12
Mira stand in der Küche am Herd, und als der Commissaris mit Shak durch die offene Tür trat, versteifte sich ihr Rücken, aber nur einen Moment lang. Sie trug ein hellblaues Männerhemd, ausgebleichte, über den Knien abgeschnittene Jeans und weiße Flipflops an den bloßen Füßen. Ihre Beine waren nackt und braun wie Haselnussschalen. Der Commissaris bemerkte eine Gänsehaut an den Waden, und dann sah er, dass Shak auf Miras Beine starrte und dass sie es spürte. Ihr Haar war strähnig und dunkel vom Küchendunst; auf ihrem Nacken lag ein feiner Schweißfilm.
»Guten Tag, Mevrouw Halawi«, sagte der Commissaris.
Sie drehte sich kurz zu ihm um und nickte knapp, sagte aber nichts.
Pamit saß an dem großen dunkel gebeizten Küchentisch und löffelte eine curryfarbene Suppe. Dabei summte er eine Melodie, die sich um sich selbst zu drehen schien. Als er Shak sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht; es leuchtete, als wäre ein Sonnenstrahl daraufgefallen. Shak trat zu ihm und fuhr ihm mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. »Was hast du gekocht?«, fragte er Mira schroff.
»Huhn, gefüllt mit Pistazien, Ei und Ingwer«, antwortete Mira, ohne ihn anzusehen. »Dazu kannst du naan haben.« Sie bückte sich, um das Huhn aus dem Herd zu nehmen. Ein Schwall heißer, würziger Luft stieg aus der Backröhre, und Van Leeuwen spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Ich nehme es mit nach draußen«, sagte Shak. »Es schmeckt mir nicht, wenn ein Polizist mit am Tisch sitzt.«
»Mir auch nicht«, sagte Pamit.
Van Leeuwen schwieg. Er sah sich in der kleinen Küche um, unwillkürlich auf der Suche nach einem Messer zum Zimtschälen, kurze Klinge, Vogelschnabel, aber er konnte keins entdecken, und er hatte auch nicht wirklich damit gerechnet. Er dachte, dass der einzige Unterschied zu tausend anderen Küchen in der Fülle der Gewürze in einem breiten Regal an der Wand neben der Tür lag. Das Regal stand weit genug vom Herd, sodass Hitze und Feuchtigkeit ihr Aroma nicht beeinträchtigten.
Als Shak und Pamit mit ihren Tellern die Küche verlassen hatten, fragte der Commissaris auch Mira nach dem Tag, an dem Amir Singh zum ersten Mal den Palast der 1000 Gewürze betreten hatte.
»Ich wusste sofort, das wird Probleme geben«, sagte Mira. Sie füllte eine Kelle voll Suppe in einen tiefen Teller und stellte ihn auf den Tisch. »Möchten Sie auch etwas Suppe? Das Huhn ist gut, nicht zu scharf gewürzt.«
»Riecht lecker«, sagte Van Leeuwen. »Aber wenn ich jetzt etwas esse, werde ich träge.«
»Stört Sie doch nicht, wenn ich was esse, während wir reden, oder?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern setzte sich, schlug die langen, schlanken Beine übereinander und kostete von der Suppe.
»Was für Probleme?«, fragte der Commissaris.
»Shak ist sehr misstrauisch allen Fremden gegenüber«, antwortete Mira. »Ein Hitzkopf. Er denkt, jeder Mann ist ein Rivale, im Geschäft, bei Radschiv, bei mir. Ich konnte sehen, wie er und Pamit Amir beobachteten. Sie standen in der Halle und sahen zu, wie ihr Vater Amir durch die Halle führte und ihm erklärte, wo die ganzen Gewürze herkamen, wie sie schmeckten und rochen, was sie bewirkten. Wie er ihm eine Einführung in ihre Welt gab ...«
Mira löffelte die Suppe und erzählte dabei, und Van Leeuwen hörte Radschiv Sharma reden und stellte sich vor, wie er den Toten, der damals noch nicht tot gewesen war, an den Regalen in der Halle entlangführte. Das ist der Geruch der Heimat, sagte er, der Geschmack des Punjab, der Duft Indiens in diesen Dosen und Gläsern. Riechst du das? Zimt, Nelkenessenz, Curryblätter, Kardamom, Muskatnuss, Pfeffer. Gewürze sind nicht nur zum Kochen und Essen da, Amir. Sie sind kostbare Aromen, Arzneien und Aphrodisiaka, Ingredienzien von Parfums und magischen Zaubertränken. Du weißt nicht, wovon ich spreche? Macht nichts, ich werde dir alles beibringen, du wirst echten Zimt von falschem unterscheiden lernen, Muskatblüten von Muskatnuss, grünen Kardamom von braunem, und bald wirst du nicht nur wissen, dass Kardamom neben Safran und Vanille zu den drei teuersten Gewürzen der Welt gehört, sondern auch seinen Wert genau kennen, den Preis für das Gramm, die Unze, das Pfund.
