Yukon, Kanada
Herbst 2004
Andy
Anfang Oktober.
Der kalte, mitternächtliche Regen plätscherte auf das Blechdach.
»Wir sollten Whiskey trinken«, sagte Violet. »Irgendwas, das unsere Knochen wärmt.«
Ich legte ein weiteres Birkenscheit ins Feuer und kroch wieder unter die Bärenfelldecke, unter der Vi es sich mit ihrem Weinglas bequem gemacht hatte.
»Ist dir schon wieder kalt?«, fragte ich.
»Ich bin eine Südstaatlerin. Mir ist immer kalt.«
»Ich sage es ja nur ungern, aber dann wird dir der Winter hier nicht gefallen.«
»Wie kalt wird es hier schlimmstenfalls?«
»Minus fünfundvierzig bis minus fünfzig Grad, wenn es richtig kalt wird.«
»Dann stehe ich gar nicht erst auf.«
Ich nippte an meinem Wein und beobachtete die flackernden Schatten, die das Feuer auf den Dachsparren tanzen ließ. Mein ehemaliges Schreibzimmer war jetzt Violets Schlafzimmer und das Kinderzimmer ihres vier Monate alten Sohns Max. Er schlief gerade da oben, am wärmsten Ort der Hütte, wo sich die Hitze des Feuers sammelte.
Der Schein des Feuers spiegelte sich auch auf Violets Gesicht.
Ich hatte es ausgeblendet, dagegen angekämpft, versucht, es zu ignorieren, aber ich konnte nicht leugnen, was ich tief in meinem Inneren spürte. Ich verliebte mich … sehr sogar … in diese Frau.
»Was ist?«, fragte Vi.
»Nichts.«
»Nein. Du siehst mich wieder so an.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Sie grinste. »Schmachtest du mich an, Andy?«
Ich wurde bis in die Ohrläppchen rot und fragte mich, ob sie es in dem schwachen Licht erkennen konnte.
»Vielleicht ein bisschen. Entschuldige.«
»Nein, es ist durchaus verständlich. Ich bin ja auch hinreißend.«
Ich lachte und schloss für eine Sekunde die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, beugte sich Violet so weit vor, dass ich den Wein in ihrem Atem riechen konnte.
Ihre grünen Augen waren schwarz gesprenkelt. Das war mir zuvor noch nie aufgefallen.
»Violet …«
»Ich möchte es.«
»Bist du dir sicher? Denn wenn du noch Zweifel hast …«
Sie küsste mich.
Sanft.
Zerschmelzend.
Verschmelzend.
Für mich hätte der Kuss ewig weitergehen können.
Als wir uns voneinander lösten, prickelten meine Mundwinkel und ich konnte sie noch schmecken. Ich strich ihr mit einer Hand über die Hüfte und fragte mich, wie weit wir gehen würden.
»Das habe ich seit langer Zeit nicht mehr gemacht«, gestand ich ihr.
»Was? Wovon redest du?«
»Nichts, ich …«
»Augenblick mal.« Sie zog sich ein Stück zurück. »Glaubst du, wir würden miteinander schlafen?«
»Nein, ich dachte nur …«
»Das war nur Spaß. Natürlich tun wir das.«
»Warum quälst du mich so?«
»Weil du es mir so leicht machst?«
Sie stellte ihr Weinglas auf den Boden und zog mich auf sich.
»Sag die Wahrheit«, flüsterte sie. »Wie oft hast du von diesem Moment geträumt?«
Ich lächelte und spürte ihre Oberschenkel an meinen Rippen.
»Du hast eine Menge durchgemacht, Vi.«
»Das haben wir beide.«
»Es ist noch nicht mal ein Jahr her.«
»Für mich ist es lange genug. Ich weiß, wer du bist. Hör auf zu versuchen, es mir auszureden.«
Also küsste ich sie und strich staunend mit den Händen über ihren Körper. Das Feuer brannte hinter uns, und der Regen wurde stärker. Ich hatte mir diesen Moment vorgestellt, und zwar schon sehr oft, zumindest seit Sommeranfang, und noch immer fühlte es sich nicht so an wie in meinen Träumen. Jetzt liebte ich sie, und das machte alles nur noch besser.
»Wollen wir rüber in mein Bett gehen?«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Ja, gerne.«
Ich konnte mich noch immer kaum überwinden, mich von ihr zu trennen. Es war so schön und perfekt, wenn wir zusammen waren.
Ich kniete mich hin und half ihr auf.
»Du bist so wunderschön.«
Ich hätte sie hier direkt im Feuerschein ausgezogen, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. Jetzt bereute ich es, dass wir das nicht im Sommer gemacht hatten.
»Ich gehe nur mal ganz schnell nach oben«, sagte sie. »Leg dich schon mal unter die Decke und wärm das Bett für uns vor.«
Ich stand auf und ging über die kalten Dielenbretter in die Nische unter der Dachkammer, in der mein Bett in der Dunkelheit stand.
Der Wein war mir auf sehr angenehme Weise in den Kopf gestiegen.
Violet kletterte die Leiter zur Dachkammer hinauf.
Mein Herz klopfte wie wild.
Als ich zum Bett kam, schlug ich die Decke zurück und überlegte, ob ich nackt auf sie warten sollte, oder ob das vielleicht doch etwas zu billig und abgedroschen war.
Ich kroch unter die Decke und entschied mich für die sichere Variante, indem ich vorerst angezogen blieb.
Violet bewegte sich über mir in der Dachkammer, und die Dielenbretter knarrten. Ich musste daran denken, wie oft ich hier in der Dunkelheit gelesen und auf ihre Bewegungen gelauscht hatte, während ich darauf hoffte, dass sie dasselbe empfand wie ich und vielleicht mitten in der Nacht die Leiter herunterkam, um sich zu mir ins Bett zu legen. So ganz konnte ich noch immer nicht glauben, dass es gleich passieren würde.
Es war kalt unter der Decke, und ich hatte sie bis zum Kinn hochgezogen, um die Hitze nicht entweichen zu lassen, als Violet schrie.
Ich setzte mich auf.
»Andy!«, rief sie.
Ich sprang aus dem Bett und lief zur Leiter.
»Was ist los?«, fragte ich und stieg nach oben.
»Er ist weg.«
Ich betrat die Dachkammer.
Hier oben war es dunkel, und in den Ecken, wo sich der Schein des Feuers nicht in metallenen oder gläsernen Oberflächen spiegelte, konnte man nichts sehen.
»Wer?«, fragte ich, auch wenn mir in dem Moment alles klar gewesen war, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ich sah, wie sich Violet über das Kinderbett beugte und zwischen den Decken herumwühlte.
»Max«, rief sie.
»Ist er vielleicht irgendwie rausgekrochen?«
»Er ist vier Monate alt, Andy. Er kann sich nicht mal umdrehen.«
Ich schaltete eine Lampe ein und ging zu ihr.
»Du hast ihn nach dem Abendessen hingelegt, richtig?«
Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen und atmete schnell.
»Er ist schnell eingeschlafen. Schon nach zehn Minuten. Dann bin ich runtergekommen und wir haben uns am Feuer unterhalten. Wie lange? Ein paar Stunden bestimmt.«
»Ja.«
Vi schüttelte sich. »Das ist nicht richtig, Andy. Das ist nicht richtig.«
Ich ging um das Kinderbett herum zu dem einzigen Ausgang aus der Dachkammer: ein sechzig mal sechzig Zentimeter großes Dachfenster direkt unter dem Giebel.
»Ist es offen?«, wollte sie wissen.
Ich kniete mich hin und untersuchte das Schnappschloss. »Nein, aber es ist auch nicht abgeschlossen.«
»Was ist das?«
»Ich bin mir zu neunzig Prozent sicher … Scheiße!«
»Was ist?«
Vi hastete zu mir.
Ich berührte die Dielenbretter.
»Sie sind nass.« Mich packte die kalte, entsetzliche Panik. »Jemand war hier oben, während wir unten gesessen haben.«
Sie sah mich mit Tränen in den Augen an.
Ich hatte einen dicken Kloß in der Kehle.
»Er ist hier, nicht wahr? Er hat uns gefunden und meinen Sohn entführt.«
Ich ging zur Leiter.
Im nächsten Augenblick spürte ich auch schon, dass etwas nicht stimmte. Meine Knie waren weich, aber sie fühlten sich auch taub an.
»Irgendwas ist komisch«, sagte ich, als ich zur Leiter kam und den Fuß auf die Sprosse setzte.
»Mir wird auch immer schwindliger«, gestand mir Violet weinend. »Ich dachte erst, das wäre der Wein.«
Vorsichtig stieg ich nach unten. Meine Beine zitterten jetzt so stark, dass ich Angst hatte, das Gleichgewicht zu verlieren. Mein Verstand schien nicht mehr richtig zu arbeiten. Die letzten sechzig Sekunden waren ein derartiger Albtraum gewesen, dass ich mich fragte, ob es wirklich passiert war. Ich hatte im letzten Jahr unzählige Albträume, dass er uns irgendwie gefunden hatte, und immer, wenn ich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachte, war ich wie gelähmt vor Angst, bis ich erleichtert feststellte, dass ich es nur geträumt hatte und dass es nicht real war. Dann ging ich immer zum Spülbecken, trank ein Glas Wasser und wartete, bis sich meine Nerven wieder beruhigt hatten.
Meine Füße berührten die Dielenbretter am Ende der Leiter.
Violet weinte noch immer hysterisch, und meine Beine fühlten sich immer tauber an. Ich befand mich noch immer in diesem schrecklichen Zustand, in dem man nicht aufwachen kann, oder – noch schlimmer – einsehen musste, dass es gar kein Albtraum war, aus dem man erwachen könnte.
Ich kniete mich neben das Bett auf den Boden und griff darunter.
Dann holte ich die Schrotflinte heraus, aber sie war zu leicht, zu klein und nicht aus schwarzem Metall, sondern aus orangefarbenem und grünem Plastik.
Ich starrte die Spielzeugpistole in meiner Hand an und sagte: »Was zum Henker ist hier los?«
Meine Stimme hörte sich komisch an, als würde sie aus einer Nische im hintersten Winkel meines Kopfes kommen. Ich drehte mich um, das Zimmer bewegte sich langsamer als mein Kopf, sodass das Feuer eine leuchtende Spur in meinem Blickfeld hinterließ.
Violet stand schwankend am Fuß der Leiter.
»Er hat uns unter Drogen gesetzt«, stellte ich fest, und sie antwortete mir, aber ich konnte ihre Worte nicht verstehen, die in einem Schwall an Echos untergingen.
Ich taumelte zur Tür und riss sie auf.
Regentropfen fielen durch den Lichtschimmer, den die Verandalampe erzeugte.
Jenseits davon herrschte undurchdringliche Dunkelheit.
Mein Atem kondensierte in der Kälte, und ich spürte die kalte Luft in meinem Gesicht, aber da war eine seltsame Distanziertheit, eine chemisch verursachte Apathie, die von Minute zu Minute stärker wurde.
Ich taumelte die Stufen hinunter und trat in eine Pfütze, deren eiskaltes Wasser meine Socken durchnässte, während mir bewusst wurde, dass ich die Spielzeugpistole noch immer in der Hand hielt. Sofort warf ich sie in den Schlamm.
Mein CJ-5 stand noch immer außerhalb der Reichweite der Lampe, ich ging mit wackligen Beinen darauf zu.
Ich bewahrte ein Jagdgewehr vor dem Rücksitz auf, da ich darauf gehofft hatte, einen Elch zu erlegen, der uns durch den Winter bringen würde.
Schon stieß ich gegen die Tür des Jeeps und suchte nach dem Türgriff.
Die Tür ging auf, ich stieg ein und griff nach hinten zwischen die Sitze, während der Regen auf das Dach trommelte.
Die Remington war weg.
Er hatte sie ebenfalls mitgenommen.
Ich stieg wieder aus und sah zum Verandalicht hinüber, das neun Meter von mir entfernt war und mir durch den Regen in den Augen brannte.
Mein Kopf fühlte sich schwer an, meine Finger ebenfalls. Es war, als wollte mich mein ganzer Körper in den Schlamm ziehen.
Ich konnte Violet in der Hütte weinen hören. Plötzlich ging mir auf, dass ich gleich das Bewusstsein verlieren würde, und das machte mir trotz der benebelnden Wirkung der Droge Angst.
Wie lange er uns wohl schon beobachtet und diese Nacht geplant hatte? Er hatte sich in der Hütte umgesehen, da er wusste, wie er Max rausschaffen konnte, wo sich meine Schrotflinte, mein Gewehr und wer weiß was noch alles befanden.
Ich ging zurück zu Violet, aber nach vier Schritten fiel ich mit dem Gesicht voran in den kalten Schlamm und starrte seitlich zur Hüttentür, hinter der das Innere im Feuerschein zu sehen war.
Violet weinte nicht mehr, sondern kroch auf die Tür zu.
Ich versuchte, sie zu rufen, aber ich schien keine Stimme mehr zu haben.
Sie brach auf der Türschwelle zusammen und rührte sich nicht mehr.
Meine Augen schlossen sich, obwohl ich das gar nicht wollte, und das Verandalicht wurde immer schwächer, bis es nur noch ein ferner Stern war.
Jetzt schwand auch das weiße Rauschen des Regens, und mit ihm die Kälte, und kurz bevor ich ohnmächtig wurde, hatte ich einen letzten, schrecklichen Gedanken: Das war nicht das Ende und ganz bestimmt nicht mein Tod. Aber es war vermutlich der letzte friedliche Augenblick, den ich je erleben durfte, denn wenn ich wieder zu mir kam, würde ich in der Hölle aufwachen.
Violet
Sie schlug die Augen auf und schloss sie sofort wieder.
Das Licht war unglaublich grell und durchdringend.
All ihre Sinne waren völlig durcheinander.
Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Armen, aber das Licht versengte dennoch ihre Netzhäute.
»Ich war sehr, sehr lange im Dunkeln«, dachte sie.
Und dann: »Max.«
Sie weinte, und sie hörte am Widerhall, dass sie sich im Freien aufhielt.
Der Boden unter ihr war fest und unnachgiebig – vielleicht eine Straße.
Sie hörte kein Geräusch. Auf jeden Fall nicht das ständige Jaulen des Windes durch die Fichten, an das sie sich im Verlauf des letzten Jahres gewöhnt hatte. Sie konnte sich nicht an ihren letzten klaren Gedanken erinnern, nur an die Gefühle, die damit verbunden waren: Angst und Verlust.
Violet drehte sich auf den Rücken und zwang sich, die Augen zu öffnen.
Nach dreißig Sekunden, in denen es gleißend hell war, wurde die Welt dunkler und sie erkannte, dass sie zu einer tief hängenden grauen Wolkendecke hinaufsah.
Sie setzte sich auf.
Und fand sich mitten auf einer Straße in einer Wohngegend wieder.
Häuser auf beiden Seiten.
Mühsam stand sie auf. Sie war geschwächt. Als hätte sie seit Monaten nicht auf ihren Beinen gestanden.
Sie hatte so großen Durst, dass es in ihrem Kopf pochte.
Sie humpelte über die Straße zum nächsten Haus, dann in den Vorgarten, durch das hohe Gras und die Stufen hinauf.
Dann klopfte sie an die Haustür.
»Hallo? Ich brauche Hilfe. Hallo?«
Ihre Stimme klang komisch. Ungeübt. Sie machte einen Schritt nach hinten und wartete. Von der anderen Seite näherten sich keine Schritte. Da war auch kein Geräusch, abgesehen vom Schaben der leeren Bierdose, die hinter ihr über die Straße rollt.
Möglicherweise lag es an ihrem benebelten Kopf, aber es fiel ihr erst jetzt auf, dass die Fensterscheiben an der Vorderseite des Hauses fehlten. Sie ging zu dem Fenster rechts der Tür und starrte durch die Spinnweben ins Haus.
Vergammelte Möbel.
Der Geruch nach Schimmel und Verfall.
Nach verwesendem Holz.
Sie ging die Treppe wieder herunter und durch den Vorgarten, und als sie wieder auf dem Bürgersteig stand, lief sie zum Nachbarhaus. Hier machte sie sich gar nicht erst die Mühe anzuklopfen, weil der Verfall offensichtlich war: dieselben scheibenlosen Fenster, dahinter ebenfalls Dunkelheit und Leere.
Violet ging wieder auf die Straße.
Jeder Vorgarten war überwuchert.
Jedes Haus war dunkel.
»Hallo!«
Ihre Stimme hallte durch die Straße, und sie bekam keine Antwort.
Sie ging los und fing dann an zu rennen.
Nachdem sie an drei Blocks voller gleich aussehender verlassener Häuser vorbeigelaufen war, blieb sie keuchend stehen. Ihre Beine hatten keine Kraft mehr. Sie gaben nach, wieder saß sie mitten auf einer leeren Straße und legte die Arme um die Beine, um sich an irgendwas festzuhalten.
Das musste ein Traum sein. Nichts von alldem fühlte sich real an.
Dann kam ihr ein Gedanke: »Ich bin tot.« Das hätte die Verwirrung, die Schwäche, die Gedächtnislücken und die seltsame Umgebung erklärt. Sie dachte an ihren Sohn und was das bedeutete, und schon schossen ihr zahlreiche neue Fragen durch den Kopf. Sie weinte wieder, schluchzte bitterlich, und die Tränen brannten in ihren Augen. Sie hätte den ganzen Tag und die ganze Nacht weinen können, wenn es denn so was gegeben hätte, aber sie wurde abrupt von einer Stimme zum Schweigen gebracht, die auf einmal in ihrem Kopf ertönte.
Andy
Völlige Dunkelheit.
Tag um Tag um Tag.
Ich war nackt an einen Holzstuhl gebunden worden, an dem Stücke aus eiskaltem Metall befestigt waren. Lederfesseln lagen um meine Hand- und Fußgelenke und meinen Kopf.
Ich konnte mich nicht bewegen.
Hatte nichts zu essen.
Nichts zu trinken.
Hörte kein Geräusch außer dem gelegentlichen Quietschen von Metall irgendwo hoch über mir.
Der einzige Luxus war ein Loch, das in die Sitzfläche des Stuhls geschnitten worden war – vermutlich, damit ich keine Infektion bekam und an meinen eigenen Exkrementen starb.
Wenn mein Durst unerträglich wurde und meine Verzweiflung überhandnahm, kam jedes Mal jemand herein und im Dunkeln auf mich zu. Ich spürte, wie mir ein Strohhalm zwischen die spröden, aufgeplatzten Lippen geschoben wurde, und trank dreißig Sekunden lang so viel Wasser, wie ich nur konnte. Manchmal fütterte mich mein Entführer mit kalter Suppe oder einer Scheibe altem Brot. Aber er sagte nie einen Ton, ich rief ihm immer hinterher, wenn sich seine Schritte wieder entfernten, flehte um ein Wort, irgendwas, aber er antwortete nie.
In den wachen Momenten dachte ich über Violet und Max nach, bis mich der Gedanke an das, was aus ihnen geworden sein mochte, zum Weinen brachte. Ich durchlief Phasen der Angst, der Langeweile, der Panik und schließlich des Wahnsinns.
