KAPITEL 6

Die Spülmaschine war voll und lief, und Theresa, die über den Punkt der völligen Erschöpfung längst hinaus war, stand am Spülbecken und trocknete die letzte Servierplatte ab. Sie stellte sie in den Schrank, hängte das Geschirrtuch an die Kühlschranktür und machte das Licht aus.

Als sie durch das dunkle Wohnzimmer auf die Treppe zuging, fühlte sie etwas in sich, das viel schlimmer war als die emotionalen Überreste dieses langen Tages.

Eine alles umfassende Leere.

In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen, und in vielerlei Hinsicht wäre das der erste Morgen vom Rest ihres Lebens ohne ihn. Am vergangenen Tag hatte sie sich verabschiedet und versucht, so viel Frieden zu finden, wie es in einer Welt ohne Ethan geben konnte. Ihre Freunde hatten ihn betrauert und würden ihn zweifellos vermissen, aber sie würden weitermachen – was sie jetzt schon taten – und ihn irgendwann vergessen.

Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie vom nächsten Tag an alleine sein würde.

Mit ihrer Trauer.

Mit ihrer Liebe.

Mit ihrem Verlustgefühl.

Allein der Gedanke bewirkte, dass sie sich schon jetzt unendlich einsam fühlte, am Fuß der Treppe stehen blieb, die Hand auf das Geländer legte und tief Luft holte.

Das Klopfen erschreckte sie und ihr Herz begann zu rasen.

Theresa drehte sich um und starrte die Tür an, wobei sie schon glaubte, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben.

Es war 4:50 Uhr.

Wer könnte um diese Zeit …

Es klopfte erneut. Energischer als beim ersten Mal.

Sie ging mit nackten Füßen zur Tür und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch den Spion zu sehen.

Im Licht der Verandalampe stand ein Mann unter einem Regenschirm.

Er war klein. Komplett kahl. Sein Gesicht ein ausdrucksloser Schatten unter dem tropfenden Schirm. Er trug einen schwarzen Anzug, bei dessen Anblick sich etwas in ihrer Brust zusammenzog – ein Bundesagent mit Neuigkeiten über Ethan? Welchen anderen Grund konnte es geben, dass jemand zu dieser Uhrzeit an ihre Tür klopfte?

Aber die Krawatte passte nicht.

Sie war gelbblau gestreift und damit viel zu stilvoll und modern für einen Bundesagenten.

Durch den Spion beobachtete sie, wie der Mann die Hand hob und erneut klopfte.

»Mrs. Burke«, sagte er. »Ich weiß, dass ich Sie nicht aufwecke. Ich habe Sie vor wenigen Minuten noch in der Küche stehen sehen.«

»Was wollen Sie?«, fragte Sie durch die Tür.

»Ich muss mit Ihnen reden.«

»Worüber?«

»Über Ihren Mann.«

Sie schloss die Augen und machte sie dann wieder auf.

Der Mann war noch immer da und jetzt war sie hellwach.

»Was ist mit ihm?«, wollte sie wissen.

»Es wäre einfacher, wenn wir uns hinsetzen und das von Angesicht zu Angesicht besprechen könnten.«

»Es ist mitten in der Nacht und ich habe keine Ahnung, wer Sie sind. Ich lasse Sie auf keinen Fall in mein Haus.«

»Sie werden hören wollen, was ich zu sagen habe.«

»Sagen Sie es mir durch die Tür.«

»Das kann ich nicht.«

»Dann kommen Sie morgen früh wieder. Dann werde ich mit Ihnen reden.«

»Wenn ich gehe, werden Sie mich nie wiedersehen, Mrs. Burke. Und glauben Sie mir, das wäre eine Tragödie für Sie und für Ben. Ich schwöre Ihnen … Ich will Ihnen nicht schaden.«

»Verschwinden Sie von meinem Grundstück oder ich rufe die Polizei.«

Der Mann griff in seine Tasche und zog ein Polaroidfoto hervor.

Als er es vor den Spion hielt, spürte Theresa, wie etwas in ihr zerbrach.

Es war ein Foto von Ethan, der auf einem stählernen Operationstisch lag, nackt und von klinisch blauem Licht angestrahlt. Seine linke Gesichtshälfte sah eingefallen aus und sie konnte nicht erkennen, ob er am Leben oder tot war. Bevor sie überhaupt wusste, was sie tat, griff ihre Hand nach der Kette und schob den Bolzen zur Seite.

