Scanned by Doc Gonzo

Knaur®

Für Roy und Lynne

Blutbücher sind wir Leiber alle;

wo man uns aufschlägt: lesbar rot.

Inhalt

Rohkopf Rex

Bekenntnisse eines (Pornographen-)

Leichentuchs

Der Zelluloidsohn

Sündenböcke

Menschliche Überreste

Von all den erobernden Armeen, die Jahrhunderte hindurch die Straßen von Zeal zerstampft hatten, war es schließlich das leichtfüßige Getippel des Sonntagsausflüglers, das das Dorf in die Knie zwang. Römische Legionen hatte es erduldet und die Eroberung durch die Normannen, die Höllenqualen des Bürgerkriegs unter Cromwell hatte es überstanden, und alles, ohne seine Identität an die Besatzermächte zu verlieren. Aber nach Jahrhunderten von Stiefel und Stahl blieb es den Touristen den neuen Barbaren — vorbehalten, Zeal niederzuringen, mit den Waffen Höflichkeit und klingende Münze.

Es war für die Invasion bestens geeignet. Fünfundsechzig Kilometer südöstlich von London, inmitten der Obstgärten und Hopfenfelder der Hügellandschaft von Kent, war es von der Großstadt weit genug entfernt, um den Ausflug zum Erlebnis zu machen, doch nah genug, um schnell das Feld räumen zu können, wenn das Wetter mies wurde. Jedes Wochenende von Mai bis Oktober war Zeal ein Wasserloch für ausgedörrte Londoner. An jedem schönwetterverdächtigen Samstag schwärmten sie durch das Dorf; brachten ihre Hunde mit, ihre Plastikbälle, ihren Wurf Kinder und das, was ihre Kinder wegwarfen, luden sie in grölenden Horden auf dem Dorfanger ab und kehrten dann wieder im »Langen Mann« ein, um über Gläsern warmen Biers Verkehrsgeschichten auszutauschen.

Den Zealoten selbst bereiteten die Sonntagsausflügler keinen übermäßigen Kummer; zumindest vergossen sie kein Blut.

Aber gerade ihr Mangel an Aggression machte die Invasion um so heimt ückischer.

Nach und nach riefen diese großstadtmüden Menschen eine sanfte, aber bleibende Veränderung des Dorfcharakters hervor.

Viele von ihnen hängten ihr Herz an ein Haus auf dem Lande, Sie waren bezaubert von den inmitten windzerzauster Eichen gelegenen Stein-Cottages, sie waren entzückt von den Tauben in den Kirchhof-Eiben. Sogar die Luft, sagten sie gern und atmeten dabei tief ein, sogar die Luft riecht hier frischer. Sie riecht nach England.

Zuerst machten nur ein paar von ihnen Kaufangebote für die leeren Scheunen und verlassenen Häuser, die, eher störend, über Zeal und seine Umgebung verstreut waren. Dann wurden es immer mehr. Jedes schöne Wochenende konnte man sehen, Wie sie inmitten von Nesseln und Schutt herumstanden, um zu planen, wie der Küchenanbau auszuführen oder wo der Whirlpool zu installieren sei. Und obwohl viele von ihnen, wenn sie wieder zum Komfort von Kilburn oder St. John’s Wood zurückgekehrt waren, doch lieber dort blieben, schlössen regelmäßig jedes Jahr ein oder zwei von ihnen einen billigen Handel nit einem der Dorfbewohner ab und kauften sich einen Morgen vom wahren Leben.

Und so kamen, als im Lauf der Jahre die Einheimischen von Zeal vom Alter weggerafft wurden, die zivilisierten Wilden statt ihrer ans Ruder. Die Besitzergreifung ging schleichend vor sich, aber für das wissende Auge war die Veränderung offenkundig. Sie zeigte sich in den Zeitungen, die das Post Office neuerdings auf Lager hatte - welcher Einheimische aus Zeal hatte sich je ein Exemplar des Harpers and Queen gekauft oder The Times Literary Supplement durchgeblättert? Sie zeigte sich, diese Veränderung, in den nagelneuen Wägen, die die einzige schmale Straße verstopften - Zeals Rückgrat -, die lachhafterweise High Road hieß. Sie zeigte sich auch in der Gerüchteküche im »Langen Mann«, ein sicheres Zeichen, daß die Angelegenheiten der Fremden zum geeigneten Gegenstand für Diskussion und Spott geworden waren.

Freilich, im Lauf der Zeit fanden die Invasoren einen noch bleibenderen Platz im Herzen von Zeal, dann nämlich, als die beständigen Dämonen ihres hektischen Lebens, Krebs und Herzinfarkt, die ihren Opfern selbst in dieses neugefundene Land nachfolgten, ihren Tribut forderten. Wie vor ihnen die Römer, wie die Normannen, wie alle Eindringlinge, prägten die Pendler diesem widerrechtlich angeeigneten Rasenstück am nachhaltigsten ihren Stempel nicht dadurch auf, daß sie darauf bauten, sondern daß sie darunter begraben wurden.

Feucht war’s diesmal Mitte September; Zeals letztem September.

Thomas Garrow, der einzige Sohn des verstorbenen Thomas Garrow, schwitzte sich einen gesunden Durst zusammen, während er am Rand des Drei-Morgen-Felds grub. Tags zuvor, am Donnerstag, war ein heftiger Regen niedergegangen, und das Erdreich war aufgeschwemmt. Den Boden für die Aussaat im nächsten Jahr freizuräumen war kein leichter Job, wie Thomas es eigentlich erwartet hatte; trotzdem hätte er jeden Eid geschworen, daß er mit dem Feld bis Ende der Woche fertig sein würde. Es war eine schwere Schinderei: Steine wegschaffen und den Schrott veralteter Maschinen herausräumen, die sein Vater, der faule Drecksack, hatte verrosten lassen, wo sie lagen, Mußten schon ein paar gute Jahre gewesen sein, dachte Thomas, ein paar verdammt erstklassige Jahre, daß sein Vater es sich leisten konnte, gute Maschinen einfach vergammeln zu lassen. Wenn man bedenkt, daß er es sich hatte leisten können, den größten Teil von drei Morgen ungepflügt zu lassen; noch dazu gute gesunde Erde. Dies war schließlich der Garten von England; Land war Geld. Drei Morgen brachliegen zu lassen war ein Luxus, den sich in diesen dürftigen Zeiten niemand leisten konnte. Aber, bei Gott, es war harte Arbeit, die Sorte Arbeit, zu der sein Vater ihn in seiner Jugend gezwungen hatte, und die er seitdem höllisch haßte,

Trotzdem, sie mußte gemacht werden.

Und der Tag hatte gut angefangen. Der Traktor hatte nach einer Überholung mehr Mumm, und der Morgenhimmel war voller Möwen, die von der Küste auf eine Mahlzeit frisch aufgeworfener Würmer herüberkamen. Sie leisteten ihm beim Arbeiten heiser Gesellschaft, ihre Unverfrorenheit und ihr hitziges Temperament waren immer amüsant. Aber dann, als er nach einem flüssigen Mittagessen im »Langen Mann« auf das Feld zurückkam, begannen die Dinge schiefzulaufen. Zum Beispiel fing der Motor an, plötzlich auszusetzen, dasselbe Problem, für dessen Reparatur er gerade 200 Pfund ausgegeben hatte. Und dann, als er erst wenige Minuten wieder an der Arbeit war, war er auf den Stein gestoßen.

Es war irgend so ein unauffälliger Brocken; ragte vielleicht dreißig Zentimeter aus dem Erdreich heraus, sein sichtbarer Durchmesser gut und gern ein dreiviertel Meter, seine Oberfläche glatt und kahl. Nicht einmal Flechten, nur einige Furchen auf seiner Stirnseite, die möglicherweise einmal Worte gewesen waren. Vielleicht ein Liebesbrief, wahrscheinlicher noch so etwas wie Kilroy was here, am allerwahrscheinlichsten ein Datum und ein Name. Egal was er einmal gewesen war, Denkmal oder Meilenstein, jetzt war er jedenfalls im Weg.

Thomas mußte ihn ausgraben, oder es gingen ihm im nächsten Jahr mindestens drei Meter pflügbares Land verloren. Ganz unmöglich konnte ein Pflug einen Findling von dieser Größe umfahren.

Thomas wunderte sich, daß das verdammte Ding so lange auf dem Feld geblieben war, ohne daß jemand daran gedacht hatte, es zu entfernen. Aber schließlich war es schon eine Zeitlang her, seit das Drei-Morgen-Feld bebaut worden war; mit Sicherheit nicht in seinen sechsunddreißig Jahren. Und vielleicht, nun, da er darüber nachdachte, zu Lebzeiten seines Vaters ebensowenig. Aus irgendeinem Grund (wenn er den Grund jemals gekannt hatte, dann hatte er ihn vergessen) hatte man diesen Streifen Garrow-Land eine beträchtliche Anzahl Erntejahre, möglicherweise sogar Generationen lang brachliegen lassen. Tatsächlich regte sich in seinem Hinterkopf eine Ahnung, daß jemand, wahrscheinlich sein Vater, gesagt hatte, auf diesem besonderen Fleck würde niemals irgendeine Feldfrucht wachsen. Aber das war blanker Unsinn. Wenn überhaupt, dann fiel das Pflanzenwachstum - obgleich es nur Nesseln waren und Winden - auf diesen gottverlassenen drei Morgen dichter und üppiger aus als auf jedem anderen Stück Land in dieser Gegend. Also gab es nicht den geringsten Grund, warum hier kein Hopfen gedeihen sollte. Vielleicht sogar Obst; obwohl das mehr Geduld und Liebe erforderte, als Thomas seiner Vermutung nach besaß. Was er auch zu pflanzen beschlösse, es würde sicherlich mit mächtiger Begeisterung aus solch reichem Boden schießen, und er hätte drei Morgen gutes Land zurückgewonnen, um damit seine wackligen Finanzen aufzubessern.

Wenn er nur diesen verfluchten Stein ausgraben könnte.

Er wollte schon fast einen der Bagger von der Baustelle am Nordende des Dorfes anfordern; brauchte sich nur hierher zu bewegen und seine mechanischen Kiefer in das Problem zu verbeißen. In exakt zwei Sekunden wäre der Stein draußen und aus dem Weg. Aber sein Stolz widersetzte sich der Vorstellung, beim ersten Anzeichen einer Blase um Hilfe zu laufen. Der Auftrag war sowieso zu klein. Er würde den Brocken selber ausgraben, genau wie es sein Vater gemacht hätte. Das hatte er sich vorgenommen. Jetzt, zweieinhalb Stunden später, bereute er seinen vorschnellen Entschluß.

Die sich voll entfaltende Wärme des Nachmittags hatte mittlerweile einen schwefligen Beigeschmack, und die Luft, der der Wind fehlte, um sie durchzuwirbeln, war stickig geworden.

Vom Hügelland kam ein stotterndes Donnerrollen herüber, und Thomas konnte spüren, wie ihm die statische Elektrizität den Nacken hinaufkroch und sich die kurzen Haare dort sträubten. Der Himmel über dem Feld war jetzt leer. Die Möwen waren zu launisch, um lange herumzuhängen, wenn der Spaß mal vorbei war, und hatten sich in irgendeinem nach Salz riechenden Aufwind davongemacht.

Sogar die Erde, von der heute morgen beim Umpflügen ein süßlich-scharfes Aroma aufgestiegen war, roch jetzt unerfreulich; und während er das schwarze Erdreich um den Stein herum ausgrub, mußte er ständig daran denken, daß es die Verwesung war, die es so überaus fruchtbar machte. Unwillkürlich kreisten seine Gedanken um die zahllosen kleinen Tode auf jedem Spatenvoll Erdreich, das er aushob. Diese Art zu denken war er nicht gewohnt, und das Morbide daran bedrückte ihn. Er hielt einen Augenblick inne, lehnte sich über seinen Spaten und bereute das vierte Glas Guinness, das er sich zum Mittagessen genehmigt hatte. Normalerweise war das ein durchaus harmloses Quantum, aber heute schwappte es ihm im Bauch herum, er konnte es hören, so dunkel wie das Erdreich auf seinem Spaten, und es braute einen Sud aus Magensäure und halbverdautem Essen zusammen.

Denk an was anderes, sagte er sich, oder du mußt demnächst kotzen. Um sich von seinem Bauch abzulenken, schaute er das Feld an. Es war keineswegs ungewöhnlich; nur ein unbearbeitetes, viereckiges Stück Land, umrandet von einer unbeschnittenen Weißdornhecke. Ein oder zwei tote Tiere, die im Weißdornschatten lagen, ein Star und noch etwas anderes, zu sehr verwest, um noch erkennbar zu sein. Ein Gefühl der Abwesenheit machte sich bemerkbar, aber das war nichts Besonderes.

Bald war es Herbst, und der Sommer war zu lang gewesen, zu heiß, übers erträgliche Maß hinaus.