Er schlich sich an, das konnte ich spüren. Er lauerte im Dunkeln, kratzte an meinem Schädel, wurde vergrößert durch den Reizentzug. Häufig wusste ich nicht einmal, ob ich wach war oder schlief. Lichter blühten in der Schwärze auf, und jedes war noch intensiver als das vorangegangene.
Filme für einen brechenden Geist.
Ich fühlte Selbstgespräche.
Und sang.
Meist weinte ich jedoch.
Dann fing alles wieder von vorne an, bis ich schließlich nur noch den schlichten, übermächtigen Wunsch hatte zu sterben. Die Qualen dieser bewegungslosen bewussten Phase, des Liegens im Dunkeln und Warten auf etwas, von dem ich nicht wusste, was es war, des Frierens, Dürstens und Hungerns, der Verwirrtheit und der Ungewissheit, wann es enden würde, das alles war schlimmer als jeder körperliche Schmerz, den ich je zu erdulden hatte.
Und dann passierte es. Ich erwachte zitternd aus einem Fiebertraum, und irgendetwas war anders. Ich hatte ein Objekt in meiner rechten Hand. Es war klein, länger als breit, aus hartem Plastik und auf einer Seite mit Gummiknöpfen bedeckt.
Eine Stimme – sanft, vertraut und mit Südstaatenakzent – war auf einmal in meinem Kopf.
»Sie haben die Wahl, Andy. Das wird die erste von vielen Entscheidungen sein, und sobald Sie sie getroffen haben, können Sie sie nicht mehr rückgängig machen. Sie halten eine Fernbedienung in der rechten Hand. Wenn Sie etwas sehen wollen, dann drücken Sie den großen Knopf am oberen Rand.«
Ich merkte, dass ich noch ein kleineres Gerät in der linken Hand hielt.
»Was habe ich in der anderen Hand?«
»Das ist für später.«
»Wo sind Violet und Max? Was haben Sie mit ihnen gemacht?«
Er antwortete nicht.
Ich saß im Dunkeln und fingerte an dem großen, runden Knopf herum, wobei ich dieses erste neue Gefühl seit Tagen genoss: die Reibung des Gummis an meinem Daumen.
Ich wollte es nicht tun. Mir war klar, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, aber alles war besser, als weiterhin in dieser Dunkelheit zu sitzen.
Das konnte ich nicht länger ertragen.
Ich drückte den Knopf.
Violet
»Hallo Violet.«
Sie hob die Hand an das Ohrstück in ihrem linken Ohr, das sie bis zu diesem Moment nicht einmal bemerkt hatte.
»Bestätigen Sie, dass Sie mich hören können.«
»Wo ist mein Sohn?«
»Ich habe ihn gerade auf dem Arm.«
Sie schnappte nach Luft, während ihr die Tränen in die Augen stiegen und sich ein dicker Kloß in ihrer Kehle bildete.
»Wenn Sie ihm wehtun …«
»Er ist in Sicherheit. Vorerst zumindest.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
Max’ unverkennbares Weinen drang an ihr Ohr. Sie hätte ihn unter einer Million anderen Kindern wiedererkannt.
»Sehen Sie, jetzt haben Sie mich dazu gebracht, ihn zu kneifen. Ganz ruhig, kleiner Mann. Ist ja schon gut.«
»Max, hier ist Mama. Ich bin ja da.« Sie konnte ihn nicht mehr hören. »Bitte tun Sie ihm nicht weh. Ich werde alles tun, was Sie verlangen.«
»Schön, dass Sie das sagen.«
»Geht es Andy gut?«
»Andy … hatte schon bessere Tage. Aber er ist am Leben.«
»Was wollen Sie?«
»Zuerst einmal, dass Sie Ihren Arsch in Bewegung setzen.«
Vi stand auf, drehte sich langsam um und beäugte die anderen verlassenen Fertighäuser auf beiden Seiten der Straße. Sie berührte noch einmal das Ohrstück und zog vorsichtig daran. Es bewegte sich nicht, aber sie spürte, wie sich ihre Haut dehnte.
»Es geht nicht raus«, sagte Luther. »Nicht ohne ein Skalpell. Gehen Sie weiter.«
»In welche Richtung?«
»Auf den Wasserturm zu.«
Sie ging los.
»Können Sie mich sehen?«, wollte sie wissen.
Er antwortete nicht.
Der Wasserturm war vierhundert Meter weit entfernt, und sein silberner Tank wirkte matt und war mit Graffitis übersät.
Dennoch konnte sie erkennen, wer der eigentliche Namensgeber gewesen war.
»Füttern Sie meinen Sohn?«
»Er wird gut versorgt, Violet.«
»Ich muss ihn sehen.«
»Das lässt sich arrangieren.«
»Wie?«
»Natürlich, indem Sie gehorsam sind.«
Sie kam dem Turm jetzt immer näher.
Ein mit Stacheldraht besetzter Maschendrahtzaun stand um das Fundament herum.
»Steigen Sie drüber«, sagte er.
Sie strich sich mit den Händen durch das Haar, das zu einem schiefen Pferdeschwanz gebunden war, und berührte dann den Zaun, der mit einer dicken Rostschicht bedeckt war. Beim Hochklettern fiel ihr auf, dass sie Tennisschuhe trug sowie einen schwarzen Jogginganzug, den sie zuvor nie besessen hatte.
Als sie fast oben angekommen war, schwang sie ihr Bein mit einer Seitwärtsbewegung über den Stacheldraht, aber sie blieb mit der Hose an einem abstehenden Stück hängen und riss ein fünfzehn Zentimeter langes Loch hinein.
Sie keuchte auf, als sie das kalte Blut spürte, und ihr aufgerissenes Bein schmerzte.
Auf der anderen Seite kam sie auf dem Boden auf, drehte sich um und starrte den Turm an. Er war fünfundfünfzig Meter hoch, aus verrostetem Metall und hätte schon vor Jahren abgerissen werden müssen.
Er knarrte und schwankte sichtlich im Wind.
»Oben drauf ist etwas für Sie. Etwas, das Sie brauchen.«
»Oben auf dem Turm?«
»Korrekt.«
»Wie soll ich denn da drankommen?«
»Ihnen wird schon was einfallen.«
Sie betrat den aufgerissenen Beton und blieb direkt unter der Leiter stehen. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Hände ausstreckte, streifte sie mit den Fingern die unterste Sprosse. Sie ging in die Knie, sprang und packte die unterste Sprosse erst mit einer und dann mit beiden Händen. Stöhnend zog sie sich hoch, bis ihre Augen auf der Höhe ihrer weiß verfärbten Fingerknöchel waren.
Ihr rechter Arm schoss nach oben, sie griff mit den Fingern nach der nächsten Sprosse und legte sie um das Metall.
Sie schrie auf und kämpfte um den nächsten Kraftakt, der das Schwerste war, was sie je getan hatte.
Ihre Knie glitten über die unterste Sprosse, und sie stützte ihr Gewicht darauf.
Sie keuchte.
Der Schweiß brannte in ihren Augen.
Violet klammerte sich an die verrostete Leiter und wartete, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigte. Als sie erneut atmen konnte, ohne zu keuchen, stellte sie ihre Tennisschuhe auf die unterste Sprosse und starrte das Fundament des Wasserturms an.
»Ist das sicher?«, fragte sie.
»Kommt es Ihnen denn sicher vor?«
Sie begann zu klettern.
Die Leiter war unglaublich schmal und höchstens dreißig Zentimeter breit. Beim Betreten jeder neuen Sprosse brachte die Bewegung das Metall in einer tiefen, unheimlichen Frequenz zum Vibrieren.
Inzwischen befand sie sich in zwölf Metern Höhe und hatte noch nicht nach unten gesehen, sondern konzentrierte sich nur auf die einzelnen Sprossen und das rostige Metall. Das war alles, was zählte – dass sie weiter nach oben kam. Nicht die Welt um sie herum, die merkliche Neigung des Turms, die immer auffälliger wurde, je höher sie stieg, oder das Bild, das vor ihrem inneren Auge stand: wie sich die Bolzen, mit denen diese Leiter verankert war, langsam lösten.
Der Wind, der an ihr rüttelte, trug feine Graupeln mit sich.
Auf der Hälfte musste sie erst einmal anhalten und nach Luft schnappen.
Nicht die Anstrengung raubte ihr jedoch den Atem, sondern die Angst.
Als sie die Augen öffnete, starrte sie zwischen ihren Füßen hindurch nach unten und stellte fest, dass es zwanzig bis fünfundzwanzig Meter bis zur Betonplatte am Fuß des Turms sein mussten. Es sah aus, als würde sie sich hin und her bewegen, aber sie wusste, dass eigentlich der Turm schwankte, und ihr stieg die Galle in die Kehle.
Reiß dich zusammen. Du hast schon Schlimmeres durchgestanden. Du tust das hier für Max. Und für Andy.
»Sie sind doch nicht etwa festgefroren, oder?«
»Nein.«
Ihr kam das Wort kaum über die Lippen, ihre Handflächen schwitzten, wodurch sie zu schnell auf dem Metall ausrutschte. Sie bekam einen Krampf im rechten Bein, als sie weiterkletterte. Erschöpfung, Furcht und das Adrenalin, das langsam abebbte, ließen ihre Muskeln zittern.
Aber sie kletterte weiter.
Der eiskalte Nieselregel stach ihr unablässig seitlich ins Gesicht.
Die Sprossen wurden rutschiger.
Vi sah nach oben. Noch zwei Sprossen. Fast geschafft.
Sie zwang sich, weiterzuklettern.
Zwei Sprossen.
Dann streckte sie die rechte Hand nach oben aus, umklammerte das mit Wassertropfen bedeckte Geländer und zog sich auf den Laufsteg hoch, der um den Wassertank herumführte.
Er war nur sechzig Zentimeter breit, hatte aber wenigstens ein Geländer und bot so vermeintlich ein wenig Schutz.
Eine kleine Kamera war gerade außerhalb ihrer Reichweite an den Tank montiert worden.
Sie war nach unten ausgerichtet, zu der Stelle, an der die Leiter zum Laufsteg führte.
Violet legte sich flach auf das kalte Metall, und ihr Herz klopfte wie wild dagegen. Sie wollte es nicht tun, aber sie konnte einfach nicht verhindern, dass sie über das städtische Ödland sah, das sich unter ihr ausbreitete. Block und Block voller aufgegebener Häuser. Ein sechsstöckiges Wohnungsbauprojekt mit schwarzen Fenstern und einem zerfallenden Klettergerüst auf den Überresten des Innenhofs. Sie reckte den Hals. Verlassene Fabriken ragten in der Ferne auf der anderen Seite des Wasserturms in die Luft, ebenso wie eine Reihe von anderen Gebäuden. Gemauerte Schornsteine, aus denen kein Rauch aufstieg und die sich in einen schiefergrauen Himmel emporreckten. Überall nur industrieller Verfall. Eine Geisterstadt. Erst in weiter Ferne, über eineinhalb Kilometer entfernt, erahnte sie das Summen von Autos und noch weiter dahinter die kaum erkennbare Skyline einer Stadt.
Es knackte in ihrem Ohr.
»Stehen Sie auf.«
Vi wischte sich das Regenwasser aus den Augen und stand wieder auf.
»Ich sagte doch, dass ich etwas für Sie hätte, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das war gelogen. Es ist kein Etwas, sondern ein Jemand.«
Violet spürte eine Vibration unter ihren Füßen. Sie hielt sich am lockeren Geländer fest und fühlte sich stehend sehr unsicher. Ihr wurde schwindlig.
Sie taumelte zurück zur Leiter und sah nach unten.
Die Person fing gerade erst an zu klettern, aber sie kam schnell und entschlossen näher.
»Kommen Sie hier rauf?«, fragte sie.
»Das bin nicht ich. Das ist Jennifer. Sie ist genau wie Sie vor einer Stunde hier aufgewacht. Und ebenso wie Sie ist sie vor Kurzem Mutter geworden. Ihre Tochter Margot teilt sich gerade das Kinderbettchen mit Max.«
Vi konnte die Schritte der Frau auf den Metallsprossen hören.
»Warum kommt sie hier rauf?«
»Weil sie nicht will, dass ihre Tochter stirbt. Ich gehe doch davon aus, dass es Ihnen mit Max genauso geht, oder?«
In Vis Brust zog sich alles zusammen.
»Diejenige von Ihnen, die die andere innerhalb der nächsten zehn Minuten in den Tod wirft, kann davon ausgehen, dass ihr Kind noch eine Weile länger in Sicherheit sein wird.«
»Luther, um Himmels …«
»Das wird lustig.«
»Das kann ich nicht.«
»Niemand bittet Sie darum, etwas zu tun.« Klong. Klong. Klong. »Von mir aus können Sie einfach nur da stehen und sich runterwerfen lassen.«
Violet rückte von der Stelle ab, an der die Leiter auf den Laufsteg führte.
Dennoch spürte sie ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend und empfand die Höhe als beunruhigend.
Sie lehnte sich an die Seite des leeren Wassertanks, ihre Hände fingen an zu zittern, als sie hörte, wie die Frau näher kam.
Dann war das Klappern direkt unter ihr, sie sah Hände nach dem Geländer fassen und einen dunkelblonden Haarschopf heraufkommen.
Die Frau kletterte auf den Laufsteg und sah Violet an. Sie waren etwa fünf Meter voneinander entfernt. Ihre Gegnerin war kaum älter als sie, vielleicht Anfang dreißig, wenn es hochkam, trug einen rosafarbenen Jogginganzug und war gute fünfzehn Zentimeter größer als Vi. Sie hatte tiefe, dunkle Augenringe und verschmierte, alte Mascara im Gesicht. Durch den Nieselregen war ihr Haar platt geworden. Sie wirkte robust, heruntergekommen, wütend und ängstlich.
»Hey«, sagte Vi.
Die Frau starrte sie nur an, aber irgendetwas schien in ihr zu zerbrechen.
»Ach, das hätte ich vielleicht noch erwähnen sollen«, meinte Luther, »da Sie ja Polizistin waren und entsprechend ausgebildet sind, habe ich ihr ein Messer gegeben, damit es ein fairer Kampf wird.«
»Lassen Sie uns nach unten klettern. Wir müssen das nicht tun«, sagte Violet zu der Frau.
»Er hat meinen Engel.«
»Ich weiß. Er hat auch meinen Sohn. Aber wir können das nicht tun. Wir dürfen uns nicht dazu zwingen lassen.«
»Wir haben keine andere Wahl.«
»Lassen Sie uns nach unten gehen«, wiederholte Vi. »Wir finden schon einen Weg.«
Die Frau schüttelte den Kopf, und ihr liefen Tränen die Wangen herunter. Sie griff mit einer Hand nach hinten und hatte auf einmal ein großes, spitzes Jagdmesser mit grässlicher, zackiger Klinge in der Hand, das bei ihr irgendwie komisch aussah. Ihr Blick wanderte immer wieder irritiert zu dem Messer, als könne sie nicht fassen, dass sie es wirklich festhielt.
»Ich bin Violet. Sie sind Jennifer?«
Die Frau nickte kaum merklich.
»Er gewinnt nur, wenn wir ihm geben, was er haben will. Wenn wir nicht aufeinander losgehen, hat er keine Macht über uns.«
»Das ist nicht ganz korrekt, Vi«, sagte die Stimme in ihrem Kopf.
»Jennifer, ich war früher Polizistin. Vertrauen Sie mir?« Violet ging langsam auf die Frau zu und streckte eine Hand aus. »Lassen Sie das Messer einfach fallen, ja? Wir sind gemeinsam stärker.«
Jennifers Unterlippe zitterte. »Er wird meine Tochter umbringen.«
»Das werde ich nicht zulassen.«
»Sie können ihr ja doch nicht helfen.«
Auf einmal schrien Babys in dem winzigen Lautsprecher in Violets Ohr.
Jennifer und sie schrien zeitgleich »Nein!« und umklammerten ein Ohr.
»Hören Sie auf, Luther!«
»Bitte nicht!«, kreischte Jennifer.
Vi machte noch einen Schritt, während sich ihr der Kopf aufgrund des Babygeschreis drehte.
»Sehen Sie mich an, Jennifer!«, rief sie.
Die Frau sah ihr in die Augen.
»Genau das hier will er, okay? Verstehen Sie?«
»Er tut ihr weh!«
Jennifer schlug mit dem Messer nach Violet, die einen Satz nach hinten machte.
Als sie auf dem Laufsteg aufkam, vibrierte das Metall, und Vi musste sich am Geländer festhalten, um nicht hinzufallen.
Sie spürte einen stechenden Schmerz im Bauchbereich. Als sie eine Hand auf ihren Jogginganzug legte, war sie danach blutverschmiert. Die Klinge war durch das Nylon gedrungen und hatte ihr den Bauch aufgeritzt.
Sie sah Jennifer an, die ebenso erstaunt über das zu sein schien, was sie getan hatte, und das Blut an der Messerklinge befühlte.
Jennifer wirkte erschüttert. »Es tut mir leid«, sagte sie.
Die Babys schrien noch immer in ihren Ohren, und Luther sagte etwas, das in dem Geschrei unterging.
»Ich muss es tun«, erklärte Jennifer.
Sie machte einen Schritt nach vorn und Vi einen nach hinten.
Dann erstarrten sie beide.
Jennifer stürzte nach vorn, Vi wich zurück.
Es war wie ein schrecklicher Tanz.
Als sie wieder stehen blieben, waren sie keine zwei Meter voneinander entfernt.
Jennifer täuschte einen Ausfallschritt vor, rannte dann in die andere Richtung und verschwand auf der anderen Seite des Wassertanks.
Vi stand reglos da und lauschte. Sie konnte die Schritte der Frau nicht mehr hören – da war nichts außer dem wackelnden Geländer und dem Prasseln des Regens auf dem Tank.
Sie konnte nicht sehr weit in jede Richtung sehen, bevor der Laufsteg hinter dem Wassertank weiterführte.
Das Weinen der Babys war nicht mehr zu hören.
»Jennifer?«, rief Violet.
Sie ging drei Schritte um den Tank herum – nichts.
»Jennifer?«
Sie hörte keine Schritte und spürte nur eine veränderte Vibration des Laufstegs, drehte sich aber gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Jennifer auf Socken auf sie zugerannt kam. Das Gesicht der Frau wirkte auf einmal grimmig, und ihre Augen sahen kalt und entschlossen aus.
Wie bei einem Raubtier.
Vi sah, wie sich das Messer auf sie zubewegte, und dann wurde ihr Handeln von ihrem eisernen Selbsterhaltungstrieb übernommen.
Auf einem sechzig Zentimeter breiten Laufsteg hatte sie nicht viel Platz, um den Angriff zu parieren, und da sich Vi bereits an den Wassertank presste, reagierte sie einfach, ohne nachzudenken. Ihre rechte Hand wehrte den Stoß mit dem Messer ab und umklammerte Jennifers Handgelenk, und bevor sie überhaupt realisierte, was sie da tat, schlug sie gleichzeitig direkt über dem Ellenbogen gegen Jennifers Arm und riss ihr Handgelenk in die andere Richtung.
Die Speiche der Frau brach, das Messer fiel klappernd auf den Laufsteg, und Vi schlug ihr mit dem Handballen gegen das Brustbein.