Als Theresa die Tür öffnete, klappte der Mann gerade seinen Regenschirm zusammen und lehnte ihn an die Wand. Hinter ihm prasselte der Regen zu Boden und das weiße Rauschen einer schlafenden Stadt war zu hören. Ein dunkler Mercedes Sprinter parkte ein Stück weit die Straße hinunter. Den hatte sie hier noch nie gesehen, und sie fragte sich, ob das sein Wagen war.

»David Pilcher«, stellte sich der Mann vor und reichte ihr die Hand.

»Was haben Sie ihm angetan?«, fragte Theresa und ignorierte seine Hand. »Ist er tot?«

»Darf ich reinkommen?«

Sie machte einen Schritt nach hinten und Pilcher betrat das Haus. Auf seinen schwarzen Budapestern glänzten Regentropfen.

»Ich kann sie ausziehen«, meinte er und deutete auf seine Schuhe.

»Das müssen Sie nicht.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie sich einander gegenüber hinsetzten, Theresa auf die Couch und Pilcher auf einen Holzstuhl, der sonst am Esstisch stand.

»Haben Sie hier heute Abend gefeiert?«, erkundigte er sich.

»Wir haben das Leben meines Mannes gefeiert.«

»Klingt nett.«

Auf einmal überkam sie eine gewaltige Müdigkeit und sie konnte das Licht der Deckenlampe kaum noch ertragen.

»Warum haben Sie ein Foto meines Mannes, Mr. Pilcher?«

»Das ist unwichtig.«

»Für mich nicht.«

»Was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Mann noch am Leben ist?«

Zehn Sekunden lang bekam Theresa keine Luft mehr.

Da war das Geräusch der Spülmaschine, des Regens, der auf das Dach prasselte, ihres pochenden Herzens und sonst nichts.

»Wer sind Sie?«, fragte sie.

»Das ist unwichtig.«

»Wie soll ich Ihnen dann vertauen …«

Er hob eine Hand und die Falten um seine Augen wurden intensiver. »Hören Sie mir am besten einfach zu.«

»Sind Sie von der Regierung?«

»Nein, aber es ist wirklich unwichtig, wer ich bin. Wichtig ist, was ich Ihnen anzubieten habe.«

»Ethan ist am Leben?«

»Ja.«

Es schnürte ihr die Kehle zu, aber sie riss sich zusammen.

»Wo ist er?« Sie brachte nur noch ein Flüstern heraus.

Pilcher schüttelte den Kopf. »Ich könnte hier sitzen und Ihnen alles sagen, aber Sie würden es mir nicht glauben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Erfahrung.«

»Sie werden mir nicht sagen, wo mein Mann ist?«

»Nein, und wenn Sie das noch einmal fragen, stehe ich auf, gehe durch die Tür und Sie werden mich nie wiedersehen, was bedeutet, dass Sie auch Ethan nie wiedersehen werden.«

»Ist er verletzt?« In ihrem Inneren machten sich alle möglichen Gefühle breit und drohten, sie zu erdrücken.

»Es geht ihm gut.«

»Wollen Sie Geld? Ich kann …«

»Ethan muss nicht freigekauft werden. Das hier hat nichts mit Geld zu tun, Theresa.« Pilcher rutschte nach vorn, sodass er jetzt nur noch auf der Stuhlkante saß, und starrte sie mit seinen durchdringenden schwarzen Augen an, deren Intensität seine große Intelligenz anzudeuten schien. »Ich mache Ihnen und Ihrem Sohn ein einmaliges Angebot.«

Er griff in die Innentasche seines Mantels und holte vorsichtig zwei eineinhalb Zentimeter hohe Glasphiolen heraus, die er auf den Wohnzimmertisch stellte. Sie waren mit winzigen Korken verschlossen.

»Was ist das?«, wollte Theresa wissen.

»Eine Wiedervereinigung.«

»Eine Wiedervereinigung?«

»Mit Ihrem Mann.«

»Das ist ein Witz …«

»Nein, ist es nicht.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist alles, was ich Ihnen verraten kann.«

»Nur dass er mir gar nichts sagt. Und was genau erwarten Sie von mir? Dass ich das trinke und abwarte, was passiert?«

»Sie können sich natürlich weigern, Theresa.«

»Was ist da drin?«

»Ein schnell wirkendes, starkes Betäubungsmittel.«

»Und wenn ich aufwache, bin ich auf magische Weise wieder mit Ethan vereint?«

»Es ist schon etwas komplizierter, aber im Grunde genommen haben Sie recht.«

Pilcher drehte den Kopf und sah durch das Fenster nach draußen, um den Blick dann wieder auf Theresa zu richten.

