KAPITEL 3

Zwei Männer, beide groß gewachsen, gingen nebeneinander über die Wälle von Cadiz. Die Verteidigungsanlagen waren riesig und schützten die Stadt nicht nur vor Feinden, sondern auch vor dem Meer. Die Bastion an der Bucht war breit, so breit sogar, dass drei Kutschen nebeneinander darauf fahren konnten. Die Menschen gingen gern auf dieser Bastion spazieren und genossen die frische Luft, doch niemand störte die beiden Männer. Drei Diener des größeren Mannes gingen voraus, um eine Gasse freizumachen, drei weitere flankierten die beiden, und noch einmal drei bildeten die Nachhut, um zu verhindern, dass irgendjemand ihren Herrn störte.

Der größere Mann – und er war wirklich groß – trug die Uniform eines spanischen Admirals: weiße Seidenstrümpfe, eine rote Kniebundhose, eine rote Schärpe und ein dunkelblauer Schwalbenschwanz mit reich verziertem rotem Kragen und goldener Spitze. Sein Degen steckte in einer Scheide aus schwarzer Fischhaut und hatte ein Heft aus Gold. Sein Gesicht war abgehärmt, aber auch arrogant. Es war ein Gesicht, das von Schmerz und Enttäuschung geprägt war. Dem Admiral fehlte der linke Unterschenkel. Stattdessen hatte er eine Prothese aus Ebenholz, und ein Stock mit goldenem Knauf half ihm beim Gehen.

Sein Begleiter war Padre Salvador Montseny. Der Priester trug eine Soutane und ein silbernes Kruzifix auf der Brust. Nach der Schlacht von Trafalgar war der Admiral mit Montseny in englischer Gefangenschaft gewesen, und manchmal, wenn sie nicht wollten, dass andere sie verstanden, sprachen sie Englisch miteinander. Heute jedoch nicht. »Dann hat das Mädchen Ihnen also gebeichtet, ja?«, fragte der Admiral amüsiert.

»Sie beichtet einmal im Jahr«, erklärte Montseny, »am Feiertag ihrer Namenspatronin, am 13. Januar.«

»Sie heißt Veronica?«

»Caterina Veronica Blazquez«, sagte Montseny, »und Gott hat sie zu mir geführt. An jenem Tag nahmen noch sieben andere Priester in der Kathedrale die Beichte ab, doch sie kam zu mir.«

»Und jetzt haben Sie also ihren Zuhälter umgebracht und dann den Engländer und seine Diener. Ich vertraue darauf, dass Gott Ihnen das vergeben wird, Padre.«

Montseny hatte keinerlei Zweifel, was das betraf. »Was Gott will, Exzellenz, ist ein heiliges und mächtiges Spanien. Er will, dass unsere Flagge in ganz Südamerika weht. Er will einen katholischen König in Madrid, und er will, dass seine Herrlichkeit sich in unserem Volk widerspiegelt. Ich tue Gottes Werk.«

»Und Sie genießen das?«

»Ja.«

»Gut«, sagte der Admiral und blieb dann kurz neben einer Kanone stehen, die auf die Bucht gerichtet war. »Ich brauche mehr Geld.«

»Und das werden Sie auch bekommen, Exzellenz.«

»Geld …« Der Admiral spie das Wort förmlich aus. Er war der Marqués de Cardenas und als solcher mit Geld geboren, und Zeit seines Lebens hatte er noch mehr davon gemacht, doch Geld konnte man nie genug haben. Er klopfte mit der Stockspitze auf die Kanone. »Ich brauche Geld für Bestechungen«, erklärte er mürrisch, »denn diese Männer haben keinen Mut. Sie sind Advokaten, Padre, Advokaten und Politiker. Sie sind Abschaum.« Der Abschaum, von dem der Admiral sprach, waren die Abgeordneten der Cortes, der spanischen Ständeversammlung, die nun in Cadiz zusammengekommen war, um eine neue Verfassung für Spanien zu entwerfen. Einige von ihnen, die Liberales, wollten, dass Spanien von der Cortes regiert wurde. In ihrem Spanien sollten die Bürger selbst über ihr Schicksal bestimmen können. Diese Männer sprachen von Freiheit und Demokratie, und der Admiral hasste sie. Er wollte ein Spanien, wie es früher gewesen war, ein Spanien, das von einem König und der Kirche geführt wurde, ein Spanien zum Ruhme Gottes. Er wollte ein Spanien, das frei war von Fremden, ein Spanien ohne Franzosen und ohne Briten, und um das zu bekommen, musste er Abgeordnete der Cortes bestechen und dem französischen Kaiser ein Angebot unterbreiten. Verlasst Spanien, würde es in dem Angebot heißen, und wir werden euch in Portugal gegen die Briten helfen. Der Admiral wusste, dass die Franzosen dieses Angebot annehmen würden, denn Napoleon war verzweifelt. In den Augen der Welt sah es so aus, als hätten die Franzosen gewonnen. Sie hatten Madrid besetzt und Sevilla eingenommen, sodass sich die spanische Regierung nur noch an die Landspitze von Cadiz klammern konnte. Doch um Spanien zu halten, mussten Hunderttausende von Franzosen in Festungen stationiert werden, und wann immer diese Männer die schützenden Mauern verließen, wurden sie von Guerilleros angegriffen. Wenn es Napoleon gelang, mit einer ihm freundlich gesinnten spanischen Regierung Frieden zu schließen, dann konnte er diese Garnisonen anderswo einsetzen.

»Wie viel Geld brauchen Sie?«, fragte Montseny.

»Mit tausend Guineas«, antwortete der Admiral, »kann ich die Cortes kaufen.« Er beobachtete, wie eine britische Fregatte die lange Mole hinunterfuhr, die den Hafen von Cadiz vor dem offenen Atlantik schützte. Angewidert sah er die große Flagge am Heck des Schiffes. Er hatte gesehen, wie Nelsons Schiffe am Kap von Trafalgar auf ihn zu gesegelt waren, er hatte den Pulverdampf eingeatmet, und er hatte das Schreien der sterbenden Männer an Bord seines Schiffes gehört. Eine Kartätschenkugel hatte ihm das linke Bein zertrümmert und ihn niedergestreckt, dennoch war der Admiral auf dem Achterdeck geblieben, als ein wilder Haufen kreischender Briten, hässlich wie Affen, über sein Deck geströmt war, und er hatte geweint, als die spanische Flagge eingeholt und die britische gehisst worden war. Er hatte seinen Degen abgegeben, dann hatte man ihn nach England gebracht, und nun war er nur noch ein humpelnder Admiral eines zerstörten Landes, das keine Kriegsflotte mehr besaß. Er hasste die Briten. »Aber die Engländer«, sagte er und schaute weiter der Fregatte hinterher, »werden niemals tausend Guineas für diese Briefe zahlen.«

»Ich denke, sie werden sogar noch viel mehr zahlen«, erwiderte Padre Salvador. »Wir müssen ihnen nur genug Angst machen.«

»Wie das?«

»Ich werde einen Brief veröffentlichen. Natürlich werde ich ihn vorher verändern. Und damit einhergehend werden wir drohen, sie alle zu veröffentlichen.« Padre Salvador hielt kurz inne, um dem Admiral Zeit zu geben, etwas dagegen einzuwenden, doch der Admiral schwieg. »Aber ich brauche einen Schreiber für die Änderungen«, fuhr Montseny fort.

»Einen Schreiber?«, hakte der Admiral in säuerlichem Tonfall nach. »Warum können Sie die Änderungen nicht selbst vornehmen?«

»Natürlich könnte ich das«, antwortete Montseny, »aber sobald der Inhalt verändert worden ist, werden die Engländer die Briefe zu Fälschungen erklären, und die Originale können wir ja niemandem zeigen, denn das würde beweisen, dass die Engländer recht haben. Also müssen wir Kopien anfertigen, und zwar auf Englisch und mit einer englischen Handschrift. Die werden wir dann als die Originale verkaufen. Ich brauche einen Mann, der perfekt Englisch schreiben kann. Mein Englisch ist zwar gut, aber nicht gut genug.« Nachdenklich spielte er an seinem Kruzifix herum. »Die neuen Briefe müssen nur die Cortes überzeugen – und die meisten Abgeordneten werden den Inhalt glauben wollen. Trotzdem müssen die Änderungen überzeugend sein. Die Grammatik, die Rechtschreibung – alles muss stimmen. Deshalb brauche ich einen Schreiber, der so etwas kann.«

Der Admiral winkte ab. »Ich kenne da jemanden. Eine furchtbare Kreatur. Er schreibt jedoch gut, und er hat eine Leidenschaft für englische Bücher. Er wird die Kopien anfertigen. Aber wie wollen Sie die Briefe veröffentlichen?«

»El Correo de Cádiz«, antwortete Montseny. Das war der Name einer der wichtigsten Zeitungen der Liberales. »Ich werde einen Brief abdrucken lassen und in dem begleitenden Kommentar erklären, dass die Engländer planen, Cadiz einzunehmen und in ein zweites Gibraltar zu verwandeln. Natürlich werden die Engländer das leugnen, aber für den Fall haben wir dann einen zweiten Brief mit einer gefälschten Unterschrift in der Hinterhand.«

»Sie werden mehr tun, als das nur zu leugnen«, erklärte der Admiral. »Sie werden die Junta davon überzeugen, die Zeitung zu schließen!« Die Junta Suprema Central war das Organ, das die Reste Spaniens mithilfe von britischem Gold regierte, und dementsprechend freundlich waren sie den Briten auch gesinnt. Mit einer neuen Verfassung würde jedoch auch eine neue Regierung kommen, eine Regierung, die dann vielleicht der Admiral führen würde.

»Die Junta kann gar nichts tun, wenn der Brief nicht unterschrieben ist«, warf Montseny ein. »Und angesichts des Verfassers werden die Engländer es nicht wagen, etwas zu unternehmen. Den Rest wird dann die Gerüchteküche für uns erledigen. Binnen eines Tages wird ganz Cadiz wissen, dass der britische Botschafter den Brief geschrieben hat.«

Die Briefe stammten tatsächlich vom britischen Botschafter in Spanien, und sie trieften nur so von süßlichen Liebeserklärungen. Ein Brief enthielt sogar einen Heiratsantrag, einen Heiratsantrag für ein Mädchen, das eine Hure mit Namen Caterina Veronica Blazquez war. Sicher, sie war eine teure Hure, aber eben auch nur eine Hure.

»Der Besitzer des Correo ist ein Mann namens Núñez, nicht wahr?«, sagte der Admiral.