Er blickte nach oben, über den Heckenrand, und sah zu, wie die mongoloidköpfige Wolke ein Blitzgeflacker gegen die Hügel entlud. Was die Helligkeit des Nachmittags gewesen war, war jetzt zu einer dünnen Linie Blau am Horizont zusammengepreßt. Bald Regen, dachte er, und der Gedanke war angenehm.

Kühlender Regen, womöglich ein Guß wie tags zuvor. Vielleicht würde er diesmal die Atmosphäre so richtig gründlich reinigen.

Thomas starrte wieder auf den unnachgiebigen Stein hinunter und versetzte ihm einen Schlag mit dem Spaten. Ein winziger weißer Flammenbogen flog weg.

Laut und erfinderisch verfluchte er den Stein, sich selbst, das Feld. Der Stein saß einfach da, in dem Graben, den er ringsherum ausgehoben hatte, und trotzte ihm. Er war langsam am Ende seiner Möglichkeiten: die Erde um dieses Ding war sechzig Zentimeter tief ausgegraben worden; er hatte Pflöcke darunter eingespreizt, es mit einer Kette umwunden und dann den Traktor in Gang gesetzt, um es herauszuzerren. Ohne Erfolg. Offensichtlich mußte er den Graben tiefer ausheben, die Pflöcke noch weiter hineintreiben. Er würde sich doch von dem verdammten Ding nicht unterkriegen lassen.

Mit wild entschlossenem Grunzen machte er sich wieder ans Graben. Ein Regentröpfchen landete auf seinem Handrücken, aber er nahm es kaum zur Kenntnis. Er wußte aus Erfahrung, daß eine Arbeit wie diese sture Konzentration erforderte: runter mit dem Kopf, von nichts ablenken lassen. Er blendete alles aus. Bloß die Erde war da, der Spaten, der Stein und sein Körper.

Einstechen, ausschaufeln. Einstechen, ausschaufeln, der hypnotisierende Rhythmus der Anstrengung. Die Trance war so vollkommen, daß ihm nicht bewußt war, wie lange er arbeitete, bis der Stein endlich anfing, seine Lage zu verändern.

Die Bewegung weckte ihn. Mit knackender Wirbelsäule richtete er sich auf, ohne sich ganz sicher zu sein, ob die Verlagerung überhaupt mehr war als nur ein Zucken in seinem Auge. Er stemmte sich mit dem Absatz gegen den Stein und drückte. Ja, er schaukelte in seinem Grab. Thomas war zu ausgepumpt, um zu lächeln, spürte aber den bevorstehenden Triumph. Er hatte den Sauhund.

Der Regen kam jetzt allmählich heftiger herunter, er fühlte sich köstlich an auf seinem Gesicht. An allen Seiten spreizte er noch ein paar Pflöcke mehr unter dem Stein ein, um ihn weiter aus seiner Verankerung zu lösen: er würde die Oberhand gewinnen über das Ding. Wart nur, sagte er, wart nur. Der dritte Pflock ging tiefer hinein als die ersten beiden, und er schien eine Gasblase unter dem Stein anzustechen, eine gelbliche Wolke, die so pestartig roch, daß er von dem Loch wegtrat, um etwas reinere Luft einzuatmen. Es war keine vorhanden. Er konnte lediglich einen Batzen Schleim ausräuspern, um Hals und Lunge freizuräumen. Was auch unter dem Stein war - und in dem Gestank lag etwas Animalisches -, es war jedenfalls sehr verfault.

Er zwang sich wieder zur Arbeit hinunter, holte dabei keuchend durch den Mund Luft, nicht durch die Nasenlöcher. Der Kopf wurde ihm zu eng, als ob sein Gehirn anschwölle und gegen die Schädeldecke drückte, darauf drängte, herausgelassen zu werden.

»Du leck mich, du«, sagte er und schlug noch einen Pflock unter den Stein. Sein Kreuz fühlte sich an, als ob es gleich brechen würde. An seiner rechten Hand war eine Blase geplatzt. Eine Bremse saß auf seinem Arm und tat sich gütlich, unzerquetscht.

»Mach schon. Mach schon. Mach schon.« Er schlug den letzten Pflock hinein, ohne zu wissen, daß er es tat.

Und dann fing der Stein zu schlingern an.

Er berührte ihn nicht einmal. Der Stein wurde von unten aus seinem Halt geschoben. Er griff nach seinem Spaten, der noch immer unter dem Stein festgeklemmt war. Plötzlich entwickelte er ein Besitzgefühl dafür; das war seiner, ein Teil von ihm, und er wollte ihn nicht in der Nähe von dem Loch haben. Nicht jetzt; nicht bei dem Geschaukel, das der Stein vollführte, als hätte er einen Geysir unter sich, der gleich losblasen würde.

Nicht bei der gelben Luft und seinem Hirn, das anschwoll wie ein Kürbis im August.

Fest zog er an seinem Spaten. Der rührte sich nicht.

Er verfluchte ihn und zerrte nun mit beiden Händen, hielt dabei eine Armlänge Abstand vom Loch. Die stärker werdende Bewegung des Steins schleuderte in rauhen Mengen Erdreich, Asseln und Kiesel herauf.

Er stemmte sich wieder gegen den Spaten, aber der wollte sich einfach nicht lockern. Thomas machte keine Pause, um über die Situation nachzudenken. Hundeelend war ihm von der Arbeit, er wollte einzig und allein den Spaten, seinen Spaten, aus dem Loch bekommen und dann, auf Teufel komm raus, weg von hier.

Der Stein ruckte und wackelte, wollte aber den Spaten noch immer nicht loslassen. Thomas war es zur fixen Idee geworden, daß er ihn haben mußte, bevor er gehen konnte. Erst wenn er ihn wieder in Händen hielt, heil und unversehrt, würde er seiner inneren Stimme folgen und abhauen.

Unter seinen Füßen begann der Boden zu bersten. Als wäre er federleicht, rollte der Stein weg von der Grabstätte. Eine zweite Gaswolke, noch widerwärtiger als die erste, diente ihm dabei anscheinend als Treibsatz. Gleichzeitig kam der Spaten aus dem Loch, und Thomas sah, was ihn gepackt hielt.

Plötzlich verstand er die Welt nicht mehr.

Da war eine Hand, eine lebende Hand, die sich an den Spaten klammerte, eine Hand, so breit, daß sie das Blatt mit Leichtigkeit umfassen konnte.

Thomas war die Konstellation wohlbekannt: die aufbrechende Erde, die Hand, der Gestank. Er kannte sie aus irgendeinem Alptraum, von dem er auf dem Knie seines Vaters gehört hatte.

Jetzt hätte er den Spaten gern losgelassen, aber seine Willenskraft reichte dazu nicht mehr aus. Alles, was er tun konnte, war, eine Art unterirdischen Befehl zu befolgen, zu ziehen und zu zerren, bis seine Bänder rissen, seine Sehnen bluteten.

Unter der dünnen Erdkruste roch Rohkopf den Himmel. Es war purer Äther für seine abgestumpften Sinne, speiübel wurde ihm dabei vor Freude. Königreiche zur Besitzergreifung, bloß eine Handbreit entfernt. Nach so vielen Jahren, nach der endlosen Erstickung, war wieder Licht auf seinen Augen und der Geschmack menschlichen Entsetzens auf seiner Zunge.

Sein Kopf brach sich jetzt Bahn, das schwarze Haar durchflochten von Würmern, die Kopfhaut übersät von winzigen roten Spinnen. Hunderte von Jahren hatten sie ihn irritiert, diese Spinnen, sich bis aufs Mark in ihn hineingewühlt, und er sehnte sich danach, sie zu zerquetschen. Zieh, zieh! Er zwang dem Menschenwesen seinen Willen auf, und Thomas Garrow zog, bis sein bedauernswerter Körper keinerlei Kraft mehr besaß, und Zentimeter um Zentimeter wurde Rohkopf aus seinem Grab, einem Leichentuch beschwörender Gebete, herausgehievt.

Der drückende Stein, der so lange auf ihm gelastet hatte, war entfernt worden, und mühelos zog er sich jetzt selber hoch, streifte dabei die Graberde ab wie eine Schlange ihre Haut. Sein Rumpf war frei. Schultern, zweimal so breit wie die eines Mannes; magere, zerschrammte Arme, stärker als menschliche. Seine Glieder pumpten sich voll Blut wie die Flügel eines geschlüpften Schmetterlings, von Auferstehung durchsaftet.

Rhythmisch zerkrallten seine langen, tödlichen Finger den Boden, während ihre Kraft zurückkehrte.

Thomas Garrow stand bloß da und sah zu. In ihm war nichts als Ehrfurcht. Angst war für jene, die noch eine Überlebenschance hatten. Er hatte keine.

Rohkopf war zur Gänze aus seinem Grab gestiegen. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten begann er sich aufzurichten.

Klumpen feuchten Erdreichs fielen von seinem Rumpf, als er sich zu seiner vollen Größe emporreckte, einen knappen Meter über Garrows einsachtzig.

Thomas Garrow stand in Rohkopfs Schatten und hielt den Blick noch immer auf das gähnende Loch geheftet, aus dem sich der König erhoben hatte. Mit der rechten Hand umklammerte er noch immer seinen Spaten. Rohkopf hob ihn an den Haaren hoch. Die Kopfhaut riß unter dem Gewicht des Körpers, also packte Rohkopf Garrow um den Hals, den seine Gigantenhand mühelos umschloß.

Blut von seiner Kopfhaut lief Garrow übers Gesicht, und die Empfindung rüttelte ihn wach. Der Tod stand unmittelbar bevor, und er wußte es. Er schaute zu seinen Beinen hinab, die sinnlos unter ihm herumstrampelten, dann schaute er auf und starrte direkt in Rohkopfs mitleidloses Gesicht.

Es war riesig, wie der Herbstmond, riesig und bernsteinfarben.

Aber dieser Mond hatte Augen, die in seinem bleichen narbenübersäten Gesicht brannten. In jeder Hinsicht glichen sie Wunden, diese Augen, als hätte sie jemand ins Fleisch von Rohkopfs Gesicht gestanzt und dann zwei Kerzen hineingestellt, die in den Löchern flackerten.

Garrow war überwältigt von der ungeheuerlichen Größe dieses Mondes. Er ließ den Blick von Auge zu Auge schweifen, und dann zu den nassen Schlitzen, die seine Nase waren, und schließlich, in kindlichem Entsetzen, hinunter zum Mund.

Gott, dieser Mund, er war so breit, so höhlenartig tiefliegend, daß er den Kopf in zwei Teile zu spalten schien, als er sich öffnete. Das war Thomas Garrows letzter Gedanke. Daß der Mond sich in zwei Teile spaltete und aus dem Himmel auf ihn herabstürzte.

Dann drehte der König den Körper um, wie er es schon immer mit seinen getöteten Feinden gemacht hatte, und trieb ihn mit dem Kopf voran in das Loch, schraubte ihn in ebenjenes Grab hinunter, in dem Thomas’ Vorfahren Rohkopf auf ewig hatten versenken wollen.

Bis das Gewitter so richtig über Zeal losbrach, war der König eineinhalb Kilometer vom Drei-Morgen-Feld entfernt und hatte in der Scheune von Nicholson Zuflucht gesucht. Im Dorf ging, Regen hin oder her, jeder seinen Geschäften nach. Selig, die nicht wissen. Es gab weder eine Kassandra unter ihnen, noch hatte »Ihre Zukunft in den Sternen« in der dieswöchigen Gazette auch nur andeutungsweise den plötzlichen Tod erwähnt, der in den nächsten Tagen einen Zwilling, drei Löwen, einen Schützen und ein kleineres Sternensystem weiterer Personen ereilen sollte.

Mit dem Donner war der Regen gekommen, in dicken kühlen Tropfen, die sich rasch zu einem Guß von monsunartiger Heftigkeit auswuchsen. Erst als die Rinnsteine Sturzbäche wurden, fingen die Leute an, Schutz zu suchen.

Auf der Baustelle saß der Bagger, der eben noch Ronnie Miltons Garten in groben Zügen landschaftlich gestaltet hatte, untätig im Regen und ließ die zweite Ganzwäsche innerhalb von zwei Tagen über sich ergehen. Für den Fahrer war der Regenguß ein willkommenes Signal gewesen, sich in die Baracke zurückzuziehen und dort über Pferderennen und Weiber zu reden.

Im Eingang des Post Office sahen drei der Dorfbewohner zu, wie sich die Gullys verstopften, und meckerten, daß das bei jedem Regen passierte und daß sich in einer halben Stunde in der Senke am niedrigsten Punkt der Hauptstraße ein Wassertümpel gebildet hätte, so tief, daß man mit dem Segelboot darauf fahren könnte.

