benetzten seinen Hals.
»Er ist von uns gegangen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Heute früh, gegen drei. Ein zweiter Herzinfarkt. Es ging alles ganz schnell. Sie sagen, er sei praktisch sofort tot gewesen.« Sie weinte.
Da wusste Wei-Dong, dass er wieder nach Hause ziehen würde.
Das Krankenhaus entließ Schwester Nor, den Mächtigen Krang und Justbob zwei Tage früher als ursprünglich vorgesehen, einfach nur, um sie loszuwerden. Zum einen blieben sie nicht auf ihren Zimmern. Stattdessen schlichen sie sich immer wieder in die Cafeteria, wo sie sich, ob im Rollstuhl oder auf Krücken, drei oder vier Tische zusammenschoben, auf denen sie dann Computer, Handys und Notizen ausbreiteten, außerdem Makramee-Arbeiten und kleine Bleifiguren, die der Mächtige Krang mit feinen Kamelhaarpinseln bemalte, sowie Karten, Blumen, Schokolade und Butterkekse von ihren Unterstützern.
Zu allem Überfluss hatte Schwester Nor auch noch entdeckt, dass drei der philippinischen Putzfrauen auf ihrer Station von ihren Arbeitgebern geschlagen wurden. Also hielt sie Treffen zur Stärkung ihres Selbstvertrauens ab, bei denen sie ihnen beibrachte, wie man offizielle Beschwerdebriefe ans Arbeitsministerium verfasste. Die Krankenschwestern liebten sie – sie waren schon vergangenes Jahr einer Gewerkschaft beigetreten –, die Krankenhausleitung aber hasste sie mit der heißen Glut von tausend Sonnen.
So kam es, dass Schwester Nor, der Mächtige Krang und Justbob keine zwei Wochen, nachdem sie fast zu Tode geprügelt worden waren, blinzelnd in die schwüle Mittagshitze Singapurs hinaustraten, in Bandagen, Schienen und Gipse gepackt. Ihre Körper hatte man gebrochen, doch sie waren guter Dinge. Die Prügel waren fast … befreiend gewesen. Nach Jahren der Angst, von den Schlägern der Bosse erwischt und halb tot getreten zu werden, hatten sie es nun hinter sich und überstanden. Sie wuchsen daran. Ihre Angst hatten sie abgelegt.
Als sie einander ansahen, die Haare schweißverklebt, die Gesichter gerötet, mussten sie erst grinsen, dann kichern. Dann lachten sie – so laut und herzlich, wie ihre Verletzungen es zuließen.
Justbob wischte sich die Haare von der Augenklappe, die verbarg, was von ihrem linken Auge noch übrig war, kratzte sich unter dem Gips an ihrem Arm und sagte: »Sie hätten besser daran getan, uns totzuschlagen.«