Zwischen Jennifers Angriff und diesem Moment war gerade mal ein Augenblick vergangen, und Vi hatte nur instinktiv und aufgrund des Muskelgedächtnisses reagiert. Im nächsten Moment stürzte Vi auch schon vor, um die Frau zu packen, und ihre Fingerspitzen verfehlten Jennifers Jogginganzug nur um wenige Zentimeter. Doch Jennifer prallte mit der Rückseite der Oberschenkel gegen das Geländer, und aufgrund der Schwungkraft wurde ihr Oberkörper darübergeschleudert.
Vi sah noch kurz ihre Füße, dann war die Frau auch schon weg und sie hörte nur noch ihren verhallenden Schrei – dreieinhalb Sekunden reinster, ausgesprochener Schreck.
Sie hatte noch nie etwas gehört, was dem Geräusch eines aus fünfundfünfzig Metern auf dem Boden aufprallenden Menschen auch nur ähnlich war.
Eintausend Dinge brachen im Verlauf einer Millisekunde.
Dann herrschte Stille.
Violet hielt sich am nassen Geländer fest und starrte auf Jennifer hinab, die unten mit verschränkten Gliedmaßen am Boden lag.
Sie hatte schon früher getötet, aber das waren Monster gewesen.
Diese Frau hatte jedoch nichts getan.
Das war … falsch.
Sie drückte den Rücken an den Wassertank und setzte sich auf den Laufsteg.
»Bitte tun Sie ihrem Baby nicht weh«, flehte sie. »Bitte.«
»Sie sind gut«, erwiderte er. »Sie sind wirklich gut.«
»Werden Sie ihr Kind verschonen?«
»Grundlos?«
»Ich werde etwas dafür tun.«
Vi spürte, wie ihr Innerstes in Aufruhr geriet und ihre Psyche sich weigerte anzuerkennen, was gerade passiert war.
»Das könnte interessant werden.«
»Versprechen Sie es.«
»Gehen Sie wieder runter. Dann reden wir weiter.«
Einige Minuten lang saß Vi einfach nur da.
Es regnete jetzt stärker, und die Tropfen prasselten auf ihren Kopf, während sich eine Eiseskälte in ihrem Inneren auszubreiten schien.
Andy
Ich sah auf dem Bildschirm mit an, wie Violet an einem Wasserturm raufkletterte. Die Kamera schien etwa einhundert Meter weit weg zu sein. Es war eine Handkamera, die ständig rein und raus zoomte, und das Kondenswasser auf der Linse sorgte dafür, dass das Bild stets ein bisschen verschwommen aussah.
Ich hörte alles, was Luther sagte. Sah den Kampf mit an. Beobachtete, wie Violet die Frau über das Geländer schleuderte.
Danach wurde der Bildschirm schwarz.
Wieder saß ich in der Dunkelheit, und mir kam der Gedanke, dass ich das alles vielleicht nur geträumt hatte.
Schlafen war sehen, Bilder und Farbe.
Wenn ich wach war, herrschte die immerwährende Nacht.
Seine Stimme überzeugte mich vom Gegenteil.
»Sie ist unglaublich, nicht wahr?«, meinte Luther. »Es muss etwas ganz Besonderes sein, sie zu kennen. Ich meine, sie richtig zu kennen. Kennen Sie sie richtig, Andy?«
»Was immer Sie von Violet wollen, lassen Sie es an mir aus«, erwiderte ich. »Ich mache alles, was Sie wollen, aber lassen Sie bitte Violet und ihren Sohn gehen. Sie müssen kein Teil dieser …«
»Sie lieben sie, was?«
Die Frage war schmerzhafter als alles, was ich zuvor auf diesem Stuhl erduldet hatte.
Die Gefühle schnürten mir die Kehle zu.
»Ich habe ihr viel zu verdanken«, gestand Luther, »und dennoch …«
Er verstummte, und einen Moment lang konnte ich nur sein Atmen und das Prasseln des Regens auf Plastik hören.
Violet
Ihre Füße kamen auf dem Betonboden auf, und trotz der Schrecken der letzten fünfzehn Minuten war sie erleichtert, wieder von diesem Turm runter zu sein.
Sie starrte Jennifers Leichnam an und musste ein Aufwallen von Übelkeit unterdrücken.
Dieser Tod war so sinnlos.
Vi kletterte wieder über den Stacheldrahtzaun.
Sie war so müde. Ihr war so kalt.
Denk nach, Violet. Denk nach.
Sie musterte die Häuser und Gebäude in der Umgebung.
Im grauen, stetigen Regen war nirgendwo eine Bewegung zu erkennen.
Sie hatte Jennifers Messer in den rechten Ärmel ihres Jogginganzugs geschoben, und der Griff ruhte in ihrer Hand. Der Abstieg vom Turm war so zwar schwieriger geworden, aber jetzt besaß sie wenigstens das Messer, und sie konnte nur hoffen, dass er es nicht bemerkt hatte.
Denn sie war davon überzeugt, dass er sie beobachtete. Er musste irgendwo Überwachungskameras angebracht haben oder hatte Leute, die ihm halfen.
Sie konnte versuchen, wegzulaufen und in die Zivilisation zurückzukehren, aber er hatte ihren Sohn. Und Andy.
Vi lief über die Straße auf das Ziegelsteingebäude mit dem fünfzehn Meter hohen Schornstein am anderen Ende zu.
Es war Zeit, dass sie aus diesem eiskalten Regen rauskam.
»Jetzt nach links«, verlangte Luther.
Oder auch nicht.
Sie lief in die verlangte Richtung.
»Und jetzt rennen«, sagte er.
Sie beschleunigte, und die Erschütterung durch das Laufen bewirkte, das ihr rechtes Ohr wehtat, was ihre Vermutung nur bestätigte, dass Luther das Ohrstück angenäht hatte.
Ansonsten fühlte es sich gut an zu laufen, da ihr dadurch endlich warm wurde.
Sie lief mehrere Minuten lang über die Straße, bevor er wieder etwas sagte, und kam an zerstörten Autos und weiteren verfallenden Häusern vorbei.
»Sehen Sie das Wohnungsbauprojekt?«
»Ich sehe es.«
»Das ist Ihr Ziel.«
Das Gebäude ragte in fünfzig Metern Entfernung vor ihr auf und war deutlich höher als die Eichen, deren braune Blätter heruntergefallen waren und nun einen glitschigen Belag auf dem Asphalt bildeten.
»Was ist da drin, Luther?«
Violet überquerte die Straße und blieb völlig außer Atem stehen, als der Bürgersteig vor dem Hof eines sechsstöckigen Gebäudes endete, das wie ein zerbröselndes L aussah.
»Habe ich gesagt, dass Sie stehen bleiben sollen?«
Sie ging an einer eingestürzten Schaukel und einem überwucherten Sandkasten, von dem nur noch der große Holzrahmen übrig war, vorbei. Einige Spielzeuge waren zurückgelassen worden, ein Bagger, dem ein Rad fehlte, einige grüne Plastiksoldaten, die im Gras standen und von einem lange vergessenen Krieg übrig geblieben waren.
Sie näherte sich der Doppeltür, die vor Jahren einmal gerade gewesen sein musste, und die Fenster des Gebäudes starrten sie wie einhundert schwarze Augen an.
Über die Türschwelle gelangte sie in die Dunkelheit, die nach Schimmel und Verfall roch.
Ihre nassen Schuhe quietschten auf dem Linoleumboden, der sich an vielen Stellen löste, und je weiter sie sich vom Eingang entfernte, desto dunkler und klaustrophobischer wurde es.
Als die Lobby in den Gang mündete, blieb sie stehen.
In beiden Richtungen gab es dunkle Ecken und helle Stellen, wo das Licht von draußen hereinfiel.
»Wo soll ich langgehen?«, wollte sie wissen.
Sie ließ das Jagdmesser aus dem Ärmel in ihre Hand gleiten.
Die Angst war lähmend und übermächtig.
Lange Zeit stand sie einfach nur da und lauschte.
Wasser tropfte irgendwo herunter.
Das leise Stöhnen des Windes, der gegen einen der oberen Korridore drückte.
Und dann … ein Knacken. Knistern.
Es roch nach verbranntem Holz.
Violet folgte dem Geruch in die Dunkelheit und wieder heraus.
Das Tageslicht drang durch die offene Tür dessen, was früher einmal ein Apartment gewesen war, und fiel auf eine Wand voller Graffitis.
Auf dem Gang lagen Kleidungsstücke, Spielzeuge und jede Menge sonstiger Müll.
Der Rauchgeruch wurde immer intensiver, und jetzt konnte sie den Feuerschein an der Wand am Ende des Korridors erkennen.
»Hallo?«, rief sie und fügte etwas leiser hinzu: »Luther, sind Sie das da vorne?«
Violet kam zum Ende des Flurs.
In einer Nische entdeckte sie das Feuer: Ein mit Holzresten gefülltes Ölfass stand brennend neben einem eingeschlagenen Fenster. Der Großteil des Rauchs entwich nach draußen, aber es hatte sich dennoch ein nebliger Schleier im Raum gebildet. Als sie näher kam, spürte sie die Wärme des Feuers und bemerkte eine Schlafstätte in einer Ecke unter einer Pappschachtel, als hinter ihr auf einmal Glas knirschte.
Violet wirbelte herum und bemerkte als Erstes den Geruch: ein ranziger Körpergeruch, der von Alkohol überlagert wurde. Sie taumelte nach hinten und das Herz schlug ihr bis zum Hals, da sie im Halbdunkel gerade mal den Schatten dieses übel riechenden Menschen erkennen konnte, der auf sie zukam.
»Ich habe ein Messer«, sagte sie.
Ihr Rücken stieß an die Wand. Sie konnte nirgendwo anders hin.
Sie stand da und umklammerte das Messer, als ein dreckiger Mann in mehreren Schichten zerfetzter Kleidung in das graue Licht trat, das durch das Fenster hinter ihr hereinfiel.
Er blieb stehen, als er das Messer sah.
Violet hörte, wie der Regen draußen auf die Straße fiel und wie das Feuer im Ölfass zischte, ansonsten war es still.
Das Gesicht des Mannes war fast komplett unter seinem wild wuchernden Bart verborgen, aber seine intensiven blauen Augen starrten sie durch das Gewirr aus Haaren und Bart hinweg an.
»Was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«, fragte er.
»In Ihrem Haus?«
»Ja, meinem Haus.«
Vi sah zu dem mit alten Zeitungen ausgelegten Pappkarton und dem Einkaufswagen daneben.
»Mir war nur kalt und ich wollte aus dem Regen rauskommen«, sagte sie. »Als ich das Feuer gerochen habe, bin ich hergekommen.«
»Sie wollten sich nur aufwärmen?«
»Genau.«
Er dachte darüber nach. »Stecken Sie das Messer weg und kommen Sie rüber«, meinte er schließlich.
Der Mann ging zu dem Ölfass, kniete sich hin, hob einige Holzstücke auf und warf sie ins Feuer. Dann wärmte er seine Hände daran.
Violet legte das Messer auf das Fensterbrett und stellte sich neben ihn, während sie ebenfalls die Hände über die Flammen hielt.
Ihr war ein wenig schwindlig, was sie ihrem Durst und Hunger sowie dem Rauch, den sie gerade einatmete, zuschrieb.
»Ich bin Violet«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht stören.«
Der Mann beobachtete sie. Sein Bart war tiefschwarz, und die wenigen Hautstellen, die hindurchschimmerten, sahen schmutzig, aber nicht faltig aus. Sie hatte ihn auf den ersten Blick für einen alten Mann gehalten, merkte jetzt jedoch, dass sie ihre Meinung revidieren musste.
»Was haben Sie da draußen in der Betonödnis gemacht?«, wollte er wissen.
Violet wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also starrte sie einfach weiter in die Flammen und die glühenden Kohlen darunter.
»Wussten Sie nicht, dass es hier draußen gefährlich ist?«, fuhr er fort. »Hier gibt es nur Gauner und Menschen wie mich.«
Vi glaubte, anhand seiner Worte zu erkennen, dass er durchaus intelligent war.
»Was meinen Sie mit ›Menschen wie mich‹?«, hakte sie nach.
Jetzt starrte er in die Flammen, die heller geworden waren.
Vi sah, dass es draußen langsam dunkel wurde.
Die Nacht brach überraschend schnell herein.
»Sie sollten nicht hier sein«, sagte er.
»Sagen Sie ihm, dass Sie über Nacht bleiben wollen«, sagte Luther in Violets Ohr. »Von ihm können Sie eine Menge lernen.«
Sie schwieg.
»Sagen Sie es ihm oder ich reiße Jennifers Baby auf der Stelle in Stücke.«
»Kann ich heute Nacht vielleicht hierbleiben?«, fragte Violet. »Ich kann sonst nirgendwo hin.«
Der Mann sah vom Feuer auf und musterte sie.
Dann nickte er.
»Wie heißen Sie?«, erkundigte sich Vi.
Es dauerte fünf Sekunden, bis er antwortete, und es klang, als hätte er dieses Wort seit Jahren nicht mehr ausgesprochen.
»Matthew«, flüsterte er schließlich.
Eine Stunde später war es bereits stockdunkel. Sie saßen neben dem Ölfass an die Wand gelehnt, und Vi trank durstig Wasser aus einem Milchkrug.
Matthew kramte in einer Plastiktüte voller Snacks herum und zog schließlich ein Päckchen Cracker heraus, das er Vi reichte.
Sie wusste nicht, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte.
Er griff noch einmal hinein, holte eine Tüte Kartoffelchips raus und riss sie auf.
»Danke«, sagte sie.
Sie aßen schnell und schweigend.
Als Vi fertig war, starrte sie sehnsüchtig zu der Tüte rüber, bat aber nicht um mehr.
»Es war kein guter Monat«, erklärte Matthew, »sonst würde ich Ihnen noch was anbieten. Aber ich muss für die Wintermonate vorsorgen.«
»Sie wollen hierbleiben?«
»Wo soll ich denn sonst hin?«
»Was haben Sie vor?«
Er deutete auf einen Bücherstapel in einer Ecke, der bestimmt zwei Meter hoch war.
»Wenn es warm ist, verbringe ich die Tage in der Bücherei, aber die ist zu weit weg, um bei der Kälte jeden Tag hinzulaufen. Daher habe ich sie gesammelt. Ich werde sie alle lesen und fange von oben an.«
»Was sind das für Bücher?«
»Größtenteils philosophische. Einige Klassiker. Zur Abwechslung habe ich auch ein paar Comics druntergemischt.«
»Philosophische?«
»Das sind meiner Meinung nach die einzigen lesenswerten Bücher.«
Violet sah sich im Raum um und nahm die erbärmlichen Umstände in sich auf. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, die Nacht hier zu verbringen. Da sie wusste, dass der Großteil der Obdachlosen an lähmenden psychischen Erkrankungen litt, fragte sie sich, welcher Sturm hinter Matthews strahlend blauen Augen tobte.
»Ich mache gerade eine schwere Zeit durch«, gestand Violet mit leiser Stimme und fragte sich, ob Luther sie jetzt hören oder sehen konnte.
Matthew wischte sich ein paar Krümel aus dem Bart und starrte Vi an. Dann hob er eine Flasche Rotwein an die Lippen, nahm einen großen Schluck und bot Vi danach die Flasche an.
»Nein danke.«
Er trank noch etwas, stand dann auf und legte von einem beeindruckend großen Holzstapel, den er an der Wand aufgeschichtet hatte, noch ein paar Scheite ins Feuer.
»All diese verlassenen Häuser«, meinte er grinsend, »halten mich bei Schnee warm. Und es gibt unendlich viel Feuerholz.«
Der Wein schien seine Laune gebessert und seine Zunge gelockert zu haben.
»Hier habe ich alles, was ich brauche«, fuhr er fort. »Wärme, Getränke, Lebensmittel, Bücher.«
»Was hatten Sie früher?«
Er sah sie an, als wäre sie ihm ins Wort gefallen, antwortete aber dennoch sofort.
»Eine Rechnung für Strom, eine fürs Kabelfernsehen, eine fürs Handy, eine Krankenversicherung, eine Lebensversicherung, eine Autoversicherung, eine Gebäudeversicherung, VISA-Abrechnungen, Mastercard-Abrechnungen, Discovery-Card-Abrechnungen, Frequent-Flyer-Karte, AVIS-Karte, eine Hypothek, einen Kredit fürs Auto, einen für den Truck, einen Kreditrahmen, fünfzig Arbeitsstunden die Woche, Schwiegereltern, Buchhalter, jährliche Arzttermine, Multivitamine, Lebermedikamente, Schmerztabletten, einen Buchklub, eine Bibelstudiengruppe, eine Videocentermitgliedschaft, eine Mitgliedschaft beim Golfklub, ein Basketballspiel jeden zweiten Donnerstagabend, Poker bei meinem Freund Jim jeden zweiten Monat, vier verschiedene Pflichttermine zu Thanksgiving und Weihnachten, zweimal pro Woche Sex, einmal im Jahr Steuern, jede Nacht aus dem Schlaf aufzuschrecken und sich zu fragen, wie man das alles schaffen soll, und wundervolle Kinder, die so schnell groß geworden sind, dass ich sie mir nicht einmal mehr ansehen kann.«
Er trank wieder einen großen Schluck Wein.
Seine Augen schimmerten.
»Früher habe ich keinen Kilometer von hier entfernt gelebt«, berichtete er. »Ich habe Seitenwände von meinem Haus verfeuert. Hier tobte damals das Leben. Ständig haben die Kinder auf den Straßen gespielt. Es gab Nachbarschaftspartys. Wir waren eine tolle Gemeinde.«
»Sie haben in der Automobilindustrie gearbeitet?«
»Ich war neunzehn Jahre lang in dem Werk beschäftigt, in dem GM-Trucks zusammengebaut wurden.«
»Wann wurde es geschlossen?«
»Vor sechs Jahren, als GM die Produktion nach Korea verlegt hat. Alle haben ihre Jobs verloren. Als das Werk geschlossen wurde, ist diese Stadt hier einfach gestorben. Es war, als wäre der alte Westen nach Michigan gekommen. Acht Monate später hat die Bank unser Haus einkassiert. Ich konnte nicht besonders gut damit umgehen. Meine Frau hat mich verlassen und meine Jungs mitgenommen.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Violet.
»Als ich aus der Anstalt entlassen wurde, bin ich wieder hierhergekommen.«
»Warum?«
»Das ist schwer zu erklären. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich hier sein muss.«
»Aber denken Sie hier nicht noch öfter an das, was Sie verloren haben? Wird es Ihnen hier nicht ständig vorgehalten?«
»Natürlich. Jeden Tag. Aber wenn man alles verloren hat, geht es trotzdem weiter.«
»Was?«
»Man selbst. Das Bewusstsein. Es gibt ein Leben nach der Hoffnung, das sollten Sie sich merken.«
Das Feuer knackte.
»Und wie sieht dieses Leben aus?«
»Nicht so, wie Sie erwarten.«
»Nein?«
»Man begreift etwas«, erklärte Matthew.