Und in der Senke selber, in der Sakristei von St. Peter, sah Declan Ewan, der Küster, zu, wie der Regen in gierigen Flüßchen den Hügel herunterstürmte und sich draußen vor der Sakristeipforte zu einem kleinen See sammelte. Bald tief genug, um drin zu ertrinken, dachte er und ging dann, über seine eigene Assoziation verdutzt, vom Fenster weg, um wieder seine Beschäftigung des Meßgewänder-Faltens aufzunehmen.

Eine seltsame Erregung war heute in ihm; und er konnte, würde, wollte sie nicht unterdrücken. Es hatte nichts mit dem Gewitter zu tun, obwohl er die seit seinen Kindertagen liebte.

Nein, da war noch etwas anderes, das ihn aufrüttelte, und er sollte verdammt sein, wenn er wüßte, was. Er fühlte sich wieder wie ein Kind. Als ob es Heiligabend wäre und jede Minute der Weihnachtsmann, der erste Heiland, an den er je geglaubt hatte, vor der Tür stehen würde. Bei der bloßen Vorstellung hätte er am liebsten laut gelacht, aber die Sakristei war für Gelächter ein zu ernster Ort, und er hielt sich zurück, erlaubte dem Lächeln, sich in seinem Innern niederzulassen, eine geheime Hoffnung.

Während jeder sonst vor dem Regen Schutz suchte, wurde Gwen Nicholson bis auf die Haut durchnäßt. Noch immer war sie auf dem Hof hinterm Haus und lockte Amelias Pony Richtung Scheune. Das blöde Vieh war vom Donner ganz durchgedreht und wollte sich nicht von der Stelle rühren.

Gwen war völlig aufgeweicht und wütend.

»Kommst jetz’ endlich, du Biest?« Ihre Stimme gellte über den Lärm des Sturms hinweg. Der Regen peitschte den Hof und trommelte auf ihren Scheitel ein. Das Haar klebte ihr am Kopf.

»Komm schon! Komm schon!«

Das Pony dachte nicht daran, sich zu rühren. Mondsichelförmiges Weiß in seinen Augen: Zeichen seiner Angst. Und je mehr der Donner um den Hof rollte und krachte, desto weniger wollte es sich bewegen. Wütend schlug ihm Gwen auf die Hinterseite, härter, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Als Antwort auf den Hieb machte es ein paar Schritte, ließ damp fende Kotklumpen fallen dabei, und Gwen nutzte die Chance.

Sobald sie es einmal in Bewegung gebracht hatte, konnte sie es das letzte Stück ziehen.

»Warme Scheune«, versprach sie ihm. »Na komm, is’ so naß hier draußen, wer wird denn da draußen bleiben wollen.«

Die Scheunentür war nur leicht angelehnt. Bietet doch sicher eine verlockende Aussicht, dachte sie, selbst für das Spatzenhirn eines Ponys. Sie zog es bis in die unmittelbare Nähe der Scheune, und ein weiterer Schlag brachte es durch die Tür.

Im Innern der Scheune war es wohlig und warm, wie sie es dem verdammten Luder versprochen hatte, wenn auch die Luft metallisch roch vom Gewitter. Gwen band das Pony an die Querlatte in seiner Box und warf ihm lieblos eine Decke über das glitzernde Fell. Verdammt sollte sie sein, wenn sie das Viech auch noch abtrocknen würde, das war Amelias Job. Die Abmachung hatte sie mit ihrer Tochter getroffen, als sie sich einig geworden waren, das Pony zu kaufen: daß für die ganze Striegelei und Ausmisterei Amelia zuständig wäre, und - um ihr gegenüber fair zu sein - mehr oder weniger hatte sie ihr Versprechen auch gehalten.

Das Pony war noch immer in Panik. Es stampfte und rollte die Augen wie ein schlechter Tragöde. Schaumspritzer waren auf seinen Lippen. Ein wenig schuldbewußt tätschelte ihm Gwen die Flanke. Sie hatte die Geduld verloren. Ihre Tage. Jetzt tat es ihr leid. War nur zu hoffen, daß Amelia nicht von ihrem Schlafzimmerfenster aus alles mit angesehen hatte.

Ein Windstoß erwischte die Scheunentür und knallte sie zu.

Das Geräusch des Regens draußen auf dem Ho f war schlagartig abgedämpft. Plötzlich war es dunkel.

Das Pony hörte auf zu stampfen. Gwen hörte auf, seine Flanken zu streicheln. Alles hörte auf, ihr Herzschlag auch, so kam es ihr wenigstens vor.

Hinter ihr, die Heuballen überragend, erhob sich eine Ge stalt, die fast zweimal so groß war wie sie. Gwen sah den Riesen nicht, aber ihre Eingeweide tobten. Verdammte Periode, dachte sie und rieb sich in langsam kreisender Bewegung den Unterbauch. Normalerweise war sie so pünktlich wie eine Uhr. Aber diesen M onat war sie einen Tag früher dran. Sie sollte zurück ins Haus gehen, sich umziehen und waschen.

Rohkopf stand da und betrachtete Gwen Nicholsons Nacken; ein einziger Biß würde mit Leichtigkeit töten. Aber um nichts in der Welt könnte er sich überwinden, diese Frau anzufassen; nicht heute. Sie hatte den Blut-Zyklus an sich, er konnte den scharfen Geruch wahrnehmen, und ihm wurde speiübel davon.

Es war tabu, dieses Blut, und niemals hatte er eine Frau gerissen, die durch seine Einwirkung vergiftet war.

Als s ie die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen spürte, eilte Gwen, ohne sich umzusehen, aus der Scheune, rannte durch den Platzregen zum Haus zurück und ließ das verängstigte Pony in der Finsternis der Scheune allein.

Rohkopf hörte die Frauenfüße sich entfernen, hörte die Haustür zuschlagen.

Er wartete, um sicherzugehen, daß sie nicht zurückkam, dann tappte er zu dem Tier hinüber, streckte seine Hand aus und packte es. Das Pony schlug aus und klagte, aber Rohkopf hatte seinerzeit weitaus größere und weitaus besser bewehrte Tiere gerissen als dieses hier.

Er öffnete den Mund. Blut durchströmte das Zahnfleisch, als die Zähne - wie Krallen, die herausfahren aus einer Katzentatze - aus ihm hervortraten. Zweireihig war jeder Kiefer bestückt, zwei Dutzend nadelscharfer Spitzen. Sie leuchteten auf, als sie sich um das Fleisch des Ponyhalses schlössen. Dickes, frisches Blut strömte Rohkopf die Kehle hinunter. Er schluckte es gierig. Der heiße Geschmack der Welt. Auf ihn hin fühlte er sich stark und weise. Das war nur die erste von vielen Mahlzeiten, die er zu sich nehmen würde, an allem, was ihm in den Sinn kam, würde er sich vollfressen, und niemand würde ihn aufhalten, nicht dieses Mal. Und wenn er soweit war, dann würde er diese Möchtegernanwärter von seinem Thron schleudern, in ihren Häusern würde er sie einäschern, ihre Kinder würde er schlachten und die Eingeweide ihrer Säuglinge als Halsschmuck tragen. Dieser Ort hier gehörte ihm. Daß sie die Wildnis eine Zeitlang gezähmt hatten, hieß beileibe nicht, daß die Erde in ihrem Besitz war. Sie gehörte ihm, und niemand würde sie ihm wegnehmen, nicht einmal die Heiligkeit. Auch mit der kannte er sich aus. Niemals wieder würden sie ihn bezwingen.

Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß er auf dem Scheunenboden, umwunden von graurosa Ponygedärm, und plante sein weiteres Vorgehen, so gut er eben konnte. Ein großer Denker war er nie gewesen. Zuviel Appetit: der überwältigte seine Vernunft. Er lebte im ewigen Hier und Jetzt seines Hungers und seiner Stärke, verspürte ausschließlich den rohen, auf dieses Land begrenzten Trieb, der früher oder später regelmäßig zu einem Gemetzel gedieh.

Über eine Stunde lang ließ der Regen nicht nach.

Ron Milton wurde ungeduldig; eine Charakterschwäche, die ihm ein Magengeschwür und einen Spitzenjob in der Designberatung verschafft hatte. Was Milton für einen erledigen konnte, ließ sich unmöglich schneller erledigen. Er war der Beste. Und Faulheit haßte er bei anderen Leuten ebensosehr wie bei sich selbst. Nimm dieses verdammt e Haus, zum Beispiel. Sie hatten versprochen, es wäre bis Mitte Juli fertig, der Garten angelegt, die Zufahrt gepflastert, alles, und bitte, wie sah es jetzt aus, zwei Monate nach dem Termin? Von Bewohnen war bei dem Haus keine Rede, noch lange nicht. Die Hälfte der Fenster ohne Glas, die Eingangstür nicht vorhanden, der Garten ein Schlachtfeld, die Zufahrt ein Sumpf.

Dies sollte sein Schloß werden, sein Refugium vor einer Welt, die ihm Verdauungsstörungen und Reichtum einbrachte. Ein ruhiger Hafen, weit weg von den Scherereien der City, wo Maggie Rosen züchten und die Kinder reine Luft atmen konnten. Nur daß es noch nicht fertig war. Verdammt, bei dem Tempo wäre er nicht vor nächstem Frühling drin. Noch ein Winter in London. Die Vorstellung ließ ihn schier verzweifeln.

Maggie gesellte sich zu ihm und bot ihm Schutz unter ihrem roten Schirm.

»Wo sind die Kinder?« fragte er.

Sie schnitt eine Grimasse. »Wieder im Hotel, bringen Mrs.

Blatter zur Verzweiflung.«

Enid Blatter hatte ihre Kapriolen den Sommer über einige Wochenenden lang ertragen. Sie hatte selber Kinder, und sie war souverän und gelassen genug, um mit Debbie und lan gut zurechtzukommen. Aber selbst ihrem Fundus an Frohsinn und Heiterkeit waren Grenzen gesetzt.

»War’ besser, wir fahr’n zurück nach London.«

»Nein. Bitte, bleiben wir doch noch ein, zwei Tage. Wir können Sonntag abend fahren. Ich hätt’ gern, daß wir am Sonntag alle auf das Erntedankfest gehen.«

Jetzt schnitt Ronnie eine Grimasse. »Ach du lieber Heiland.«

»Das gehört einfach zum Leben auf dem Dorf, Ronnie. Wenn wir hier leben wollen, dann müssen wir uns auch in die Gemeinschaft eingliedern.«

Er quengelte wie ein kleiner Junge, wenn er in dieser Stimmung war. Sie kannte ihn so gut, daß sie seine nächsten Worte hören konnte, noch bevor er sie sagte. »Hab’ keine Lust.«

»Uns bleibt aber nichts anderes übrig.«

»Wir können heut abend heimfahren.«

»Ronnie …«

»Was soll’n wir hier denn noch. Die Kinder langweilen sich, du bist unglücklich …«

Maggie hatte ihre Gesichtszüge in Beton gefaßt; keinen Millimeter würde sie nachgeben. Dieses Gesicht kannte er genausogut wie sk seine Quengelei.

Er musterte die Pfützen, die sich dort bildeten, wo eines Tages möglicherweise ihr Vorgarten sein würde; er war außerstande, sich hier Gras oder Rosen vorzustellen. Es kam ihm plötzlich alles undurchführbar vor.

»Fahr ruhig schon nach London, wenn du willst, Ronnie.

Nimm die Kleinen mit. Ich bleib’ noch. Und komm’ dann mit dem Sonntagabend-Zug.«

Schlau, dachte er, ihm einen Ausweg anzubieten, der weniger reizvoll war, als hier festzuhängen. Zwei Tage in der Stadt allein auf die Kinder aufpassen. Nein danke.

»Okay. Hast gewonnen. Wir gehn auf das elende Erntedankfest. «

»Du Ärmster.«

»Aber nur, wenn ich nicht beten muß.«

Amelia Nicholson kam in die Küche gelaufen, das runde Gesicht ganz weiß, und brach bewußtlos vor ihrer Mutter zusammen. Auf ihrem grünen Plastikregenmantel war Erbrochenes verschmiert, und Blut auf ihren grünen Gummistiefeln.

Gwen kreischte nach Denny. Die Kleine zitterte in ihrer Ohnmacht, ihr Mund kaute an einem Wort, oder Worten, die nicht kommen wollten.

»Was’n los?« Denny polterte die Treppe herunter. »Um Himmels willen.«

Amelia erbrach sich erneut. Ihr Gesicht war so gut wie blau.

»Was fehlt ihr denn?«

»Sie is’ grad reingekommen. Du rufst besser gleich ‘nen Krankenwagen.«

Denny legte ihr die Hand an die Wange. »Sie hat ‘n Schock.«

»‘n Krankenwagen, Denny…« Gwen zog der Kleinen den grünen Regenmantel aus und öffnete ihr die Bluse.

Langsam stand Denny auf. Durch das regengepeitschte Fenster konnte er den Hof sehen. Die Scheunentür klatschte auf und zu im Wind. Es war jemand drin; flüchtig registrierte er Bewegung-

»Um Himmels willen - ‘nen Krankenwagen!« sagte Gwen abermals.