»Sie hätten Shaks Augen sehen sollen – wie Flammenwerfer«, sagte Mira. »Er sagte etwas zu Pamit, ohne den Blick von Amir zu wenden, und Pamit nickte und rückte etwas dichter an seinen Bruder heran. Radschiv führte Amir immer tiefer in die Halle hinein, und plötzlich drehte Shak sich um und kam auf mich zu, und ich konnte sehen, wie wütend er war, wie der Zorn ihn geradezu vorwärtsstieß. Als er bei mir war, zischte er: Was soll der Penner hier? Warum hast du Papa gesagt, er soll ihm Arbeit geben? Du bist blind! Der braucht keine Hilfe, das ist ein Spitzel. Ich traue ihm nicht! Er war so wütend, dass er mich fast angespuckt hätte, und ich weiß noch, dass ich dachte, er ist ja eifersüchtig! Weil Amir so schön war, wissen Sie. Shak will einfach nicht begreifen, dass ich mich nicht für andere Männer interessiere, für niemand außer Radschiv. Was für ein Spitzel?, habe ich gefragt. Von wem?
Vom Zoll, hat er geflüstert, von dem Mann im schwarzen Wagen, dem, der uns keine Ruhe lässt. Er hat geflüstert, aber es klang, als hätte er geschrien, als wollte er mich mit den Worten ohrfeigen. Und dann sah es ja auch so aus, als hätte er recht behalten; als hätte uns jemand ein Kuckucksei ins Nest gelegt –«
Sie verstummte unvermittelt und kniff die Augen zusammen, als hätte sie zu viel gesagt und müsste die Worte noch einmal genau betrachten, um sich darüber klar zu werden, wie viel Schaden sie schon angerichtet hatten. Sie ließ den Löffel im Rest der Suppe liegen.
»Radschiv, Shak, Pamit«, sagte sie dann mit einem ungeduldigen Seufzen, »die Familie geht ihnen über alles. Ihre Vorstellung vom Paradies auf Erden: eine Frau, die Söhne, der Stolz eines Mannes. Diese ganzen Bande, enger als eng, klebrig wie Honig – Glück, das jeder so selbstverständlich absondert wie eine Tanne das Harz. Aber eine Familie ist ein mörderischer Dschungel, in dem vergiftete Pfeile fliegen und Würgeschlangen getarnt auf niedrigen Ästen liegen. Jeder Morgen bringt eine neue Falle, jeder Schritt wird zur tödlichen Expedition und kann im Fangeisen enden. Und am Abend zählt man seine Verletzungen. Leckt die Wunden.«
»Mijnheer Sharma hat mir von der Razzia des Zolls erzählt, die am Tag vor Amirs Auftauchen hier stattgefunden hat«, sagte der Commissaris unbeeindruckt. »Als die Beamten abgerückt sind, sollen Sie gesagt haben, die kommen wieder. Was hat Sie darauf gebracht, Mevrouw Halawi?«
»Habe ich das gesagt?« Mira runzelte die Stirn, dann lachte sie plötzlich. »Ach ja, jetzt weiß ich wieder – das war, weil Shak sich so großspurig benommen hat. Die Männer sind in ihre Dienstfahrzeuge gestiegen und vom Hof gefahren, und da hat Shak Radschiv in die Hosentasche gegriffen und eine Handvoll Bonbons herausgeholt und hinter den Wagen hergeschmissen. Radschiv hat immer Bonbons in den Taschen, für die Kinder in der Gegend, wenn sie mal auf den Hof kommen – er hat Bonbons für die Kinder und immer ein paar Euro für die alten Leute, die mit ihrer Rente nicht auskommen. Er leiht es ihnen nicht, er schenkt es einfach her. Also jedenfalls, Shak schmeißt die Bonbons hinter den Wagen her und ruft großspurig: Auf Wiedersehen, die Herren! Hier, für eure Kinder, von Radschiv Sharma! Und beehrt uns bald wieder! Deswegen habe ich gesagt, keine Sorge, die kommen wieder, weil ich das Gesicht von dem Mann im schwarzen Wagen gesehen habe.«
»Und wer könnte die Schlange im Paradies der 1000 Gewürze sein?«, fragte der Commissaris. »Shak? Oder Amir?«
»Sie sind der Polizist.«
»Shak ist stolz und ehrgeizig und eifersüchtig«, sagte Van Leeuwen. »Er denkt, er könnte das Geschäft besser führen als sein Vater, das merkt man. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, denkt er auch, dass Sie eigentlich ihm gehören müssten, und nicht Radschiv.«
Mira stand auf und trug den Suppenteller zur Spüle. »Möchten Sie nicht doch etwas Huhn? Einen Schenkel vielleicht?«
»Danke, nein.«
Mira blieb an der Spüle stehen und betrachtete das schmutzige Geschirr. »Sie haben das richtig erkannt, Shak findet, dass ich zu schön und zu jung bin für seinen Vater. Er denkt, die Firma gehört eigentlich ihm, und ich gehöre eigentlich ihm, aber ich denke das nicht. Was ich Radschiv verdanke, kann der Junge nicht aufwiegen, nicht mit seiner Jugend oder mit seiner Kraft. Er behandelt mich ohne jeden Respekt, weil ich keine reine Inderin aus der alten Heimat bin. Wäre ich das, würde er mich respektieren, obwohl wir nicht verheiratet sind, sein Vater und ich. Er würde mich respektieren. Aber ich bin nur zur Hälfte Inderin, da gibt es noch die niederländische Hälfte, und die ist leicht zu haben, denkt er. Billig. Er denkt, dass diese Hälfte nur auf das Geld seines Vaters scharf ist. Auf sein Geld.«
