Love Will Tear Us Apart
26. Juni 1989. Mittags.
Milena
»Ich weiß gar nicht, wie ich das wiedergutmachen soll«, sagte ich überglücklich zu Sabine, während wir uns auf die Sitze sinken ließen. Augenblicklich klebte der Kunststoff an uns fest und die stickige Luft, die von den anwesenden Fahrgästen noch mehr aufgeheizt wurde, umfing uns.
Nach dem Zusammenstoß mit Frau Heinrich hatte mir Sabine angeboten, mir beim Erstellen der Wandzeitung zu helfen. Ihr Vater arbeitete bei der Berliner Zeitung, und sie hatte ihn überreden können, mir ein paar Artikel zur Verfügung zu stellen.
Was für eine Erleichterung! Weil ich die Wandzeitung total verschwitzt hatte, hatten wir natürlich schon die Zeitungen zum SERO gebracht, und ich vermutete mal, dass zum Thema »Die Volksbildung der DDR« heute bestimmt nicht viel im Neuen Deutschland stand.
»Ach lass mal, Freunde helfen sich doch, oder?«, winkte Sabine ab. »Was machste heut Abend außer der Wandzeitung?«
Viel würde da nicht bleiben. »Ich werde versuchen, den NDR reinzukriegen, du weißt schon, wegen des Gruselfilms.« Ich weiß nicht, wie oft ich Sabine schon den Einspieler von »Mumien, Monstren, Mutationen« mit gruseliger Stimme und zombiehaft erhobenen Händen vorgemacht hatte.
Sabine rümpfte die Nase. Für sie waren Gruselfilme nichts. Ich jedoch mochte die alten englischen Streifen. Dracula mit Christopher Lee, oder die Poe-Verfilmungen mit Vincent Price. Da wir uns keinen teuren Farbfernseher leisten konnten, musste ich zwar noch immer raten, wie die Farben der Kostüme aussahen, dennoch hatten die Filme Atmosphäre.
»Meine Mutter will heute Abend bestimmt wieder Willi Schwabes Rumpelkammer schauen«, erklärte Sabine seufzend. Auch wenn sie nicht auf Gruselfilme stand, zusammengeschnittene Filmschnipsel, die von einem schon sehr alten Schauspieler präsentiert wurden, wollte sie auch nicht sehen.
»Kannst ja zu mir kommen«, schlug ich vor, denn manchmal, wenn es ihre Mutter erlaubte, pennte Sabine bei mir. Wir hörten dann Musik, lasen oder gingen die Sammlung meiner Poster durch. Meist waren es Fotografien aus der Bravo oder der Pop Rocky, aber ein paar Originale hatte ich auch, für jeweils zehn Mark gekauft von Jungs an unserer Schule. Der blanke Wahnsinn, wenn man nur fünf Mark Taschengeld pro Monat bekam, aber wenn es um Depeche Mode oder David Bowie ging, konnte ich nicht anders.
»Nee, das wird nichts«, winkte Sabine ab. »Du weißt, die Hausaufgaben. Außerdem …«
Ein Rumpeln hinter uns ließ sie innehalten. Eine Frauenstimme krähte etwas, das ich nicht verstand.
»Na guck dir mal den an!«, murmelte Sabine spöttisch, als die Bahn beschleunigte. »Springt einfach gegen die dicke Frau da, als wäre er Tarzan!«
Aha, daher kam der Lärm.
Umdrehen wollte ich mich aber nicht. In der Bahn gab es öfter Leute, die sich zum Affen machten, da lohnte es nicht. »Lass ihn. Erzähl mir lieber, was du aufgenommen hast.«
Erst in Deutsch hatte Sabine bemerkt, dass sie ihre Kassette zu Hause vergessen hatte. Kein Beinbruch, denn sie wohnte ja auf dem Weg, und ich war gern für ein paar Minuten bei ihr, denn bei mir zu Hause wartete heute eh niemand.
»Das kann ich dir doch nicht jetzt schon erzählen!«, entgegnete Sabine empört. »Dann verderbe ich dir die Überraschung. Du musst es hören!«
Mir schwante bei Sabines Musikgeschmack Böses.