Denny hörte nicht hin. Jemand war in seiner Scheune, auf seinem Besitz, und solche Übergriffe ahndete er nach strengem Ritual.

Aufreizend öffnete sich erneut die Scheunentür. Ja! Zog sich zurück ins Dunkel. Eindringling.

Er schnappte sich das Gewehr neben der Tür und behielt dabei soweit wie möglich den Hof im Auge. Gwen ließ Amelia auf dem Küchenboden liegen und telefonierte um Hilfe. Das Mädchen stöhnte jetzt. Sie war bestimmt bald wieder okay. Bloß so ein dreckiger Eindringling, der ihr einen Schreck eingejagt hatte, das war alles. Auf seinem Grund und Boden.

Er öffnete die Tür und trat auf den Hof hinaus. Er war in Hemdsärmeln, und der Wind war beißend kalt, aber der Regen hatte aufgehört. Zu seinen Füßen glitzerte der Boden, und Tropfen fielen von jeder Dachrinne, jedem Verandavorsprung, ein unruhiges Schlagzeugsolo, das ihn über den Hof begleitete.

Matt schwang die Scheunentür wieder halb auf und blieb diesmal offen. Er konnte nichts entdecken. Fragte sich vage, ob ihn irgendein Lichteffekt …

Aber nein. Er hatte gesehen, wie sich im Innern jemand bewegte. Die Scheune war nicht leer. Etwas (nicht das Pony) faßte ihn eben jetzt ins Visier. Sähe das Gewehr in seinen Händen und käme ins Schwitzen. Soll er nur. Auf so eine Tour bei ihm aufzukreuzen. Soll ruhig glauben, daß er ihm die Eier wegpusten würde.

Mit einem halben Dutzend selbstsicherer Schritte legte er die Entfernung zurück und betrat die Scheune.

Der Magen des Ponys war unter seinem Schuh, eines seiner Beine rechts von ihm, der Unterschenkel bis auf den Knochen abgenagt. Pfützen gerinnenden Blutes spiegelten die Löcher im Dach wider. Angesichts dieser Verstümmelung hätte er sich am liebsten übergeben.

»Also dann«, forderte er die Schatten heraus. »Komm da raus.« Er hob sein Gewehr. »Hast du mich verstanden, du Dreckskerl? Raus, hab’ ich gesagt, oder ich knall’ dich ins Jenseits.« Und er meinte es auch durchaus ernst.

Am ändern Ende der Scheune rührte sich etwas zwischen den Heuballen.

Jetzt hab’ ich den Hurensohn, dachte Denny. Der Eindringling stand auf, mit seinen ganzen zwei Meter siebzig, und starrte Denny an.

»O mein Gooott …«

Und ohne Warnung ging es auf ihn los, zügig und unaufhalt sam wie eine Lokomotive. Er feuerte voll hinein, und die Kugel traf es in den oberen Brustkorb, aber die Wunde verlangsamte es kaum.

Nicholson drehte sich um und rannte. Die Steine des Hofs waren schlüpfrig unter seinen Schuhen, und er brachte nicht die nötige Beschleunigung zustande, um ihm zu entkommen.

Nach zwei Herzschlägen war es hinter, und nach einem weiteren über ihm.

Gwen ließ das Telefon fallen, als sie den Schuß hörte. Sie raste zum Fenster, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie eine gigantische Gestalt ihren lieben Denny überragte. Das Ungeheuer heulte auf, während es ihn packte, und warf ihn in die Luft hinauf wie einen Sack Federn. Hilflos sah Gwen zu, wie sich sein Körper am Scheitelpunkt seiner Reise drehte und dann wieder senkrecht zur Erde herunterstürzte. Mit einem dump fen Schlag, den sie in jeder Faser spürte, traf er auf den Hof auf, und wie der Blitz war der Riese bei seinem Körper, um sein liebevolles Gesicht zu schmutzigem Brei zu zertrampeln.

Sie schrie auf - versuchte, sich sogleich mit der Hand zum Schweigen zu bringen. Zu spät. Der Laut war heraus, und der Riese schaute zu ihr her, geradewegs zu ihr, seine Bosheit durchdrang das Fenster. O Gott, es hatte sie gesehen, und jetzt kam es sie holen, trottete über den Hof, eine nackte Maschine, und grinste ihr beim Näherkommen eine Verheißung zu.

Gwen raffte Amelia vom Boden auf und drückte sie fest an sich, preßte das Gesicht des Mädchens an ihren Hals. Vielleicht würde sie nichts sehen. Sie durfte nichts sehen. Das Geräusch seiner auf den nassen Hof klatschenden Füße wurde lauter.

Sein Schatten füllte die Küche aus.

»Hilf mir, lieber Gott.«

Es drückte gegen das Fenster, sein Körper so breit, daß er das Licht austilgte, sein lüsternes, abstoßendes Gesicht auf die nasse Scheibe geschmiert. Dann krachte es durch, ohne vom Glas Notiz zu nehmen, das in seinen Körper schnitt. Es roch Kinderfleisch. Es wollte Kinderfleisch. Und es würde Kinderfleisch bekommen.

Seine Zähne platzten hervor, verbreiterten jenes Lächeln zu einem obszönen Lachen. Speichelstränge hingen von seinem Kiefer herunter, während es die Luft durchkrallte, wie eine Katze, die hinter einer Maus in einem Käfig her ist, und sich dabei immer weiter hereindrückte, jeder Schwinger näher beim Leckerbissen.

Als das Wesen das Gegreife über hatte und den Fensterrahmen zu zertrümmern und hereinzuklettern begann, riß Gwen die Tür zur Diele auf. Sie sperrte hinter sich zu, während auf der anderen Seite Geschirr zu Bruch ging und Holz zersplitterte; dann fing sie an, alle Dielenmöbel vor der Tür aufzutürmen.

Tische, Stühle, den Garderobenständer - obwohl sie gleichzeitig wußte, daß es in genau zwei Sekunden Kleinholz sein würde. Amelia kniete auf dem Dielenboden, wo Gwen sie hingesetzt hatte. Ihr Gesicht trug den Ausdruck dankbaren Vergessens.

Also gut, mehr konnte sie nicht tun. Jetzt nach oben. Sie hob ihre Tochter hoch, die plötzlich leicht wie Luft war, und nahm zwei Stufen auf einmal. Sie war schon halb oben, als der Lärm unten in der Küche völlig aufhörte.

Plötzlich hatte sie eine Realitätskrise. Im oberen Flur, wo sie jetzt stand, war alles friedlich und ruhig. Staub sammelte sich in winzigen Mengen auf den Fensterbrettern, Blumen welkten.

All die verschwindend kleinen häuslichen Prozesse gingen weiter, als wäre nichts geschehen.

»Nur geträumt«, sagte sie. Gott ja, nur geträumt.

Sie setzte sich auf das Bett, in dem Denny und sie acht Jahre lang zusammen geschlafen hatten, und versuchte klar zu denken.

Irgendein gräßliches menstruationsbedingtes Schreckgespenst, das war es, irgendeine außer Rand und Band geratene Vergewaltigungsphantasie. Sie legte Amelia auf die pinkfarbene Daunendecke (Denny konnte Fink nicht ausstehen, duldete es aber ihr zuliebe) und streichelte die feuchtkalte Stirn des Mädchens.

»Nur geträumt.«

Dann verfinsterte sich das Zimmer, und sie schaute auf, wohl wissend, was sie sehen würde.

Es war da, das Schreckgespenst, über alle Fenster im ersten Stock verteilt. Seine Spinnenarme umspannten die Scheibenfront in voller Breite, es klammerte sich an den Rahmen wie ein Akrobat, seine ekelerregenden Zähne sanken zurück ins Zahnfleisch und traten wieder hervor, während es ihr Entsetzen beglotzte.

In einer einzigen fließenden Bewegung raffte sie Amelia vom Bett auf und tauchte Richtung Tür. Hinter ihr brach Glas in Stücke, und ein Schwall kalter Luft fegte ins Schlafzimmer. Es kam.

Sie lief über den Flur zur obersten Stufe, aber innerhalb eines Herzschlags war es hinter ihr her, duckte sich durch die Schlafzimmertür, sein Maul ein Tunnel. Als es sich vorbeugte, um das stumme Paket aus ihren Armen zu entwenden, stieß es ein Freudengeheul aus. In dem eng begrenzten Raum des Treppenabsatzes war es allgegenwärtig.

Sie konnte ihm nicht davonlaufen, sie konnte es nicht bekämp fen. Mit unverschämter Leichtigkeit ließen sich seine Hände auf Amelia nieder und zerrten an ihr.

Die Kleine schrie auf, als es sie nahm, vier Furchen harkten ihre Fingernägel ins Gesicht ihrer Mutter, als sie deren Arme verließ.

Gwen strauchelte nach hinten, schwindlig von dem unfaßbaren Anblick vor ihr, und verlor auf der obersten Treppenstufe das Gleichgewicht. Während sie umfiel, sah sie, wie Amelias tränennasses Gesicht, puppensteif, zwischen jenen beiden Zahnreihen gefressen wurde. Dann traf ihr Kopf auf das Geländer auf, und ihr Genick brach. Die letzten sechs Stufen purzelte sie als Leiche hinunter.

Das Regenwasser war bis zum frühen Abend zum Teil versikkert, aber der künstliche Teich am Tiefpunkt der Senke überflutete noch immer, an die fünfzehn Zentimeter tief, die Straße. Heiter spiegelte er den Himmel wider. Sehr hübsch, aber unpassend. Ruhig erinnerte Reverend Coot Declan Ewan daran, die verstopften Gullys dem Grafschaftsrat zu melden. Es war das dritte Mal, daß er ihn darum ersuchte, und Declan wurde rot bei der Bitte.

»Tut mir leid, ich werd’…«

»Schon gut. Nicht so tragisch, Declan. Aber wir müssen sie wirklich reinigen lassen.«

Ein geistesabwesender Blick. Ein Herzschlag. Ein Gedanke.

»Natürlich werden sie jeden Herbstanfang wieder verstopft.«

Coot deutete mit der Hand einen Kreis an und wollte schon hinzufügen, daß es wirklich nicht allzuviel Unterschied machte, wann oder ob der Rat die Gullys reinigte, aber dann verflüchtigte sich der Gedanke wieder. Es gab dringlichere Fragen. Zum einen die Sonntagspredigt. Zum ändern, weshalb er heute abend mit dem Predigtschreiben so schlecht zu Rande kam. Etwas Beklemmendes lag heute in der Luft, das jedes beruhigende Wort, das er zu Papier bringen wollte, beim Niederschreiben erstarren ließ. Coot ging zum Fenster, dann wieder zu Declan, und kratzte sich an den Handflächen. Sie juckten, vielleicht ein neuerlicher Ekzembefall. Wenn er es nur aussprechen könnte; ein paar Worte finden, um seinem Kummer Ausdruck zu verleihen. In seinen ganzen fünfundvierzig Jahren hatte er sich noch nie so kommunikationsunfähig gefühlt. Und noch nie war es in diesen Jahren so lebenswichtig gewesen, daß er redete.

»Kann ich jetzt gehen?« fragte Declan.

Coot schüttelte den Kopf. »Noch einen Augenblick. Wenn’s recht ist.«

Er wandte sich dem Küster zu. Declan Ewan war neunundzwanzig, hatte jedoch das Gesicht eines weitaus älteren Mannes. Fade, blasse Gesichtszüge; vorzeitiger Haarausfall.

Was wird dieses Eiergesicht mit meiner Enthüllung anfangen?

dachte Coot. Wahrscheinlich wird er lachen. Klar, darum kann ich nicht die rechten Worte finden: weil ich nicht will. Furcht’

mich davor, für blöd gehalten zu werden. So sieht’s aus mit mir, dem Mann der Geistlichkeit, dem Adepten der Mysterien Christi. Das erste Mal in gut vierzig Jahren bekomm’ ich wirklich etwas zu sehen, eine Vision womöglich, und hab’

Angst davor, ausgelacht zu werden. Blödian, Coot, Blödian, blöder.

Er nahm die Brille ab. Declans leere Gesichtszüge wurden zu einem Schemen. Zumindest hätte er jetzt nicht mehr das affige Grinsen vor Augen. »Declan, heute morgen hab’ ich was erlebt, das kann ich nur mit … mit … Heimsuchung umschreiben.«

Declan sagte nichts, auch der Schemen bewegte sich nicht.

»Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll … unser Wortschatz ist armselig, sobald es um diese Art Dinge geht…

aber offen gestanden hatte ich noch nie ein so unmittelbares, ein so unzweideutiges Erlebnis der … Manifestation …«

Coot hielt inne. Meinte er: Gottes?

»Gottes«, sagte er, ohne sich sicher zu sein, daß er es auch meinte.