»Hat er das von Amir auch gedacht?«
»Natürlich, gerade als er gesehen hat, wie sein Vater diesen jungen Fremden aufgenommen hat.« Sie lächelte warm. »Amir war noch keine Woche bei uns, da gab Radschiv ein großes Fest für ihn – ein Familienfest, wie für einen verlorenen Sohn! Haben Sie schon mal einen Bollywood-Film gesehen?«
Van Leeuwen fragte: »Meinen Sie diese endlosen bunten Filme, in denen andauernd getanzt, gesungen, gegessen und am Ende ge-heiratet wird?«
»Genau die«, bestätigte Mira, »und genau so ging es an diesem Abend hier in der Halle zu, an einem prächtig gedeckten Tisch, mit dem besten Geschirr, Kerzen, alles. Ich hatte den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden und gekocht, es gab raan-i-mirza, das ist in geronnener Milch gegarte Lammkeule mit Kardamom und Kreuzkümmel, dazu Brot, naan und partha. Außerdem hatte ich Reispfannkuchen und Kokos-Chutney gemacht. Radschiv hatte unseren Plattenspieler aus dem Wohnwagen herbeigeschafft, und wir hörten Musik aus Indien, richtige Volkslieder, und zur Feier des Tages öffnete Radschiv eine Flasche Wein nach der anderen, und es dauerte nicht lang, bis alle ziemlich betrunken waren.«
»Ich dachte, Sikhs trinken keinen Alkohol«, sagte Van Leeuwen.
»Und ich dachte, Christen dürfen nicht töten«, antwortete Mira. »Jedenfalls – plötzlich begann Amir zu weinen, so glücklich und dankbar schien er zu sein. Und Radschiv, mein Radschiv lachte, weil es so leicht war, jemandem zu helfen, jemandem Trost zu spenden. Er dachte, er weiß, was Amir fühlt, er kennt seine Einsamkeit, die auch mit seiner Hautfarbe zu tun hatte, mit der Verlorenheit in der kalten, engherzigen Welt der Weißen. Aber er wusste nicht, dass sein eigener Sohn einsamer war; dass sein Schmerz stärker war. Er gab den Trost dem Fremden. Er umarmte mich, und dann umarmte er Pamit und Shak, und gleich danach Amir, und er merkte gar nicht, wie Shak ihn innerlich wegstieß. Radschiv wollte singen und tanzen, und er war so ausgelassen, dass er auch nicht darüber nachdachte, ob Amir die Wahrheit gesagt hatte und ob er wirklich niemanden in diesem Land kannte, niemanden außer uns. Und weil er nicht darüber nachdachte, dachte ich auch nicht darüber nach. Nur Shak, dem konnte man ansehen, dass er nachdachte. Man konnte sehen, wie es in ihm kochte und brodelte, vor allem, als Amir aufsprang und zu tanzen begann, erst mit Radschiv, dann mit mir und schließlich sogar mit Pamit, der bald am ausgelassensten von allen war. So viel Glück leuchtete auf seinem Gesicht – sein Herz flog Amir nur so zu! Schließlich reichte es Shak. Er stieß seinen Stuhl zurück und sagte zu Pamit, komm, Zeit, schlafen zu gehen.
Aber der Kleine wollte noch nicht ins Bett, er wollte noch aufs Dach, und deswegen ging Shak mit ihm aufs Dach. Das machen sie manchmal – sie klettern von der Balustrade in der Halle durch eines der unvergitterten Oberlichter und dann die Feuerleiter hoch aufs Dach. Von da aus hat man einen Wahnsinnsblick auf die Stadt, auf die ganzen funkelnden und schimmernden Lichter auf der anderen Seite des Wassers, wie ein Bienenstock. Man kann da sitzen, und in warmen Nächten riecht die Luft nicht nach den Abwässern in den Gullys, sondern nach Jasmin und Limonen, und man kann sich vorstellen, es wäre Bombay oder Kalkutta da auf der anderen Seite und das IJ wäre der Ganges. Da saßen sie also und sahen der Nacht zu, während von unten die Musik heraufschallte, und Shak sagte, wir müssen uns hüten, Pamit, hörst du? Wir müssen gut aufpassen und die Familie beschützen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte der Commissaris.
»Pamit hat es mir erzählt.« Mira wickelte die Reste des Huhns in Aluminiumfolie. »Er erzählt mir immer alles, was Shak macht oder sagt. Sein großer Bruder ist sein Held. Und Amir ...« Plötzlich hielt sie inne, ließ das Huhn sinken und fragte mit fast tonloser Stimme: »Hat er gelitten? Als er umgebracht worden ist – hat er ... Hat er da sehr gelitten?«
»Ja«, sagte der Commissaris. »Das hat er.«