»Solange du A-ha und die Pet Shop Boys drauf hast, ist alles in Ordnung«, sagte ich lachend, doch meine Freundin behielt ihr Pokerface und verriet nichts.
»Sag mal, was hat dein Vater denn im Sommer vor?«, fragte sie stattdessen. »Der kriegt doch sicher Urlaub, oder?«
»Klar kriegt er den«, entgegnete ich gleichgültig. »Aber wir fahren nirgendwohin. Er hatte sich um einen Platz im FDGB-Heim beworben, aber daraus wurde nix.«
»Und was ist mit Mirko?«
»Schmort noch immer in der Kaserne. Und ehe du fragst, nein, er kriegt keinen Urlaub über den Sommer. Wenn er doch mal zu Hause ist, hängt er am Wochenende in der Disko oder pennt bis in die Puppen, bis er wieder einrücken muss.«
»Vielleicht hättest du dich für eine FDJ-Reise bewerben sollen. Nach Sotschi vielleicht.«
Ich musste Sabine entgeistert angesehen haben, denn sie lenkte schnell ein: »Na gut, die Reisen gibt es nur für die Besten, aber trotzdem …«
Als mich etwas am Arm streifte, sah ich auf.
War das der Typ, von dem Sabine gesprochen hatte? Der die Frau »wie Tarzan angesprungen« hatte?
Ich sah nur einen Jungen in Jeans und einem grauen, leicht schweißdurchnässten T-Shirt, dessen Locken ein wenig wirr von seinem Kopf abstanden – und der wirklich sehr gut aussah.
»Mensch, ist der süß!«, sprach Sabine meinen Gedanken aus. »Und die Jeans, das ist ’ne echte Levi’s!«
Ich hatte in diesem Moment keine Augen für die Jeans, die er trug – obwohl sie wirklich sehr gut an ihm aussah –, sondern nur für sein Gesicht.
Für einen Moment trafen sich unsere Blicke und ich erkannte, dass seine Augen kaffeebraun waren, nicht muckefuckhell, sondern rondodunkelbraun. Dazu das schwarze Haar und der leichte Bartschatten an seinen Wangen …
Ein Typ wie ein Schauspieler! Ein Typ wie Romeo. Etwas schüchtern lächelte er mich an und ich – ich kriegte kein Lächeln zustande! Ich starrte ihn an, wahrscheinlich genau so, dass er mich blöd fand. Doch warum machte ich mir eigentlich Gedanken darum?
»Wir müssen!« Sabine stieß mich an. Vor lauter Gedanken hatte ich nicht mitbekommen, dass der Zug an der Station Schönhauser Allee hielt. Ich schnappte meine Tasche, und während ich hinter Sabine herlief, ärgerte ich mich, dass ich mich nicht schon eher umgesehen hatte.
So einen Jungen, einen wie Romeo, bekam man in unserer Gegend nicht so häufig zu Gesicht. Und jetzt fuhr er davon mit der Bahn und ich sah ihn nie wieder!
Claudius
Was für Augen! Vielleicht lag es an der tropischen Hitze in der Bahn, dass sie mich an einen Dokufilm über bedrohte Pflanzen des Regenwaldes erinnerten. Die Blätter irgendeines Baumes, dessen Namen ich vergessen hatte, waren ähnlich blaugrün gewesen, Tautropfen hatten auf ihnen geglitzert. Diese Blätter hatte sie in ihrem Blick. Einem Blick, der mich jetzt noch heftiger traf als beim ersten Mal.
Ich stand da wie versteinert, viele Minuten lang. Hätte der Bahnfahrer diesmal nicht etwas sanfter gebremst, wäre ich bestimmt auf irgendeinem Schoß gelandet. Die Aussteigenden drängten sich an mir vorbei, doch ich bemerkte sie nicht. Dann aber sprangen Karamellmädchen und ihre Freundin auch auf.
In diesem Augenblick fühlte ich mich wie gelähmt. Klingt vielleicht blöd, aber es kam mir vor, als hätte mir jemand was abgerissen. Ich starrte ihr hinterher, hoffte, dass sie sich noch einmal umdrehen und mich ansehen würde. Doch sie verschwand mit dem anderen Mädchen in der Menge.