Einen Moment lang erwiderte Declan nichts. Coot riskierte es, seine Brille an ihren alten Platz zu befördern. Das Ei war nicht geplatzt. »Können Sie sagen, wie es war?« fragte Declan. Sein inneres Gleichgewicht war absolut unbeschädigt.

Coot schüttelte den Kopf. Den ganzen Tag über hatte er versucht, die passenden Worte zu finden, aber die Formulierungen kamen ihm alle so abgegriffen vor.

»Wie war es?« insistierte Declan.

Weshalb begreift er nicht, daß es dafür keine Worte gibt? Ich muß es versuchen, dachte Coot, ich muß.

»Ich war am Altar nach der Morgenandacht …«, begann er,

»und ich spürte, wie etwas durch mich hindurchging. Fast wie Elektrizität. Es ließ mir die Haare zu Berge stehn. Buchstäblich, jedes einzelne.«

Coots Hand fuhr durch sein kurzgeschorenes Haar, während er sich an die Empfindung erinnerte. An das Haar, das kerzengerade in die Höhe stand, wie ein grau-gelbes Weizenfeld. Und dieses Surren an den Schläfen, in seiner Lunge, an seinem Sack. Er hatte sogar einen Steifen davon gekriegt; nicht, daß er es über sich bringen würde, das Declan mitzuteilen. Aber er stand dort am Altar mit einer so gewaltigen Erektion - es war, als ob er die Freude der Lust in vollem Ausmaß wiederentdeckte.

»Ich will nicht behaupten … Ich kann nicht behaupten, daß es unser Herr und Gott war …« (Obwohl er das nur zu gern glaubte: daß sein Gott der Herr des Steifen war.) »Ich kann nicht einmal behaupten, das es christlich war. Aber irgendwas ist geschehn heute. Das hab’ ich gespürt.«

Declans Gesicht war noch immer undurchdringlich.

Coot betrachtete es mehrere Sekunden, konnte die Verachtung kaum erwarten. »Und?« wollte er wissen.

»Was und?«

»Nichts dazu zu sagen?«

Das Ei runzelte einen Moment die Stirn, eine Furche auf seiner Schale. Dann sagte es: »Gott steh’ uns bei«, beinahe im Flüsterton.

»Was?«

»Ich hab’ es auch gespürt. Nicht ganz so, wie Sie’s schildern, nicht so sehr ein Elektroschock. Aber irgendwas.«

»Weshalb Gott steh’ uns bei, Declan ? Haben Sie vor irgendwas Angst?«

Er gab keine Antwort.

»Wenn Sie irgendwas über diese Erfahrungen wissen, das ich nicht weiß … dann erzählen Sie’s mir, bitte. Ich will wissen, begreifen. Gott, ich muß es begreifen.«

Declan schürzte die Lippen. »Also …«

Seine Augen wurden unentzifferbarer denn je, und zum ersten Mal bekam Coot ganz flüchtig einen Geist hinter Declans Augen zu Gesicht. War es vielleicht Verzweiflung?

»Zu dem Bezirk hier gehört eine recht umfangreiche Geschichte, wissen Sie«, sagte er, »eine Geschichte von Wesen … auf diesem Gelände.«

Coot wußte, daß sich Declan intensiv mit Zeals Geschichte befaßte. Reichlich harmloser Zeitvertreib. Das Vergangene war schließlich vergangen.

»Dieses Gebiet hier ist seit Jahrhunderten besiedelt, das reicht weit bis vor die Besetzung durch die Römer zurück. Keiner weiß, wie weit. Wahrscheinlich war immer ein Gotteshaus auf diesem Gelände.«

»Daran ist nichts Seltsames.« Coot bot Declan ein ermunterndes Lächeln an. Es sollte ihn beruhigen. Ein Teil von ihm wollte hören, daß mit seiner Welt alles zum besten stand, selbst wenn es gelogen war.

Declans Gesicht verfinsterte sich. Er hatte keine Beruhigung zu bieten. »Und ein Wald war hier. Riesenhaft. Das Wilde Holz.«

War das noch immer Verzweiflung hinter den Augen? Oder war es Nostalgie? »Nicht irgend so ein zahmer Obstgarten. Ein Wald, in dem man eine Großstadt hätte verschwinden lassen können; voller Bestien …«

»Sie meinen Wölfe? Bären?«

Declan schüttelte den Kopf. »Es gab Wesen, denen dieses Land gehörte. Vor Christus. Vor der Zivilisation. Die meisten von ihnen überlebten die Zerstörung ihres angestammten Lebensraums nicht. Zu primitiv, nehm’ ich an. Aber stark. Nicht wie wir, nicht menschlich. Etwas ganz und gar anderes.«

»Ja und?«

»Eines von ihnen lebte noch bis ins fünfzehnte Jahrhundert weiter. Es gibt eine Schnitzerei davon, wie es begraben wird.

Sie ist auf dem Altar.«

»Auf dem Altar?«

»Unter der Decke. Ich hab’ es vor einiger Zeit gefunden. Hab’

mir nie viel Gedanken darüber gemacht. Bis heute. Heute hab’

ich … versucht, es zu berühren.« Er zeigte seine Faust vor und öffnete sie. Das Fleisch seiner Handfläche war von Blasen überzogen. Eiter lief aus der zerrissenen Haut. »Es tut nicht weh«, sagte er. »Genaugenommen fühlt sie sich ganz taub an.

Geschieht mir wirklich recht. Ich hätte es wissen müssen.«

Coots erster Gedanke war, daß der Mann log. Sein zweiter, daß es irgendeine logische Erklärung gab. Sein dritter war ein Ausspruch seines Vaters: »Logik ist die letzte Zuflucht für den Feigling.«

Declan sprach wieder. Diesmal triefte er vor Erregung. »Sie nannten es Rohkopf.«

»Was?«

»Das Bestienwesen, das sie begruben. Es steht in den Ge schichtsbüchern. Rohkopf wurde es genannt, weil sein Kopf riesig war, und von der Farbe des Mondes, und roh wie Fleisch.« Declan konnte sich jetzt nicht mehr bremsen. Er fing an zu lächeln. »Es fraß Kinder«, sagte er und strahlte wie ein Baby, das gleich die Brustwarze seiner Muter bekommt.

Erst am frühen Sonntagmorgen entdeckte man die Greueltat auf der Nicholson-Farm. Mick Glossop war mit dem Wagen nach London unterwegs gewesen und hatte die Straße benutzt, die an der Farm vorbeilief. (»Keine Ahnung, weshalb. Normalerweise fahr’ ich da nicht. Schon merkwürdig.«) Nicholsons friesische Rinder schlugen Krach am Tor, mit geschwollenen Eutern. Sie waren offensichtlich seit vierundzwanzig Stunden nicht gemolken worden. Glossop hatte seinen Jeep auf der Straße abgestellt und den Hof betreten.

Denny Nicholsons Körper wimmelte bereits von Fliegen, obwohl die Sonne vor kaum einer Stunde aufgegangen war. Die einzigen Überreste von Amelia Nicholson drinnen im Haus waren Kleiderfetzen und ein beiläufig weggeworfener Fuß.

Gwen Nicholsons unverstümmelter Kqrper lag unten an der Treppe. Die Leiche wies weder größere Wunden auf noch Anzeichen sexuellen Mißbrauchs.

Ab halb zehn war Zeal von Polizisten übervölkert, und jedem Gesicht auf der Straße konnte man die Bestürzung über den Vorfall ansehen. Obwohl hinsichtlich des Zustands der Körper sich widersprechende Meldungen kursierten, bestand über die Brutalität der Morde keinerlei Zweifel. Besonders das Kind,, vermutlich zerstückelt. Der Körper vom Schlächter zu Gott weiß was für Zwecken weggeschafft.

Die Mordkommission richtete im »Langen Mann« eine Einheit ein, während überall im Dorf Haus-zu-Haus-Befragungen durchgeführt wurden. Zunächst kam gar nichts ans Licht.

Keine Fremden, die man in der Gegend gesehen hatte. Niemand benahm sich verdächtiger, als es für einen Wilderer oder einen schlitzohrigen Immobilienhändler die Norm war. Es war dann Enid Blatter, die mit der ausladenden Büste und dem mütterlichen Gebaren, die erwähnte, daß sie Tom Garrow seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen hatte.

Sie fanden ihn, wo sein Mörder ihn zurückgelassen hatte; schlecht weggekommen bei ein paar Stunden Feldarbeit. Würmer am Kopf und Möwen an den Beinen. Wo ihm die Hose aus den Stiefeln gerutscht war, da war das Fleisch seiner Schienbeine bis auf die Knochen aufgehackt. Als man ihn ausgrub, wuselten Sippschaften von flüchtenden Asseln aus seinen Oh ren.

An diesem Abend war die Stimmung im Hotel gedämpft. In der Bar hatte Detective Sergeant Gissing - extra aus London angereist, um die Ermittlungen zu leiten - ein williges Ohr bei Ron Milton gefunden. Es freute ihn, sich mit einem Londoner Mitbürger unterhalten zu können, und Milton versorgte sie fast drei Stunden lang mit Scotch und Wasser.

»Zwanzig Jahre bei der Polizei«, wiederholte Gissing zum xten Mal, »und hab’ noch nie was Derartiges gesehn.«

Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Da war diese Hure gewesen (oder vielmehr ausgewählte Kostproben derselben), die er in einem Koffer in der linken Gepäckabteilung der Euston Station gefunden hatte, vor gut einem Jahrzehnt. Und der Süchtige, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Eisbären im Londoner Zoo zu hypnotisieren. Als sie ihn aus dem Becken fischten, konnte man sich wunde Augen holen von seinem Anblick. Ziemlich viel hatte er gesehen, der Stanley Gissing…

»Aber das … noch nie was Derartiges gesehn«, beharrte er.

»Ungelogen, hätt’ am liebsten gleich gekotzt.«

Ron war sich nicht ganz im klaren, weshalb er Gissing zuhörte.

Er brauchte nur irgendwas, um sich die Nacht zu vertreiben.

Ron, der in seinen jüngeren Tagen ein Radikaler gewesen war, hatte Polizisten nie besonders leiden können, und es v erschaffte ihm eine eigenartige Genugtuung, diesen selbstzufriedenen Arsch so abzufüllen, daß er nicht mehr wußte, wo ihm sein Schrumpfkopf stand.

»Ein bekackter Irrer isses«, sagte Gissing, »geb’ ich Ihnen mein Wort drauf. Den schnappen wir leicht. So einer wie der hat sich nich’ in der Gewalt, wissen Sie. Gibt sich nich’ damit ab, seine Spuren zu verwisch’n, kümmert sich nich’ mal drum, ob er lebt oder stirbt. Weiß Gott, wer zu so was imstand is’ und reiß‘n siebenjähriges Mädchen in Fetzen, der is’ sowieso drauf und dran auszurasten. Schon gesehn, solche Typen.«

»Echt?«

»Und ob. Sie weinen sehn wie Kinder, über und über voll Blut, wie direkt aus’m Schlachthaus raus, und Tränen im Gesicht.

Arme Schweine.«

»Na, denn kriegen Sie’n ja.«

»Aber so«, sagte Gissing und schnippte mit den Fingern. Leicht taumelnd stand er auf. »So sicher wie’s Amen in der Kirche kriegen wir den.« Er schaute flüchtig auf die Uhr und dann auf sein leeres Glas.

Ron machte keine Anstalten mehr, nachzuschenken.

»Also dann«, sagte Gissing, »muß schaun, daß ich zurück in die Stadt komm’. Mein’ Bericht vorlegen.« Er schwankte zur Tür und überließ Milton die Rechnung.

Rohkopf sah zu, wie Gissings Wagen aus dem Dorf heraus und die Straße nach Norden entlangkroch, wobei die Scheinwerfer herzlich wenig Eindruck auf die Nacht machten. Allerdings irritierte Rohkopf der Lärm des Motors, als dieser sich übertourig den Hügel hinter der Nicholson-Farm hinaufquälte. Er brüllte und hustete wie kein einziges der Tiere, denen er bisher begegnet wa r, und irgendwie hatte ihn der Homo sapiens unter Kontrolle. Wenn das Königreich den Thronräubern wieder entrissen werden sollte, mußte er früher oder später eines dieser Tiere bezwingen. Rohkopf schluckte seine Angst hinunter und bereitete sich auf die Konfrontation vor.

Der Mond ließ sich Zähne wachsen.

Hinten im Wagen war Stanley verflucht nah am Einschlafen und träumte von kleinen Mädchen. Diese bezaubernden Nymphchen kletterten in seinen Träumen auf ihrem Weg ins Bett eine Leiter hoch, und er stand n eben der Leiter Wache und schaute ihnen beim Klettern zu, bekam flüchtig ihre leicht angeschmuddelten Schlüpfer zu sehen, während sie in den Himmel hinein entschwanden. Es war ein wohlvertrauter Traum, ein Traum, zu dem er nie jemandem Zutritt gewährt hätte, selbst in betrunkenem Zustand nicht. Nicht daß er sich wirklich schämte; er wußte nur zu gut, daß viele seiner Kollegen an haargenau so ausgefallenen kleinen Schweinereien ihren Spaß hatten und daß davon manche um einiges unappetitlicher waren als seine. Aber er hütete sie wie einen Besitz. Es war sein ganz spezieller Traum, und er hatte nicht vor, ihn mit irgend jemandem zu teilen.