»Ja.«

»Und der wird den Brief veröffentlichen?«

»Priester zu sein hat so seine Vorteile«, erklärte Montseny. »Das Beichtgeheimnis ist natürlich heilig, aber Gerüchte gibt es bekanntlich immer wieder. Ich weiß ein paar Dinge über Núñez, Exzellenz, die er mit Sicherheit nicht in der Öffentlichkeit sehen will. Also ja, er wird den Brief publizieren.«

»Nehmen wir einmal an, die Briten versuchen, die Pressen zu zerstören. Was dann?«, hakte der Admiral nach.

»Ja, das werden sie vermutlich«, erwiderte Montseny, »aber für eine kleine Summe kann ich das Gebäude in eine Festung verwandeln, und Eure Männer können bei seinem Schutz helfen. Dann sind die Briten gezwungen, die restlichen Briefe zu kaufen, und ich bin mir sicher, dass sie sehr großzügig sein werden, nachdem wir einen veröffentlicht haben.«

»Was machen sich manche Männer doch wegen eines Weibs zum Narren«, bemerkte der Admiral. Er holte eine lange schwarze Zigarre aus der Tasche und biss das Ende ab. Dann stand er einfach nur da und wartete, bis ein paar kleine Jungs die Zigarre sahen und herbeigerannt kamen. Jeder der Jungen hielt ein kurzes, dickes Hanfseil in der Hand, das an einem Ende glühte. Der Admiral winkte einem der Jungen, der das Seil daraufhin zweimal auf den Boden schlug, um das Feuer neu zu entfachen, damit der Admiral seine Zigarre anzünden konnte. Schließlich bedeutete der Admiral einem seiner Männer, dem Jungen eine Münze zu geben. Er beobachtete wieder die britische Fregatte, die nun fast die Felsen erreicht hatte, auf denen die Festung von San Felipe lag, und er betete, dass sie auf Grund laufen möge. Er wollte sehen, wie ihre Masten brachen, wenn der Kiel auf die Felsen krachte. Er wollte sehen, wie sie kenterte und sank, und er wollte sehen, wie die Seeleute schreiend in den Wellen untergingen, doch dann war das Schiff unbeschadet an der Gefahrenstelle vorbei.

»Es wäre das Beste«, sagte Montseny, »wenn wir das englische Gold hätten und die Briefe veröffentlichen würden.«

»Das wäre natürlich Verrat«, bemerkte der Admiral in sanft tadelndem Ton.

»Gott will, dass Spanien wieder in altem Glanz erstrahlt, Exzellenz«, erklärte Montseny mit Feuereifer. »Und Gottes Willen zu erfüllen kann kein Verrat sein.«

Plötzlich hallte ein Kanonenschuss über die Bucht. Die beiden Männer drehten sich um und sahen in der Ferne eine weiße Rauchwolke. Der Schuss stammte von einem der Mörser, die die Franzosen in ihren Forts auf der Halbinsel von Trocadero in Stellung gebracht hatten, und der Admiral hoffte, dass das Geschoss auf die britische Fregatte gezielt worden war. Stattdessen flog es jedoch auf das Stadtufer eine halbe Meile östlich von ihnen zu. Der Admiral wartete, bis das Geschoss explodiert war, dann zog er an seiner Zigarre. »Wenn wir die Briefe veröffentlichen«, sagte er, »dann wird die Cortes sich gegen die Briten wenden. Dafür werden die Bestechungsgelder sorgen, und dann können wir uns an die Franzosen wenden. Wären Sie bereit, zu ihnen zu gehen, Padre?«

»Mit Freuden, Exzellenz.«

»Natürlich werde ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben mitgeben.« Der Admiral hatte Paris seine Vorschläge bereits unterbreitet. Das war leicht gewesen. Er war bekannt für seinen Hass auf die Briten, und ein französischer Agent in Cadiz hatte mit ihm gesprochen. Die Antwort des Kaisers war simpel: Der Admiral musste nur die entsprechenden Stimmen in der Cortes besorgen, und der spanische König, gegenwärtig ein Gefangener in Frankreich, würde freigelassen und wieder nach Spanien gebracht werden. Dann würde Frankreich Frieden schließen, und Spanien wäre frei. Als Gegenleistung verlangten die Franzosen nur, Truppen über spanische Straßen schicken zu dürfen, um die Eroberung Portugals abzuschließen und Wellingtons Briten ins Meer zu treiben. Als Zeichen ihres guten Willens hatten die Franzosen Befehl gegeben, die Besitztümer des Admirals am Guadiana nicht zu plündern, und nun sollte der Admiral seinerseits ein Zeichen setzen und dafür sorgen, dass das Bündnis mit Großbritannien beendet wurde. »Im Sommer, Padre«, sagte er.

»Im Sommer?«

»Dann ist es getan. Dann werden wir unseren König wiederhaben und in Freiheit leben.«

»Unter Gott.«

»Unter Gott«, stimmte der Admiral ihm zu. »Treiben Sie das Geld auf, Padre, und lassen Sie die Briten wie Trottel dastehen.«

»Das ist Gottes Wille«, sagte Montseny, »und so wird es geschehen.«

Und die Briten würden zur Hölle fahren.

Alles war ja so leicht, nachdem die Kugel Sharpe niedergestreckt hatte.

Das Boot trieb den immer breiter werdenden Guadiana hinunter. Ein von Wolken verhangener Mond tauchte die Hügel in silbriges Licht und spiegelte sich auf dem Wasser, das in dem leichten Wind kleine Wellen schlug. Sharpe lag bewusstlos in der Bilge, den Kopf in blutige Verbände gehüllt, und der Brigadier saß am Heck, das Bein geschient und die Hände am Ruder, und er fragte sich, was er nun tun sollte. Als es schließlich wieder dämmerte, trieben sie zwischen den Hügeln hindurch, und nirgends war ein Haus zu sehen. Reiher stakten am Ufer umher. »Er braucht einen Arzt, Sir«, sagte Harper, und der Brigadier hörte den Schmerz in der Stimme des Iren. »Er stirbt, Sir.«

»Er atmet doch noch, oder?«, erwiderte der Brigadier.

»Ja, Sir«, antwortete Harper, »aber er braucht trotzdem einen Arzt, Sir.«

»Grundgütiger, Mann, ich kann doch keinen herbeizaubern! Und mitten in der Wildnis werden wir wohl keinen finden, oder?« Der Brigadier hatte Schmerzen, und deshalb klang die Aussage härter, als sie beabsichtigt war. Er sah einen Hauch von Feindseligkeit in Harpers Augen, und das machte ihm Angst. Sir Barnaby Moon betrachtete sich selbst als guten Offizier, aber es war ihm schon immer unangenehm gewesen, wenn er es mit einfachen Soldaten zu tun hatte. »Sobald wir eine Stadt erreichen«, sagte er in dem Versuch, den riesenhaften Sergeant zu beruhigen, »werden wir einen Arzt suchen.«

»Jawohl, Sir, danke, Sir.«

Und der Brigadier hoffte, dass die nächste Stadt nicht allzu weit entfernt war. Sie benötigten Proviant, und auch er brauchte einen Arzt, der sich sein verletztes Bein anschauen konnte, denn es pochte wie der Teufel. »Rudert!«, fauchte er die Männer an, doch sie waren wirklich schlecht. Die bemalten Riemen schlugen mit jedem Zug aneinander, und je kräftiger die Männer ruderten, desto langsamer schienen sie voranzukommen, und schließlich erkannte der Brigadier, dass sie gegen die hereinkommende Flut ankämpften. Zwar waren sie noch mehrere Meilen vom Meer entfernt, dennoch spürten sie die Flut, und nirgends war eine Stadt oder auch nur ein Dorf zu sehen.

»Euer Gnaden!«, rief Sergeant Noolan vom Bug. An einer Biegung des breiten Flusses war ein Boot erschienen. Es war ein Ruderboot, ungefähr genauso groß wie Moons, und es war vollgepackt mit Männern, die offenbar mit den Riemen umzugehen wussten, während andere mit Musketen bewaffnet waren.

Moon steuerte auf das portugiesische Ufer zu.

»Rudert!«, brüllte er und fluchte, als sich die Riemen wieder verfingen. »Grundgütiger!«, fluchte er, denn das fremde Boot kam rasch näher. Es wurde gekonnt gerudert und fuhr mit der Flut, und Brigadier Moon fluchte ein zweites Mal. Doch dann stand im Bug des fremden Bootes jemand auf und rief etwas.

Der Ruf war auf Englisch. Der Offizier, der das fremde Boot befehligte, trug Navy-Blau und patrouillierte mit seiner Schaluppe in der Mündung des Guadiana. Das war ihre Rettung.

Sharpe wurde auf die Schaluppe gewuchtet. Alle bekamen etwas zu essen, und schließlich brachte man sie aufs Meer hinaus und zur HMS Thornside, einer Fregatte mit sechsunddreißig Geschützen. Sharpe bekam jedoch nichts davon mit. Er kannte nur Schmerz.

Schmerz und Dunkelheit und ein Knarren, sodass Sharpe träumte, er sei wieder auf der HMS Pucelle und auf der endlosen Fahrt über den Indischen Ozean, zusammen mit Lady Grace, und im Delirium war er wieder glücklich. Doch immer wieder wachte er halb auf, und dann wusste er wieder, dass Lady Grace tot war, und er hätte am liebsten geweint. Das Knarren verstummte jedoch nicht. Die Welt schaukelte, und da waren Schmerz und Dunkelheit und ein plötzlicher greller Blitz, dann wieder Dunkelheit.

»Ich glaube, er hat geblinzelt«, sagte eine Stimme.

Sharpe öffnete die Augen, und er hatte das Gefühl, als hätte er glühende Kohlen im Kopf. »Heiliger Herr Jesus«, zischte er.

»Nein, ich bin es nur, Sir. Patrick Harper, Sir.« Der Sergeant ragte über ihm auf. Über sich sah Sharpe eine Holzdecke, und Sonnenlicht fiel durch ein kleines Gitter. Er schloss die Augen wieder. »Sind Sie noch da, Sir?«, fragte Harper.

»Wo bin ich?«

»Auf der HMS Thornside, Sir. Das ist eine Fregatte, Sir.«

»Heiliger Herr Jesus«, stöhnte Sharpe erneut.

»Ja, der hat in den letzten anderthalb Tagen auch so manches Gebet gehört, ja, das hat er.«

»Hier«, sagte eine andere Stimme, und eine Hand griff Sharpe unter die Schulter, um ihn hochzuheben. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf, und er schnappte unwillkürlich nach Luft. »Trinken Sie das«, sagte die Stimme.

Die Flüssigkeit schmeckte bitter, und Sharpe wäre fast daran erstickt, doch was auch immer es war, es ließ ihn wieder einschlafen und träumen, und als er wieder aufwachte, war es bereits Nacht, und eine Laterne draußen im Gang vor der winzigen Kabine schwang mit der Bewegung des Schiffes, sodass die Schatten über Decke und Wände tanzten und Sharpe ganz benommen machten.