Da wurden auch schon die Türen geschlossen und der Zug fuhr wieder an.
Ich Trottel! Warum war ich ihr nicht nachgelaufen?
Ein Klappern riss mich aus meinen Gedanken. Etwas war von dem Sitz gefallen, auf dem die Unbekannte gesessen hatte, direkt vor meine Füße. Eine Kassette! Sie musste ihr aus der Tasche gerutscht sein! Da niemand sich darum kümmerte, hob ich sie kurzerhand auf.
Den Hersteller konnte man nicht mehr erkennen, weil das Schild schon mehrfach übermalt und beklebt worden war. Offenbar war sie schon durch etliche Kassettenrekorder gegangen. Was da wohl drauf war?
Als der Zug verlangsamte und schließlich hielt, reagierte mein Körper wieder schneller als mein Verstand. Mit der Kassette in der Hand stürmte ich nach draußen. Klar waren einige Minuten vergangen und wir waren sicher mehr als einen Kilometer von der anderen Haltestelle entfernt. Doch U-Bahnen fuhren auch in die Gegenrichtung …
Durch das Gewirr der Aussteigenden und Wartenden lief ich zur anderen Seite des Bahnsteigs. Wenig später fuhr tatsächlich ein Zug ein. Noch eine Runde Schwarzfahren!
Als der Zug losbrauste, kribbelte es in meinem Nacken. Was, wenn jetzt doch jemand die Fahrscheine sehen wollte? Würde ich ihm den von der West-S-Bahn unterjubeln können?
Glücklicherweise kam die nächste Station rasch – Schönhauser Allee, dort hatte ich das Karamellmädchen verloren. Ich drängte zur Tür, noch bevor der Zug verlangsamte, und erntete ein paar böse Blicke von Leuten, die es wohl ebenfalls eilig hatten.
Als der Zug hielt, schoss ich mit meinem Stoffbeutel voller Bücher und mit der Kassette in der Hand durch die Menge. Hinter mir meckerte jemand, eine Frau keifte »Frechheit!« und das Geräusch, das ein Mann von sich gab, als ich ihn ein wenig unsanft zur Seite kickte, war nicht zu identifizieren.
Als ich die Bahnhofstreppe hinter mir gelassen hatte, kam es mir vor, als wäre ich in einer anderen Welt gelandet. Ich stand an einer Straße. Hatte der Alexanderplatz noch bunt und offen gewirkt, war es hier, als sei ich genau in dem Grau gelandet, das man uns im Fernsehen immer zeigte.
Die Häuser hier, viele schon mehr als hundert Jahre alt und schlecht instand gehalten, machten einen trostlosen Eindruck. In den Fenstern spiegelten sich die Wolken, vergilbte Gardinen verbargen die dahinterliegenden Wohnungen.
Auch die Luft war hier anders, erfüllt von Benzingestank. Immerhin wusste ich, dass die kleinen, schrill knatternden Wagen, die an mir vorbeifuhren, Trabant hießen, die etwas größeren eckigen, deren Motor ein blubberndes Geräusch machte, Wartburg. Dazwischen fuhren noch andere Autos, die ich nicht kannte, die allerdings nicht wesentlich moderner aussahen – und Mopeds, die aussahen wie kleine Motorräder. Einige von ihnen hatten den Schriftzug Simson am Tank.
Das Wichtigste jedoch entdeckte ich nicht – das Karamellmädchen.
»Erst die Leute umrennen und dann den Weg versperren!«, quakte auf einmal jemand hinter mir. Es war der Mann mit dem undefinierbaren Geräusch. Er warf mir einen giftigen Blick zu und schüttelte dann mit dem Kopf.
Meine Wangen begannen zu glühen. Enttäuschung fuhr mir tief in den Magen. Wo sollte ich das Mädchen suchen? Selbst wenn ich ihren Namen kennen würde, wäre es schwierig. Ich lief trotzdem über die Straße und stapfte mit meinem Bücherbeutel den Gehweg entlang.
Meine Augen suchten nach diesem merkwürdigen Dunkelblau der Blusen, doch als ich schon meinte, es gefunden zu haben, gehörte es zur Arbeitsjacke eines Mannes, der sich im Gehen eine Zigarette ansteckte.