Auf dem Fahrersitz wartete der junge Officer, der Gissing nun schon seit fast sechs Monaten herumchauffierte, d arauf, daß der Alte wirklich und wahrhaftig einschlief. Dann und nur dann konnte er es riskieren, das Radio einzuschalten, um den neuesten Stand der Kricketergebnisse mitzubekommen. Australien lag ganz schön weit hinten im internationalen Vergleichskampf. Daß sie im letzten Augenblick noch aufholen würden, schien ziemlich aussichtslos. Mann, das ist ein Beruf, dachte er unterm Fahren. Dagegen ist diese Routinearbeit ein alter Hut.

Und so, in ihre Träumereien versunken, Fahrer wie Passagier, erblickte keiner von beiden Rohkopf. Er pirschte sich jetzt an das Fahrzeug heran, sein Gigantengang hielt mühelos Schritt mit ihm, während es die kurvenreiche, unbeleuchtete Straße entlangsteuerte.

Mit einem Mal loderte seine Wut auf, und brüllend vertauschte er das Feld mit dem Asphalt.

Der Fahrer riß das Steuer herum, um der ungeheuren Gestalt auszuweichen, die ins brennende Scheinwerferlicht hüpfte, wobei ihr Mund ein Geheul ausstieß wie eine Meute tollwütiger Hunde.

Der Wagen kam auf dem nassen Boden ins Schleudern und streifte dabei mit dem linken Kotflügel die Büsche, die an der Straßenseite entlangliefen. Ein Ästegewirr peitschte die Windschutzscheibe, während er dahinraste. Auf dem Rücksitz fiel Gissing von der Leiter, die er eben noch hochkletterte, gerade als der Wagen seine Heckentour beendete und mit einem Eisentor zusammenstieß. Gissing wurde gegen den Vordersitz geschleudert, außer Atem, aber unverletzt. In nur zwei Sekunden beförderte der Aufprall den Fahrer über das Lenkrad und durch das Fenster. Seine Füße, jetzt in Gissings Gesicht, zuckten.

Von der Straße aus sah Rohkopf dem Tod der Metallkiste zu.

Ihre gemarterte Stimme, das Geheul ihrer verrenkten Flanke, das Zerspringen ihres Gesichts versetzten ihn in Schrecken.

Aber sie war tot.

Vorsichtig wartete er noch ein bißchen, ehe er auf der Straße vorrückte, um den zerdrückten Körper zu beschnüffeln. Ein aromatischer Geruch lag in der Luft, der stechend in seine Nebenhöhlen drang, und die Ursache davon, das Blut der Kiste, tröpfelte aus ihrem zerbrochenen Rumpf und lief die Straße hinunter davon. Nunmehr sicher, daß sie erledigt sein mußte, näherte er sich.

In der Kiste war jemand am Leben. Nichts von dem süßen Kinderfleisch, das er so sehr genoß, bloß zähes Männchenfleisch. Ein ulkiges Gesicht guckte ihn da an. Runde, verstörte Augen. Sein alberner Mund öffnete und schloß sich wie der eines Fischs. Er versetzte der Kiste einen Fußtritt, um sie aufzubekommen, und als das nichts bewirkte, riß er mit einem Ruck die Türen weg. Dann griff er hinein und zog das wimmernde Männchen aus seiner Zufluchtsstätte. War das einer aus der Gattung, die ihn unterworfen hatte ? Dieser verängstigte Winzling mit seinen Schwabbellippen? Er lachte über das Klagegezeter, drehte Gissing dann herum und hielt ihn, Kopf nach unten, an einem Fuß fest. Er wartete, bis die Schreie sich legten, langte dann zwischen die zuckenden Beine und fand die Männlichkeit des Winzlings. Nicht groß. Ganz eingeschrumpelt vor Angst, genaugenommen, nichts davon gab irgendeinen Sinn. Nur einen Laut aus dem Mund des Mannes verstand Rohkopf durchaus, den Laut, den er jetzt hörte, dieses hohe Kreischen, das beim Kastrieren nie fehlte. Sobald er fertig war, ließ er Gissing neben den Wagen fallen.

In dem zertrümmerten Motor war ein Feuer ausgebrochen, er konnte es riechen. Er war nicht so sehr Tier, daß er Feuer gefürchtet hätte. Respektieren ja, aber nicht fürchten. Feuer war ein Werkzeug, er hatte oftmals Gebrauch davon gemacht; um Feinde auszuräuchern, sie einzuäschern in ihren Betten.

Als die Flamme jetzt das Benzin fand und Feuer explosionsartig in die Luft loderte, trat er zurück von dem Wagen. Ein Hitzeschwall rollte auf ihn zu, und er roch, wie sich die Behaarung auf seiner Vorderseite versengt kräuselte, aber er war zu sehr in Bann geschlagen von dem Schauspiel, um nicht hinzuschauen.

Das Feuer folgte dem Blut des Biests, verzehrte dabei Gissing und leckte die Benzinbäche entlang wie ein Spürhund an einer Pißspur. Rohkopf sah zu und lernte eine neue tödliche Lektion.

Im Chaos seines Arbeitszimmers kämpfte Coot erfolglos gegen den Schlaf an. Er hatte den Abend überwiegend am Altar verbracht, zum Teil im Beisein von Declan. Heute nacht würde er nicht mehr zum Beten kommen, bloß zum Skizzieren. Jetzt hatte er auf seinem Schreibtisch eine Wiedergabe der Altarschnitzerei vor sich, und eine ganze Stunde hatte er nichts anderes getan, als sie anzustarren. Die Übung hatte nichts gefruchtet. Entweder war die Schnitzerei zu vieldeutig, oder seine Einbildungskraft reichte nicht aus. Wie auch immer, jedenfalls wurde er beim besten Willen kaum schlau aus dem Bild. Es stellte zweifellos ein Begräbnis dar, aber das war so ziemlich alles, was er herauszukriegen imstande war. Vielleicht war der Körper ein bißchen größer als der der Trauernden, aber nichts Außergewöhnliches. Er dachte an Zeals Wirtshaus, den

»Langen Mann«, und lächelte. Konnte durchaus die Idee irgendeines Witzbolds aus dem Mittelalter gewesen sein, das Begräbnis eines Brauers unter der Altardecke zu verewigen.

In der Vorhalle schlug die defekte Uhr Viertel nach zwölf, was besagte, daß es fast eins war. Coot stand von seinem Schreib tisch auf, streckte sich und knipste die Lampe aus. Er war überrascht vom strahlenden Glanz des Mondlichts, das durch den Vorhangspalt hereinströmte. Es war ein voller Herbstmond, und das Licht war zwar kalt, aber verschwenderisch hell.

Er stellte das Schutzblech vor das Feuer und trat, die Tür hinter sich schließend, in die finstere Eingangshalle hinaus. Die Uhr tickte laut. Irgendwo weiter oben, Richtung Goudhurst, hörte erden Ton einer Rettungswagensirene.

Was ging da vor? Neugierig öffnete er die Haustür, um zu sehen, was er eben sehen konnte. Autoscheinwerfer waren auf der Anhöhe und der ferne Pulsschlag von Blaulichtern, regelmäßiger als das Ticken hinter ihm. Unfall auf der Straße nach Norden. Zu früh für überfrierende Nässe, und sicherlich auch nicht kalt genug. Er sah zu, wie die Lichter, die auf dem Hügel wie Juwelen auf einem Walrücken angeordnet waren, davonblinkten. Wenn man’s recht bedachte, war es ganz schön kühl.

Kein Wetter, um im Freien …

Er runzelte die Stirn. Irgend etwas lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, eine Bewegung in der ändern Ecke des Kirchhofs, unter den Bäumen. Das Mondlicht verwandelte die Szene in ein Schwarzweißbild: schwarze Eiben, graue Steine, eine weiße Chrysantheme, die ihre Blütenblätter auf ein Grab verstreut.

Und schwarz im Schatten der Eiben, aber klar konturiert gegen die flache Front eines Marmorgrabmals dahinter, ein Riese.

Mit Pantoffeln an den Füßen trat Coot aus dem Haus.

Der Riese war nicht allein. Jemand kniete vor ihm, eine kleinere, menschlichere Gestalt, das Gesicht emporgereckt und voll im Licht. Es war Declan. Selbst aus einiger Entfernung konnte man erkennen, daß er zu seinem Meister auflächelte.

Coot wollte näher heran, das Schreckgespenst genauer in Augenschein nehmen. Als er den dritten Schritt machte, knirschte ein Kiesel unter seinem Fuß.

Das Riesenwesen schien sich im Dunkel zu bewegen. Wandte es sich um, ihn anzusehen ? Coot schlug das Herz bis zum Hals.

Nein, laß es taub sein. Bitte, lieber Gott, mach, daß es mich nicht sieht, mach mich unsichtbar.

Das Gebet wurde offensichtlich erhört. Nichts an dem Riesen deutete darauf hin, daß er Coots Näherkommen bemerkt hatte.

Coot faßte Mut und rückte über das Pflaster aus Grabsteinen vor; flitzte, Deckung suchend, von Grabmal zu Grabmal und wagte kaum zu atmen dabei. Er war jetzt allenfalls eineinhalb Meter von dem lebenden Bild entfernt und konnte sehen, auf welche Art der Kopf des Geschöpfs zu Declan heruntergebeugt war. Er konnte das Geräusch hören, das es hinten in seiner Kehle machte: wie Sandpapier auf Stein. Aber die Szene hatte noch mehr zu bieten.

Declans Meßgewand war zerrissen und verschmutzt, sein schmächtiger Brustkasten entblößt. Das Mondlicht fing sich auf seinem Brustbein, seinen Rippen. Sein Zustand und seine Stellung waren unzweideutig. Dies war schlicht und einfach

Anbetung. Dann hörte Coot das Plätschern. Er trat näher und sah, daß das Riesenwesen einen glitzernden Strahl seines Harns auf Declans emporgewandtes Gesicht gerichtet hielt.

Der spritzte ihm platschend in den unzureichend geöffneten Mund, lief ihm über den Rumpf. Keinen Sekundenbruchteil wich der Freudenschimmer aus Declans Augen, während er seine Taufe empfing, ja, in seinem Eifer, völlig besudelt zu werden, drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen.

Der Geruch von der Ausscheidung des Geschöpfs wehte zu Coot herüber. Er war sauer, abscheulich. Wie konnte es Declan ertragen, auch nur einen Tropfen davon abzubekommen, geschweige denn darin zu baden? Coot wollte aufschreien, diesem verwerflichen Geschehen Einhalt gebieten, aber selbst im Schatten der Eibe war die Gestalt des Tiers fürchterlich. Es war zu groß und zu breit, um menschlich zu sein.

Das war sicher die Bestie aus dem Wilden Holz, die Declan zu beschreiben versucht hatte. Das war der Kinderfresser. Hatte Declan bei seinen euphorischen Lobeshymnen über dieses Monster geahnt, welche Macht es über seine Einbildungskraft haben würde? Hatte er die ganze Zeit über gewußt, daß, falls die Bestie kommen und ihn erschnuppern sollte, er vor ihr auf den Knien liegen, sie seinen Herrn nennen würde (älter als Christus, älter als die Zivilisation, hatte er gesagt), daß er selig lächeln würde, während sie ihre Blase über ihm entleerte?

Ja. Aber ja.

Also, soll er seinen großen Augenblick haben. Riskier nicht deinen Hals wegen ihm, dachte Coot, er ist da, wo er sein will.

Ganz langsam zog er sich in Richtung Pfarrhaus zurück, blickte dabei noch immer unverwandt auf die Entwürdigung vor ihm.

Die Taufe kam tröpfelnd zum Stillstand, aber Declans auf Brusthöhe zu einer Schale geformte Hände enthielten noch reichlich Flüssigkeit. Declan setzte die Handballen an die Lippen und trank.

Coot würgte, außerstande, sich zu beherrschen. Einen Moment lang schloß er die Augen, um den Anblick auszublenden, und als er sie wieder öffnete, sah er, daß der dunkle Kopf sich in seine Richtung gewandt hatte und ihn anschaute mit Augen, die in der Schwärze brannten.

»Allmächtiger Gott.«

Es sah ihn. Diesmal war er sich sicher, es sah ihn. Es brüllte, und sein Kopf veränderte die Form im Schatten, sein Maul öffnete sich so grausig weit.