Sharpe schlief wieder ein. Halb war er sich der Schiffsgeräusche bewusst, der Schritte der nackten Füße auf dem Deck oben, des Knarrens von tausend Planken, dem Rauschen des Wassers und dazwischen dem Läuten einer Glocke. Kurz nach Sonnenaufgang wachte er wieder auf und stellte fest, dass sein Kopf in einen dicken Verband gehüllt war. Er hatte noch immer Schmerzen im Schädel, doch sie waren bei Weitem nicht mehr so stark. Sharpe schwang die Füße aus der Koje, und sofort wurde ihm schwindlig. Er saß auf dem Rand der Koje und hielt den Kopf in den Händen. Am liebsten hätte er sich übergeben, doch außer Galle hatte er nichts mehr im Bauch. Seine Stiefel standen auf dem Boden, während seine Uniform, sein Gewehr und sein Säbel an einem hölzernen Haken neben der Tür hingen. Er schloss die Augen. Er erinnerte sich daran, wie Colonel Vandal geschossen hatte, und an Jack Bullen – der arme Jack Bullen …

Die Tür wurde geöffnet. »Was zum Teufel machen Sie da?«, verlangte Harper fröhlich zu wissen.

»Ich will auf Deck.«

»Der Arzt sagt, Sie müssen sich ausruhen.«

Sharpe erklärte Harper, wo der Arzt sich das hinstecken könne. »Hilf mir, mich anzuziehen«, sagte er. Er kümmerte sich nicht um Stiefel und Säbel, sondern zog sich einfach seine französische Kavalleriehose und seinen zerschlissenen grünen Rock über. Dann hielt er sich an Harpers starkem Arm fest, und gemeinsam verließen sie die Kabine. Der Sergeant schleppte Sharpe eine steile Leiter zum Deck der Fregatte hinauf, wo Sharpe sich an die Reling klammerte.

Der kräftige frische Wind fühlte sich gut an. Sharpe sah, dass die Fregatte gerade an einer flachen, farblosen Küste voller Wachtürme vorbeifuhr. »Ich werde Ihnen einen Stuhl besorgen, Sir«, sagte Harper.

»Ich brauche keinen Stuhl«, erklärte Sharpe. »Wo sind die Männer?«

»Wir haben es uns vorne gemütlich gemacht, Sir.«

»Sie sind unangemessen gekleidet, Sharpe«, unterbrach sie eine Stimme. Sharpe drehte sich um und sah Brigadier Moon neben dem Steuerrad der Fregatte thronen. Er saß auf einem Stuhl und hatte das geschiente Bein auf eine Kanone gelegt. »Sie haben keine Stiefel an«, bemerkte der Brigadier.

»Auf Deck läuft man besser barfuß«, mischte sich eine weitere Stimme fröhlich ein. »Aber was machen Sie überhaupt hier? Ich habe doch Befehl gegeben, dass Sie unten bleiben sollen.« Ein untersetzter, gut gelaunter Mann in Zivil lächelte Sharpe an. »Mein Name ist Jethro McCann. Ich bin der Arzt auf diesem Kahn«, stellte er sich vor und hob die Faust. »Wie viele Finger sehen Sie?«

»Keinen.«

»Und jetzt?«

»Zwei.«

»Der Sweeps kann lesen«, sagte McCann. »Ich bin beeindruckt.«

»Sweeps« war der Spitzname für die Riflemen. Sie hatten ihn ihren dunkelgrünen Uniformen zu verdanken, die oft so schwarz aussahen wie die Kleidung eines »Chimneysweeps«, eines Schornsteinfegers.

»Können Sie gehen?«, fragte McCann. Sharpe schaffte ein paar Schritte, bevor der Wind die Fregatte schwanken ließ und er wieder gegen die Reling fiel. »Das war schon mal nicht schlecht«, sagte McCann. »Haben Sie Schmerzen?«

»Ich fühle mich schon besser«, log Sharpe.

»Sie haben verdammtes Glück gehabt, Mister Sharpe, verteufeltes Glück sogar – bitte, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Sie sind von einer Musketenkugel getroffen worden. Es war nur ein Streifschuss – deshalb sind Sie noch hier –, aber das Geschoss hat ein Stück ihres Schädels eingedrückt. Ich habe das Stück herausgefischt und wieder eingesetzt.« McCann grinste stolz.

»Es herausgefischt?«, fragte Sharpe.

»Oh, das ist nicht schwer«, erklärte der Arzt gut gelaunt, »nicht schwerer jedenfalls als das Schäften eines Splitters.« In Wahrheit war es furchtbar schwer gewesen. Es hatte den Arzt über anderthalb Stunden Arbeit in schlechtem Laternenlicht gekostet, bis er den Knochensplitter mit der Pinzette gepackt hatte. Seine Finger waren vor lauter Blut und Schleim immer wieder abgerutscht, und er hatte schon geglaubt, er würde den Splitter nie herausbekommen, ohne das Gehirn zu verletzen. Doch zu guter Letzt war es ihm dann doch gelungen, das Knochenstück wieder an seinen richtigen Platz zu setzen. »Und hier sind Sie nun«, fuhr McCann fort, »frisch und munter wie ein Fisch im Wasser. Und die gute Nachricht ist, dass sie tatsächlich noch ein Hirn haben.« Er sah Sharpes Verwirrung und er nickte eifrig. »Doch, doch, das haben Sie! Ehrlich! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Jetzt kann ich auch die hartnäckige Behauptung der Navy widerlegen, Landratten hätten nichts im Kopf. Ich werde einen entsprechenden Artikel für den Review schreiben. Ich werde berühmt! Gehirn bei einem Soldaten entdeckt!«

Sharpe versuchte sich an einem Lächeln, um so zu tun, als wäre er amüsiert, doch außer einer Grimasse brachte er nichts zustande. Er berührte den Verband. »Wird der Schmerz auch wieder weggehen?«

»Wir wissen so gut wie nichts über Kopfverletzungen«, antwortete McCann, »außer dass sie stark bluten, doch meiner professionellen Meinung nach, Mister Sharpe, werden Sie irgendwann entweder tot umfallen oder wieder genauso gesund sein wie zuvor.«

»Das nenne ich mal einen Trost«, sagte Sharpe. Er setzte sich auf eine Kanone und schaute zu dem fernen Land unter den hoch hängenden Wolken hinaus. »Wann werden wir Lissabon erreichen?«

»Lissabon? Wir segeln nach Cadiz!«

»Cadiz?«

»Das ist unser Zielhafen«, bestätigte McCann. »Aber Sie werden dort schon schnell genug ein Boot nach Lissabon finden. Ah! Kapitän Pullifer ist an Deck. Nehmen Sie Haltung an.«

Der Kapitän war ein dünner Mann mit schmalem Gesicht und mürrischem Blick. Er ähnelte stark einer Vogelscheuche, und er war – wie Sharpe bemerkte – barfuß. Tatsächlich hätte Sharpe Pullifer für einen einfachen Seemann gehalten, wäre da nicht sein Mantel mit den mit Salz verkrusteten Tressen gewesen. Der Kapitän sprach kurz mit dem Brigadier, dann schlenderte er übers Deck und stellte sich Sharpe vor. »Ich freue mich, dass Sie wieder auf den Beinen sind«, sagte er in ernstem Ton und mit starkem Devon-Akzent.

»Ich ebenfalls, Sir.«

»Wir werden Sie bald in Cadiz haben, dann kann sich ein echter Arzt mal Ihren Kopf ansehen. McCann, wenn Sie meinen Kaffee klauen wollen, er steht auf dem Tisch in der Kabine.«

»Aye, aye, Sir«, sagte der Arzt. Die Beleidigung des Kapitäns schien McCann zu amüsieren, was hieß, dass Pullifer wohl doch nicht so grimmig war, wie es nach außen hin den Anschein hatte. »Können Sie gehen, Sharpe?«, erkundigte sich Pullifer in rauem Ton.

»Es scheint mir recht gut zu gehen, Sir«, antwortete Sharpe, und Pullifer gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er mit ihm ein Stück zum Heck gehen sollte. Moon schaute Sharpe hinterher, als der an ihm vorüberging.

»Ich habe gestern Abend mit Ihrem Brigadier gegessen«, sagte Pullifer, als er mit Sharpe unter dem großen Besansegel alleine war. »Und heute Morgen habe ich mit Ihrem Sergeant gesprochen«, fuhr Pullifer fort. »Es ist schon seltsam, wie sehr sich Geschichten voneinander unterscheiden können, nicht wahr?«

»Sich unterscheiden, Sir?«

Pullifer, der bis jetzt ins Kielwasser der Thornside gestarrt hatte, drehte sich zu Sharpe um. »Moon sagt, das sei alles Ihre Schuld gewesen.«

»Er sagt was?« Sharpe glaubte, falsch gehört zu haben. In seinem Kopf pulsierte der Schmerz. Er versuchte, die Augen zu schließen, doch das half auch nicht, also machte er sie wieder auf.

»Er sagt, Sie hätten den Befehl gehabt, eine Brücke in die Luft zu jagen, aber Sie hätten das Pulver unter dem Gepäck von Frauen versteckt, was gegen die Kriegsregeln verstößt, und dann hätten Sie sich auch noch über Gebühr Zeit gelassen. Die Franzosen hätten das dann ausgenutzt, und schließlich sei sein Pferd erschossen worden, er hat sich das Bein gebrochen, und seinen Degen hat er auch nicht mehr. Und der Degen war einer von Bennetts besten hat er gesagt.«

Sharpe schwieg. Er starrte nur zu einem weißen Vogel empor, der über den Wellen kreiste.

»Sie haben die Kriegsregeln gebrochen«, sagte Pullifer säuerlich, »aber soweit ich weiß, gibt es in einem verdammten Krieg nur eine Regel: gewinnen. Sie haben die Brücke doch zerstört, oder?«

»Jawohl, Sir.«

»Aber Sie haben auch einen von Bennetts besten Degen verloren.« Pullifer klang amüsiert. »Also hat Ihr Brigadier mich heute Morgen um Feder und Papier gebeten und einen Bericht an Lord Wellington verfasst. Darin wird er Gift und Galle spucken, was Sie betrifft. Wundert es Sie nicht, warum ich Ihnen das erzähle?«

»Ich bin froh, dass Sie das tun«, erwiderte Sharpe.

»Ich erzähle Ihnen das, weil Sie wie ich sind, Sharpe. Sie sind durch die Klüse nach oben gekommen. Mich hat man ursprünglich zum Dienst gepresst. Ich war fünfzehn und habe acht Jahre lang vor Dawlish Makrelen gefangen. Das war vor dreißig Jahren. Ich konnte weder lesen noch schreiben oder einen Sextanten von einem Arschloch unterscheiden, doch jetzt bin ich Kapitän.«

»Durch die Klüse«, sagte Sharpe. Ihm gefiel der Navy-Ausdruck für einen Mann, der vom einfachen Soldaten zum Offizier aufgestiegen war. »Aber sie lassen einen das nie vergessen, stimmt’s?«

»In der Navy ist es nicht ganz so schlimm«, knurrte Pullifer. »Hier schätzt man seemännisches Können mehr als eine hohe Geburt. Aber in dreißig Jahren auf See lernt man das eine oder andere über die Menschen, und ich habe so eine Ahnung, dass Ihr Sergeant die Wahrheit sagen könnte.«

»Da können Sie Gift drauf nehmen«, erklärte Sharpe erregt.