Ich rannte weiter, sah Frauen und Männer. Kinder mit abgewetzten ledernen Schulranzen auf dem Rücken, wie ich sie nur aus alten Kinderfilmen kannte. Zudem trugen die meisten von ihnen blaue oder rote Halstücher um den Hals. War das eine Art Schuluniform?
In einem der Hauseingänge saß eine Katze, vollkommen ruhig und unbeeindruckt von dem Treiben ringsherum. In einem offenen Fenster lehnte eine alte Frau in einer seltsam gemusterten Schürze, deren Hörgerät so groß war, dass ich es von Weitem sah.
Nach etwa einer halben Stunde, in der ich viele schäbige Mietshäuser hinter mir gelassen hatte, gab ich es auf. Das Mädchen war verschwunden. Und ich hatte ihre Kassette.
Ich griff in meine Hosentasche, befühlte die Plastikhülle. Und wenn ich nun am Bahnhof wartete? Vielleicht tauchte sie auf, weil sie nach der Kassette suchte …
Doch auch nach einer weiteren Viertelstunde: nichts. Kein Karamellhaar, keine Blattaugen.
Vollkommen durchgeschwitzt und niedergeschlagen fuhr ich zum Alexanderplatz zurück.
Ich war mir nicht sicher, ob meine Freunde noch auf mich warteten. Schlimmstenfalls hatten sie die Polizei gerufen. Oder waren ohne mich nach Hause gefahren. Letzteres war wahrscheinlicher.
Als wir auf dem Bahnsteig einfuhren, suchte ich Max und die anderen vergeblich und beschloss, mir eine Fahrkarte zu besorgen, um zur Friedrichstraße zurückzufahren.
Als das erledigt war, setzte ich mich auf eine der Wartebänke und starrte auf meinen Beutel. Was würden die Zöllner am Tränenpalast zu der heißen Ware sagen?
»Mensch, was machste für ’nen Scheiß!«, polterte da eine Stimme hinter mir. Max. Er hatte auf mich gewartet!
Ich sprang sofort auf.
Wutschnaubend baute sich mein Freund vor mir auf. Er war einen halben Kopf kleiner als ich und das letzte Mal hatte er mir eine runtergehauen, als wir zehn waren, aber jetzt sah er ganz so aus, als wollte er das wiederholen.
»Beruhige dich, Mann, ist nichts passiert!«, entgegnete ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Nichts passiert? Das sehe ich, aber wir suchen wie die Blöden nach dir! Dachten schon, die Stasi hätte dich erwischt.«
»Warum sollte mich die Stasi denn verhaften?«
»Wer weiß, weil du schwarzgefahren bist auf DDR-Gebiet?«, ereiferte sich Max. »Und weil du diese Bücher hast!«
»An deiner Stelle würde ich noch lauter schreien«, zischte ich ihm durch die Zähne zu und deutete mit dem Kopf zu einem Mann in Jeansjacke, der nur ein kleines Stück entfernt an einem Pfeiler stand und den Kopf ganz agentenmäßig in eine Zeitung namens »Wochenpost« steckte. »Der da hinten ist bestimmt bei der Stasi, und wenn du dich nicht beruhigst, lochen sie uns beide ein, weil wir uns auf dem Bahnsteig streiten und beide verbotene Bücher bei uns haben.«
Max’ Kopf wirbelte herum. In dem Augenblick hob der Mann seinen Blick. Ein bisschen was hatte er ja von Schimanski. Meine Vorstellung von einem Stasiagenten war aber eine andere. Eher so wie in den Filmen mit Lederjacke und Russenmütze.
Auch Max schien nicht wirklich zu glauben, dass der Mann da hinten bei der Stasi war. Nachdem er uns kurz gemustert hatte, versenkte der Fremde den Blick wieder in seine Wochenpost.
»Wieso bist du denn eigentlich abgehauen?«, fragte Max schließlich, als er mir einen Fahrschein zusteckte. Jetzt hatte ich zwei, aber ich lehnte ihn auch nicht ab.
Und was sollte ich nun sagen? Dass ich ein tolles Mädchen gesehen hatte?