»Du lieber Heiland.«

Schon stürmte es, seinen Ministranten zusammengesackt unter dem Baum zurücklassend, antilopen-geschmeidig auf ihn los. Coot machte kehrt und lief, lief, wie er seit ewigen Zeiten nicht mehr gelaufen war, übersprang die Gräber auf seiner Flucht. Nur ein paar Meter noch: die Tür, eine Art Sicherheit.

Nicht lange vielleicht, aber Zeit zu überlegen, eine Waffe aufzutreiben. Lauf, du alter Idiot. Christus das Rennen, Christus der Sieg. Vier Meter.

Lauf.

Die Tür war offen.

Fast geschafft, einen Meter noch …

Er sprang über die Schwelle und warf sich herum, um seinem Verfolger die Tür vor der Nase zuzuknallen. Aber nein! Rohkopfs Hand war durch den Türspalt geschnellt, eine Hand, dreimal so groß wie die eines Menschen. Sie schnappte nach der leeren Luft, versuchte, Coot zu erwischen, während die Bestie unablässig brüllte.

Coot schleuderte sich mit seinem vollen Gewicht gegen die Eichentür. Der mit Eisen eingefaßte Türrahmen verbiß sich in Rohkopfs Unterarm. Das Brüllen wurde zum Geheul. Gift und Pein vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, den man vom einen Ende Zeals bis zum ändern vernahm.

Bis hin zur Nordstraße, wo gerade die Überreste von Gissing und seinem Fahrer zusammengekratzt und in Plastikfolien verpackt wurden, schändete er die Nacht. Mehrstimmig hallte er wider an den eisigen Wänden der Leichenkapelle, wo Denny und Gwen Nicholson bereits in Verwesung übergingen. Auch in Zeals Schlafzimmern hörte man ihn, wo lebende Paare Seite an Seite lagen, vielleicht mit fühllos gewordenem Arm unter dem Körper des ändern; wo die Alten wach lagen und die Geographie der Zimmerdecke studierten; wo Kinder vom Mutterschoß träumten und Babys ihm nachtrauerten. Immer wieder und wieder hörte man ihn, Rohkopfs rasenden Kampf mit der Tür.

Coot wurde es schwindlig von dem Geheul. Sein Mund stammelte Gebete, aber der so dringend benötigte himmlische Beistand wollte sich augenscheinlich nicht einstellen. Er spürte, wie seine Kraft versiegte. Der Riese erhielt immer mehr Zutritt, drückte die Tür Zentimeter um Zentimeter auf. Coots Füße rutschten auf dem zu gut gebohnerten Boden, flatternd versagten seine Muskeln den Dienst. Bei diesem Wettstreit gab es für ihn keine Siegeschance, nicht wenn er versuchte, seine Stärke, Sehne um Sehne, gegen die der Bestie auszuspielen.

Wenn er den nächsten Morgen noch erleben wollte, dann brauchte er eine List.

Coot drückter fester gegen das Holz, während seine Augen wieselflink die Diele nach einer Waffe absuchten. Es durfte nicht hereingelangen, es durfte keine Gewalt haben über ihn.

Ein bitterer Geruch war in seinen Nasenlöchern. Einen Moment lang sah er sich selber nackt vor dem Riesen knien, sah dessen Pisse auf seinen Schädel niederprasseln. Und gleich darauf wurde die Szene abgelöst von einem Hagel weiterer verwerflicher Bilder. Mehr konnte er nicht tun, um zu verhindern, daß es eindrang, die Obszönitäten sich auf Dauer in ihm festsetzten. Das Bestienbewußtsein arbeitete sich in das seine hinein; ein dicker Keil aus schweinischem Unrat pflügte sich durch seine Erinnerungen voran und lockte vergrabene Gedanken an die Oberfläche. Es würde doch sicher- wie jeder andere Gott auch - angebetet werden wollen. Und seine Gebote waren bestimmt unmißverständlich und handfest, oder? Nicht vieldeutig wie die des Herrn, dem er bis jetzt gedient hatte. Eine angenehme Vorstellung: sich dieser Gewißheit hinzugeben, die auf die andere Seite der Tür einschlug, und offen vor ihr dazuliegen und sich von ihr verwüsten zu lassen.

Rohkopf. Rhythmisch pulsierte der Name in seinem Ohr. Roh.

Kopf.

Verzweifelt, wohl wissend, daß seinen zerbrechlichen geistigen Abwehrkräften der unmittelbare Zusammenbruch drohte, entdeckte er zufällig den Kleiderständer links von der Tür.

Roh. Kopf. Roh. Kopf. Der Name war ein Befehl. Roh. Kopf.

Roh. Kopf. Er beschwor einen enthäuteten Kopf herauf, ohne eine schützende Schale, ein Ding kurz vorm Zerspringen, ohne einen Hinweis, ob aus Schmerz oder Lust. Aber leicht herauszufinden …

Es hatte sich seiner schon beinah bemächtigt, das wußte er.

Jetzt oder nie. Er hielt die Tür nur mehr mit einem Arm und streckte den anderen in Richtung Garderobe nach einem Spazierstock aus. Einer war darunter, auf den er es besonders abgesehen hatte. Er nannte ihn Querfeldein-Stock, ein Meter fünfunddreißig nacktes Eschenholz, häufig in Gebrauch und unverwüstlich. Seine Finger schmeichelten ihn herbei.

Rohkopf hatte den Mangel an Druck hinter der Tür ausgenutzt. Sein ledriger Arm arbeitete sich herein, unbeirrt von der Heftigkeit, mit der ihm der Türpfosten in die Haut schnitt. Die Hand, mit Fingern stark wie Stahl, hatte Coot an den Falten seiner Jacke erwischt.

Coot hob den Eschenstock und ließ ihn auf Rohkopfs Ellbogen niedersausen, dort, wo der Knochen verletzbar nah an der Oberfläche lag. Die Waffe zersplitterte beim Aufprall, aber sie erfüllte ihren Zweck. Auf der anderen Seite der Tür begann das Geheul von neuem, und rasch wurde Rohkopfs Arm zurückgezogen. Kaum waren die Finger hinausgeglitten, schlug Coot die Tür zu und verriegelte sie. Ein kurzes Stocken, nur Sekunden; und schon begann der Angriff von neuem, diesmal als d oppelfäustiges Gehämmer an der Tür. Die Angeln begannen sich zu verziehen, das Holz ächzte. Nur kurze Zeit würde es dauern, sehr kurze Zeit, bis es sich Zugang verschafft hätte. Es war stark, und jetzt tobte es auch noch vor Wut.

Coot durchquerte die Diele und nahm den Telefonhörer ab. Die Polizei, sagte er und begann zu wählen. Wie lang wohl, bis es zwei und zwei zusammenzählte, die Tür endlich Tür sein ließ und zu den Fenstern überging? Sie waren verbleit, aber das würde es nicht lange abhalten. Ihm blieben höchstens ein paar Minuten, wahrscheinlich nur Sekunden, je nach dem Denkvermögen der Bestie.

Sein von Rohkopfs Zugriff befreites Bewußtsein durchwisperte ein Chor bruchstückhafter Gebete und Forderungen. Wenn ich sterbe - bei diesem Gedanken ertappte er sich —, wird man’s mir dann im Himmel lohnen, daß ich grausamer sterbe, als es sich jeder Landpfarrer billigerweise erwarten darf? Gibt es im Paradies eine Entschädigung dafür, daß man in der Diele seines eigenen Pfarrhauses ausgeweidet wird?

Im Polizeirevier hatte nur mehr ein einziger Officer Dienst; alle ändern waren droben auf der Nordstraße und räumten die Überreste von Gissings Party auf. Leider wurde der Arme kaum schlau aus Reverend Coots flehenden Bitten, aber an dem Geräusch zersplitternden Holzes, das das Gebrabbel begleitete, war nichts zu deuteln und an dem Geheul im Hintergrund ebensowenig.

Der Officer legte auf und funkte um Hilfe. Die Streife auf der Nordstraße brauchte zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Sekunden für die Antwort. Währenddessen hatte Rohkopf die mittlere Kassette der Pfarrhaustür zertrümmert und war jetzt dabei, den Rest einzureißen. Nicht daß die Streife das wußte.

Nach den Anblicken, denen sie sich hier oben ausgesetzt hatten

- dem verkohlten Körper des Chauffeurs, Gissings fehlender Männlichkeit -, waren sie vor Erfahrung überheblich geworden wie stundenalte Kriegsveteranen. Der Officer im Revier brauchte eine gute Minute, um sie von der Dringlichkeit in Coots Stimme zu überzeugen. Währenddessen hatte Rohkopf sich Zugang verschafft.

Im Hotel sah Ron Milton der Parade der Lichter zu, die auf der Anhöhe blinkten, hörte die Sirenen und Rohkopfs Geheul und wurde von Zweifeln bedrängt. War das wirklich das stille ländliche Dorf, in dem er sich samt Familie häuslich niederlassen wollte? Er sah hinunter zu Maggie, die von dem Lärm aufgewacht, inzwischen aber wieder eingeschlafen war; das Schlaftablettenröhrchen auf der Bettkonsole war fast leer.

Irgendwie empfand er sich, obwohl sie ihn deswegen ausgelacht hätte, als ihren Beschützer: Er wollte ihr Held sein. Sie war es jedoch, die die Abendkurse in Selbstverteidigung besuchte, während er dank Spesenkonto-Mahlzeiten Übergewicht ansetzte. Es machte ihn unerklärlich traurig, ihr beim Schlafen zuzusehen und dabei zu wissen, daß er so wenig Macht hatte über Leben und Tod.

Rohkopf stand in der Diele des Pfarrhauses in einem Konfettiregen aus zersplittertem Holz. Sein Rumpf war mit nadelfeinen Splittern gespickt, und aus Dutzenden winziger Wunden rann Blut über seine sich hebende und senkende Körpermasse hinunter. Der saure Schweißgeruch breitete sich im Flur aus wie Weihrauch.

Er durchschnupperte die Luft nach dem Mann, aber der war nirgendwo in der Nähe. Frustriert fletschte Rohkopf die Zähne, stieß dabei die Luft in einem dünnen Pfeifton aus der Tiefe seiner Kehle aus und ging mit federnden Schritten den Flur entlang zum Arbeitszimmer. Dort war es warm, das konnten seine Nerven auf zwanzig Meter Entfernung spüren, und dort war es auch gemütlich. Er kippte den Schreibtisch um und zertrümmerte zwei von den Stühlen, teils um sich selber Platz zu schaffen, größtenteils aber aus reiner Zerstörungswut, stieß dann das Kaminschutzblech beiseite und setzte sich hin. Wärme umgab ihn, heilende, lebendige Wärme. Schwelgerisch genoß er die Empfindung, wie sie sein Gesicht umfing, seinen mageren Bauch, seine Glieder. Auch sein Blut erhitzte sie und rüttelte so die Erinnerung an andere Feuer wach, Feuer, die er in Feldern sprießenden Weizens entzündet hatte.

Und er rief sich noch ein anderes Feuer ins Gedächtnis, vor dessen Erinnerung sein Bewußtsein sich zu drücken und davonzulaufen versuchte, aber er konnte nicht umhin, darüber nachzudenken. Die Erniedrigung jener Nacht würde ihm ewig gegenwärtig sein. So sorgfältig hatten sie sich die Jahreszeit ausgesucht: Hochsommer, und kein Regen seit zwei Monaten.

Gestrüpp und Reisig im Wilden Holz waren zundertrocken, selbst der lebende Baum fing mühelos Feuer. Er war aus seiner Festung gescheucht worden, tränenblind, v erstört und verängstigt, um sich dann von allen Seiten bedroht zu sehen, mit Spießen, mit Netzen und mit jenem … Ding, das sie bei sich hatten, bei dessen Anblick ihm nur Unterwerfung übrigblieb.

Natürlich fehlte ihnen der Mut, ihn zu töten; dazu waren sie zu abergläubisch. Und außerdem - erkannten sie nicht, selbst als sie ihn verwundeten, seine Autorität an und huldigten ihr mit ihrem Entsetzen ? Also begruben sie ihn lebend, und das war schlimmer als der Tod. Ja, war es nicht überhaupt das Schlimmste? Weil er ein Zeitalter, eine Ewigkeit lang weiterlebte, ohne je sterben zu können, selbst eingekerkert in der Erde nicht. Dem Warten ausgeliefert und dem Leiden, hundert Jahre, und weitere hundert Jahre und abermals hundert; während auf dem Boden über seinem Kopf die Generationen hinschritten, eine um die andere, lebten und starben und ihn vergaßen. Die Frauen vergaßen ihn vielleicht nicht; selbst durch die Erde konnte er sie wittern, wenn sie in die Nähe seines Grabes kamen, und obwohl sie sich dessen nicht bewußt sein mochten, bekamen sie Angst, sie überredeten ihre Männer, den Ort ganz aufzugeben. So ließ man ihn völlig allein, nicht einmal ein Ährenleser leistete ihm Gesellschaft. Er glaubte, daß die Einsamkeit ihre Rache war, Rache für die Zeiten, da er und seine Brüder Frauen in die Wälder verschleppt, sie hingespreizt, gespießt und dann wieder freigelassen hatten, blutend, aber befruchtet. Sie starben alle an den Kindern, die aus diesen Vergewaltigungen hervorgingen; keine Menschenweibanatomie konnte das wilde Gestrampel eines Hybriden überleben, seine Zähne, seine Qual. Das war die einzige Rache, die er und seine Brüder jemals an dem großbäuchigen Geschlecht genommen hatten.