»Und was?«
»Dass man weitermacht. Dass man weitaus mehr Schmerz ertragen kann, als man gedacht hat. Wir wurden dafür geschaffen. Es ist fast so, als wäre das unser Daseinszweck. Wir sind Wesen, die existieren, um Schmerz zu empfinden.«
»Das ist aber deprimierend.«
»Nein, das ist die Wahrheit. Und sobald man sich damit abgefunden hat, verändert sie einen. Wenn einem alles genommen wurde, merkt man, worüber man noch die Kontrolle hat. Man kontrolliert, wie man mit dem Elend umgeht. Man erkennt, welche wunderbaren Möglichkeiten einem noch offenstehen. Beispielsweise ob man lieben oder hassen soll. Oder verzeihen.«
Violet stützte sich auf die Knie und stand auf. Sie ging zu dem Holzhaufen hinüber und legte ein dickes Kantholz ins Feuer, das aussah, als wäre es von einer Hausaußenwand abgerissen worden. Draußen fielen Graupeln vom Himmel, die mit leisem Klicken auf dem Asphalt aufkamen.
»Was haben Sie für Schwierigkeiten?«, wollte Matthew wissen.
»Ich habe vor einem Jahr meinen Mann verloren.«
»Was ist passiert?«
»Er wurde ermordet. Seitdem ist mein Leben … ziemlich durcheinandergeraten.«
»Sie haben viel verloren.«
»Ich habe alles verloren.«
Matthew stand auf und schlurfte zu seinem Pappkarton, in dem einst ein Kühlschrank transportiert worden war. Er nahm ein Kissen heraus und warf es ihr zu.
»Sie können am Feuer schlafen«, sagte er. »Legen Sie was nach, wenn es runterbrennt.«
»Matthew?«
»Ja?«
»Könnten Sie mal kurz herkommen?«
Er kam zu ihr geschlurft.
Violet hob die Hand und deckte das Ohrstück ab, wobei sie hoffte, dass das Mikrofon so genug abgeschirmt wurde, falls es überhaupt aktiviert war.
»Haben Sie hier in der Gegend schon mal einen Mann gesehen?«, fragte sie.
»In diesem Gebäude?«
»Psst«, flüsterte Violet. »Nein, ich meine … Wie haben Sie es vorhin genannt? Dem Betonödland. Der ganzen Gegend hier.«
Matthew trank einen Schluck Wein.
»Ich sagte ja bereits, dass es hier Gauner gibt, die herkommen, um Drogendeals abzuziehen oder Initiationsriten durchzuführen. Dann Menschen wie mich, die versuchen, ruhig und ungestört zu leben. Okay, es gibt da Gerüchte, aber auf die habe ich nie geachtet …«
»Was für Gerüchte?«
Er runzelte die Stirn, da ihn ihr plötzliches Interesse zu irritieren schien. »Gerüchte über einen Mann. Es heißt, er bringt Menschen her, um sie zu foltern. Das ist nur eine urbane …«
»Wer sagt das?«
»Keine Ahnung. Das erzählen die Menschen eben, die in der Betonödnis leben oder einen guten Grund haben, um hierherzukommen. Wir hören gelegentlich Dinge. Schreie in der Nacht. Geschichten über Menschen, die sterben, seltsame Leute, die hier rumlaufen, aber hier draußen ist doch jeder auf die eine oder andere Weise seltsam. Sie kreiden das alles irgendeinem bösen Typen an, weil wir nun mal Monster brauchen, aber die Wahrheit ist doch, dass dies einfach nur ein merkwürdiger und manchmal auch gefährlicher Ort ist.«
»Was erzählt man sich noch?«
»Nur so ein Mist, wie er in Horrorfilmen vorkommt: Er hätte übermenschliche Kräfte, er ist ein Dämon, er raubt einem die Seele.«
»Glauben Sie daran?«, wollte Vi wissen.
»Natürlich nicht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit im alten GM-Werk rumlaufen würde oder auch zu irgendeiner anderen Zeit, aber die Leute wollen einfach …«
»Was ist denn so besonders am alten GM-Werk?«
»Nichts. Das ist nur ein großes, leeres Gebäude, aber die Menschen sagen, er würde dort hausen. In den Ruinen.«
»Haben sie auch einen Namen für ihn?«
»El hombre con el pelo negro largo.«
»Ist das Spanisch?«
»Ja, das hat der Latin King geprägt.«
»Was bedeutet es?«
»Der Mann mit den langen, schwarzen Haaren.«
Violet lief es eiskalt den Rücken herunter.
»Kommen Sie hier klar?«, erkundigte sich Matthew.
»Ja.«
»Hören Sie, Sie können heute Nacht bleiben, aber …«
»Nein, ich verstehe schon. Sie waren wirklich sehr großzügig.«
Das Kissen roch nach verfaultem Kohl, also legte sie den Kopf in die Armbeuge und sah zum Ölfass hinüber, dessen Metallummantelung Wärme abstrahlte. Sie konnte durch winzige Löcher die glühenden Kohlen darin sehen, die wie winzige Sonnen in der Dunkelheit leuchteten.
Sie schloss die Augen.
Von allen Seiten drang Kälte auf sie ein, nur nicht aus der Richtung, aus der sie die Wärme des Feuers spürte.
Seine Stimme ertönte auf einmal in ihrem Ohr. »Violet? Schlafen Sie? Violet …«
»Ich bin wach«, flüsterte sie.
»Sie klingen müde, aber Ihre Nacht ist leider noch lange nicht vorbei. Sie haben sich auf dem Turm gut geschlagen. Es hat Spaß gemacht, Ihnen dabei zuzusehen, aber es war letzten Endes doch nur Selbstverteidigung. Töten oder getötet werden. Heute Nacht möchte ich eine andere Facette von Violet King sehen und herausfinden, wie kaltblütig Sie wirklich sind.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich rede von dem Messer, Violet. Und von Matthew. Davon, dass Sie ihn im Schlaf töten.«
»Nein.«
»Nein?«
»Das kann ich nicht, Luther.«
»Matthew erinnert mich an einen lieben, verstorbenen Freund.«
»Luther, bitte.«
»Meinen Mentor. Einen Mann namens Orson, der ähnlich wie Matthew in die Obdachlosigkeit geflüchtet ist, um sich selbst zu finden.«
»Das kann ich nicht.«
»Das sind aber schlechte Nachrichten für Andy und den kleinen Max. Sind Sie da, Andy?«
»Violet?«, fragte Andys Stimme.
»Andy.«
»Luther, bitte«, flehte Andy.
»Würden Sie jetzt bitte aufhören, mich anzuflehen? Ich habe Sie nicht mit einbezogen, Andy, damit Sie mich bitten, etwas nicht zu tun, was getan werden muss.«
»Wieso dann?«
»Ich dachte, Sie möchten Violet vielleicht einen Rat geben. Sie waren schon in dieser Situation, nicht wahr? Sie haben einen Unschuldigen ermordet, um sich und andere zu retten. Verraten Sie uns doch, ob Sie das verändert hat, Andy.«
»Fahren Sie zur Hölle, Luther.«
»Hat es Sie verändert, Andy?«
»Fahren Sie zur Hölle.«
Aus Violets Ohrstück war auf einmal ein weinendes Baby zu hören.
»Hör auf, Andy!«, flüsterte sie.
»Ja, Luther, es hat mich verändert.«
»Zum Besseren?«
»Wohl kaum.«
»Denken Sie noch daran?«
»Manchmal.«
»Und das schmerzt Sie?«
»Das waren einige der beschissensten Momente meines Lebens, und schlimme gab es wahrlich genug.«
»Das liegt daran, dass Sie schwach sind, Andy. Ich habe nie verstanden, was Orson in Ihnen gesehen hat. Sie hätten gestärkt aus diesem Experiment hervorgehen sollen. Gehärtet. Als reines menschliches Wesen.«
»Dafür halten Sie sich also, Luther? Für ein reines menschliches Wesen?«
»Violet«, sagte Luther, während sie leise in den Ärmel ihres Jogginganzugs weinte. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will Sie zu nichts drängen. Wir werden Sie jetzt in Ruhe lassen, damit Sie diesen Moment genießen können. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass er revolutionär sein kann. Lebensverändernd. Wenn Sie es zulassen. Wenn Sie stark genug sind.«
»Und wenn nicht?«
»Haben wir die Drohungen denn nicht längst hinter uns gelassen, meine Liebe?«
Andy schrie etwas, dann war die Leitung tot.
Sie hörte den gefrierenden Regen, der wieder eingesetzt hatte, und spürte das Pochen ihres Herzens, als sie da auf dem dreckigen Boden lag. Es war kalt und ruhig. Sie wartete. Darauf, dass sich etwas änderte. Dass die Realität hereinbrach und dieser Albtraum zu Ende ging.
Doch es regnete weiter, das Feuer brannte herab, und es wurde immer kälter.
Nach einer Weile stand sie auf. Die Messerklinge reflektierte den Feuerschein. Sie starrte es an und hob es dann auf.
»Werfen Sie noch mehr Holz ins Feuer«, knurrte Matthew aus seinem Pappkarton.
»Mach ich.«
Violet ging zu dem Holzhaufen, sammelte einige Stücke ein, von denen dunkle Farbe abblätterte, und warf sie ins Ölfass.
»Sie haben Selbstgespräche geführt«, meinte Matthew.
Violet ging langsam zu ihm herüber und hockte sich vor die Öffnung des Pappkartons. Als die Flammen wieder aufloderten, sah sie Matthew in dem schwachen Licht unter Bergen aus alten Zeitungen auf dem Rücken liegen. Seine Augen waren geöffnet, glasig vom Wein, und er blinzelte langsam.
»Wie können Sie nur so leben, Matthew?«, flüsterte sie.
»Ich wollte schon immer in der Natur leben«, erwiderte er. »An einem schönen Ort, verstehen Sie? Jetzt tue ich es. Das ist meine Wildnis. Ich finde, die Betonödnis ist so wunderschön wie die Wüste. Leer und ruhig. Diese verlassenen Gebäude, der Wasserturm … Das sind meine Berge. Manchmal, an Sommerabenden, wandere ich einfach nur durch die Ruinen. Sie berühren einen Teil von mir. Einen, den ich früher nie befriedigen konnte.«
»Vermissen Sie Ihre Familie denn nicht?«
Sie sah, wie sein Adamsapfel wackelte. »Der Mann, der ich damals gewesen bin, auf den konnte ich nicht stolz sein. Er hatte zu viele Kompromisse gemacht.« Es schimmerte in seinen Augenwinkeln. Er sah Vi an. »Es ist schwer, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie legte die Finger fester um den Messergriff in ihrem Rücken.
»Denken Sie, dass es so schwer sein muss?«
Sie konnte durch den Tränenschleier so gut wie nichts mehr sehen. »Manchmal sogar noch schwerer.«
Vi spürte, wie sich das Momentum in ihr aufbaute, der Adrenalinschub, der sie zu etwas drängen würde.
»Ich rede mir gern ein, dass es auf dieser Straße auch einen Vorteil gibt, verstehen Sie?«, meinte Matthew. »Dass ich … etwas gewinne. Etwas, das sonst niemand hat. Dass die Erleuchtung gleich um die Ecke ist.«
»Etwas, damit es die Sache wert ist.«
»Genau.«
»Haben Sie nie darüber nachgedacht …« Ihre Hand schwitzte an dem Ledergriff des Messers. »… das alles zu beenden?«
»Ja«, gestand er. »Oh ja. Der Tod ist … alles, woran ich denke.«
Er schloss die Augen und öffnete sie nicht wieder, als er weitersprach.
»›Ein Tier im Sterben kennt die Angst nicht, nicht das Hoffen, ein Mann sieht sich am End der Angst, der Hoffnung offen. Oft starb er schon, und dann erhob er sich und stand. Wenn er, ein großer Mann, nun Mordgesellen fand, so hat er doch nur Hohn: Des Atems Stocken droht? Er kennt wohl seinen Sohn: Der Mensch erschuf den Tod.‹ Ist Yeats nicht wunderbar?« Seine Augen blieben geschlossen.
Violet konnte kaum noch atmen. Sie dachte an Max und an nichts anderes. Matthew wirkte ernst, und er fragte sie, ob sie vielleicht auch etwas auswendig konnte und es mit ihm teilen wollte, nur einen Vers oder zwei, den er sich durch den Kopf gehen lassen konnte, während er einschlief.
Sie sagte, dass sie etwas wüsste.
Dabei dachte sie an Max.
Ihr Herz raste, und sie bekam einen trockenen Mund.
Sie sagte etwas auf, das sie in der Schule auswendig gelernt und nie mehr vergessen hatte.
»›Melodien, die dem Ohre klingen, klingen süß, doch süßer singen.‹«
»Das habe ich schon immer geliebt«, flüsterte Matthew.
Sie nahm das Messer nach vorne und hatte eigentlich vorgehabt, es mit einer einzigen, schnellen Bewegung nach unten zu stoßen, aber als sie die Klinge vor Matthews Brust sah, hielt sie inne.
Sie sagte sich immer wieder: »Tu es, tu es, tu es«, aber nichts passierte.
Sie konnte sich nicht bewegen.
Ein Schweißtropfen fiel von ihrer Stirn auf eine der Zeitungen, mit denen Matthew sich zudeckte.
Mehrere Sekunden waren verstrichen, seitdem sie die Zeile aufgesagt hatte, und jetzt konnte er jeden Moment die Augen …
Matthew schlug die Augen auf … Darin flackerten Zufriedenheit und Ruhe, bis er das Messer sah und die ihrer Meinung nach schreckliche Visage, die auf ihn herabblickte.
Tu es, tu es, tu es, tu es, tu es.
Matthews Lippen teilten sich, als ob er etwas sagen wollte, doch stattdessen setzte er sich auf.
Violet stach ihn in die Brust. Die Klinge drang bis zum Griff ein, und schon saß sie auf ihm und drückte mit ihrem ganzen Gewicht auf das Messer, drehte es und konnte sein Herz wild an der Klinge pochen hören. Die Vibration übertrug sich durch den Stahl und das Leder auf ihre Hand, nach vier merklichen Schlägen blieb es stehen und Matthew keuchte erstaunt auf.
Dann saß sie sehr lange Zeit wie erstarrt da.
Sie starrte einfach in Matthews Augen und sah mit an, wie sein Lebenslicht verschwand und sie glasig und leer wurden.
Sie konnte nicht aufhören zu zittern.
Endlich rollte sie sich von ihm runter.
Sein Blut sammelte sich bereits auf der Pappe und durchtränkte das rechte Knie ihrer Jogginghose. Sie kroch aus dem Karton und machte drei Schritte auf das Ölfass zu, nur um dann ihren Mageninhalt auf den Boden zu entleeren und vornübergebeugt würgend dazustehen, bis nichts mehr herauskommen wollte.
»Ich hab’s getan«, sagte sie keuchend. »Hören Sie mich, Sie verdammter Scheißkerl? Ich hab’s getan.«
Sie spuckte mehrmals aus. Der saure Geschmack der Galle brannte in ihrer Kehle.
»Ich will Max sehen«, sagte sie und zitterte am ganzen Körper, weil sie etwas derart Unerhörtes getan hatte. »Luther! Luther!«, schrie sie.
Aber Luther antwortete nicht.
»Luther!«
»Sie müssen noch viel lernen«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?«
»Darüber, wann man anderen vertrauen kann und wann nicht.«
Ihr Sohn schrie in ihrem Ohr.
Violets Beine gaben nach, und auf einmal lag sie auf den Knien, schrie und zerrte mit den Fingern an ihren Haaren. Luther sprach noch immer, aber sie hörte ihn nicht mehr. Alles ging in ihrer Wut und Max’ Schreien unter.
»Bitte, Luther!«, flehte sie. »Ich habe getan, was Sie verlangt haben. Bitte!«
Max’ Weinen wurde lauter.
Sie sprang auf, wischte sich die Augen aus, lief zum Pappkarton und zog das Messer aus Matthews Brust, dessen Klinge jetzt blutrot war. Sie wischte es an ihrem Hosenbein ab, rannte aus der Nische und zurück in den Korridor. Die Dunkelheit war so allumfassend, dass sie mit einer Hand an der Wand entlanglaufen musste, um den Weg zu finden, und jederzeit damit rechnen musste, über den Müll am Boden zu stolpern.
Dreißig Sekunden später stürmte sie durch die Lobby und durch die kaputten Türen nach draußen in den Regen.
Ihr Sohn schrie noch immer, und sie brüllte zurück: »Hören Sie auf, ihm wehzutun!«
Das Weinen wurde lauter, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr jemand Nägel durchs Trommelfell treiben. Sie konnte es nicht mehr ertragen, sie wollte nicht mehr an das denken müssen, was Luther ihm antat.
»Ich bring Sie um!«, schrie sie.
Dann packte Violet das Ohrstück und riss es heraus.
Sofort spürte sie einen stechenden Schmerz im Ohr, und warmes Blut lief ihr am Hals herunter.
Sie ließ das Ohrstück fallen und trat mit dem Hacken ihres Tennisschuhs darauf herum, bis es in seine Einzelteile zerfallen war. Dann rannte sie in die Nacht hinaus.
Der Regen schlug ihr ins Gesicht, und der Himmel war vom Leuchten der nahen Innenstadt rötlich gefärbt.
Über dem Betonödland lag nur Dunkelheit, in der man nur die Silhouetten der Dinge erkennen konnte: den Wasserturm, Bäume, Schornsteine.
Sie lief durch eine aufgegebene Siedlung, ihre Schuhe waren so durchnässt, dass das Wasser herauslief.
Mit aufgerissenem Mund rang sie nach Luft.
Sobald sie dem eiskalten Regen ausgesetzt war, spürte sie erst so richtig, wie wenig Kraft sie noch in den Beinen hatte.
Unter dem rötlichen Himmel war das Profil einer Fabrik in der Ferne zu erkennen.
Sie verließ die Siedlung und stellte fest, dass sie über eine riesige betonierte Fläche lief: einen Parkplatz mit alten Laternen.
Als sie das erste Gebäude erreichte, schlug ihr das Herz bis zum Hals, und der Schweiß brannte in ihren Augen – was ihr zumindest kurzzeitig gegen die Kälte half.
Das Gebäude war fünfzehn Meter hoch und aus Ziegelstein. Die Wände waren voller Graffitis, und die riesigen Fenster hatten größtenteils keine Scheiben mehr. Vi rannte an der Seite des Gebäudes entlang, bis sie zu einer Doppeltür kam.
Sie zerrte daran, bis sie sie trotz der verrosteten Scharniere aufbekam, und betrat dann das Gebäude, wodurch sie endlich nicht mehr dem Regen ausgesetzt war.
Als die Türen hinter ihr zufielen, stand sie tropfnass und keuchend da und versuchte, etwas zu erkennen, aber ihre Augen mussten sich erst an die Lichtverhältnisse anpassen.
Dunkelheit.
Ihr Puls hämmerte in ihrem Trommelfell.
Sie wischte sich den Schweiß und das Regenwasser aus den Augen und blinzelte, um das Brennen zu vertreiben.
Schon jetzt wurde ihr wieder kalt.
Sie war so durchnässt, dass die Kälte in ihre Muskeln eindrang.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wieder in den Eisregen hinauszugehen, aber es kam ihr auch nicht verlockender vor, in völliger Dunkelheit durch dieses Gebäude zu tappen.
Schließlich sackte sie auf den Boden, und ihr Schluchzen hallte durch den Korridor, dessen Ende sie nicht sehen konnte.
Ihr Sohn befand sich in der Gewalt dieses Monsters.
Sie hatte in den letzten acht Stunden zwei Menschen getötet.