»Wo sind eigentlich Flocke und Kalle?«, wollte ich ablenken, doch das konnte ich mit jedem versuchen, aber nicht mit Max.
»Ey, komm mir jetzt nicht so! Die beiden sind wieder zurückgefahren, ich hab ihnen gesagt, dass sie bei deinen Alten Bescheid sagen sollen, wenn ich dich nicht aufgetrieben kriege.«
»Das hast du nicht, oder?« Max grinste. Er hatte mich drangekriegt.
»Also, raus mit der Sprache, weshalb bist du in diesen Zug gesprungen?«
Ich grinste breit. »Ich hab ’nen kleinen Abstecher gemacht, wollte mal sehen, wie die Mädchen in dem Zug aussehen. Habe noch nie eine Ostberlinerin von Nahem gesehen.«
Max’ Miene verfinsterte sich. Aber er ließ es dabei bewenden. »Komm jetzt lieber, hauen wir wieder ab.«
Das war wohl das Beste, also fuhr ich mit Max zurück zur Friedrichstraße, wo uns Flocke und Kalle und der Tränenpalast erwarteten.
Milena
Ich hätte mich schwarzärgern können! Kurz nachdem wir in Sabines Wohnung angekommen waren und sie mir ihre Kassette gegeben hatte, stellte ich fest, dass meine weg war. Panisch schüttete ich den Inhalt meiner Schultasche auf den Teppich vor ihrem Bett.
»Ich hatte sie doch vorhin noch«, murmelte ich durch meine zusammengebissenen Zähne, während ich zwischen den Heftern wühlte.
»Hast du sie vielleicht in der Bahn verloren?«, fragte Sabine, nachdem sie mir eine Weile zugesehen hatte.
Ihre Worte durchzuckten mich wie ein Stromschlag. War mir die Kassette wirklich aus der Tasche gerutscht? Eine Katastrophe! Dass jemand eine gute Kassette beim Fundbüro abgab, war unwahrscheinlich. Der Finder hatte sicher Kinder oder hörte selbst Musik und freute sich nun über meine Aufnahmen. So ein Mist!
»Nun komm schon, das macht doch nichts!«, versuchte Sabine mich zu trösten, als mir schon die Tränen kamen. »Bespielst du eben ’ne neue Kassette. Ich hab sogar noch welche da.«
Um die Kassette ging es mir nicht. Es ging mir um all die Arbeit, die ich in die Aufnahmen gesteckt hatte. Um all das Herumlaufen in meinem Zimmer, bis ich einen Punkt gefunden hatte, an dem der Empfang gut genug war. Um all das Hoffen, dass endlich mal das richtige Lied kam, das perfekte Lied, das nur einmal in Wochen oder Monaten gespielt wurde.
Diese Lieder fuhren jetzt mit der U-Bahn durch die Stadt und landeten entweder im Müll oder im Kassettenrekorder von jemand anderem.
Ich schluchzte leise vor mich hin.
Sabine stand ratlos neben mir, dann ging sie zu ihrem Nachttischchen, zog eine schwarze Kassette aus der Schublade und hielt sie mir hin. »Hier nimm sie«, sagte sie und legte den Arm um meine Schulter. »Die Lieder wirst du schon noch mal bekommen. Vielleicht bringst du mir dann sogar zwei Kassetten mit, die kann ich gebrauchen, wenn wir in den Urlaub fahren.«
Ich nickte, alles andere als getröstet, und nahm die Kassette an mich.
Sabine streichelte einen Moment lang meine Schulter, dann fragte sie: »Was hattest du denn alles drauf? Wenn ich es höre, kann ich es doch für dich aufnehmen.«
Das war lieb von ihr, aber vorrangig sollte sie doch diese Lieder hören und nicht für mich aufnehmen!
»Es war DeMo drauf und David Bowie. Gerade den Bowie wollte ich schon lange mal haben.«
»Sie spielen ihn bestimmt wieder.«
Ja, bestimmt. Irgendwann. Auch bei den Westsendern konnte man nicht sicher sein, dass irgendein Lied bald wieder kam. Und ich konnte nicht einfach bei einer Wunschsendung anrufen! Mal davon abgesehen hatten wir gar kein Telefon und der Münzer an der Ecke war ständig kaputt.