»Ich will Sie einfach nur warnen, das ist alles. An Ihrer Stelle würde ich einen eigenen Bericht verfassen und das Wasser ein wenig trüben.« Pullifer schaute zu den Segeln hinauf, fand nichts zu kritisieren und zuckte mit den Schultern. »Wir müssen mit Mörserfeuer rechnen, wenn wir in Cadiz einfahren, aber bis jetzt haben sie uns noch nicht getroffen.«

Am Nachmittag flaute der Westwind ab, und die Thornside wurde langsamer. Am Horizont konnte man Cadiz erkennen, und es schien, als würden die schimmernden weißen Türme der Stadt auf dem Wasser schwimmen. Bei Sonnenuntergang war der Wind nur noch ein laues Lüftchen, das die Segel der Fregatte nur ein wenig flattern ließ, doch Pullifer war es ohnehin lieber, erst am nächsten Morgen einzulaufen. Ein großes Handelsschiff lag viel näher an Land und ließ sich vom letzten Rest Wind langsam in den Hafen treiben. Pullifer beobachtete es durch ein großes Fernrohr. »Das ist die Santa Catalina«, verkündete er. »Wir haben sie vor einem Jahr vor den Azoren gesehen.« Er schob das Fernrohr wieder zusammen. »Ich hoffe, sie hat mehr Wind als wir, sonst wird sie es nie bis in den südlichen Teil des Hafens schaffen.«

»Ist das wichtig?«, fragte Sharpe.

»Die verdammten Froschfresser werden sie als Zielscheibe missbrauchen.«

Offensichtlich hatte der Kapitän recht damit, denn kurz nach Einbruch der Nacht hörte Sharpe das dumpfe Geräusch schwerer Geschütze wie weit entfernten Donner. Das waren die französischen Mörser, die vom Festland aus feuerten, und Sharpe beobachtete das grelle Mündungsfeuer vom Vorderdeck der Thornside aus. Jeder Schuss war wie ein Blitz, in dessen Licht man einen Herzschlag lang die Küstenlinie sehen konnte. Doch kurz darauf wurde das Licht schon wieder von dem Rauch geschluckt, der unter den Sternen hing. Ein Seemann spielte eine traurige Melodie auf der Fidel, und schwacher Laternenschein fiel aus dem Gang achtern, an dessen Ende der Brigadier mit dem Kapitän wieder zu Abend speiste. »Hat man Sie nicht eingeladen, Sir?«, fragte Harper. Sharpes Riflemen und die Connaught Ranger hatten es sich um einen Neunpfünder herum im Vorschiff bequem gemacht.

»Doch, man hat mich eingeladen«, antwortete Sharpe, »aber der Kapitän nahm an, dass ich lieber in der Offiziersmesse essen würde.«

»Die haben einen Plumpudding da«, bemerkte Harper.

»Und der war gut«, fügte Harris hinzu. »Verdammt gut sogar.«

»Wir hatten das Gleiche.«

»Manchmal denke ich, ich wäre besser zur Navy gegangen«, bemerkte Harper.

»Ach ja?« Sharpe war überrascht.

»Plumpudding und Rum.«

»Aber nicht viele Frauen.«

»Das stimmt.«

»Wie geht es Ihrem Kopf, Sir?«, erkundigte sich Hagman.

»Er ist noch dran, Dan.«

»Tut es sehr weh?«

»Ja, es tut weh«, gab Sharpe zu.

»Essig und Pergamentpapier«, sagte Hagman ernst. »Das hilft immer.«

»Ich hatte da einen Onkel, der hat auch einmal einen Schlag auf den Kopf bekommen«, erzählte Harper. Der Ulsterman verfügte über einen schier endlosen Vorrat an Verwandten, denen die unterschiedlichsten Missgeschicke widerfahren waren. »Eine Mutterziege hat ihn auf die Hörner genommen, jawohl, das hat sie. Man hätte den Lough Crockatrillen mit seinem Blut füllen können. Himmel, es war überall. Meine Tante hat ihn für tot gehalten!«

Sharpe wartete wie auch die Riflemen und Ranger. »Und? War er?«, fragte er nach einer Weile.

»Himmel, nein! Er hat noch in derselben Nacht die Kühe gemolken, aber die arme Ziege war nie mehr dieselbe. Und? Was machen wir in Cadiz, Sir?«

Sharpe zuckte mit den Schultern. »Wir werden uns ein Schiff nach Lissabon besorgen. Da muss es doch Dutzende geben.« Er drehte sich um, als zwei Salven über das Wasser halten, doch es war nichts zu sehen. Die Blitze in der Ferne waren bereits verloschen, und beim Aufschlag eines Mörsergeschosses gab es keinen Blitz. Hier und da war Laternenlicht an den weißen Mauern der Stadt zu sehen, doch ansonsten war die Küste dunkel. Schwarzes Wasser schwappte an den Rumpf der Fregatte, und die Segel zitterten in der leichten Brise.

Bei Sonnenaufgang hatte der Wind wieder aufgefrischt, und die Thornside war in Richtung Südwesten ausgerichtet, zur Bucht von Cadiz. Die Stadt war inzwischen näher gekommen, und Sharpe konnte die massiven grauen Mauern sehen, über denen die weißen Häuser funkelten. Rauch trieb zwischen Wach-und Glockentürmen hindurch. Lichter blitzten an den Türmen auf, und zunächst verwirrte das Sharpe, doch dann erkannte er, dass sich die Sonne auf den Fernrohren spiegelte, die das Näherkommen der Thornside beobachteten. Ein Lotsenboot kreuzte den Kurs der Fregatte, doch Pullifer hatte die gefährlichen Gewässer schon oft genug befahren, sodass er keinen Lotsen brauchte. Seemöwen kreisten um die Masten der Fregatte, als das Schiff um den Felsen von Diamante und dann in die Bucht von Cadiz einbog. Die Thornside wendete direkt nach Süden. Eine Menschenmenge auf der Seemauer beobachtete sie dabei. Nun war auch zu erkennen, dass der Rauch nicht nur von Herdfeuern stammte, sondern größtenteils von dem Handelsschiff, das im Hafenbecken brannte. Es war die Santa Catalina, die bis unters Deck mit Tabak und Zucker beladen war. Eine französische Mörsergranate war genau zwischen Besan- und Hauptmast heruntergekommen, hatte die Luke durchschlagen und war ein paar Fuß unter Deck explodiert. Die Mannschaft hatte eine Pumpe aufgebaut und versuchte das Feuer zu löschen. Zwar schien es ihnen gelungen zu sein, die offenen Flammen zu ersticken, doch irgendwo hatte es noch weitergeglüht. So hatte sich das Feuer insgeheim weiter ausgebreitet, sein Rauch verborgen im Dampf der Pumpe, und schließlich hatten neue Flammen das Deck genau achtern hinter dem Hauptmast durchbrochen.

Der Rest des Hafens von Cadiz schien sich jedoch nicht an dem brennenden Schiff zu stören. Alles war ruhig. Eine ganze Flotte britischer Kriegsschiffe lag im Süden, und Pullifer befahl, einen Salut für den Admiral zu schießen. Nun schossen die französischen Mörser auf die Thornside, doch die riesigen Geschosse fielen harmlos ins Meer. In den Marschen des Festlandes gab es drei französische Forts, und alle waren sie in der Lage, die Seemauer von Cadiz zu erreichen, das wie eine geballte Faust auf seinem Isthmus kauerte und die Bucht beschützte. Lieutenant Theobald, der Zweite Offizier der Thornside, war mit einem Sextanten beschäftigt, doch anstatt ihn vertikal zu halten, wie man es tun musste, wenn man sich an der Sonne oder den Sternen orientieren wollte, hielt er ihn waagerecht. Schließlich nahm er den Sextanten wieder herunter, runzelte die Stirn und bewegte die Lippen, als wolle er etwas sagen. Dann ging er zu Sharpe und Harper, die mittschiffs an der Reling lehnten. »Von dem brennenden Schiff bis zum Fort«, verkündete Theobald, »sind es 3640 Yards.«

»Verdammte Scheiße«, fluchte Sharpe beeindruckt. Wenn der Lieutenant recht hatte, dann war die Mörsergranate mehr als zwei Meilen weit geflogen.

»Für die letzten vierzig Yards würde ich meine Hand allerdings nicht ins Feuer legen«, sagte Theobald.

Auf der Halbinsel von Trocadero feuerte ein weiterer Mörser. Das Geschoss verschwand in den niedrigen Wolken, während der Mündungsrauch über dem Fort hing, das als niedrige, dunkle Masse auf dem Festland zu erkennen war. Dann spritzte Wasser nicht weit vom Stadtufer auf. »Das war sogar noch weiter!«, sagte Theobald erstaunt. »Das müssen fast 3700 Yards gewesen sein!« Das war tausend Yards weiter, als ein britischer Mörser feuern konnte. »Und die Granaten sind riesig! Ein paar Fuß Durchmesser!«

Sharpe dachte laut darüber nach. »Der größte französische Mörser, den ich je gesehen habe«, sagte er, »war ein Zwölfzöller.«

»Und der war schon groß genug«, warf Harper ein.

»Sie haben die Dinger extra in Sevilla gießen lassen«, erklärte Theobald. »Zumindest haben uns das Gefangene erzählt. In jedem Fall sind es Bastarde. Sie brauchen mindestens zwanzig Pfund Pulver, um ein Geschoss so weit zu schleudern. Gott sei Dank sind sie nicht genau.«

»Sagen Sie das den armen Kerlen da drüben«, sagte Sharpe und nickte in die Richtung, wo die Mannschaft der Santa Catalina gerade die Rettungsboote bestieg.

»Ein Glücksschuss«, sagte Theobald. »Wie geht es Ihrem Kopf heute?«

»Er tut weh.«

»Es gibt nichts, was die Berührung einer Frau nicht zu heilen vermag«, sagte Theobald.

Eine Mörsergranate landete unmittelbar an Backbord der Fregatte, und Wasser spritzte auf das Deck. Schwach hing der Geruch der brennenden Lunte in der Luft. Der nächste Schuss ging gut hundert Yards daneben, und der danach verfehlte sein Ziel sogar noch weiter. Dann hörte das Mörserfeuer auf. Die Thornside war außer Reichweite.