Als sie endlich wieder aufstand, zitterte sie stark und konnte kaum noch das Messer festhalten.
Die Haut hinter ihrem rechten Ohr tat schrecklich weh, und ihr lief noch immer das Blut den Hals herunter.
Sie ging vorwärts in die Schwärze, machte immer einen langsamen, vorsichtigen Schritt nach dem anderen, streckte das Messer mit einer Hand vor sich aus und tastete sich mit der anderen an der Wand entlang. Dabei dachte sie die ganze Zeit, dass sie doch irgendetwas sehen und dass die Dunkelheit sich auflösen müsse, aber das geschah nicht.
Zwanzig Schritte.
Dreißig.
Vierzig.
Dann berührte sie mit der Messerspitze etwas Hartes.
Sie blieb stehen und streckte die Hand aus.
Eine Mauer.
Sie war an einer Stelle angekommen, an der der Korridor nach links abbog.
Also ging sie in dieser Richtung weiter, und nach zehn Schritten endete auf einmal die Wand, an der sie sich entlanggetastet hatte.
Sie blieb stehen und lauschte.
In der Ferne hörte sie Wasser von irgendwo heruntertropfen, und über ihr war auch etwas Neues.
Der Himmel.
Ganz schwach orange gefärbt.
Ein Fensterrahmen tauchte vor ihr auf, und das schwache Licht, das hindurchdrang, reichte, um zu erkennen, dass sie in den Ruinen eines langen Fabrikflurs stand.
Sie versuchte, jedes mögliche Detail mithilfe des schwachen Lichts zu erkennen.
Überall stand Ausrüstung herum.
Die Überreste einer Fertigungslinie.
Riesige Maschinen.
Defekte Roboterarme.
Fließbänder, die sich schon seit Jahren nicht mehr bewegt hatten.
Sie ging vorsichtig an der Linie entlang, und unter ihren Füßen knirschten Glassplitter.
Ihre Zähne klapperten.
Der Geruch von Schmiere hing noch immer in der Luft.
Die Fabrik musste insgesamt zwei- bis dreihundert Meter lang sein, und als sie sich dem anderen Ende näherte, sah sie mehr und mehr halb fertige Autos auf den Bändern. Sie hatten keine Reifen, keinen Motorblock, keine Türen und rosteten vor sich hin.
Am anderen Ende der Fabrik blieb sie stehen. Sie hörte, wie der Regen fünfzehn Meter über ihr auf das Dach fiel.
Sie ging durch eine weitere Doppeltür und sah, bevor sie wieder von völliger Dunkelheit umgeben war, die ersten Stufen einer Metalltreppe, die nach unten führte.
Ihr blieb keine andere Wahl.
Sie hielt sich an dem wackligen Geländer fest und stieg nach unten.
Kleine Schritte von Stufe zu Stufe und ganz leicht auftreten, damit das Metall nicht vibrierte.
Sie passierte drei Treppenabsätze, dann war die Treppe zu Ende.
Wieder stand sie in der Dunkelheit. Da war kein Licht, kein Geräusch, nicht einmal das Tropfen von Wasser, und es stank widerlich nach Schimmel und Moder. Sie taumelte blind die letzten drei Stufen herunter, bis ihr Messer gegen eine Wand stieß.
Sie hustete.
Es dauerte mehrere Minuten, bis sie den Weg von der Treppe zu einem weiteren Korridor gefunden hatte.
Sie ging weiter und war mit jedem Schritt desorientierter, während sie langsam zu der Auffassung gelangte, dass ihr Unterfangen sinnlos war. Sie wanderte in der Dunkelheit im Untergeschoss eines verlassenen Gebäudes herum und hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin sie ging oder ob sie auf diese Weise zu Luther und Max gelangen konnte.
Bei der nächsten Lücke verließ sie den Korridor und ging durch die Tür.
Sie konnte nicht mehr.
Was auch immer das für ein Raum war, den sie da betreten hatte, er schien klein und beengt zu sein, da sich das Echo ihres Hustens nicht sehr weit ausbreitete.
Sie lief gegen einen Tisch, dann noch einige Schritte weiter bis zu einem Objekt, das einige Zentimeter größer und viel breiter war als sie.
Es war vorne mit einer Glasscheibe verschlossen.
An der rechten Seite ertastete sie Plastikknöpfe.
Ein Verkaufsautomat.
Dies war ein Pausenraum.
Violet kroch in der Dunkelheit unter einen der Tische, zog die Jacke aus und legte sie sich als Kissen unter den Kopf.
Dann zog sie die Knie an die Brust und lag lange da, bis sie endlich aufhörte zu zittern, und noch länger, bis ihr Geist und ihr Körper endlich ruhig genug geworden waren, damit sie einschlafen konnte.
Andy
Auf einmal war seine Stimme in meinem Ohr, aber sie kam nicht durch den winzigen Lautsprecher.
Ich konnte den Zitronengeruch seines Atems riechen. Und den seltsamen Windex-Duft.
Ich hatte weder gehört, wie er den Raum betreten hatte, noch wie er näher gekommen war.
Er hatte sich einfach neben mir materialisiert.
»Sie hat ihr Ohrstück rausgerissen«, flüsterte Luther. »Jetzt muss ich sie suchen gehen. Das ist okay. Es war nicht geplant, aber es ist okay. Sie haben sich bestimmt gefragt, wozu die Fernbedienung in Ihrer rechten Hand gut ist, nicht wahr?«
Ich erwiderte nichts.
»Es läuft noch nicht, geht aber bald los. Es gibt da eine Sache, die ich liebend gern ausprobieren möchte. Eigentlich sind es sogar zwei. Für ihn und für sie. Man sieht Ihnen an, dass Sie glauben, Sie würden Violet lieben, aber haben Sie sich auch gefragt, wie sehr Sie sie lieben? Wie tief Ihre Liebe geht? Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir das feststellen können. Auf diese Weise können wir auch gleich eine sehr primitive Frage beantworten, Andy: Lieben Sie diejenigen, die Sie lieben, mehr, als dass Sie unvorstellbare Schmerzen fürchten? Gibt es einen Punkt, an dem der Schmerz derart unerträglich wird, dass Sie diese Qualen an den Menschen weitergeben würden, den Sie am meisten lieben, wenn das nur möglich wäre? Tja, bald werden wir es wissen.«
»Hören Sie auf damit«, keuchte ich, und mir hätten die Tränen in den Augen gestanden, wenn ich nicht so dehydriert gewesen wäre.
»Andy, ich werde ihr die Gelegenheit geben, herauszufinden, wozu sie fähig ist. Dass sie die Dunkelheit in ihrem Herzen sieht und sich nicht davor abwendet.«
Eine Lampe wurde eingeschaltet, die hoch über mir anging.
Luther hielt mir einen Löffel an den Mund.
»Sie werden jedes Quäntchen Ihrer Kraft brauchen«, sagte er. »Essen Sie.«
Es roch nach ranzigem Apfelmus, aber ich hatte solchen Hunger.
Er gab mir vier Löffel aus dem Babygläschen, und ich begann gerade zu vermuten, dass es gar kein Apfelmus, sondern eine andere verrottete Obst- oder Gemüsesorte war, die man nicht mehr herausschmecken konnte, als er das Gläschen zur Seite stellte.
»Lecker«, verkündete er. »Nicht wahr?«
Ich widerstand dem Drang, mich zu übergeben.
»Das war unglaublich. Was war das?«, fragte ich.
»Rübchen.«
Ich kotzte mich voll.
»Das ist widerlich, Andy.«
»Jetzt mal ehrlich, Luther. Haben Sie ihn umgebracht?«
»Wen?«
»Max. Ihren Sohn.«
Er lächelte nur.
Zum ersten Mal seit über einem Jahr sah ich ihm ins Gesicht. Sein Haar war kürzer, als ich es in Erinnerung hatte. Es reichte ihm nur bis zu den Schultern, war aber noch immer pechschwarz mit einem unnatürlichen, fast schon lilafarbenen Schimmer, sodass es wie die Haut einer schwarzen Schlange aussah. Sein Gesicht glänzte übernatürlich blass, und seine Zähne verfaulten. Er steckte sich ein Zitronenbonbon in den Mund.
»Ich finde es großartig, dass Sie wieder schreiben«, erklärte Luther.
»Was reden Sie denn da?«
»Ich habe Ihr Manuskript in der Hütte gefunden und überlege, es veröffentlichen zu lassen, wenn ich mit Ihnen fertig bin. ›Der Anruf‹ ist ein guter Titel. Ich bin nur ein wenig besorgt, dass niemand glauben wird, dass Sie das alles durchgemacht haben, wenn ich versuche, es als Sachbuch herauszubringen. Aber es könnte ein großer Erfolg werden. Wie hieß doch gleich noch mal Ihre Agentin?«
Ich starrte ihn einfach nur wütend an.
»Ach, kommen Sie schon, Andy, das Buch wird ein Knaller. Damit habe ich ausgesorgt. Es wird mir dabei helfen, die Renovierungsarbeiten hier zu finanzieren. Sie sind berühmt.«
»Wenn ich mich einverstanden erkläre, Ihnen zu helfen, lassen Sie Violet dann gehen?«
»Oh, ich bin mir sicher, dass mir noch eine andere Methode einfallen wird, mir Ihre Kooperation zu sichern, die mir mehr Spaß machen wird. Wo wir gerade dabei sind …« Er grinste und spuckte den Kern des Zitronenbonbons auf den Boden. »Wir sollten Violet ein wenig dabei unterstützen, uns zu finden. Das ist schließlich eine sehr große Fabrik.«
Luther ging durch den Raum auf einen hüfthohen Wagen zu, an dem ein Schaltpult in der Größe eines Laptops angebracht war. An der Seite des Wagens war ein Werkzeugkasten an den Metallrahmen montiert worden.
»Ich habe da diesen brillanten Ingenieur entführt«, berichtete Luther und warf mir über die Schulter einen Blick zu. »Er baut und verdrahtet nicht nur diese Stühle, er war außerdem auch noch mein erster Okkupant. Ich habe Pläne für diese ganze Anlage. Hier steckt noch so viel Potenzial drin. Aber vorerst möchte ich Ihnen mein neuestes Spielzeug präsentieren.«
Er drehte den Wagen zu meinem Stuhl um.
So viel Licht hatte ich schon seit ewiger Zeit nicht mehr gehabt, und ich genoss meinen ersten bescheidenen Blick auf meine Umgebung. Offenbar befand ich mich in einem Lagerhaus, das bestimmt tausend Quadratmeter groß war und eine hohe Decke hatte.
Auf der anderen Seite des Raums stand ein Folterstuhl, der genauso aussah wie meiner. Einige Kabel erstreckten sich aus der Unterseite der hölzernen Sitzfläche und teilten sich dann. Die eine Hälfte führte zu dem Steuerpult und die andere verschwand in der Wand.
Mir wurde auf einmal bewusst, dass mein Stuhl identisch war.
Luther stand am Steuerpult und lächelte mich an.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für einen Spaß macht. Ich habe meinem IT-Menschen gesagt, dass ich ein Gerät haben möchte, das einerseits bewegungsunfähig macht, andererseits aber auch Hitze, Kälte, Elektrizität, Perforation, Abschürfung, stumpfes Schädeltrauma, Druck … eigentlich alle Elementarkräfte übertragen kann. Stell dir nur vor, wie es gewesen wäre, wenn es zur Zeit der Inquisition schon Elektrizität gegeben hätte. Also, Andy …« Er drehte jetzt an einem Knopf, und etwas unter mir begann zu summen, während der Stuhl leicht vibrierte. »Was hätten Sie denn gern?«
Violet
Sie begriff, dass sie wach war.
Sie zitterte noch immer.
Sie lag auf dem harten Boden, umgeben von Schwärze.
Ihr rechtes Ohr pochte, und wenn sie es berührte, ertasteten ihre Finger getrocknetes Blut und Haut, auf der sich Schorf bildete.
Sie hatte Magenschmerzen.
»Max«, flüsterte sie. »Oh Gott.«
Sie verlor die Fassung und weinte, musste sich erst wieder an den Schrecken gewöhnen, zu dem ihr Leben geworden war, und riss sich schließlich zusammen.
Da sie sich im Schlaf bewegt hatte, dauerte es fünf Minuten, in denen sie gegen die Wände lief, bis sie endlich aus dem Pausenraum heraus und zurück in den Korridor kam.
Dort blieb sie einen Augenblick stehen und hoffte, dass sie im Dunkel irgendetwas erkennen konnte, aber dem war nicht so. Ein beunruhigendes Brummen, das klang, als würde Wind durch einen Tunnel wehen, störte die Stille, schien jedoch aus einiger Entfernung und von weiter oben zu kommen.
Sie lief so weiter, wie sie es zuvor auch getan hatte, das Messer ausgestreckt, eine Hand an der Wand, und stellte fest, dass sie stundenlang geschlafen haben musste, da ihre Kleidung fast trocken war.
Der Korridor endete vor einer weiteren Treppe, sie ging über mehrere Absätze nach oben, bis sie zu einer Tür gelangte.
Dahinter war Licht.
Sie stand am Eingang eines großen Raums, der in einzelne Arbeitsbereiche unterteilt war. Das Licht war schwach und grau, aber es brannte dennoch in ihren Augen, und sie musste einige Minuten dort stehen bleiben, bis sich ihre Netzhäute wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten.
Auf, durch das Labyrinth.
Deprimierende Abteilungen mit seit Langem verlassenen Arbeitsplätzen.
Billige Schreibtische und Stühle. Herumliegende Büroklammern. Einsame Stromkabel.
Sie blieb vor einem Schreibtisch stehen und starrte einen Kalender an, der noch immer an der Wand hing, obwohl er seit sechs Jahren veraltet war.
Durch die breiten Fenster unter der Decke drang Licht herein, man konnte aber nur den Himmel erkennen. Das Summen war hier nicht so laut und klang, als würde der Wind durch die fensterlosen Scheiben wehen und durch den Raum streichen wie Atem über einer offenen Getränkeflasche.
Andy
Letzten Endes traf immer Luther die Entscheidungen.
Er rasierte mein Bein direkt unter dem Knie mit einem geraden Rasiermesser und rieb die Haut mit warmem Seifenwasser ein.
Dann trocknete er die Stelle mit einem Handtuch ab und setzte sich eine Schutzbrille auf, während sich mein Magen vor Angst zusammenzog.
Er nahm einen leistungsstarken Lötkolben und eine Rolle Lötmetall aus einem Regal, in dem alle möglichen Werkzeuge aufbewahrt wurden: Kneifzangen, Schieferscheren, Bohrer, Scheren und sogar ein Kugelhammer.
Als Erstes spürte ich das metallische Brennen des Lötmetalls.
Meine Haut schlug Blasen, und ich schrie nicht sofort, da ich schon früher starke Schmerzen hatte erleiden müssen und wusste, dass sie immer wieder stärker und schwächer wurden.
Aber hier wurde es nur noch schlimmer, und als die Panik in mir aufstieg, weil ich schon glaubte, ich bekäme es mit etwas zu tun, das ich weder ertragen noch aufhalten konnte, drang, nachdem er siebeneinhalb Zentimeter geschmolzenes Metall auf meiner Haut angebracht hatte, endlich ein Schrei aus meiner Kehle, der nur darauf gewartet hatte. Ich zerrte an meinen Fesseln, bekam dadurch allerdings nur die Bestätigung, dass sie sich nicht lockern ließen. Ich konnte nur die Finger und die Zehen bewegen.
Luther sah nicht einmal auf, sondern arbeitete einfach weiter, während kleine Rauchwölkchen vom Lötmetall aufstiegen. Er hielt erst inne, als er bei meinem Fuß angekommen war.
Das Metall kühlte bereits ab und verband sich mit meiner Haut, und als der Schmerz durch die sengende Hitze nachließ, legten die Nervenenden in meinem frisch traumatisierten Fleisch erst richtig los.
Er zog drei Reihen über mein rechtes Bein, von denen jede etwa vierzig Zentimeter lang war und mir eine neue Dimension der Schmerzen enthüllte.
Als er endlich fertig war und ich mich beim Schreien völlig verausgabt hatte, sah ich mit an, wie er den Lötkolben wieder weglegte. Mir lief der Schweiß in die Augen.
Ich konnte es nicht fassen, aber ich spürte tatsächlich für einen kurzen Moment Erleichterung. Und Hoffnung.
Der Schmerz, der noch immer fast unerträglich war, ließ langsam nach, und ich hatte es überlebt.
Luther schob den Wagen mit dem Steuerpult und den Werkzeugen von meinem Stuhl weg und ging dann durch den Raum.
»Das hier«, rief er, »muss ich weit weg von jeglicher Elektronik und allen anderen Werkzeugen aufbewahren. Sind Sie vertraut mit Neodym?«
Violet
Sie lief weiter, ließ den großen, unterteilten Raum bald hinter sich und kam in einen kurzen Gang, der zu größeren Büros führte.
Ein Geräusch ließ sie verharren.
Sie legte den Kopf schief und lauschte.
Da war nichts als das leise Summen des Windes.
Nach zwei Schritten hörte sie es wieder.
Es war leise, aber war das … ein Schrei?
Max.
Sie lief zum Ende des Tunnels und den geschlossenen Türen, und als sie sie aufzog, raste zum ersten Mal an diesem Tag das Adrenalin durch ihre Adern.
Das war kein Baby.
Das waren die Schreie eines Erwachsenen.
Eines Mannes.
Andy.
Andy
Er kam zu mir zurück und hatte einen Aktenkoffer in der Hand.
Als er neben mir stand, stellte er ihn auf den Boden und öffnete die Schnappschlösser.
»Das ist ein seltenes Erdmetall«, teilte er mir mit, während ich den Hals reckte, obwohl mein Kopf angebunden war. Ich wollte unbedingt sehen, was er aus dem festen schwarzen Schaumstoff holte. »Neodym wird benutzt, um die stärksten Magneten der Erde herzustellen.« Er strich mit einem Finger über die erste Lötlinie, die er über meine Haut gezogen hatte. »Ich glaube, es kann losgehen«, meinte er dann und hielt einen kleinen U-förmigen Magneten hoch, der glatt, glänzend und silbern war. »Das Schwerste war, das passende Lötmetall zu finden. Ich brauchte eine Legierung, die sich mit Hautzellen verbindet. Mein Freund Javier hat mir diese Methode beigebracht und mir die richtige Marke gezeigt. Jav gehört zu den Alphas in den südwestlichen Grenzstädten. Das ist ein ganz übler Kerl. Aber ich denke, Sie würden ihn mögen, Andy. Er ist ein ruhiger Mann. Sehr geschäftsmäßig. Und ein völliger Psychopath.«
Luther bewegte die Enden des Magneten schnell nach unten zu meinem Bein.
Sie hafteten an dem Lötmetall.
Er grinste jetzt und zeigte mir seine braunen, widerlichen Zähne.
»So«, sagte er. »Können Sie sich schon denken, was als Nächstes passiert?«
Violet
Sie hatte soeben eine andere Fabrik betreten, in der zwar keine Fenster waren, was sie jedoch nicht vermisste. Von der hohen Decke hingen Kugellampen, die alles, den Betonboden, die seltsamen und unterschiedlichen Maschinen, die überall standen, in ein grelles Licht tauchten.