Darauf, mir jetzt Sabines Kassette anzuhören, hatte ich keine Lust, also gingen wir nach draußen. Hinter Sabines Wohnblock gab es einen Spielplatz mit vielen Bäumen. Wenn dort nicht gerade Kinder herumtobten, konnte man dem Rauschen zuhören und sich, wenn man die Augen schloss, vorstellen, man wäre am Meer.
An diesem Nachmittag waren aber schon Kinder da, die sich mit Sand bewarfen, als wir kamen.
»He, ihr da, lasst das!«, rief Sabine ihnen zu, doch sie machten munter weiter.
Wir setzten uns abseits vom Sandgefecht auf einen Betonblock, und während ich ins Gras starrte, versuchte ich mich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg. Egal, was Sabine tat oder sagte, um meine Kassette würde ich wahrscheinlich auch heute Abend noch trauern.
Auf einmal trampelte etwas hinter uns. Ein merkwürdiger Geruch stieg mir in die Nase, und ich glaubte schon, dass es der alte Herr Pommerenke war, der stets einen Beutel voller Bierflaschen dabeihatte. Doch nichts klimperte und auch die Schritte waren zu schnell.
»Lorenz!«
Sabine verdrehte die Augen, als sich der Junge neben uns setzte. Lorenz hatte das breiteste Grinsen, das ich je auf einem Gesicht gesehen hatte. Und war der verrückteste Typ, den ich kannte. Trotz der brütenden Hitze trug er seine lange Jeansjacke, darunter ein zerlöchertes Shirt mit Knopfleiste. Auf seiner Jeans stand irgendwas mit Kugelschreiber geschrieben, das man aber nicht mehr lesen konnte, weil der Stoff bis kurz vor dem Verschliss ausgeblichen war. Seine Füße steckten in groben schmutzigen Arbeiterstiefeln.
Was suchte er hier? Klar, er wohnte im selben Block wie Sabine, aber warum kam er auf den Spielplatz?
Normalerweise fuhr er nach der Schule zum Alex, wo er sich mit seinen Kumpels traf und dort Musik von den Ärzten, den Hosen oder den Einstürzenden Neubauten hörte, was die Vopos schon mal dazu brachte, spontan ihre Ausweise zu kontrollieren.
Meine ordentliche Freundin konnte ihn nicht ausstehen, aber ich mochte ihn, trotz seines Aufzugs und dem Iro, den er sich angeblich mit Wasserstoff und Fußpilzmittel pink gefärbt hatte. Lorenz war Punk und stolz drauf.
Und egal, was andere von ihm hielten – er war ziemlich klug. Er war derjenige, der mir »Romeo und Julia« geliehen hatte, lange bevor wir es in der Schule durchgenommen hatten. Er schaffte es, den Staatsbürgerkundelehrer so lange mit Fragen zu löchern, bis dieser entnervt aufgab. Erst vor Kurzem, als wir uns im Unterricht mit Jugendkulturen beschäftigt hatten, hatte er Herrn Peters darüber aufgeklärt, dass Punks keinesfalls etwas gegen den Sozialismus hatten – sie wollten nur anders sein als die anderen Leute, die durch Berlin geisterten.
Bekommen war das seinen Kopfnoten nicht. Eine Vier in Betragen war das Resultat. Er tat so, als kümmerte es ihn nicht, doch im Stillen ärgerte er sich mächtig darüber. Und ich fand es ungerecht.
Besonders gut fand ich an Lorenz, dass er vorhatte, eines Tages in einem Verlag zu arbeiten – kaum zu glauben bei seinem Aufzug, aber ich war sicher, dass er es schaffen würde.
»Hier, hab was für dich!«, sagte er und zog ein zusammengerolltes Reclam-Büchlein aus der Innentasche seiner Jacke.
Ich starrte ihn verwundert an. War er extra meinetwegen runtergekommen?
»Goethe?«, fragte ich, als ich es auseinanderrollte. Lorenz ging nicht besonders pfleglich mit Büchern um, konnte sie aber fast auswendig, wenn er mit ihnen fertig war.