Die Thornside ging ein gutes Stück südlich der Stadt vor Anker, nah an den anderen britischen Kriegsschiffen und einer ganzen Schar kleiner Handelsschiffe.

Brigadier Moon humpelte auf den Krücken, die der Schiffszimmermann ihm gemacht hatte, zu Sharpe. »Sie werden noch kurz an Bord bleiben, Sharpe.«

»Jawohl, Sir.«

»Offiziell dürfen britische Truppen die Stadt nicht betreten. Wenn wir also nicht sofort ein Schiff nach Lissabon finden, werde ich Ihnen ein Quartier auf der Isla de León besorgen.« Er deutete auf ein kleines Stück Land südlich ihres Ankerplatzes. »Aber jetzt werde ich erst einmal zur Botschaft gehen und dem Botschafter meinen Respekt erweisen.«

»Dem Botschafter, Sir?«

Moon schaute Sharpe müde an. »Was Sie da sehen«, sagte er, »ist der letzte Rest des souveränen Spanien. Mit Ausnahme einer Hand voll von Festungen haben die Franzosen den Rest dieses verdammten Landes unter Kontrolle. Deshalb ist unsere Botschaft jetzt hier in Cadiz und nicht in Madrid oder Sevilla. Ich werde Ihnen weitere Befehle schicken.«

Diese Befehle kamen kurz nach Mittag und schickten Sharpe und seine Männer auf die Isla de León, wo sie warten sollten, bis ein Schiff den Hafen in Richtung Norden verließ. Das Beiboot, das sie ans Ufer brachte, fuhr die vor Anker liegende Flotte ab, größtenteils Handelsschiffe. »Gerüchten zufolge bringen sie eine Armee nach Süden«, erzählte der Midshipman, der das Boot kommandierte.

»Nach Süden?«

»Sie wollen dort irgendwo an der Küste landen«, sagte der Midshipman, »gegen die Franzosen marschieren und die Belagerung durchbrechen. Verdammte Scheiße, stinken die!« Er deutete auf vier riesige Gefängnisschiffe, die stanken wie eine offene Kanalisation. Die Schiffe waren einst Kriegsschiffe gewesen, doch nun hatten sie keine Masten mehr, und ihre offenen Geschützpforten waren mit Eisengittern gesichert, durch die Männer das vorbeifahrende Boot beobachteten. »Gefängnisschiffe, Sir«, sagte der Midshipman, »voller Froschfresser.«

»Ich erinnere mich an das da«, warf der Bootsmann ein und nickte in Richtung des nächstgelegenen Schiffs. »Das war bei Trafalgar. Wir haben es in Stücke geschossen. Am ganzen Rumpf lief Blut herunter. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ja, da waren die Dons auf der falschen Seite«, bemerkte der Midshipman.

»Jetzt sind sie aber auf unserer«, erwiderte Sharpe.

»Wir hoffen das, Sir. Wir hoffen das. So, da wären wir, Sir. Ich hoffe, ihre Eierschale heilt wieder zusammen.«

Die Isla de León war das Heim von fünftausend britischen und portugiesischen Soldaten, die dabei helfen sollten, Cadiz gegen die französischen Belagerer zu verteidigen. Halbherziges Geschützfeuer hallte von den Linien der Belagerer herüber, die mehrere Meilen östlich von hier lagen. Auf der Insel gab es eine kleine Stadt mit Namen San Fernando. Sharpe meldete sich dort bei einem erschöpften Major, den es zu amüsieren schien, dass ihm unerwartet eine Hand voll Versprengter des 88th und des South Essex in den Schoß gefallen war. »Ihre Männer können sich einen freien Platz bei den Zelten suchen«, sagte der Major, »aber Sie werden sich natürlich in San Fernando bei den anderen Offizieren einquartieren, und das kostet. Gott, was ist schon umsonst?« Er schaute seine Quartierliste durch.

»Es ist nur für eine Nacht oder so«, erklärte Sharpe.

»Ich würde sagen, das hängt vom Wind ab, oder? Solange er in Richtung Nordwesten weht, werden Sie noch nicht einmal in die Nähe von Lissabon kommen. Ah – da hätten wir ja was. Sie können sich ein Haus mit Major Duncan teilen. Er ist Artillerist, also nichts Besonderes. Im Augenblick ist er aber nicht da, sondern auf der Jagd mit Sir Thomas.«

»Sir Thomas?«

»Sir Thomas Graham. Er ist der Oberkommandierende hier. Er ist ganz verrückt nach Kricket. Kricket und Jagen. Natürlich gibt es hier keine Füchse, also jagen sie stattdessen streunende Hunde. Das machen sie zwischen den Linien, und die Franzosen sind klug genug, sich da nicht einzumischen. Ich nehme an, Sie brauchen auch noch Platz für Ihren Burschen?«

Sharpe hatte nie einen Burschen gehabt, doch er kam zu dem Schluss, dass nun der Moment gekommen war, sich einen zu gönnen. »Harris!«

»Sir?«

»Du bist jetzt mein Bursche.«

»Oh, welche Freude, Sir.«

»San Fernando ist im Winter eigentlich ganz nett«, sagte der Major. »Im Sommer wimmelt es hier nur so von verdammten Mücken, doch um diese Jahreszeit ist das kein Problem. Sie haben auch jede Menge Gasthäuser und ein paar gute Bordelle. Man kann den Krieg an wahrlich schlechteren Orten verbringen.«

Der Wind drehte nicht in dieser Nacht und auch nicht in der nächsten. Sharpe gab seinen und Sergeant Noolans Männern einen Tag frei, um sich um ihre Ausrüstung zu kümmern. Sie wuschen und reparierten ihre Uniformen und Waffen, und jeden Augenblick des Tages betete Sharpe, dass der Wind auf Süd oder Ost drehen würde. Er fand auch einen Regimentsarzt, der sich seine Wunde ansah und rasch entschied, dass weitere Untersuchungen ihm eher schaden denn helfen würden. »Wenn dieser Navyarzt den Knochen wieder an seinen Platz zurückgebracht hat«, erklärte der Mann, »dann hat er alles getan, wozu die moderne Medizin in der Lage ist. Aber achten Sie darauf, dass der Verband stets stramm sitzt, Captain. Halten Sie ihn feucht, beten Sie, und trinken Sie Rum gegen die Schmerzen.«

Major Duncan, mit dem Sharpe sich das Quartier teilte, erwies sich als leutseliger Schotte. Er sagte, mindestens ein halbes Dutzend Schiffe warte darauf, endlich nach Lissabon segeln zu können. »In vier, fünf Tagen werden Sie also wieder zu Hause sein«, fuhr er fort, »sobald der Wind sich dreht.« Duncan hatte Sharpe in den nächstgelegenen Gasthof eingeladen. Das Essen sei recht gut, hatte er gesagt und Sharpes wiederholte Erklärungen ignoriert, er habe kein Geld. »Die Dons essen verdammt spät«, erklärte Duncan. »Also sind wir gezwungen zu trinken, bis der Koch aufwacht. Das Leben ist hart.« Er bestellte einen Krug Rotwein, und kaum stand der Wein auf dem Tisch, da erschien ein schlanker, junger Offizier in Kavallerieuniform in der Tavernentür.

»Willie!«, begrüßte Duncan den Kavalleristen mit offensichtlicher Freude. »Trinken Sie was mit uns?«

»Ich suche nach einem Captain Richard Sharpe, und ich nehme an, das sind Sie, Sir.« Er lächelte Sharpe an und streckte die Hand aus. »Willie Russell, Adjutant von Sir Thomas.«

»Lord William Russell«, sagte Duncan.

»Willie reicht«, erklärte Lord William rasch. »Und? Sind Sie Captain Sharpe? Falls ja, Sir, dann hat man Sie einbestellt. Ich habe ein Pferd für Sie. Wir müssen reiten wie der Wind.«

»Einbestellt? Wohin?«

»In die Botschaft, Captain! Um den allmächtigen Minister seiner Majestät und außerordentlichen Botschafter am spanischen Hof kennenzulernen. Oh, mein Gott! Was ist das denn für ein Fusel?« Er hatte einen Schluck von Duncans Wein probiert. »Hat da wer reingepisst? Sind Sie bereit, Sharpe?«

»Man will mich in der Botschaft sehen?«, fragte Sharpe verwirrt.

»In der Tat, und wir sind spät dran. Das ist jetzt schon der dritte Gasthof, in dem ich Sie suche, und in jedem musste ich ja auch was trinken. Noblesse oblige – Sie wissen schon.« Er zerrte Sharpe zur Tür hinaus. »Ich muss sagen, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.« Das war sehr großmütig, und Lord William bemerkte Sharpes Unglauben. »Nein, wirklich! Ich war in Talavera. Mich hat man da oben aufgeschlitzt, aber Sie haben einen Adler erobert! Das war wirklich mal ein Tritt in Boneys Arsch! So, da wären wir. Ihr Pferd.«

»Muss ich wirklich da hin?«, fragte Sharpe.

Lord William Russell schaute kurz nachdenklich drein. »Ich denke schon«, antwortete er ernst. »Außerordentliche Botschafter und allmächtige Minister bestellen einen einfachen Captain nicht alle Tage ein. Außerdem ist er gar nicht mal so ein übler Kerl für einen Botschafter. Können Sie reiten?«

»Schlecht.«

»Wie geht es Ihrem Schädel?«

»Er tut weh.«

»Ja, das ist wohl so. Ich bin einmal vom Pferd gefallen und habe mir den Kopf an einem Baumstumpf angeschlagen. Ich konnte einen Monat lang nicht mehr denken! Und um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht, ob ich wirklich geheilt bin. Rauf mit Ihnen.«

Sharpe stieg in den Sattel und folgte Lord William Russell aus der Stadt hinaus und auf den sandigen Isthmus. »Wie weit ist es?«, fragte er.

»Etwas mehr als sechs Meilen. Es ist ein schöner Ritt. Bei Ebbe reiten wir am Strand entlang, aber heute Abend werden wir uns stattdessen an die Straße halten müssen. Sie werden auch Sir Thomas in der Botschaft treffen. Ein toller Kerl. Er wird Ihnen gefallen. Er gefällt jedem.«

»Und Moon?«

»Ich fürchte, der ist auch da. Der Mann ist ein richtiger Rohling, nicht wahr? Zu mir ist er zwar stets freundlich, aber vermutlich nur, weil mein Vater ein Herzog ist.«

»Ein Herzog?«

»Der Duke of Bedford«, sagte Lord William und grinste. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin nicht der Erbe. Ich stehe noch nicht einmal in zweiter Reihe. Ich bin der Sohn, der für König und Vaterland sterben muss. Moon mag Sie nicht, stimmt’s?«

»Das habe ich auch gehört.«

»Er gibt Ihnen die Schuld an allem, was ihm widerfahren ist. Er sagt, Sie hätten seinen Degen verloren. Einen von Bennetts, stimmt’s?«

»Ich habe noch nie von diesem Bennett gehört«, sagte Sharpe.