»Es wird bald hell«, sagte er. »Ich brauche Ihre Antwort.«

Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.

»Ich bin nicht in der Verfassung, eine solche Entscheidung zu treffen.«

»Aber Sie müssen es tun.«

Theresa stand langsam auf.

»Das könnte Gift sein«, meinte sie und deutete auf den Tisch.

»Warum sollte ich Ihnen schaden wollen?«

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht wurde Ethan in irgendwas reingezogen.«

»Wenn ich Sie umbringen wollte, Theresa …« Er hielt inne. »Sie wirken auf mich wie jemand mit einer guten Menschenkenntnis. Was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl? Dass ich lüge?«

Sie ging zum Kaminsims und studierte das Familienporträt vom letzten Jahr: Ethan und Ben in weißen Poloshirts, Theresa im weißen Sommerkleid. Ihre Haut war dank Photoshop makellos und ihre Gesichter waren im Studiolicht deutlich zu erkennen. Damals hatten sie sich darüber amüsiert, wie kitschig und gestellt das Foto wirkte, aber jetzt, als sie hier frühmorgens in ihrem ruhigen Wohnzimmer stand, bot es ihr die Möglichkeit, ihn noch einmal zu sehen. Sie betrachtete das Foto und hatte einen Kloß im Hals.

»Was Sie tun«, begann sie, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden, »wenn es gelogen ist … dann ist es unglaublich grausam. Einer trauernden Witwe die Gelegenheit zu geben, ihren Mann noch einmal zu sehen.«

Sie sah Pilcher an.

»Ist es möglich?«, fragte sie.

»Ja.«

»Ich würde Ihnen gern glauben«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Ich würde es so gern tun.«

»Mir ist bewusst, dass es ein Vertrauensvorschuss ist«, entgegnete er.

»Ausgerechnet heute Nacht kommen Sie her«, meinte sie. »Wenn ich müde und betrunken bin und nur noch an ihn denken kann. Das kann doch kein Zufall sein.«

Pilcher streckte die Hand aus und hob eine der Phiolen hoch.

Er hielt sie in die Luft.

Sie sah ihn an.

Holte tief Luft und stieß sie wieder aus.

Dann ging sie langsam durch das Wohnzimmer zur Treppe.

»Wo gehen Sie hin?«, erkundigte sich Pilcher.

»Meinen Sohn holen.«

»Dann wollen Sie es tun? Sie kommen mit mir?«

Sie blieb am Fuß der Treppe stehen und drehte sich zu ihm um. »Wenn ich das tue, bekommen wir dann unser altes Leben zurück?«

»Was meinen Sie mit ›altes Leben‹? Dieses Haus? Diese Stadt? Ihre Freunde?«

Theresa nickte.

»Wenn Sie und Ben mit mir kommen, wird nichts mehr so sein wie früher. Sie werden dieses Haus nicht wiedersehen. Also muss ich Ihre Frage wohl mit Nein beantworten.«

»Aber ich werde bei Ethan sein. Unsere Familie wird zusammen sein.«

»Ja.«

Sie ging die Treppe hoch, um ihren Sohn zu wecken. Vielleicht lag es an der Erschöpfung oder an all den Emotionen, aber es kam ihr surreal vor. Als würde die Luft vor Spannung knistern. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf schrie sie an, dass sie sich töricht verhielt. Dass niemand mit gesundem Menschenverstand einen solchen Vorschlag überhaupt in Betracht ziehen würde. Aber als sie oben ankam und durch den Flur zu Bens Zimmer ging, war ihr bewusst, dass sie nicht mehr klar denken konnte, dass Logik und Vernunft keine Rolle mehr spielten. Sie war verletzt und einsam, und vor allem vermisste sie ihren Mann so sehr, dass sogar die ungewisse Möglichkeit eines Lebens mit ihm, mit ihrer wieder vereinten Familie, es wert war, alles andere dafür aufzugeben.

Theresa setzte sich auf Bens Bett und schüttelte ihn an der Schulter.

Der Junge regte sich.

Er gähnte und rieb sich die Augen. Sie half ihm, sich aufzusetzen.

»Es ist ja noch dunkel«, sagte er.

»Ich weiß. Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Wirklich?«

»Unten ist ein Mann. Sein Name ist Mr. Pilcher. Er wird uns zu Daddy bringen.«

Sie konnte sehen, wie Bens Gesicht im sanften Licht des Nachtlichts neben dem Bett zu strahlen begann.