Mit der Spitze ihres Tennisschuhs legte sie einen der Türstopper um und ließ eine der Türen offen.
Ihr war fast so, als würde sie etwas Körperliches vom Weitergehen abhalten, aber Violet überwand dieses Gefühl und ging weiter, während sie das Messer fest umklammerte.
Hier standen mehr Maschinen, als sie je an einem Ort gesehen hatte. Sie strich mit den Händen über das kalte Metall und die geronnene Schmiere.
Alles sah uralt aus.
Verlassen.
Da lagen riesige Bohrer.
Die stumpfen Klingen von Kreissägen, die sich schon seit Jahren nicht mehr gedreht hatten.
Gewaltige Hobel und Bohrwerke.
Maschinen, mit denen man Maschinen reparierte.
Die Schreie wurden lauter, sie rissen ihr das Herz heraus, da darin derart viel Schmerz lag, dass sie irgendwann stehen bleiben, sich hinknien und die Ohren zuhalten musste, um zu beten.
Erst nach langer Zeit stand sie wieder auf, und da herrschte Stille.
Sie sah über die Schulter zurück zu der Doppeltür, die jetzt knapp fünfzig Meter hinter ihr lag.
Sie ging zwanzig Meter weiter, bis sie ein anderes Geräusch hörte.
Irgendwo in der Fabrik erklang das leise, hilflose Weinen ihres Sohnes.
»Max!«, rief sie und wirbelte herum.
Sie lief auf ihn zu, zwängte sich zwischen einigen Radsatzpressen hindurch, und die Schreie wurden lauter.
»Ich komme, Max!«
Er klang, als hätte er Schmerzen, aber sie war dennoch hocherfreut, schließlich war er am Leben.
Eine vertikale Fräsmaschine, die sechs Meter hoch war, stand an der hinteren Wand, und es klang so, als würden Max’ Schreie vom Dach der Maschine kommen.
Vi erreichte die Fräse, kroch auf den Tisch, packte den Arm und zog sich daran hoch. Sie drückte die Schuhe gegen die Schneide und zog sich an der Maschine hoch, wobei sie Max’ Schreie jetzt direkt im Ohr hatte.
Sie wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah sich in dem schwachen Licht nach ihm um.
»Max!«, schrie sie. »Max!«
Und dann sah sie es, und ihr Herz blieb beinahe stehen.
Ein kleiner Digitalrekorder stand ein Stück von ihr entfernt auf der Maschine. Violet kroch hinüber, hob ihn hoch und starrte den Lautsprecher an, aus dem die Stimme ihres Sohnes drang.
Dann warf sie ihn so weit weg, wie sie nur konnte, und der Rekorder verschwand zwischen den Maschinen und zerschellte.
Drei Sekunden lang war alles ruhig.
Dann fielen die Türen hinter ihr zu.
Sie blickte über den Wald aus Maschinen hinweg und sah ihm in die Augen.
Oh Gott.
Ein Mann mit langen, schwarzen Haaren stand vor der Doppeltür, und selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass er lächelte.
Ihr lief der Schweiß am Körper herunter, vor ihren Augen drehte sich alles, und sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund.
Eine gefühlte Ewigkeit bewegte sich keiner von ihnen.
Violet konnte das Summen der Lampen über sich hören.
Trotz der Distanz zwischen ihnen erkannte sie, dass er einen schwarzen Jogginganzug und schwarze Schuhe trug. Sein Gesicht war so blass, dass es fast schon durchscheinend aussah, und schien eine eigene Lichtquelle zu besitzen.
Er wandte sich von ihr ab und griff nach etwas neben der Tür. Violet kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was er da tat.
Zuerst klang es, als würde eine weitere Tür zufallen, aber das Geräusch wurde davon begleitet, dass die erste Lampenreihe am anderen Ende des Gebäudes ausging. Es hallte durch die Fabrik und wurde von den Wänden reflektiert.
Dann kam die nächste Reihe und es ging immer weiter, und Vi sah voller Panik mit an, wie die Lampen über ihrem Kopf ausgeschaltet wurden. Um sie herum verschwamm alles im Zwielicht, und als auch die letzten Lampen erloschen waren, saß sie wieder einmal in der Dunkelheit.
Vi ließ sich vorsichtig vom Rand der vertikalen Fräse herunter.
Als sie endlich auf dem Boden ankam, streckte sie die Hände aus und drehte sich langsam einmal im Kreis, um ein Gefühl für ihre Umgebung zu entwickeln und ihre Position zu bestimmen, aber letzten Endes erreichte sie dadurch nur, dass sie gar nicht mehr wusste, in welche Richtung sie sah.
Die Panik und die völlige Dunkelheit waren überwältigend, sie fiel auf die Knie und kroch über den Betonboden, durch Pfützen aus altem Schmierfett und Rattenkot, bis sie mit dem Kopf an die Metallverschalung einer unsichtbaren Maschine stieß.
Sie hatte sich die Stirn aufgeschürft, und ihr lief das Blut über den Nasenrücken.
Es war so finster, dass sie die Hand vor Augen nicht sehen konnte, aber als sie nach oben griff, ertastete sie ein Metalldach direkt über ihrem Kopf. Stahlbeine umgaben sie – sie war unter eine Maschine gekrochen.
Auf der anderen Seite des Raumes hörte sie ein Geräusch, das wie rasselnde Ketten klang.
Dann Schritte.
»Violet?«, hörte sie eine Stimme aus der Dunkelheit, die sich noch auf der anderen Seite des Raums zu befinden schien. »Diese Fabrikhalle ist siebeneinhalbtausend Quadratmeter groß. Ich habe gerade die Tür hinter mir abgeschlossen. Sie könnten natürlich noch durch die Tür am anderen Ende flüchten, aber das bezweifle ich. Haben Sie Andy schreien hören?«
Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu orientieren, musste sich dann jedoch eingestehen, dass sie das andere Ende des Raums wohl kaum erreichen konnte, ohne sich bei dem Versuch schwer zu verletzen. Sie würde sich verstecken müssen. Wenn sie keinen Laut von sich gab, konnte er sie nicht finden. Er war ebenso blind wie sie …
Das Licht ging wieder an.
Und es wurde wieder dunkel.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie die verblassenden Negativbilder der Maschinen um sich herum.
Dann war da nichts mehr, nur noch die Nachbilder auf ihren Netzhäuten.
Wieder gingen die Lampen über ihr an.
Erneut sah sie die Maschinen im grellen Licht.
Dunkelheit.
Nachbilder.
Eines davon war Luther, der sehr weit hinten stand und dessen Profil als erstarrtes Negativbild vor ihrem inneren Auge schwebte.
Zuerst glaubte sie, es wäre ein Schuss, aber dann war es doch nur das Geräusch der Lampen, die immerzu an- und wieder ausgingen, und in diesem kurzen hellen Fenster sah sie Luther zwischen den Ruinen der Fertigungsreihe auf die Stelle zukommen, an der sie unter der Maschine hockte.
Er hatte sie gesehen.
Es wurde wieder dunkel.
Erstarrte Nachbilder.
Luthers Schritte auf dem Beton, als er näher kam.
Licht.
Vi kroch unter der Maschine hervor und stand auf.
Dunkelheit.
Schritte.
Das Nachbild von Luther, der keine dreißig Meter von ihr entfernt stand.
Licht.
Sie drehte sich um und lief in der kurzen hellen Phase los, und als das Licht ausging, wich sie allen Negativbildern der Maschinen aus, bis selbst diese in der Dunkelheit verschwanden.
Sie hockte sich hinter einen großen Hobel und wartete darauf, dass das Licht wieder anging.
Ihr Mund war ganz trocken geworden.
Sie rang nach Luft.
Licht.
Luther stand in sechs Metern Entfernung vor genau der Maschine, unter der sie vor wenigen Augenblicken noch gehockt hatte, und sah darunter.
Dunkelheit.
Sie starrte sein Nachbild an, und als das Licht wieder eingeschaltet wurde, kam Luther langsam auf sie zu.
Vi duckte sich.
Ihre Handflächen waren schweißnass, sie wischte sie an dem Nylonstoff ihrer Jogginghose ab, damit ihr das Messer nicht aus der Hand rutschte.
Er blieb stehen.
Inzwischen war er bestimmt nur noch zwei oder drei Meter von ihr entfernt.
In den nächsten drei hellen und dunklen Phasen bewegte er sich nicht.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Licht.
Sie sah über den Rand des Hobels.
Da war er und stand mit dem Rücken zu ihr.
Leise stand sie auf, sah sich alles genau an, vor allem die Maschinen in ihrer unmittelbaren Nähe und Luther Kites Position. Wenn das Licht wieder ausging, musste sie nur einen guten halben Meter vom Hobel weggehen und in der schmalen Gasse zwischen den Maschinen vier Schritte auf sein Nachbild zugehen.
Und ihn im Dunkeln erstechen.
Aber bring ihn nicht um. Du musst herausfinden, was er weiß. Vielleicht ist Max noch am Leben.
Ihre Finger zappelten am Messergriff herum, als das Licht ausging.
Los, Violet.
Sein Nachbild verschwand, das perfekte Negativbild von Luther, der ihr den Rücken zuwandte, und sie konnte sogar erkennen, dass er etwas in der rechten Hand hielt, das an der Seite herunterhing.
Jetzt.
Sie machte zwei vorsichtige Schritte vom Hobel weg, hob das Messer mit der rechten Hand und stürzte sich auf ihn.
Vier schnelle, lautlose Schritte, dann blieb sie genau an der Stelle stehen, wo er ihrer Erinnerung nach stand, und rammte ihm das Messer mit einer festen, raschen Bewegung in den Rücken.
Sie hatte sich auf den erwarteten Aufprall vorbereitet, und als die Klinge nur durch Luft fuhr, renkte sie sich beinahe die Schulter aus und taumelte vorwärts ins Nichts.
Oh Gott.
Das Licht ging wieder an, und ihre Augen brannten.
Er war nicht da.
Soweit sie sehen konnten, befanden sich nur Maschinen und …
Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung.
Violet wirbelte herum, hatte das Messer jedoch noch nicht wieder richtig zu fassen bekommen.
Und da war er, in zwei Schritten Entfernung, und schwang bereits eine Keule in weitem Bogen.
Sie spürte keinen Schmerz, als sie an der Schläfe getroffen wurde, aber ihre Knie gaben nach und sie schien auf einmal jegliche Kraft verloren zu haben.
Dann saß sie auf dem Boden und starrte Luther an, als die Lichter mit diesem schussartigen Geräusch wieder ausgingen, und sie hätte schwören können, dass sich sein Lächeln auf seinem Nachbild eingebrannt hatte.
Im Dunkeln schlug er sie noch einmal, ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf, und das tat weh, allerdings nur für eine Sekunde.
Andy
Ich wurde durch das Geräusch einer Tür, die irgendwo hinter mir geöffnet wurde, aus meiner Agonie gerissen. Nach einigen Sekunden tauchte Luther in meinem Blickfeld auf, der Violet in seinen Armen herübertrug.
»Was haben Sie getan?«, schrie ich.
Er legte ihren erschlafften Körper auf den Holzstuhl, der drei Meter von meinem entfernt stand, und ich sah mit an, wie er ihre Hand- und Fußgelenke fesselte und ihren Kopf mit einem Lederriemen, der über die Stirn verlief, festband.
Dann kam er zu mir und legte mir eine identische Fessel an.
»Wenn wir anfangen«, sagte er, »dann werden Sie als Erstes versuchen, das Bewusstsein zu verlieren. Und das wäre doch jammerschade.«
»Luther.«
»Was ist, Andy?« Er starrte mich mit seinen seelenlosen, schwarzen Augen an.
»Was werden Sie mit ihr machen?«
Er sah zu Violet hinüber, und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ich liebe sie, Luther«, erklärte ich. »Mir ist klar, dass Sie nicht verstehen werden, was das bedeutet, aber es gibt nichts auf dieser Welt, das mächtiger wäre …«
»Da muss ich Ihnen leider widersprechen«, unterbrach er mich. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Angst und Schmerzen alles andere übertrumpfen. Sie sind die elementaren Bausteine der Menschlichkeit.«
»Wenn Sie das wirklich glauben, warum haben Sie dann nicht längst Selbstmord begangen?«
Luther blickte auf mich herab.
»›Und ist doch nicht also zu denken, dass das Leben der Finsternis also in ein Elend sinke, da sich’s vergäße, als traure es: Es ist kein Trauern. Denn die Traurigkeit ist ein Ding, das im Tode ersinket. So ist aber der Tod und das Sterben der Finsternis Leben.‹« Er tätschelte meine Hand. »Das hat ein deutscher Theologe namens Jakob Böhme mal geschrieben, und Ihr Bruder hat diese Weisheit vor vielen Jahren in der Wüste mit mir geteilt. Können Sie sich nicht vorstellen, dass so, wie Natur und Liebe die Herzen der meisten Menschen ansprechen, das hier«, er machte eine alles umfassende Geste und bezog das Lagerhaus, das Steuerpult, Violet, die drei Krater aus versengtem Fleisch an meinem rechten Bein dabei mit ein, »mein Herz erfreut?«
Er wandte sich ab, ging durch das Lagerhaus und verschwand hinter einer Tür, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen war und in deren Nähe das Steuerpult stand.
Zwei Sekunden später ging das Licht aus.
Ihre Stimme kam durch die Dunkelheit zu mir. Sie klang verängstigt, verwirrt und verletzt.
»Andy?«
»Ich bin hier, Violet.«
»Wo?«
»Etwa drei Meter von dir entfernt.«
»Ich kann mich nicht bewegen.«
»Wir sind gefesselt. Bist du verletzt?«, erkundigte ich mich.
»Er hat mir mit irgendwas auf den Kopf geschlagen, ich habe höllische Kopfschmerzen. Ich habe dich schreien gehört.«
Obwohl der Schmerz in meinem Bein nachgelassen hatte, war er noch immer sehr groß. Ich konnte ihn kaum ertragen.
»Mir geht es gut«, behauptete ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was hat er mit dir gemacht?«
»Das ist unwichtig.«
»Es tut mir so leid, Andy.« Sie weinte. »Ich bin hergekommen, um Max und dich zu suchen. Wo ist Max?«
»Das weiß ich nicht. Es tut mir so leid.«
»Er wird uns umbringen, oder?«
»Ich weiß nicht, was er will«, log ich.
»Ich habe diesen Obdachlosen getötet«, gestand mir Violet, und ich konnte hören, dass sie weinte.
»Ich habe alles gehört«, erwiderte ich. »Das warst nicht du. Er hat dich dazu gezwungen, weil er Max gequält hat.«
»Wir werden sterben«, sagte sie. »Oder nicht?«
Ich brachte es nicht über mich, diese Frage zu beantworten.
»Ein Teil von mir redet sich ein, dass wir immer noch in Yukon sind«, fuhr sie fort. »Dass wir in diesem Wald leben. Nur du, ich und Max. Und dass all das hier ein furchtbarer Albtraum ist. Wir könnten so glücklich sein.«
»Ich weiß.«
»Wir könnten eine Familie sein.«
Jetzt liefen mir auch die Tränen über die Wangen.
»Was auch passiert, wenn er zurückkommt, du darfst eines nicht vergessen: Ich liebe dich, Violet.«
»Ich liebe dich, Andy.«
»Das kann er nicht beeinflussen.«
Violet
Aus der Dunkelheit tauchte ein Licht auf und leuchtete aus etwa zehn Metern Entfernung von der Decke auf sie herab.
Ihr erster Instinkt war, den Kopf in den Nacken zu legen, um Andy endlich zu sehen, aber sie konnte den Kopf nicht bewegen.
Es machte auch keinen Unterschied.
Wenn sie direkt geradeaus sah, blickte sie in einen riesigen Spiegel, der an der Wand lehnte und in dem sie sich und ihn sehen konnte, wie sie einander gegenüber auf zwei identischen Holzstühlen gefesselt saßen.
Andy war nackt.
Seine Haut hatte eine kränkliche, graue Farbe, und sein rechtes Bein war mit Blut bedeckt.
Neben dem Spiegel wurde eine Tür in der Wand nach innen geöffnet.
Luther kam herein.
Sie verspürte eine Abneigung, die der Angst nicht unähnlich war, die sie immer in einer Arztpraxis spürte, wenn sie auf den Arzt warten musste.
Luther stand an einem Steuerpult, das auf einen kleinen Wagen montiert und mit beiden Stühlen verbunden war.
Als er mehrere Knöpfe drehte, begann Violets Stuhl zu vibrieren.
Luther kam näher.
Er gab ihr eine kleine Fernbedienung in die linke Hand und legte ihren Daumen über den einzigen roten Knopf.
»Lassen Sie das nicht fallen, was auch passiert«, ermahnte er sie.
»Ich habe genau das getan, was Sie gesagt haben. Wo ist Max?«
Er antwortete nicht, sondern schaute nur auf sie herab.
»Ich will meinen Sohn sehen!«
»Das verstehe ich.«
»Und?«
»Das dürfte etwas schwer zu bewerkstelligen sein.«
Ihr wurde das Herz schwer.
»Max ist jetzt bei seiner neuen Mommy und seinem neuen Daddy.«
»Das verstehe ich nicht …«
»Max’ Weinen wurde im Vorfeld aufgenommen. Ich habe ihn verkauft, Violet. Vor vier Tagen. Für siebentausend Dollar. Ich hätte auch nur fünf genommen.«
»An wen?« Sie schrie die Worte.
»Sein Name ist Javier, aber das ist eigentlich völlig unwichtig. Sehen Sie es doch mal so: Jetzt wächst er wenigstens auch mit einem Daddy auf.«
Violet weinte bitterlich, Luther sah sie einfach nur an und saugte ihr Unglück in sich auf, als wäre es Sonnenschein.
»Erzählen Sie mir davon«, verlangte er schließlich.
»Wovon soll ich Ihnen erzählen?«, kreischte sie.
»Wie es war, Matthew zu töten.«
»Da gibt es nichts zu erzählen.«
»Nun ja, er ist tot, oder nicht?«
»Ja.«
»Und wie ist es dazu gekommen?«
»Jetzt tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nicht jedes Wort mit angehört.«
»Sie sollten sich lieber ein bisschen mehr Mühe geben.«
»Ich habe ihm das Messer ins Herz gestoßen. Zufrieden?«
»Okay.«
»Und er ist auf der Stelle gestorben.«
»Haben Sie was von seinem Blut abbekommen?«
»Ja.«
»Haben Sie es gekostet?«
»Nein!«
»Es ist einen Versuch wert. Haben Sie ihm in die Augen gesehen, als er gestorben ist?«
»Was?«
»Haben Sie ihm in die Augen gesehen, als er …«
»Ja.«
»Sie haben gesehen, wie sie trübe geworden sind.«
»Ja.«
»Wussten Sie, dass das der Augenblick ist, für den ich lebe? Was nicht bedeutet, dass es keinen Spaß macht, bei diesem Moment anzukommen, aber wenn er dann da ist … Heilige Scheiße. Ich hoffe, Sie haben es genossen. Was noch?«
»Wie, was noch? Ich weiß nicht, was Sie hören wollen!«
»Er will hören, wie du sagst, dass es dir gefallen hat«, schaltete sich Andy ein.