»Das ist ein Waffenschmied in St. James. Er ist schier unglaublich gut und wahnsinnig teuer. Es heißt, man könne sich mit Bennetts Degen rasieren – nicht, dass ich das je versucht hätte.«

»Hat man deshalb nach mir geschickt? Um sich zu beschweren?«

»Grundgütiger, nein! Der Botschafter persönlich hat nach Ihnen geschickt. Vermutlich will er Sie betrunken machen.«

Der Isthmus wurde schmaler. Zu Sharpes Linker lag der Atlantik und rechts die Bucht von Cadiz. Der Rand der Bucht sah in der Dämmerung weiß aus, und das Weiße wurde von Hunderten schimmernder Pyramiden unterbrochen. »Salz«, erklärte Lord William. »Das ist ein wesentlicher Wirtschaftszweig hier in der Stadt.«

Plötzlich schämte sich Sharpe für seine zerlumpte Uniform. »Ich dachte, britische Soldaten dürften nicht in die Stadt.«

»Offiziere schon, aber nur Offiziere. Die Spanier haben Angst, wenn wir eine Garnison in die Stadt bringen, würden wir nie wieder gehen. Sie glauben, wir wollen die Stadt in ein zweites Gibraltar verwandeln. Oh, und da gibt es noch etwas Wichtiges, das Sie wissen sollten, Sharpe.«

»Und das wäre, Mylord?«

»Sagen Sie doch einfach Willie, um Himmels willen. Das tut jeder. Also – das Wichtigste, das eine, was Sie absolut nie, nie vergessen dürfen, die eine Regel, die es nie, nicht, niemals zu brechen gilt, auch wenn Sie bis oben hin voll sind, ist folgende: Erwähnen Sie NIEMALS die Frau des Botschafters.«

Sharpe schaute den überschwänglichen Lord William amüsiert an. »Warum sollte ich auch?«, fragte er.

»Sie dürfen das nicht«, erklärte Lord William mit Nachdruck, »weil das unglaublich geschmacklos wäre. Sie heißt Charlotte, und sie ist ihm davongelaufen. Charlotte, die Hure. Sie ist mit Henry Paget durchgebrannt. Es war schrecklich. Ein furchtbarer Skandal. Wenn Sie erst einmal eine Zeitlang in der Stadt sind, werden Sie auf einige davon stoßen.« Er kramte in seiner Tasche und holte eine Brosche hervor. »Hier«, sagte Lord William und warf Sharpe die Brosche zu.

Die Brosche war ein billiges kleines Ding aus Knochen. Zwei Hörner waren darauf zu sehen. Sharpe schaute sie sich an und zuckte mit den Schultern. »Kuhhörner?«

»Die Hörner, die man einem Mann aufsetzt, Sharpe. So nennt man den Botschafter hier: El Cornudo. Unsere politischen Feinde tragen diese Broschen, um ihn zu verspotten, der arme Mann. Er erträgt das vorbildlich, aber ich nehme an, es schmerzt trotzdem. Also, sprechen Sie ihn um Himmels willen nicht auf Charlotte, die Hure, an.«

»Warum sollte ich auch?«, erwiderte Sharpe. »Ich kenne den Mann doch noch nicht einmal.«

»Aber natürlich tun Sie das!«, rief Lord William fröhlich. »Er kennt Sie ja auch.«

»Mich? Wie das denn?«

»Wissen Sie wirklich nicht, wer der außerordentliche Botschafter Seiner Britischen Majestät in Spanien ist?«

»Natürlich weiß ich das nicht!«

»Der jüngste Bruder unseres Außenministers?«, sagte Lord William, doch Sharpe wusste noch immer nicht, wovon er sprach. »Sir Arthur Wellesleys kleiner Bruder Henry.«

»Sir Arthur Wellesley – meinen Sie Lord Wellington?«

»Ja, Lord Wellingtons Bruder«, bestätigte Lord William, »und es kommt noch schlimmer: Charlotte ist also mit diesem furchtbaren Henry Paget durchgebrannt, und Wellesley hat die Scheidung durchgesetzt, was hieß, dass er einen entsprechenden Parlamentsbeschluss erwirken musste, und das war eine Menge Arbeit, glauben Sie mir. Und dann ist Wellesley hergekommen und hat dieses verdammt attraktive Mädchen kennengelernt. Er hat geglaubt, sie sei respektabel, doch das war sie ganz und gar nicht, und er hat ihr ein paar Briefe geschrieben. Der arme Henry. Und sie ist ein wirklich hübsches Ding, ungeheuer hübsch sogar! Viel hübscher als Charlotte, die Hure, aber das Ganze war schier unglaublich peinlich, und wir tun alle so, als sei das nie geschehen. Sagen Sie also nichts, Sharpe, absolut gar nichts. Seien Sie der Inbegriff der Diskretion, Sharpe, der Inbegriff der Diskretion.« Er verstummte, denn sie hatten das riesige Tor und die massiven Bastionen im Süden der Stadt erreicht. Wachen waren hier zu sehen, Musketen, Bajonette und Kanonen mit langen Rohren. Lord William musste einen Passierschein vorzeigen, erst dann wurde das Tor geöffnet, und Sharpe ritt durch die Gänge, Tunnel und Bögen der Verteidigungsanlagen, bis er sich in den schmalen Gassen der Hafenstadt wiederfand. Er war nach Cadiz gekommen.

Zu seiner Überraschung mochte Sharpe Henry Wellesley tatsächlich. Wellesley war ein schlanker Mann Ende dreißig und sah genauso gut aus wie sein Bruder. Allerdings hatte er keine ganz so auffällige Hakennase und sein Kinn war breiter. Auch hatte er nicht die kalte Arroganz von Lord Wellington, stattdessen wirkte er eher bescheiden, ja sogar ein wenig sanft. Er stand, als Sharpe das Speisezimmer der Botschaft betrat, und er schien sich ehrlich zu freuen, den Rifleman zu sehen. »Mein lieber Sharpe«, sagte er, »setzen Sie sich doch. Den Brigadier kennen Sie natürlich, nicht wahr?«

»In der Tat, Sir.«

Moon warf Sharpe einen kalten Blick zu und nickte kaum zur Begrüßung.

»Gestatten Sie mir, Ihnen Sir Thomas Graham vorzustellen«, fuhr Henry Wellesley fort. »Lieutenant General Sir Thomas Graham, der unsere Garnison auf der Isla de León kommandiert.«

»Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sharpe«, sagte Sir Thomas. Er war ein großer, gut gebauter Schotte mit weißem Haar, von der Sonne gegerbtem Gesicht und außergewöhnlich listigem Blick.

»Und ich glaube, William Pumphrey kennen Sie bereits«, stellte Wellesley den letzten Mann am Tisch vor.

»Herr im Himmel«, keuchte Sharpe unwillkürlich. Er kannte Lord Pumphrey in der Tat, doch er war überrascht, ihn hier zu sehen. Lord Pumphrey warf Sharpe einen Kuss zu.

»Bringen Sie unseren Gast nicht in Verlegenheit, Pumps«, tadelte Henry Wellesley ihn, aber es war zu spät: Sharpe war schon verlegen. Lord Pumphrey hatte immer diese Wirkung auf ihn, und das nicht nur auf ihn, sondern auf viele andere Leute auch. Lord Pumphrey arbeitete für das Außenministerium, so viel wusste Sharpe. Er hatte seine Lordschaft in Kopenhagen kennengelernt und ihn dann später im Norden Portugals wiedergesehen, und Pumphrey war so empörend wie eh und je. An diesem Abend trug er einen lilafarbenen Mantel, der mit Silberfäden bestickt war, und auf seinem schmalen Kinn klebte ein schwarzer Schönheitsfleck. »William ist unser Sekretär hier«, erklärte Henry Wellesley.

»Eigentlich, Richard«, erklärte Lord Pumphrey gelangweilt, »hat man mich hierher beordert, um die Eingeborenen in Staunen zu versetzen.«

»Und was das betrifft, haben Sie schon große Erfolge erzielt«, sagte Sir Thomas.

»Sie sind zu freundlich, Sir Thomas«, erwiderte Lord Pumphrey und verneigte sich leicht vor dem Schotten. »Wirklich zu freundlich.«

Henry Wellesley setzte sich und schob Sharpe ein Tablett herüber. »Probieren Sie mal die Scherenkrabben«, drängte er. »Das ist eine hiesige Delikatesse. Man sammelt sie in den Marschen. Man muss sie aufbrechen und das Fleisch aussaugen.«

»Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin, Sir«, sagte Sharpe. Den Trümmern auf dem Tisch nach zu urteilen war das Dinner schon längst vorüber, und ebenso offensichtlich war, dass Henry Wellesley nichts gegessen hatte. Er sah, wie Sharpe auf seinen leeren Teller schaute.

»Ich muss noch auf einen Empfang, Sharpe«, erklärte der Botschafter, »und die Spanier essen außergewöhnlich spät zu Abend. Zwei Abendessen wären da wohl ein wenig viel. Trotzdem, diese Krabbe führt mich schon in Versuchung.« Er nahm sich eine Schere und brach sie mit einem Nussknacker auf. Sharpe erkannte sofort, dass der Botschafter das nur getan hatte, um ihm zu zeigen, wie das ging, und dankbar griff er ebenfalls nach einem Nussknacker. »Und? Wie geht es Ihrem Kopf, Sharpe?«, fragte Henry Wellesley.

»Er heilt, Sir, danke.«

»Kopfverletzungen sind schon übel«, bemerkte der Botschafter. »Ich hatte einen Assistenten in Indien, der sich den Kopf aufgeschlagen hat. Ich habe den armen Kerl bereits für tot gehalten, doch nach nur einer Woche war er geheilt und ganz der Alte.«

»Sie waren in Indien, Sir?«, fragte Sharpe.

»Zweimal«, antwortete Henry Wellesley. »Auf der zivilisierten Seite natürlich. Mir gefällt das Land.«

»Mir auch, Sir«, sagte Sharpe. Er war halb verhungert, und so brach er eine weitere Schere auf und tunkte sie in eine Schüssel mit geschmolzener Butter. Dankbar schloss Lord William Russell sich ihm an. Während die beiden aßen, genossen die anderen Männer eine Zigarre.

Es war Februar, doch warm genug, dass die Fenster offen standen. Brigadier Moon schwieg. Er gab sich damit zufrieden, Sharpe einfach nur böse anzufunkeln, während sich Sir Thomas Graham bitterlich über ihre spanischen Verbündeten beschwerte. »Die zusätzlichen Schiffe sind noch nicht von den Balearen eingetroffen«, knurrte er, »und ich habe auch noch keine der Karten gesehen, die sie uns versprochen haben.«

»Ich bin sicher, beides wird noch kommen«, sagte Henry Wellesley.