Ihre Worte hatten ihn wie ein Sonnenstrahl getroffen. Er wurde rasch wach und seine Augen glitzerten aufmerksam.

»Daddy ist am Leben?«, fragte er.

Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich daran glaubte.

Wie hatte Pilcher es genannt?

Einen Vertrauensvorschuss.

»Ja. Daddy ist am Leben. Komm schon. Du musst dir was anziehen.«

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Theresa und Ben saßen Pilcher gegenüber.

Der Mann lächelte den Jungen an, streckte die Hand aus und sagte: »Mein Name ist David. Und du bist?«

»Ben.«

Sie gaben sich die Hand.

»Wie alt bist du, Ben?«

»Sieben.«

»Oh, sehr gut. Hat dir deine Mutter erklärt, warum ich hier bin?«

»Sie hat gesagt, Sie würden uns zu meinem Daddy bringen.«

»Das ist richtig.« Pilcher hob die winzigen Glasphiolen auf und reichte sie Theresa. »Es ist Zeit«, meinte er. »Ziehen Sie den Korken raus. Sie haben nichts zu befürchten, keiner von Ihnen. Die Wirkung setzt etwa fünfundvierzig Sekunden nach dem Trinken ein. Sie kommt plötzlich, ist aber nicht unangenehm. Geben Sie Ben die Phiole mit der geringeren Dosis und nehmen Sie dann Ihre.«

Sie zog den Korken mit den Fingernägeln raus und öffnete beide Phiolen.

Der kräftige Geruch einer fremden Chemikalie stieg ihr in die Nase.

Als sie ihn roch, wurde alles auf einmal real und riss sie aus ihrer Erstarrung, die sie die letzten Stunden beherrscht hatte.

»Warten Sie«, sagte sie.

»Was ist los?«, erkundigte sich Pilcher.

Was zum Teufel dachte sie sich dabei? Ethan würde sie umbringen. Wenn es nur um sie ging, war das schon schlimm genug, aber in welche Gefahr brachte sie ihren Sohn?

»Was ist los, Mama?«

»Wir werden das nicht tun«, erklärte sie, verschloss die Phiolen wieder und stellte sie auf den Tisch.

Pilcher starrte sie über den Tisch hinweg an. »Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja. Ich … Ich … Ich kann es einfach nicht.«

»Verstehe.« Pilcher steckte die Phiolen wieder ein.

Als er aufstand, sah Theresa in Bens Augen Tränen schimmern. »Geh wieder ins Bett.«

»Aber ich möchte Daddy sehen.«

»Wir reden später darüber. Geh jetzt nach oben.« Theresa drehte sich wieder zu Pilcher um. »Es tut mir leid …«

Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.

Pilcher drückte sich eine durchsichtige Sauerstoffmaske vors Gesicht, deren dünner Luftschlauch unter seiner Jacke verschwand. In der anderen Hand hielt er eine kleine Spraydose.

»Nein, bitte …«, setzte sie an.

Ein feiner Nebel drang aus der Düse.

Theresa versuchte, die Luft anzuhalten, aber sie konnte den Geschmack schon auf der Zungenspitze spüren: flüssiges Metall vermischt mit etwas Süßem. Der Nebel klebte an ihrer Haut. Sie merkte, dass sie ihn durch die Poren aufnahm. Er war in ihrem Mund, viel kälter als die Zimmertemperatur, glitt ihr wie flüssiger Stickstoff die Luftröhre hinunter.

Sie legte die Arme um Ben und versuchte, stehen zu bleiben, aber auf einmal hatte sie keine Beine mehr.

Die Spülmaschine war stehen geblieben und außer dem Regen, der auf das Dach prasselte, war im Haus kein Geräusch zu hören.

»Sie werden einen weitaus wichtigeren Zweck erfüllen, als Sie es sich überhaupt vorstellen können«, sagte Pilcher.

Theresa wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber ihr Mund schien sich nicht bewegen zu wollen.

Sämtliche Farben um sie herum verblassten, alles schien sich in verschiedene Grauschattierungen aufzulösen und ihre Augenlider wurden immer schwerer.

Bens Körper war bereits erschlafft, sein Oberkörper lag auf ihrem Schoß und sie sah zu Pilcher hinauf, der sie jetzt durch die Sauerstoffmaske anstarrte und langsam zusammen mit allem anderen in der Dunkelheit verschwand.

Pilcher zog ein Walkie-Talkie aus der Manteltasche und sprach hinein.

»Arnold, Pam, ich bin jetzt bereit für euch.«