Luther drehte sich um und starrte Andy wütend an, dann griff er unter Violets Armlehne und lockerte etwas.
Sie spürte, wie sich die Armlehne löste.
Luther drehte sie herum, sodass ihr linker Arm hinter ihren Kopf verdreht wurde.
Dann machte er dasselbe mit der rechten Armlehne.
Sie sah im Spiegel mit an, wie er sich vor den Stuhl kniete und eine Stahlplattform herauszog, in der sich ein System aus Kabeln, Zahnrädern und Flaschenzügen befand. Diese befestigte er hinter ihren Handgelenken. Dann fesselte er ihre Hände mit Nylonfesseln und zog diese so fest an, dass ihre Finger aufgrund des Blutverlusts zu kribbeln begannen. Er hängte die neuen Fesseln an einen Schraubkarabiner.
Danach machte er sich an ihren Fußgelenken zu schaffen und tauschte die Leder- gegen Nylonfesseln aus.
Sie hätte ihn am liebsten gefragt, warum er das tat, hatte jedoch Angst vor der Antwort.
Als er mit ihr fertig war, brachte Luther Andy in dieselbe Position und schob den Wagen dann wieder in die Mitte.
Er starrte das Steuerpult einige Sekunden lang an und wandte sich dann wieder an Violet.
»Wissen Sie, was eine Streckbank ist?«, fragte er.
Sie wusste es.
Discovery Channel.
Vor mehreren Jahren.
Es war eine Sondersendung über die Inquisition gewesen, von der sie trotz ihres Jobs eine Woche lang Albträume bekommen hatte.
»Die Folter ist heutzutage nicht mehr so wie früher«, sagte er. »Irgendwie gilt es neuerdings als barbarisch, anderen Schmerzen zuzufügen. Aber das ist meiner Meinung nach bedauerlich. Wir lernen durch alle intensiven Gefühle so viel über uns selbst, und der Schmerz ist eine sehr wichtige Emotion.«
Luther verstellte etwas auf dem Steuerpult, und Violet spürte, wie die Nylonfesseln angezogen wurden.
Ihre Wirbelsäule knackte, und der Druck wurde weiter aufgebaut, als das einen Zentimeter dicke Kabel ihre Arme und Beine in entgegengesetzte Richtungen zog.
Die Spannung war gerade unangenehm geworden, als die Zahnräder anhielten.
»Nur fürs Protokoll: Sie beide kennen das Konzept hinter einer Streckbank?«
Er bekam keine Antwort.
»Andy?«
»Man zieht an den Gliedmaßen und streckt sie, bis es zu Verrenkungen kommt.« Violet bemerkte die Anspannung in Andys Stimme. »Sobald die Gelenke getrennt sind, kommt es zu schweren Muskelschäden. Viele Opfer der Streckbank, die danach nicht exekutiert wurden, konnten ihre Arme und Beine nie wieder bewegen.«
Nach und nach machte sich die Erkenntnis in Vi breit und ihre Angst stieg ins Unermessliche.
»Ich habe getan, was Sie verlangt haben«, sagte sie. »Ich habe diesen Mann getötet.«
»Ja, das haben Sie, und ich habe es sehr genossen. Sie halten jetzt beide eine Fernbedienung in der linken Hand, und ich habe mir die Freiheit erlaubt, Ihren Daumen auf den Knopf zu legen. Es kann immer nur eine Streckbank bewegt werden. Wir fangen mit Ihnen an, Andy. Wenn der Schmerz unerträglich wird, dann können Sie dem ein Ende setzen, indem Sie den Knopf drücken. Aber Sie sollten wissen, dass Violets Bank in Bewegung gesetzt wird, sobald Ihre anhält. Violet, wenn Sie die Schmerzen nicht mehr ertragen können, steht es Ihnen jederzeit frei, sie an Andy weiterzureichen.«
»Luther«, sagte Andy. »Bitte …«
»Wag es nicht, dieses Stück Scheiße anzuflehen«, fuhr ihm Violet über den Mund.
Luther lachte. »So liebe ich meine Kleine.«
Andy
Ich konnte im Spiegel sehen, wie sich die Zahnräder unter der Streckbank langsam in Bewegung setzten.
Sehr langsam.
Der Druck baute sich beinahe unmerklich auf.
Fast schon zärtlich.
Dann zeigten meine nackten Füße mehr und mehr in Richtung Wand, und ich spürte, wie sich meine Rückenmuskeln streckten.
Das war noch immer nicht schmerzhafter als morgendliche Dehnübungen.
Nur dass diese nicht mehr nachließen.
Die Muskel- und Gelenkspannung baute sich immer weiter auf, und schon verspürte ich den ersten Impuls, gegen dieses stetige Ziehen anzukämpfen. Ich zerrte an den Kabeln, und meine Ellenbogen und Knie beugten sich leicht an den Gelenken.
Die Spannung ließ drei wunderbare Sekunden lang nach, doch dann war der gnadenlose Zug der Kabel wieder da.
Großer Gott.
Jetzt tat es langsam weh.
Es war erträglich, wurde jedoch schlimmer, und zum ersten Mal vergaß ich, was Luther vor einigen Stunden mit meinem Bein gemacht hatte.
Es fühlte sich an, als würden meine Waden und die Muskeln in meinem Rücken reißen, aber der Schmerz wurde fast augenblicklich von dem unvorstellbaren Druck in meinen Knien und Ellenbogen übertroffen.
Die Gelenke dehnten sich und wurde dann überdehnt.
Ich hörte mich selbst stöhnen.
Ich sah Violets Gesicht im Spiegel, die mich ansah.
Voller Panik.
Sie sprach mit mir, aber ich konnte sie nicht hören. Ich hörte überhaupt nichts mehr außer meiner angestrengten Stimme, die mit jeder verstreichenden Sekunde lauter wurde.
»Luther«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Schalten Sie es ab.«
Mir lief der Schweiß in die Augen, und das, was ich jetzt fühlte, konnten nur Knorpel sein, die sich langsam dehnten, und es fühlte sich so an, als würde jemand tausend Nadeln in meine Gelenke bohren.
»Bitte!«
Durch den Tränenschleier sah ich, wie Luther zwischen uns stand und mich beobachtete.
In jeder Millisekunde wurden der Schmerz und das Ziehen intensiver, und ich bemerkte, dass ich schrie, da nichts, was ich je erlebt hatte, diesem Schmerz gleichkam.
Drück den Knopf, dann hört es auf.
Drück den Knopf, Andy.
Du wirst auseinandergerissen.
Du kannst ihr den Schmerz wieder abnehmen, aber du brauchst ganz kurz eine Pause.
Einen Moment zum Nachdenken.
Ich fühlte, wie mein Finger den Knopf auf der Fernbedienung drückte.
Das Knarren und Summen meiner Foltermaschine hörte auf, und dieser furchtbare, unerträgliche Schmerz ließ nach.
Ich rang nach Luft und sah Violet im Spiegel an, die mich beobachtete, während ihr die Tränen über die Wangen liefen und die Kabel begannen, ihre Füße zu strecken.
»Drück den Knopf, Vi«, sagte ich.
»Nein.«
»Vi …«
»Ich kann es ertragen, Andy.«
»Nein, das kannst du nicht. Lass mich das tun.«
Ich drückte meinen Knopf, aber nichts geschah.
Inzwischen hörte ich, wie Vi sich quälte und gegen das erste unangenehme Ziehen ankämpfte.
Ihr Gesicht im Spiegel war eine vor Angst verzerrte Maske.
»Was wollen Sie, Luther?«, fragte ich.
»Das hier.«
»Aber es wird bald vorbei sein.«
»Definieren Sie ›bald‹.«
»Sie wissen, was ich meine. Letzten Endes sterben wir dabei.«
»Bitte halten Sie den Mund, Andy. Ich möchte das genießen …«
»Sie wollen mehr als das, Luther.«
Vi stöhnte.
Sie konnte ihren Kopf noch immer nicht bewegen und starrte mit ungläubigen Augen zur Decke hinauf.
Ihr Stöhnen wurde zu einem schrillen Kreischen, das sie zwischen zusammengebissenen Zähnen ausstieß.
»Halten Sie es an, Luther!«, schrie ich, und dann: »Drück den Knopf, Violet!«
Ihr Schrei wurde immer lauter und traf mich wie ein Messer in die Magengrube. Und dann war da der Gedanke, der fast schon ein Gebet war: »Ich will einfach nur sterben.«
Der Schmerz kehrte zurück, aber irgendwie intensiver als zuvor, und die Maschine vibrierte unter mir, als die Zahnräder ihre schrecklichen Drehungen wieder aufnahmen.
Jetzt schrie Vi meinen Namen und flehte mich an, ihr den Schmerz zu überlassen, und alles in mir sehnte sich danach, diesen Knopf zu drücken und ihrem Wunsch nachzukommen, nur um diese Kabel daran zu hindern, mich in Stücke zu reißen.
Die Worte mussten irgendwo in meinem Unterbewusstsein begraben gewesen sein, da ich mich nicht daran erinnerte, so etwas je gedacht zu haben, aber auf einmal schrie ich aus Leibeskräften: »ICH WERDE ER SEIN, LUTHER! BITTE HÖR DAMIT AUF! ICH WERDE ER SEIN! ICH WERDE ORSON SEIN! ICH WERDE MEIN BRUDER SEIN! ICH SCHWÖRE BEI GOTT!«
Ich war wohl ohnmächtig geworden.
Als ich die Augen wieder öffnete, brannten meine Arme und Beine, aber die Spannung war weg und die Streckbank summte nicht länger unter mir.
Ich versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
Luthers Gesicht war direkt vor meinem.
Blass. Rein. Alterslos.
In seinen schwarzen Augen schimmerte etwas, das ich darin noch nie zuvor gesehen hatte: eine wahre Emotion.
Wut.
Verwirrung.
Grenzenlose Trauer.
»Sie vermissen ihn, nicht wahr?«, fragte ich.
»Wollen Sie mich verscheißern?«
»Luther …«
»Glauben Sie, das wäre Schmerz gewesen? Ich kann Ihren Verstand brechen.«
»Hören Sie mich an. Wissen Sie, wie mein Leben die letzten Jahre gewesen ist? Erinnern Sie sich, was Orson und auch Sie aus mir machen wollten? Und ich habe wieder und wieder dagegen angekämpft … und jetzt bin ich es leid. Ich habe die Schnauze voll. Wir sind Zwillinge, Luther. Verstehen Sie, was das für eine Verbindung ist? Seit seinem Tod spüre ich Orson in mir, und er wird immer stärker.«
»Das sagen Sie nur, um diesen Schmerzen zu entkommen.«
»Vielleicht ist dem so. Oder vielleicht ist auch das wahr, was Sie über den Schmerz gesagt haben. Dass wir dadurch mehr über uns selbst lernen können. Und ich habe von Ihnen und meinem Bruder in den letzten acht Jahren nichts als Schmerz erlebt. Physischen, emotionalen, psychischen Schmerz.«
»Andy, nichts, was du sagst, kann ihn …«, rief Vi.
»Halt die Klappe! Erinnern Sie sich, was Sie vor all diesen Jahren in der Wüste zu mir gesagt haben, Luther?«
Er starrte mich einfach nur an.
»Sie haben gesagt: ›Wir alle wollen Blut.‹ Und wissen Sie was? Sie hatten recht.«
Ich konnte sehen, dass er darüber nachdachte.
Er fing an zu grübeln.
»Sie vermissen ihn, nicht wahr?«, wiederholte ich meine Frage.
»Ja.« Das sagte er völlig emotionslos, aber mit einem leichten traurigen Flimmern in seinen Augen.
»Denken Sie, mein Zwillingsbruder und ich hätten keine elementare Verbindung zueinander gehabt?«
»Sie lügen.«
»Haben Sie meine Bücher gelesen?«
»Mehr sind sie auch nicht, Andy. Bücher. Und wie lange haben Sie geschrien, dass sie nicht das widerspiegeln, was wirklich in Ihnen los ist?«
»Glauben Sie etwa, es wäre einfach, damit klarzukommen?«
»Sie lügen.«
»Lassen Sie es mich beweisen.«
Daraufhin grinste er.
»Sie halten das alles für Blödsinn?«
»Allerdings.«
»Ich würde sie nicht umbringen.«
»Wie bitte?«
»Ich würde Violet nicht umbringen«, sagte ich. »Aber ich würde ihr wehtun. Sehr wehtun.«
Seine schwarzen Augen schienen mich zu durchbohren.
»Das ist real, Luther. Es geschieht wirklich. Ich weiß, dass Sie einsam sind. Es gibt da draußen nicht viele wie uns. Die unsere Sicht der Welt teilen. Das ist schwer. Aber ich stehe auf Ihrer Seite.«
»Niemand steht auf meiner Seite.«
»Tja, wenn Sie nie jemandem vertrauen, dann werden Sie es auch nie erfahren.«
»Ich habe noch nie einem anderen Menschen vertraut, Andy. Nicht einmal Ihrem Bruder.«
»Aber Sie haben ihn geliebt. Soweit Sie überhaupt fähig sind, einen anderen Menschen zu lieben, ohne davon zu profitieren.«
Er sah Violet an.
Während die Worte aus meinem Mund strömten, sagte ich mir, dass alles gelogen sei. Dass das der einzige Weg wäre, um uns zu retten.
»Erzählen Sie mir nicht, das wäre nicht das, was Sie wollen, Luther. Eine Verbindung zu jemandem, der so ist wie Sie. Sie sind nicht völlig unmenschlich.«
Der Schmerz schoss wieder durch meine Arme und Beine.
Der Riemen um meine Stirn grub sich in meine Haut.
»Sie werden ihr wehtun«, sagte er.
»Ja.«
»Sie werden genau das tun, was ich Ihnen sage.«
»Ja. Und dann werden Sie sie gehen lassen.«
»Aber sie wird zurückkommen. Sie wird nach diesem Ort suchen. Nach mir und …«
»Nein«, entgegnete ich. »Das verspreche ich Ihnen. Sie wird nie mehr zurückkommen.«
Ich konnte kaum stehen. Es war Tage her, dass ich zuletzt gestanden hatte.
Die Muskeln in meinen Beinen waren verhärtet wie Stahlkabel.
Er hatte mir gerade ein Schmerzmittel ins Bein gespritzt, aber dessen Wirkung konnte gar nicht schnell genug einsetzen.
Luther musste mir helfen, über den Betonboden zu gehen, der sich unter meinen nackten Füßen eiskalt anfühlte.
Wir blieben neben Violet stehen, und ich sah auf sie herab.
Ich hörte sie stöhnen.
»Andy«, sagte sie. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Ich sah Luther an, als das Schmerzmittel in meinen Blutkreislauf eindrang.
Der Schmerz verschwand.
Auf einmal war da Klarheit.
Ich war jetzt auf mich allein gestellt. Aber ich stand aufrecht.
»Bleiben Sie da stehen«, forderte Luther.
Er ging zur Schalttafel und zog den Wagen herüber.
Ich berührte Violets Gesicht, in deren Augen Tränen schimmerten, sodass es so aussah, als wären sie aus flüssigem Glas.
»Andy.« Er nahm meinen Arm und führte mich zum Schaltpult und den Werkzeugen.
Meine Hände wanderten über die Tafel, die aussah wie ein Mischpult.
Die Anzeigen und Gleichsteller waren in einzelne Abschnitte unterteilt, neben denen weiße Label mit schwarzer Beschriftung hingen.
HITZE.
KÄLTE.
DRUCK.
ELEKTRIZITÄT.
PERFORATION.
REIBUNG.
»Dem Menschen wehzutun, den man liebt, das erfordert wahre Stärke«, sagte er. »Fragen Sie sie, wovor sie die größte Angst hat.«
»Wovor hast du die größte Angst, Violet?«
»Andy …«
»Du hast folgende Optionen: Hitze, Kälte, Druck, Elektrizität, Perforation, Reibung.«
»Was tust du denn, Andy?«
»Er begrüßt das, wogegen er sein ganzes Leben angekämpft hat.«
»Und was ist das, Luther?«, wollte sie wissen.
»Die Wahrheit.«
»Das ist nicht die Wahrheit, Andy.«
»Möchtest du leben, Violet?«
»Ja.«
»Dann muss ich das tun.«
»Das ist doch nur wieder eins seiner Spielchen. Keiner von uns wird das hier überleben.«
»Das tut mir alles so leid. Ich bedauere, dass du mir je begegnet bist. Dass ich in dein Leben getreten bin. Das ist mein Ernst. Und jetzt entscheide dich.«
Sie schloss die Augen und schluchzte so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte.
»Entscheiden Sie für sie«, flüsterte mir Luther ins Ohr.
»Okay. Hitze«, entgegnete ich. »Wie funktioniert das?«
»Diese zehn Anzeigen steuern die Übertragung von Hitze auf die Elektroden. Zwei an jedem Arm und Bein, eine am Kopf, die große flache am Rücken. Sie können sich auf bis zu vierhundertzwanzig Grad Celsius erwärmen. Dann glühen sie orange. Geht man noch höher, können die Wärmeplatten nicht verhindern, dass das Holz zu brennen beginnt.«
Ich sah Luther an.
Mir war schwindlig, und ich fühlte mich, als würde ich schweben.
»Sie wollen das tun«, meinte er. »Sie haben es schon immer gewollt.«
»Andy, bitte.« Violet weinte.
»Es ist Zeit, Andy.«
Meine Hände zitterten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal das Tageslicht gesehen hatte. Es konnte durchaus einen Monat her sein.
»Und danach kann sie gehen?«
»Dann kann sie gehen.«
Ich sah auf Violet herab, die vor Schreck erstarrt war.
»Du musst das nicht tun«, sagte sie.
Ich legte eine Hand auf das Schaltpult.
»Doch, das muss ich.«
Ich stand nackt am Schaltpult und sah sie leiden, als sich die Platten auf hundertzwanzig Grad Celsius aufheizten. Irgendetwas in mir, das tief unter der Bewusstseinsebene saß, begann zu zersplittern.
Ich wandte den Blick nicht ab.
Ich sah in ihre Augen, als ihr Gesicht puterrot wurde.
Die Frau, die ich geliebt hatte, litt unvorstellbare Schmerzen.
Sie schrie.
Sie flehte mich an, damit aufzuhören.
Ihr Jogginganzug rauchte und begann zu schmelzen.
Ein Teil von mir konnte all das nicht mehr ertragen.
Ich sperrte diesen Teil von mir in eine schalldichte Gummizelle, wo er schreien und mit dem Kopf gegen die Wand schlagen konnte, während ich mich meiner Aufgabe widmete.
Es gab keinen anderen Weg, aus der Sache rauszukommen.
Das war menschliches Leid.
Na und?
Es gab nichts, was in der Geschichte der Menschheit konstanter und garantierter gewesen wäre, und zwar in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Das war nichts Neues oder Seltenes.
Das Endresultat unserer fortschrittlichen evolutionären Programmierung – all der Nervenenden, die mit all diesen Chemikalien in unserem Frontallappen kombiniert werden, die wir nutzen, um Emotionen zu erfinden.
Nach einer Weile nahmen Luthers lange, weiße Finger meine vom Steuerpult und er übernahm die Kontrolle.
»Was machen Sie denn?«, wollte ich wissen.