»Und die Schiffe, die wir bereits haben, werden von Feuerflößen bedroht. Die Franzosen bauen gerade fünf von den Dingern.«

»Ich bin sicher, Sie und Admiral Keats werden sich mit Freuden um diese Flöße kümmern«, erklärte Henry Wellesley mit fester Stimme. Dann wechselte er das Thema und schaute zu Sharpe. »Brigadier Moon hat mir erzählt, dass Sie die Brücke über den Guadiana gesprengt haben.«

»Ja, das haben wir.«

»Was für eine Erleichterung. Alles in allem betrachtet, Sir Barnaby«, Wellesley drehte sich zu Moon um, »war das eine äußerst erfolgreiche Operation.«

Moon rutschte auf seinem Stuhl hin und her und zuckte dann unwillkürlich zusammen, als ein stechender Schmerz durch sein Bein fuhr. »Sie hätte aber noch besser laufen können, Exzellenz.«

»Wie das?«

»Um das zu verstehen, muss man Soldat sein«, erklärte Moon, ohne groß nachzudenken. Sir Thomas legte missbilligend die Stirn in Falten, doch Moon dachte nicht daran, einen Rückzieher zu machen. »Das war bestenfalls ein fragwürdiger Erfolg«, fuhr er fort, »ein sehr fragwürdiger Erfolg.«

»Ich habe im 40th Regiment of Foot gedient«, sagte Henry Wellesley. »Das mag ja vielleicht nicht meine größte Stunde gewesen sein, aber ich bin nicht gänzlich unwissend, was das Kriegshandwerk betrifft. Also: Warum bezeichnen Sie diesen Erfolg als ›fragwürdig‹, Sir Barnaby?«

»Es hätte einfach besser laufen können«, antwortete Moon, als wäre das Thema damit erledigt.

Der Botschafter nahm eine angeschnittene Zigarre von einem Diener entgegen und beugte sich dann vor, um sie sich anzünden zu lassen. »Und da habe ich Sie extra eingeladen«, sagte er, »damit Sie uns von Ihrem Triumph erzählen können. Sie sind genauso zugeknöpft wie mein Bruder, Sir Barnaby.«

»Der Vergleich mit Lord Wellington schmeichelt mir, Exzellenz«, erwiderte Moon steif.

»Einmal«, fuhr Henry Wellesley fort, »hat Arthur mir aber von einer seiner Taten erzählt, und das war keine, bei der er sich große Meriten verdient hätte.« Der Botschafter blies eine Rauchwolke zum Kristallleuchter hinauf. Sir Thomas und Lord Pumphrey verhielten sich vollkommen still, als wüssten sie, dass sich etwas im Raum zusammenbraute, und auch Sharpe fühlte etwas und schob die Krabben beiseite. »In Assaye hat es ihn vom Pferd geworfen«, fuhr der Botschafter fort. »Ja, ich glaube, so hieß der Ort. Aber wie auch immer – er fand sich mitten in den feindlichen Linien wieder, und alle waren davongaloppiert. Da wusste er, dass er sterben würde, hat er mir erzählt. Er war vom Feind umzingelt, alles Wilde, und dann erschien wie aus dem Nichts ein britischer Sergeant. Ja, er hat gesagt ›wie aus dem Nichts‹!« Henry Wellesley wedelte mit der Zigarre, als wäre sie ein Zauberstab, mit dem er die Szene heraufbeschwören konnte. »Was dann folgte, hat Arthur gesagt, war der beste Ausdruck des Soldatentums, den er je gesehen hat. Er schätzt, dass der Sergeant fünf Männer zu Boden gestreckt hat – mindestens, hat er gesagt. Der Kerl hat sie einfach niedergemetzelt! Und das ganz allein.«

»Fünf Männer!«, rief Lord Pumphrey in ungespielter Bewunderung.

»Mindestens«, wiederholte der Botschafter.

»Die Erinnerung an eine Schlacht«, sagte Moon, »ist bisweilen getrübt.«

»Ach ja? Glauben Sie, dass Arthur die Geschichte ausgeschmückt hat?«, hakte Henry Wellesley in übertrieben höflichem Ton nach.

»Einer gegen fünf?«, erwiderte Moon. »Das würde mich dann doch sehr überraschen, Exzellenz.«

»Fragen wir doch einfach den Sergeant, der das vollbracht hat«, sagte Henry Wellesley, und die Falle schnappte zu. »An wie viele Männer erinnern Sie sich, Sharpe?«

Moon sah aus wie von der Wespe gestochen, während Sharpe verlegen mit den Schultern zuckte.

»Und, Sharpe?«, hakte Sir Thomas Graham nach.

»Es waren schon ein paar, Sir«, antwortete Sharpe. Das Ganze war ihm äußerst unangenehm. »Aber natürlich hat der General an meiner Seite gekämpft.«

»Also, mir hat Arthur erzählt, er sei benommen gewesen«, sagte Henry Wellesley. »Er hat mir erzählt, dass er sich nicht verteidigen konnte.«

»Nein, nein, er hat schon gekämpft, Sir«, widersprach Sharpe. In Wahrheit hatte Sharpe den benommenen Sir Arthur Wellesley unter eine indische Kanone geschoben, um ihn dort in Deckung zu bringen. Aber waren es wirklich fünf Mann gewesen? Er erinnerte sich nicht mehr. »Und es kam ziemlich schnell Hilfe, Sir«, fuhr er rasch fort, »sehr schnell.«

»Aber es ist, wie Sie gesagt haben, Barnaby«, sagte Henry Wellesley mit samtener Stimme. »Die Erinnerung an eine Schlacht ist bisweilen getrübt. Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mir Ihren Bericht über Ihren großartigen Triumph bei Fort Joseph zeigen würden.«

»Natürlich, Exzellenz«, sagte Moon, und da verstand Sharpe, was gerade geschehen war. Der Botschafter Seiner Majestät hatte für Sharpe Partei ergriffen, und nun wäre Moon gut damit beraten, seinen Bericht dementsprechend zu ändern. Das war ein ausgesprochen großzügiger Gefallen, den der Botschafter ihm da erwiesen hatte, doch Sharpe wusste, dass solche Gefälligkeiten stets nach einer Gegenleistung verlangten.

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug Zehn, und Henry Wellesley seufzte. »Ich fürchte, ich muss mich jetzt für unsere Verbündeten umziehen«, sagte er. Die Gäste erhoben sich. »Bitte, trinken Sie noch in Ruhe Ihren Port und rauchen Sie Ihre Zigarren«, sagte der Botschafter und ging zur Tür. Dann blieb er noch einmal kurz stehen. »Mister Sharpe? Könnte ich Sie wohl mal kurz sprechen?«

Sharpe folgte Henry Wellesley den Gang hinunter und in einen kleinen, von Kerzen erhellten Raum. Ein Kohlefeuer brannte im Kamin, Bücher standen an den Wänden, und unter dem Fenster war ein mit Leder bespannter Schreibtisch zu sehen. Der Botschafter öffnete eine Schublade. »Die spanischen Diener bestehen darauf, dass ich es warm habe«, sagte er. »Ich sage ihnen zwar immer wieder, dass ich kalte Luft vorziehe, aber sie glauben mir nicht. Habe ich Sie da hinten in Verlegenheit gebracht?«

»Nein, Sir.«

»Das war wegen Brigadier Moon. Er hat mir erzählt, Sie hätten versagt, was ich jedoch irgendwie bezweifle. Ich denke, Moon teilt einfach nur ungern den Ruhm mit irgendjemandem.« Der Botschafter ging zu einem Schrank und holte eine dunkle Flasche heraus. »Port, Sharpe. Taylors Bester. Sie werden auf dieser Seite des Paradieses keinen besseren finden. Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«

»Danke, Sir.«

»Und in dem Silberkästchen sind Zigarren. Sie sollten sich eine nehmen. Mein Arzt sagt, sie seien gut für die Verdauung.« Henry Wellesley goss ein Glas Port ein und gab es Sharpe. Dann ging er zu einem eleganten runden Tisch, der als Schachbrett diente, und starrte die Spielfiguren an. Die Partie war mittendrin. »Ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten«, sagte er. »Spielen Sie?«

»Nein, Sir.«

»Ich spiele mit Duff. Er war der Konsul hier, und er ist ziemlich gut.« Vorsichtig berührte der Botschafter einen schwarzen Turm, doch dann ließ er die Stellung, wie sie war, und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, von wo aus er den Rifleman aufmerksam musterte. »Irgendwie bezweifle ich, dass mein Bruder Ihnen je angemessen dafür gedankt hat, dass Sie ihm das Leben gerettet haben, oder?« Er wartete auf eine Antwort, doch Sharpe schwieg. »Offensichtlich nicht. Das klingt ganz nach Arthur.«

»Er hat mir ein schönes Fernrohr gegeben, Sir«, sagte Sharpe.

»Ohne Zweifel eines, das irgendjemand vorher ihm geschenkt hat«, vermutete Henry Wellesley, »und das er nicht wollte.«

»Ich bin sicher, das stimmt nicht, Sir«, erwiderte Sharpe.

Wellesley lächelte. »Mein Bruder hat viele Tugenden, doch seiner Zuneigung Ausdruck zu verleihen gehört nicht dazu. Aber wenn es Sie tröstet, Sharpe, er hat Ihre Fähigkeiten oft lobend erwähnt.«

»Danke, Sir«, sagte Sharpe verlegen.

Der Botschafter seufzte und zeigte damit an, dass der höfliche Teil des Gesprächs vorüber war. Er zögerte, als suche er nach den richtigen Worten, dann öffnete er eine Schublade und fand einen kleinen Gegenstand, den er auf den Tisch warf. Es war eine dieser Knochenbroschen mit den Hörnern. »Wissen Sie, was das ist, Sharpe?«

»Ich fürchte ja, Sir.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass Willie Russell es Ihnen erzählen würde. Und was ist damit?« Er schob eine Zeitung über den Tisch. Sharpe nahm sie und sah, dass es sich um den El Correo de Cádiz handelte, doch es war zu dunkel im Raum, als dass er den schlechten Druck hätte lesen können. Er legte die Zeitung wieder hin. »Haben Sie das schon gesehen?«, fragte der Botschafter.

»Nein, Sir.«

»Das erschien heute auf den Straßen, und es heißt darin, ich hätte einen darin veröffentlichten Brief an eine Dame geschrieben. In dem Brief erzähle ich ihr, dass die Briten planen, Cadiz zu annektieren und in ein zweites Gibraltar zu verwandeln. Zwar wird mein Name nicht ausdrücklich genannt, aber in einer so kleinen Stadt wie Cadiz ist das auch nicht nötig. Und ich muss Ihnen ja wohl kaum sagen, dass die Regierung Seiner Majestät keine derartigen Pläne mit Cadiz hat.«

»Dann ist der Brief also eine Fälschung, Sir?«, fragte Sharpe.