»Wahlverwandtschaften«, erklärte er mir, als könnte ich es nicht selbst lesen.
»Das seh ich, aber seit wann stehst du denn auf Johann Wolfgang?«
»Seit ich das Buch hier gelesen habe. In der Schule hatten wir’s nicht, deshalb war’s interessant.«
Ich schlug das Buch auf. Sämtliche weiße Ränder waren ganz fein mit Bleistift beschrieben. Typisch Lorenz, auch bei »Romeo und Julia« hatte er das getan.
»Ich hab ein paar Anmerkungen reingeschrieben, falls du mit dem Text nicht klarkommst.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich und nicht klarkommen?«
»Mein ja nur.« Er rieb sich verlegen über die Nase.
Ich lächelte ihn breit an, versetzte ihm dann einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. »Danke.«
Lorenz winkte ab. »Lass nur. Hauptsache, du liest es und sagst mir, was du davon hältst.«
»Das werde ich.« Kurz blätterte ich durch das Buch, doch die vielen Anmerkungen musste ich mir in Ruhe anschauen. »Was suchst du eigentlich hier? Du wolltest doch nicht etwa zu mir?«
»Ich hab gesehen, dass ihr hier unten sitzt«, erklärte er ein bisschen verlegen. »Ich wollte dir das Buch morgen in der Schule geben, aber da ich sowieso loswollte, dachte ich mir, ich geb’s dir gleich, dann kannstes schon mal lesen.«
Sabine sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Also, man sieht sich!«, rief er, winkte noch kurz und verschwand.
»Ich weiß gar nicht, warum du mit dem redest«, murrte Sabine, als er außer Hörweite war.
»Ach, so schlimm ist er doch gar nicht. Schau mal, er liest Goethe. Und kann echt nett sein, wenn er will.«
Sabine sagte dazu nichts, aber ich sah ihr an, dass das ihre Meinung auch nicht ändern würde.
Mich hatte er immerhin für einen Moment vom Verlust meiner Kassette abgelenkt.
Claudius
Wieder zu Hause angekommen verzog ich mich gleich in mein Zimmer. Meine Mutter war noch immer nicht da, wer weiß, welche Gymnastikkurse sie wieder besuchte. Mein Vater würde nicht vor zehn oder elf aus dem Büro kommen.
Die brütende Hitze hatte vor der Mauer nicht haltgemacht, mittlerweile war es auch hier, direkt unter dem Dach, nicht auszuhalten.
Als die Tür hinter mir zufiel, blickte ich zu der Posterwand über meinem Bett. Die würde ich echt vermissen, wenn ich von hier auszog. Natürlich würde ich meine über Jahre mühsam zusammengetragene Sammlung nicht wegwerfen, doch wenn man als Musiker on the road unterwegs war, konnte man nicht in jedem Motel oder gar an dem Baum, unter dem man gerade schlief, alle Poster aufhängen. Ich würde sie aufbewahren, bis ich wieder Bock drauf hatte, sesshaft zu werden. Vielleicht mit einem Mädchen wie dem, das ich in der Bahn gesehen hatte.
Der Gedanke kam mir irgendwie komisch vor, denn in meinen Plänen für die Zukunft waren Mädchen bisher nur Randfiguren gewesen. Und irgendwo sesshaft zu sein, konnte ich mir ebenso wenig vorstellen.
Die Kassette schien in meiner Hosentasche zu pulsieren. Den ganzen Weg zurück nach Westberlin hatte ich an ihre Besitzerin gedacht. Neben ihren Augen war ihr kurzes Auflachen das Schönste gewesen, wie eine unfassbar geniale Melodie, die man nicht auf einem Instrument nachahmen konnte. Vielleicht hatte sie auch auf dem Heimweg wieder gelacht, über einen Witz, den ihre Freundin gemacht hatte. Oder über etwas, das in der Schule passiert war.
Auf einmal bereute ich es ein bisschen, dass mich die DDR bisher nicht interessiert hatte. Vielleicht gab es dort doch Raum fürs Leben, für Fantasie? Trotz der baufälligen Häuser in der Schönhauser Allee …
Ratlos drehte ich die Kassette in meinen Fingern herum. Noch immer ging mir mein Vorhaben, der Unbekannten die Kassette zurückzubringen, nicht aus dem Sinn. Mittlerweile hatte sie den Verlust bestimmt bemerkt und war traurig darüber. Obwohl ich sie nicht kannte, wollte ich nicht, dass sie traurig war.