»Ich halte mein Wort. Sie werden noch Ihre Nieren kochen und ihre Rückenmarksflüssigkeit verdampfen lassen, wenn Sie nicht aufhören.«
Er drehte alles herunter und deaktivierte das Schaltpult.
Sie hatte sich heiser geschrien.
Der Geruch und die Geräusche … Oh Gott!
Luther ging zu ihren Armen und schnitt die Nylonfesseln durch.
Er befreite ihre Fußknöchel.
Sie lag stöhnend da und versuchte, sich zu bewegen, klebte aber noch an den Elektroden.
Luther kam wieder zurück zu mir.
»Wie fühlt es sich an?«, erkundigte er sich.
Ich war noch immer so schwach.
Ich wusste nicht, ob ich überhaupt die Kraft dazu hatte.
»Ich fühle mich wie ein anderer Mensch«, sagte ich.
»Vielleicht hätten Sie sich auch schon immer so fühlen sollen.«
»Kann schon sein.«
Er legte die Hände auf den Wagen, um ihn wegzurollen.
»Warten Sie, Luther, Sie haben was vergessen«, hielt ich ihn auf.
Als er sich zu mir umdrehte, schlug ich ihm mit dem Kugelhammer zwischen die Augen.
Luthers Jogginganzug war in der Taille ein oder zwei Nummern zu klein, aber ansonsten viel zu lang, und ich trat ständig auf die Hosenbeine.
Ich trug Violet durch das Lagerhaus und die offene Tür, ging dabei langsam und hatte noch immer mit starken Schmerzen zu kämpfen, obwohl ich sowohl Violet als auch mir mehrere Dosen Oxycodon verabreicht hatte, das ich in einer Schublade unter Luthers Schaltpult entdeckt hatte.
Draußen fiel ein feiner Nieselregen vom grauen Himmel.
Das erste Tageslicht, das seit einer Ewigkeit an meine Augen drang, und ich musste außerdem noch starke Kopfschmerzen ertragen.
Ich legte Violet in Luthers fensterlosen weißen Van und schloss die Schiebetür.
Dann humpelte ich zur Fahrertür und setzte mich hinter das Lenkrad.
»Es tut immer noch weh«, jammerte sie.
»Ich weiß.«
Ich ließ den Motor an, gab Gas und beschleunigte über einen riesigen, leeren Parkplatz, der mehrere Kilometer lang zu sein schien.
Kurz darauf fuhr ich durch ein verlassenes Wohngebiet.
Auf einem Wasserturm in der Ferne stand der Name einer Stadt, in der ich nie gewesen war.
Es war eine urbane Geisterstadt.
Leere, heruntergekommene Häuser.
Verlassene Wagen.
Überall Müll.
Ich musterte Violet im Rückspiegel, die auf dem Metallboden lag.
Sie war wach.
Und hatte Schmerzen.
Ich hatte sie im Lagerhaus untersucht: Verbrennungen dritten Grades an den Armen, den Beinen und dem Rücken.
Sehr schmerzhaft.
»Muss ich sterben?«
Ich brauchte fünfunddreißig Minuten, bis ich ein Krankenhaus gefunden hatte, einen sechsstückigen Betonblock in der Nähe einer üblen Gegend.
Es wurde bereits dunkel, als ich vor der Notaufnahme vorfuhr.
Ich stieg aus der Fahrerkabine aus und ging nach hinten.
Dann kniete ich mich neben Violet hin, die stöhnend auf dem Boden lag und aufgrund ihres Fiebers nur halb bei Bewusstsein war.
»Violet«, sagte ich.
Ihre Augen waren offen, aber unfokussiert.
»Vi, sieh mich an.«
Sie tat es. »Es tut weh, Andy.«
»Wir sind vor einem Krankenhaus.«
»Wirklich?«
»Ich kann dich nur reinbringen, aber nicht bleiben.«
»Warum nicht?«
»Du kennst den Grund. Das ist sehr …« Ihr Blick schweifte ab. »Hör mir zu, Vi, das ist wichtig.«
Ich nahm ihr Gesicht in die Hände.
»Du darfst ihnen nichts sagen. Überhaupt nichts. Nichts von mir, nicht von Luther und nichts darüber, wo wir gewesen sind.«
Ich wusste nicht, ob sie irgendetwas davon begriffen hatte.
»Hast du mich verstanden, Violet?«
Sie nickte. »Bist du verletzt, Andy?«
»Nicht so schlimm, dass ich da reinmuss.«
»Wo ist Max?«
»Er ist gerade nicht hier.«
Es dauerte einen Moment, bis sie es begriffen hatte.
»Ich bezweifle, dass wir uns je wiedersehen werden«, erklärte ich.
Ihr stiegen die Tränen in die Augen.
»Hast du das verstanden?«
Sie nickte.
»Du darfst nie nach mir suchen, Vi.«
»Ich liebe dich.«
»Such nie nach mir.«
»Ich liebe dich.«
»Andy Thomas ist tot.«
»Ich liebe …«
»Hör auf, Vi. Lass los.«
Violet
So starke Schmerzen. Sie ertrank darin, und irgendwann ging ihr auf, dass sie nie mehr dieselbe sein würde, wenn sie das überlebte, schon allein weil sie jetzt wusste, dass man derartige Schmerzen haben konnte.
Er trug sie auf die automatischen Türen zu, und bei jedem Schritt schoss der Schmerz durch ihren Körper und sein Jogginganzug rieb über die Brandwunden an ihren Armen und Beinen.
Sie weinte, und Andy sagte ihr, sie solle ruhig sein, dass sie wieder gesund werden und sich von all dem erholen würde, dass sie eine wunderbare Zukunft erwarte.
Lügen.
Und dann waren sie im Krankenhaus. Zum ersten Mal seit Tagen Zentralheizung und das gleißende Licht der fluoreszierenden Lampen an der Decke. Sie versuchte, seinen Namen zu sagen, aber eine bleierne Dunkelheit sackte auf sie herab, und falls diese auch nur ein wenig Erleichterung brachte, dann konnte sie einfach nicht dagegen ankämpfen.
Als sie zu sich kam, saß sie auf einem Stuhl im Wartezimmer, Andy war verschwunden und der Schmerz war wieder da.
Ein junger Arzt mit Brille hockte sich vor sie hin, zwei Krankenschwestern standen hinter ihm, doch obwohl sich seine Lippen bewegten, konnte sie nichts hören.
Andy
Die Nacht war angebrochen, und das machte es noch deutlich schwerer, den Rückweg durch das Betonödland zu finden.
Die Wirkung des Oxycodons ließ langsam nach, und der Schmerz in meinem gepeinigten rechten Bein, den gestreckten Muskeln und Gelenken wurde mit jedem Augenblick schlimmer.
Letzten Endes war es der Wasserturm, der mich leitete, da sein rotes Flugwarnlicht auch durch den Nebel zu sehen war.
Es war 20.27 Uhr, als ich vor dem Lagerhaus auf den Parkplatz fuhr.
Ich schaltete den Motor aus und stieg aus.
Der Schmerz in meinem Bein war kaum zu ertragen.
Ich humpelte über den gerissenen Beton auf den Eingang zu und schloss die Tür auf.
Nur unter Aufbietung all meiner Kraft schaffte ich es, durch das Lagerhaus zum Wagen zu laufen, mit zitternden Händen die Schublade aufzuziehen und eine Ampulle Oxycodon herauszunehmen.
Der Drang, die doppelte Dosis zu nehmen, war stark, aber ich widerstand ihm.
Ich traf die Vene und injizierte mir vierzig Milligramm.
Die Linderung trat fast augenblicklich ein.
Euphorie.
»Andy … Andy … Andy, sieh mich an.«
Ich stand lächelnd im Lagerhaus und ließ mich von der betäubenden Freude mitreißen.
»Andy …«
So viele Tage nichts als Angst und Schmerzen, und nun das.
Erleichterung.
Macht.
»Andy …«
Violet in Sicherheit. Die süße Violet.
»Andy …«
Und Zorn.
»Andy …«
»Ja, Luther?«
Ich stützte die Hände auf den Wagen und rollte ihn auf die Liege zu, auf die ich ihn mehrere Stunden zuvor gefesselt hatte.
»Ich bin ganz Ohr.«
Es ging zwei Tage so weiter.
Ich machte keine Pause und schlief nicht.
Ich verbrannte ihn, streckte ihn, ließ ihn frieren, schnitt ihn.
Ich tat alles, außer ihn umzubringen, und er flehte mich nicht einmal an, aufzuhören. Ich wollte es hören, den unterwürfigen Schrecken in seiner Stimme, den er vermutlich bei mir und zahllosen anderen gehört hatte, aber er schrie nur.
Jedes Mal, wenn ich ihm Schmerzen zufügte, dachte ich an das, was er mir angetan hatte. Violet, ihrem Mann, ihrem Sohn. Beth Lancing. All seinen Opfern, die, von denen ich wusste, und all die anderen.
Ich nahm eine Taschenlampe und ging die Treppe hinunter, die vom Lagerhaus in den Keller führte.
Ich wollte mich da mal umsehen.
Luthers Lebensmittel- und Wasservorräte suchen, und natürlich mehr Medikamente.
Der Lichtstrahl fiel auf einen alten Betonziegel.
In den Ecken waren massenhaft Spinnweben, und überall lag Rattenkot, und gelegentlich leuchteten im Lichtstrahl zwei Augen auf, die sofort wieder verschwanden, gefolgt von dem Geräusch flüchtender Ratten.
Nach fünfzehn Metern blieb ich stehen.
Hinter einer Tür am Ende des Korridors waren Geräusche zu hören.
Ich rannte darauf zu und riss die Tür auf.
Schock.
Fassungslosigkeit.
Ich hatte nicht damit gerechnet und stand sprachlos auf der Türschwelle, während ich darauf wartete, dass das Wunder verschwand, aber das tat es nicht.
Der Raum war winzig, vermutlich war es früher ein Hausmeisterschrank gewesen.
An der hinteren Wand stand eine Wiege, in der zwei Babys lagen, von denen eins Max war, und wie am Spieß brüllten.
Ich wusch sie.
Wechselte die Windeln.
Fütterte sie mit den Babygläschen, die dort standen, und hielt dann jedes in einem Arm, um sie in den Schlaf zu wiegen.
Es war 03.00 Uhr, als ich mit Luthers Van vor der Notaufnahme des Krankenhauses vorfuhr. Die Babys schliefen nebeneinander auf Kissen in einer Pappschachtel, die ich zwischen die Vordersitze geschoben hatte.
Es war zu kalt und nass, als dass ich riskieren konnte, sie draußen zu lassen, also trug ich den Karton in die Notaufnahme, in der bereits vier Personen saßen: ein Paar mit einem kranken Kind und ein junger Mann, der nach Alkohol roch und sich ein blutiges T-Shirt um die linke Hand gewickelt hatte.
»Sie können der Krankenschwester sagen, dass ein Mann die beiden Babys gerade abgegeben hat und dass die Mutter des kleinen Jungen Patientin hier im Krankenhaus ist«, sagte ich.
Sie starrte mich skeptisch und mit leerem Blick an.
Ich stellte den Karton auf den Tisch, ging zum Ausgang, und als die automatischen Türen aufgingen, hörte ich die Frau sagen: »Oh mein Gott.«
Ich fuhr zurück.
Und fühlte mich seltsam.
Ich war so begierig darauf, zu Luther zurückzukehren.
Während die Scheibenwischer über die Windschutzscheibe zuckten und der Van über die nassen Straßen raste, versuchte ich, mir Violets und Max’ Wiedersehen vorzustellen.
Wenn sie aufwachte, würden die Krankenschwestern da sein.
Sie würden sie fragen, ob sie einen Sohn hatte.
Sie würde antworten: »Ja, warum?«
Sie würden sie nach dem Namen des Jungen und einer Beschreibung fragen, und wenn Vi all das lieferte, dann würden sie ihr Max, den sie inzwischen in eine Decke gewickelt hatten, bringen.
Und Violet würde vor Freude weinen.
Trotz ihrer Schmerzen würde sie sich im Bett aufsetzen, die ganzen Infusionen ignorieren und die Arme nach ihrem Sohn ausstrecken.
Und wenn sie auf Max herabsah, würden ihre Tränen auf seine kleinen Wangen fallen, und sie würde sein Gesicht streicheln und flüstern: »Mommy ist da, kleiner Mann. Mommy ist da.«
Ich ging diese Szene mehrmals durch und wurde bei jedem Mal emotionaler.
Es wurde rührender.
Violet war glücklicher.
Die Krankenschwestern weinten.
Selbst ein abgehärteter Arzt unterdrückte eine Träne.
Endlich waren Mutter und Kind wieder vereint und auf dem Weg der Genesung.
Aber wie oft ich diesen Augenblick auch in Gedanken durchging, eines änderte sich nie.
Ich empfand nichts.
Ich wollte nur zurück zum Lagerhaus.
Zurück zu Luther.
Und all den wunderbaren Dingen, die ich ihm antun konnte.
Am zweiten Tag veränderte sich irgendwas. Der Zorn und die Macht hatten sich bisher gut angefühlt, aber an diesem zweiten Tag wurden sie unwiderstehlich. Es war fast schon eine ekstatische, grenzenlose Sucht geworden.
Ich empfand Freude über seine Schreie.
Trost bei dem Anblick seines Blutes, das am Holz herunterlief, oder wenn er an den Elektroden kochte.
Und in dem, was ich tat, lag nicht länger Zorn, sondern nur noch Traurigkeit.
Sie hatte sich hereingeschlichen, wurde nun aber immer dominanter und füllte meine Lunge aus wie ein tiefer Luftzug. Nur ich allein wusste, warum sie da war.
Es lag an einer einfachen Tatsache.
Irgendwann … musste das hier aufhören.
Irgendwann hatte Luther kein Blut und keine Schreie mehr und würde sterben.
Nach achtundvierzig Stunden brach ich, als ich gerade dabei war, Luther mithilfe von Riechsalz wieder aus der Bewusstlosigkeit zu holen, zusammen …
Ich wachte auf dem Betonboden auf und hatte keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war.
Nachdem ich mich gähnend aufgesetzt hatte, erhob ich mich.
Luther war noch immer bewusstlos.
Ich stand da und sah auf das herab, was ich ihm angetan hatte, während ich versuchte, etwas zu fühlen.
Einen Moment lang fragte ich mich, ob er gestorben war, und daraufhin spürte ich einen Hauch von Traurigkeit darüber, dass ich ihn nie wieder würde schreien hören.
Diese intensive Empfindung war wie das Sonnenlicht.
Etwas, womit ich die Leere bekämpfen konnte.
Ich konnte mir vorstellen, das zu ersehnen.
Wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte ich ihn aufgeweckt.
Aber ich ließ ihn schlafen und wanderte durch das Lagerhaus, bis ich eine Stelle fand, die nach einem guten Schlafplatz aussah: der Rücksitz eines Minivans oder Station Wagons, der noch mit Plastik umwickelt war.
Ich legte mich auf die Polster und schloss die Augen.
Beim Einschlafen fragte ich mich, was aus mir geworden war.
Orson und ich sind wieder in seiner Hütte in der Wüste, nur dass dieses Mal alles anders ist. Wir sind eins. So eng miteinander verbunden, dass wir nicht einmal reden müssen. Jedes Wort und jede Emotion wird durch einen Gedanken ausgetauscht.
Wir gehen bei Sonnenuntergang durch die Wüste, und das einzige Geräusch ist das Knirschen unserer Stiefel auf dem Boden. Ich übernehme das Reden, er das Denken. Ich sage ihm, dass ich es endlich verstehe und dass es mir leidtut. Er hat alles, was er mit mir gemacht hat, nur aus Liebe getan. Das weiß ich jetzt. Er kannte mich, bevor ich mich selbst kannte. Er hat versucht, es mir zu zeigen, und ich habe mich widersetzt.
Endlich kommen wir oben auf der Anhöhe an, und die Wüste liegt vor uns. Wir können in jede Richtung achtzig Kilometer weit sehen.
Der Abend ist warm, und die Sonne, die nun langsam untergeht, scheint uns angenehm ins Gesicht.
Ich liebe dich, Bruder, sage ich, als ich mich zu ihm umdrehe, nur um festzustellen, dass ich alleine bin.
Plötzlich setze ich mich schweißgebadet und mit Tränen in den Augen auf dem Autositz auf. Mein Bein tut höllisch weh, und mir wird klar, dass ich von meinem Bruder geträumt habe. Seit diesem Sommer in der Wüste vor acht Jahren hat Orson häufig meine Träume heimgesucht, aber dies war das erste Mal, dass ich ihn vermisst habe.
Luther war wach. Ich konnte ihn auf der anderen Seite des Lagerhauses stöhnen hören.
Ich konnte kaum laufen, mein rechtes Bein war steif und heiß, und langsam bildete sich Schorf auf dem rohen Fleisch.
Ich humpelte zu Luther, der auf dem Folterstuhl zusammengesackt war, aber besser aussah, als ich erwartet hatte. Ich hatte ihm Schmerzen zugefügt, aber keine Knochen gebrochen und keine lebensbedrohlichen Stichwunden zugefügt. Meine größte Angst war, ihn für immer zu verlieren.
»Du wirst nie erraten, von wem ich geträumt habe«, sagte ich.
»Von wem denn?«
»Von Orson.«
Er schafft es, schwach zu lächeln.
»Ihm hätte das bestimmt gefallen.«
»Das stimmt«, erwiderte ich. »Und genau das macht mir Sorgen. Kannst du aufstehen?«
»Du hast mir noch nicht mal ernsthaft Schmerzen zugefügt.«
Ich ging zur Schalttafel, zog die unterste Schublade auf und nahm ein Spyderco-Harpy-Messer aus rostfreiem Stahl heraus, das eher wie eine Klaue als wie ein Messer aussah.
Luther, der auf dem Folterstuhl saß, sah mich verwirrt an, als ich seine Hand- und Fußfesseln durchschnitt.
»Was jetzt?«, wollte er wissen.
Ich ging in die Mitte des Lagerhauses.
Als ich stehen blieb und mich umdrehte, hatte er die letzte Fessel gelöst und zog seine Haut mit schmerzverzerrtem Gesicht gerade von den Elektroden ab, an denen sie festgeklebt war.
Endlich hatte er sich befreit und stand auf.
Nackt, groß, blass und bedeckt mit Schnittwunden, Verbrennungen und blauen Flecken.
Er sieht aus wie ein Monster.
»Was jetzt?«, fragte er noch einmal.
Ich steckte eine Hand in die Tasche und holte das Harpy raus, das ich schon früher aus der Schublade genommen hatte.
Jetzt hielt ich ein Messer in jeder Hand.
Ich schwang den rechten Arm nach hinten und schleuderte das Messer über den Beton, das schließlich vor Luthers Füßen liegen blieb.
»Ich kann kaum laufen«, sagte ich. »Und du siehst auch nicht gerade frisch aus.«
»Stimmt.«
»Ich würde sagen, wir sind ebenbürtige Gegner.«
»Ganz und gar nicht.« Er kniete sich hin, hob das Messer vom Boden auf und klappte es mit einer lässigen Handbewegung auf. »Ich mach dich fertig.«
»Na, dann los«, rief ich, klappte mein Messer ebenfalls auf und ging auf ihn zu. »Einer von uns muss sterben.«