Henry Wellesley hielt kurz inne. »Nicht ganz«, antwortete er vorsichtig. Jetzt schaute er Sharpe in die Augen, wandte sich dann aber rasch wieder ab und starrte in den dunklen Garten. Er zog an seiner Zigarre. »Kann ich davon ausgehen, dass Willie Russell Ihnen von meinen Umständen erzählt hat?«

»Ja, Sir.«

»Dann will ich jetzt auch nicht näher darauf eingehen, sondern sage lediglich, dass ich hier vor ein paar Monaten eine Dame kennengelernt habe, von der man mich glauben machte, sie sei von edler Geburt. Sie kam aus den spanischen Kolonien und versicherte mir, ihr Vater sei wohlhabend und respektabel, doch das stimmte nicht. Und bevor ich die Wahrheit herausfinden konnte, war ich dumm genug, meine Gefühle für sie einer Reihe von Briefen anzuvertrauen.« Wieder hielt er kurz inne. Er starrte noch immer aus dem Fenster und wartete darauf, dass Sharpe etwas sagte, doch der schwieg. »Diese Briefe sind ihr gestohlen worden«, fuhr der Botschafter schließlich fort, »und es war nicht ihre Schuld.« Er drehte sich um und schaute Sharpe trotzig an, als erwarte er halb, dass dieser ihm nicht glaubte.

»Und der Dieb, Sir, hat dann versucht, Sie zu erpressen?«

»Genau«, antwortete Henry Wellesley. »Der Bastard hat ein Arrangement getroffen, um mir die Briefe zu verkaufen, doch mein Bote wurde ermordet. Er und seine beiden Gefährten. Das Geld ist natürlich verschwunden, und die Briefe befinden sich in der Hand unserer politischen Feinde.« Wellesley klang verbittert und schlug die Zeitung mit der Hand weg. »Sharpe, Sie müssen wissen, dass es Männer in Cadiz gibt, die ernsthaft glauben, dass Spaniens Zukunft um ein Vielfaches rosiger aussehen würde, wenn sie mit Napoleon Frieden schließen. Sie glauben, dass Großbritannien der schlimmere Feind ist. Sie glauben, dass wir Spaniens Kolonien vernichten und seinen Atlantikhandel übernehmen wollen. Sie glauben jedoch nicht, dass es meinem Bruder gelingen wird, die Franzosen aus Portugal zu vertreiben, von Spanien ganz zu schweigen, und sie arbeiten mit Feuereifer an einer politischen Zukunft ohne eine Allianz mit Großbritannien. Meine Aufgabe ist es nun, sie vom Gegenteil zu überzeugen, und diese Briefe machen das viel schwerer – vielleicht sogar unmöglich.« Erneut legte er eine kurze Pause ein, als erwarte er einen Kommentar von Sharpe, doch der Rifleman saß einfach nur still da und hörte zu. »Lord Pumphrey hat mir erzählt, Sie seien ausgesprochen fähig«, sagte der Botschafter leise.

»Das war sehr freundlich von ihm, Sir«, erwiderte Sharpe hölzern.

»Und er sagt, Sie hätten eine pikante Vergangenheit.«

»Ich bin nicht sicher, was er damit meint, Sir.«

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Henry Wellesleys Gesicht. »Verzeihen Sie mir, wenn ich mich irre, und seien Sie versichert, dass ich Sie nicht beleidigen will, aber Lord Pumphrey hat mir erzählt, dass Sie früher einmal ein Dieb waren.«

»Das stimmt, Sir«, gab Sharpe zu.

»Und was sonst noch?«

Sharpe zögerte, doch der Botschafter war offen zu ihm gewesen, und nun würde er es ihm gleichtun. »Ich war Dieb, Mörder, Soldat, Sergeant, Rifleman.« Er sprach mit gleichmütiger Stimme, dennoch hörte Henry Wellesley einen Hauch von Stolz aus diesen Worten heraus.

»Unsere Feinde, Sharpe«, sagte Wellesley, »haben einen der Briefe abgedruckt, aber sie sind bereit, mir den Rest zu verkaufen. Ohne Zweifel wird der Preis unverschämt hoch sein, doch sie haben mir zu verstehen gegeben, dass sie nichts mehr veröffentlichen werden, wenn ich bereit bin zu zahlen. Lord Pumphrey verhandelt in meinem Namen. Wenn wir uns einigen können, wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar dafür, wenn Sie Lord Pumphrey bei der Übergabe eskortieren und beschützen würden.«

Sharpe dachte darüber nach. »Sie haben gesagt, Ihr letzter Bote sei ermordet worden, korrekt, Sir?«

»Sein Name war Plummer. Die Diebe haben behauptet, er hätte sich die Briefe nehmen wollen, ohne dafür zu bezahlen, und ich muss sagen, das klingt sogar plausibel. Captain Plummer war ein streitlustiger Mann – Gott sei seiner Seele gnädig. Sie haben ihn und seine beiden Gefährten in der Kathedrale niedergestochen und ihre Leichen anschließend über die Seemauer geworfen.«

»Was lässt Sie glauben, dass sie das nicht noch einmal tun werden, Sir?«

Wellesley zuckte mit den Schultern. »Plummer könnte sie verärgert haben. In jedem Fall war er kein geborener Diplomat, Lord Pumphrey aber schon. Und ich kann Ihnen versichern, dass die Ermordung von Lord Pumphrey eine harte Reaktion zur Folge haben würde. Außerdem wage ich zu behaupten, dass Ihre Gegenwart abschreckend auf die Diebe wirken würde.«

Sharpe ignorierte das Kompliment. »Eine Frage noch, Sir: Sie haben erwähnt, dass ich ein Dieb war. Was hat das damit zu tun, Lord Pumphreys Leben zu bewahren?«

Henry Wellesley schaute verlegen drein. »Sollte es Lord Pumphrey nicht gelingen, zu einer Übereinkunft zu kommen, habe ich gehofft, dass man die Briefe zurückstehlen könnte.«

»Wissen Sie denn, wo sie sind, Sir?«

»Ich nehme an, an dem Ort, wo auch die Zeitung gedruckt worden ist.«

Das kam Sharpe ein wenig weit hergeholt vor, aber er ließ es erst einmal so stehen. »Wie viele Briefe gibt es insgesamt, Sir?«

»Sie haben fünfzehn.«

»Es gibt noch mehr?«

»Ja, ich fürchte, ich habe noch mehr geschrieben, aber sie haben nur fünfzehn gestohlen.«

»Dann hat das Mädchen also noch mehr, korrekt, Sir?«

»Ich bin sicher, dass sie sie nicht mehr hat«, erklärte Henry Wellesley steif. »Vielleicht haben die fünfzehn einfach irgendwie überlebt.«

Sharpe war sich durchaus bewusst, dass Wellesley ihm irgendetwas verschwieg, aber er nahm an, dass er das auch nicht erfahren würde, wenn er den Botschafter unter Druck setzte. »Diebstahl ist ein Handwerk, das Können verlangt, Sir«, sagte er stattdessen. »Erpressung ist jedoch schlicht übel. Ich brauche Männer. Wir haben es mit Mördern zu tun, Sir, deshalb brauche ich meine eigenen Killer.«

»Ich habe keine Männer, die ich Ihnen anbieten könnte«, sagte der Botschafter und zuckte mit den Schultern. »Nicht, nachdem Plummer tot ist.«

»Ich habe fünfzehn Riflemen, Sir. Die werden reichen. Aber dafür müssen sie in die Stadt, und sie brauchen Zivilkleidung und einen Brief von Ihnen an Lord Wellington, indem Sie bestätigen, dass sie auf Befehl hier sind. Vor allem das brauche ich, Sir.«

»Einverstanden«, sagte Henry Wellesley, und seine Erleichterung war ihm deutlich anzuhören.

»Und ich muss mit der Dame sprechen, Sir. Es wäre sinnlos, die einen Briefe zu stehlen, wenn es noch andere gibt.«

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wo sie ist«, sagte der Botschafter. »Wüsste ich es, würde ich es Ihnen natürlich sagen. Sie scheint sich versteckt zu haben.«

»Trotzdem brauche ich ihren Namen, Sir.«

»Caterina«, antwortete Henry Wellesley wehmütig, »Caterina Blazquez.« Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich komme mir ja so dumm vor, Ihnen das alles zu erzählen.«

»Wir haben uns alle schon wegen einer Frau zum Narren gemacht«, sagte Sharpe. »Wir wären tot, wenn das anders wäre.«

Wellesley lächelte reumütig. »Aber wenn Lord Pumphrey die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende führt«, sagte er, »dann ist alles vorbei, und ich habe eine Lektion fürs Leben gelernt.«

»Und wenn nicht, Sir, dann soll ich die Briefe stehlen, korrekt, Sir?«

»Ich hoffe, so weit wird es nicht kommen«, sagte Wellesley. Er stand auf und warf seinen Zigarrenstummel in die Nacht, wo er in einem Funkenregen auf dem dunklen Rasen landete. »Aber jetzt muss ich mich wirklich umziehen. Volle Galauniform mit Degen. Aber eins noch, Sharpe.«

»Sir?«, fragte Sharpe. Er wusste, dass er den Botschafter eigentlich mit »Exzellenz« hätte anreden müssen, doch er vergaß das immer wieder, und Wellesley schien es nichts auszumachen.

»Wir leben und atmen in dieser Stadt allein mit Erlaubnis der Spanier, und so soll es auch sein. Was auch immer Sie tun, Sharpe, seien Sie vorsichtig. Und bitte sprechen Sie mit niemandem darüber außer mit Lord Pumphrey. Er allein weiß von den Verhandlungen.« Das stimmte nicht ganz. Es gab da noch jemanden, der helfen könnte und es auch tun würde. Allerdings bezweifelte Henry Wellesley, dass er Erfolg haben würde. Deshalb musste er sich nun ganz und gar auf diesen vernarbten und verletzten Schurken verlassen.

»Kein Wort wird über meine Lippen kommen, Sir«, sagte Sharpe.

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«

»Gute Nacht, Sir.«

Im Flur wartete Lord Pumphrey. Er roch leicht nach Veilchen. »Und, Richard?«

»Offenbar habe ich hier etwas zu tun.«

»Ich freue mich ja so. Sollen wir reden?« Lord Pumphrey führte Sharpe den von Kerzen erhellten Flur hinunter. »Waren es wirklich fünf Mann, Richard? Seien Sie ehrlich. Fünf?«

»Sieben«, antwortete Sharpe, obwohl er sich nicht genau erinnern konnte. Aber das war auch egal. Er war ein Dieb, er war ein Mörder, und er war ein Soldat, und jetzt musste er einen Erpresser erledigen.