Aber vielleicht gab es ja einen Hinweis auf der Kassette. Klar, sie hatte da sicher nicht ihren Namen draufgesprochen, aber vielleicht handelte es sich nicht um Musik, sondern um ein Schulprojekt.
Kurz fragte ich mich noch, ob ich so einfach in die Kassette reinhören durfte. Doch meine Neugier siegte, und so legte ich die Kassette kurzerhand in meinen Walkman ein.
Was ich hörte, überraschte mich schon ein bisschen. Keine geheimen Botschaften, keine Schlagermucke.
Das Mädel hatte einen recht interessanten Musikgeschmack. So interessant, dass ich auf die Idee kam, die Playlist aufzuschreiben. Ich schnappte mir Zettel und Stift und legte los.
Was für eine schräge Mischung!
Besonders beeindruckte mich, dass sie neben Joy Division, Cooper und The Cure David Bowie auf der Kassette hatte. Und dann noch dieses Lied!
Es handelte von der Mauer, von einem Paar, das versucht, das System zu besiegen, indem es sich mitten auf dem Todesstreifen küsst. Auch wenn ich klamottentechnisch niemals wie der Thin White Duke rumlaufen würde, mochte ich seine Musik und bewunderte seinen Werdegang.
Aber etwas enttäuschte mich. Es gab auf der Kassette keinen Hinweis auf die Identität des Mädchens.
Dann schoss es mir durchs Hirn: Vielleicht war die Kassette ein Geschenk ihres Freundes! Vielleicht war der Waver, lief schwarz gekleidet rum wie Dave und Martin und wollte ihr so seine Liebe zeigen. Die Tracks passten irgendwie. Sehr viel Liebe in den Liedern. Und zu dem Karamellmädchen passte, dass sie einen Freund hatte. Sicher liefen ihr die Jungs scharenweise hinterher. Saskia und alle anderen Mädchen, mit denen ich bisher rumgemacht hatte, stellte sie locker in den Schatten!
Auf einmal fühlte ich mich irre schlecht. Ich konnte nicht sagen, warum, immerhin kannte ich das Mädchen gar nicht, und was ging es mich an, ob sie einen Freund hatte oder nicht?
Doch ich wollte sie kennenlernen, unbedingt! Oder ihr wenigstens die Kassette zurückgeben …
Mein erster Gedanke war, Max zu fragen, doch dann fiel mir wieder ein, dass ich ihm nicht mal von der Kassette erzählt hatte. Und dass ich wegen des Mädchens ziemlich verwirrt war, wollte ich nicht mal ihm anvertrauen. Zumindest jetzt noch nicht.
Niedergeschlagen zog ich die Kassette wieder aus meinem Walkman. Dabei bemerkte ich an der Seite ein paar Kratzer. Eigentlich hätte ich sie ignorieren können – aber es waren keine zufälligen Kratzer, sondern welche, die mit Absicht hineingeritzt worden waren.
Ich schaltete die Schreibtischlampe ein und betrachtete sie näher.
»Milena«, stand da in ungelenken Buchstaben, wahrscheinlich waren sie mithilfe einer Nadel entstanden.
Milena. War das der Name des Mädchens? Wie viele, die so hießen, mochten in Ostberlin leben? Oder zumindest in dem Teil Ostberlins, in dem sie ausgestiegen war …
Milena. Der Name passte zu ihr. Und jemand hatte die Kassette für sie bespielt. Meine Freundestheorie erhärtete sich. Und der Knoten in meinem Bauch auch.
Dennoch sollte sie die Kassette zurückbekommen …
Ich warf mich also auf mein Bett, schloss die Augen und während ich versuchte, mir Milenas Lachen wieder ins Gehör zu rufen, kam mir eine Idee.
Für den Fall, dass ich das Mädchen wiederfand, würde ich noch einen persönlichen Gruß auf der Kassette hinterlassen …