Rohkopf streichelte sich und schaute zu der vergoldeten Reproduktion von »Das Licht der Welt« auf, die über Coots Kaminsims hing. Das Bild erweckte keinerlei Angst- oder Reueschauder in ihm. Es war die Abbildung eines geschlechtslosen Märtyrers, hirschkuhäugig und verhärmt. Von dieser Seite kam keine Anfechtung. Die wahre Macht, die einzige Macht, die ihn bezwingen konnte, war offensichtlich dahin, unwiderruflich verloren, aus ihrem angestammten Platz verdrängt von einem jungfräulichen Schafhirten. Er ejakulierte schweigend, sein dünner Samen zischte auf der Kaminplatte. Seiner unangefochtenen Weltherrschaft stand nichts mehr im Wege. Wärme würde er haben, und Essen in Hülle und Fülle. Sogar Babys. Ja, Babyfleisch, das war das beste. Eben geworfene Winzlinge, noch blind vom Mutterschoß.

Er streckte sich und seufzte in freudiger Erwartung dieser Delikatesse, das Gehirn überflutet von Greueltaten.

Von seiner Zufluchtsstätte in der Krypta aus hörte Coot, wie die Polizeiwagen vor dem Pfarrhaus quietschend zum Stehen kamen, dann das Geräusch von Füßen auf dem Kiesweg. Es mußten seiner Schätzung nach mindestens ein halbes Dutzend sein. Das würde mit Sicherheit reichen.

Vorsichtig bewegte er sich durch die Dunkelheit auf die Treppe zu.

Etwas faßte ihn an. Beinahe hätte er aufgekreischt, aber kurz bevor ihm der Schrei entfuhr, biß er sich auf die Zunge.

»Gehn Sie jetzt nicht«, sagte eine Stimme hinter ihm. Es war Declan, und er sprach mit einer Lautstärke, die alles andere als ermutigend war. Das Wesen war irgendwo über ihnen, es würde sie hören, wenn er nicht aufpaßte. O Gott, es durfte nichts hören.

»Es ist über uns«, sagte Coot flüsternd.

»Ich weiß.« Die Stimme schien aus seinen Eingeweiden, nicht aus seiner Kehle zu kommen, durch Unflat sprudelte sie heraus. »Sehn wir doch zu, daß er hier runterkommt, ja? Er will Sie, wissen Sie. Er will, daß ich …«

»Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Declans Gesicht war im Dunkel gerade noch zu erkennen. Es grinste, irrsinnig. »Ich hält’s für möglich, daß er Sie auch taufen will. Wie würd’ Ihnen das gefallen? Würd’ Ihn’ schon gefallen, oder? Er hat auf mich gepißt, hab’n Sie’n gesehen?

Und das war noch nicht alles. O nein, er will mehr als das. Er will alles. Verstehen Sie? Alles.« Declan packte Coot hastig, eine derbe Umarmung, die nach dem Urin des Geschöpfs stank.

»Kommen Sie mit?« Lüstern schielte er Coot ins Gesicht.

»Ich bau’ auf Gott allein.«

Declan lachte. Kein hohles Lachen; darin schwang echtes Mitgefühl für diese verlorene Seele. »Er ist Gott«, sagte er. »Er war hier, bevor dieses bekackte Scheißhaus gebaut wurde, das wissen Sie.«

»Hunde auch.«

»Häh?«

»Das heißt noch lang nicht, daß sie an mir ihr Bein heben dürfen.«

»Schlauer alter Kacker, was?« sagte Declan. Das Lächeln hatte sich ins Gegenteil verkehrt. »Er wird’s dir zeigen. Du änderst dich noch.«

»Nein, Declan. Lassen Sie mich los …«

Die Umarmung war zu fest.

»Los, die Treppe rauf, Kacker-Fresse. Gott darf man nich’

wart’n lassen.«

Er zerrte Coot die Treppe hinauf, hielt dabei noch immer die Arme eisern um ihn geschlossen. Coot fehlten die Worte, fehlte jegliches logische Argument. Konnte er denn gar nichts sagen, um dem Mann seine Entwürdigung vor Augen zu führen?

Das Betreten der Kirche gestaltete sich etwas plump, und automatisch, in der Hoffnung auf irgendeine Beruhigung, schaute Coot zum Altar. Aber er bekam keine. Der Altar war entweiht worden. Die Altartücher hatte man zerrissen und mit Exkrementen beschmiert, das Kreuz und die Kerzenleuchter befanden sich inmitten eines Feuers aus Gebetbüchern, das heftig auf den Altarstufen loderte. Rußflocken schwebten in der Kirche herum, die Luft war schmutzigtrüb vom Rauch.

»Waren Sie das?«

Declan grunzte. »Er will, daß ich alles zerstöre. Stein für Stein nehm’ ich’s auseinander, wenn’s sein muß.«

»Das würd’ er nicht wagen.«

»0 doch, er schon. Er hat keine Angst vor Jesus, er hat keine Angst vor …«

Einen vielsagenden Moment lang schwand die Gewißheit, und Coot stürzte sich auf dieses Zögern. »Und trotzdem gibt’s hier was, wovor er todsicher Angst hat, nicht wahr - sonst war’ er selber hier reingekommen und hätt’ es alles selber getan…«

Declan schaute Coot nicht an. Sein Blick war glasig geworden.

»Wovor, Declan? Was genau mag er nicht? Sie können’s mir ruhig sagen …«

Declan spuckte Coot ins Gesicht, einen zähen Schleimbatzen, der wie eine Nacktschnecke an seiner Wange herunterhing.

»Das geht dich gar nichts an.«

»Um Christi willen, Declan, schaun Sie doch, was er mit Ihnen gemacht hat.«

»Ich erkenne meinen Herrn, wenn ich ihn sehe …« Declan schlotterte. »… und du auch.«

Er drehte Coot herum, so daß er zur Südtür schaute. Sie war offen, und dort auf der Schwelle stand das Geschöpf. Es duckte sich, lässig vornübergebeugt, unter das Portal. Zum erstenmal sah Coot Rohkopf bei günstiger Beleuchtung, und die Schrekkensängste setzten ernstlich ein. Er hatte es tunlichst unterlas sen, sich über seine Größe, seinen Starrblick, seine Herkunft zuviel Gedanken zu machen. Nun, da es mit langsamen, ja würdevollen Schritten auf ihn zukam, gestand Coots Herz ihm seine Herrschergewalt zu. Es war keine bloße Bestie, trotz seiner Mähne und der furchteinflößenden Phalanx seiner Zähne. Seine Augen durchbohrten ihn bis ins Mark und schimmerten dabei in einer bodenlosen Verachtung, wie sie kein Tier je aufzubieten imstande war. Sein Maul öffnete sich mehr und mehr, die Zähne glitten aus ihren Zahnfleischscheiden, fünf Zentimeter, bald acht Zentimeter lang, und trotzdem tat das Maul sich immer weiter auf. Als es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab, ließ Declan Coot los. Nicht daß Coot sich überhaupt hätte bewegen können. Das Starren war zu hartnäckig. Rohkopf streckte die Hand nach Coot aus und hob ihn hoch. Die Welt stellte sich auf den Kopf …

Es waren sieben Polizeibeamte, nicht sechs, wie Coot vermutet hatte. Drei davon waren bewaffnet; die Waffen waren von London hierhergebracht worden, auf Anordnung von Detective Sergeant Gissing. Dem verstorbenen Detective Sergeant Gissing, der demnächst postum ausgezeichnet werden sollte.

Angeführt wurden sie, diese sieben kreuzbraven, wackeren Männer, von Sergeant Ivanhoe Baker. Ivanhoe war kein heldenhafter Mann, weder von der Anlage noch von der Erziehung her. Seine Stimme, von der er sich inständig erhoffte, daß sie zum gegebenen Zeitpunkt die passenden Anordnungen erteilen würde, ohne ihn im Stich zu lassen, kam wie ein abgewürgtes Jaulen heraus, als Rohkopf aus dem Kircheninnern auftauchte.

»Ich kann es sehen!« sagte er. Jeder konnte das: Es war zwei Meter siebzig groß, blutbedeckt und schaute aus wie die Hölle auf Beinen. Man mußte wirklich niemanden darauf aufmerksam machen. Die Schießeisen gingen ohne Ivanhoes Anweisung in die Höhe; und die Waffenlosen, die sich plötzlich nackt vorkamen, küßten ihre Gummiknüppel und beteten. Einer von ihnen rannte los.

»Dageblieben!« kreischte Ivanhoe. Wenn diese Hurensöhne Reißaus nahmen, stand er ganz allein da. Man hatte ihn nicht mit einem Schießeisen ausgestattet, nur mit der Amtsgewalt, und das war kein besonderer Trost.

Rohkopf umkrallte noch immer Coots Hals und hielt ihn am ausgestreckten Arm hoch. Die Reverendbeine baumelten drei Handbreit über dem Boden, der Kopf kippte wie ausgerenkt hintenüber, die Augen waren geschlossen. Das Ungeheuer präsentierte seinen Feinden den Körper als Machtbeweis.

»Soll’n wir … bitte … könn’ wir … den Sauhund erschießen?« erkundigte sich einer der Bewaffneten.

Ivanhoe schluckte, ehe er antwortete. »Da kriegt der Pfarrer was ab.«

»Der is’ sowieso schon tot«, sagte der Revolverheld.

»Das kann man nicht wissen.«

»Er muß tot sein. Schaun Sie’n doch an …«

Rohkopf schüttelte Coot wie eine Daunendecke, und seine Füllung fiel heraus, sehr zu Ivanhoes heftigem Abscheu. Dann schleuderte Rohkopf Coot beinahe gelangweilt nach der Polizei. Der Körper schlug unweit vom Tor auf dem Kies auf und blieb reglos liegen.

Ivanhoe fand seine Stimme wieder: »Feuer!«

Die Bewaffneten brauchten dazu keine Extraeinladung. Ihre Finger drückten den Abzug durch, bevor er den Mund wieder zumachte.

Rohkopf wurde von drei, vier, fünf Kugeln in rascher Abfolge getroffen, vor allem in die Brust. Er verspürte ein unangenehmes Stechen und nahm den Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen; mit der anderen Hand bedeckte er seine Eier. Auf diesen Schmerz war er nicht gefaßt gewesen. Die Wunde, die ihm Nicholsons Gewehr zugefügt hatte, war in der Wonne des bald darauf folgenden Aderlasses schnell vergessen. Aber diese Stachel taten ihm weh, und es kamen immer neue nach. Ein Angstgefühl durchzuckte ihn. Instinktiv wollte er sich gegen diese knallenden, blitzenden Eisenstäbe zur Wehr setzen, aber der Schmerz war zu groß. Statt dessen drehte er sich um und trat den Rückzug an, sprang über die Grabmäler und floh in die Sicherheit der Hügel. Dichte Gehölze kannte er dort, Erdlöcher und Höhlen, wo er sich verstecken könnte und genügend Zeit hätte, dieses neue Problem zu durchdenken. Aber erst mußte er ihnen entwischen.

Schnell waren sie ihm auf den Fersen, aufgeputscht von der Mühelosigkeit ihres Sieges. Sie überließen es Ivanhoe, auf einem der Gräber eine Vase aufzutreiben, die Chrysanthemen herauszunehmen und sich zu erbrechen.

Außerhalb der Senke gab es keine Straßenbeleuchtung, und Rohkopf fühlte sich allmählich sicherer. Er konnte aufgehen in der Finsternis, in der Erde, wie er es schon tausendmal gemacht hatte. Er durchquerte ein Feld. Die Gerste stand noch ährenschwer und ungeerntet. Er trampelte sie nieder beim Laufen, schrotete Halm und Korn. Weiter hinter ihm begann sich die Jagd seiner Verfolger bereits zu verheddern. Der Wagen, in den sie sich hineingepfercht hatten, war auf der Straße stehengeblieben; ganz weit hinten konnte er die Lichter erkennen, ein blaues und zwei weiße. Der Feind brüllte einen heillosen Befehlssalat, Worte, die Rohkopf nicht verstand. Egal. Er kannte die Menschen. Sie waren leicht zu erschrecken. Heute nacht würden sie nicht mehr lang nach ihm suchen. Die Dunkelheit würde ihnen zum Vorwand dienen, die Suche abzublasen, und außerdem sagten sie sich bestimmt, daß seine Verwundungen wahrscheinlich sowieso tödlich seien. Diese leichtgläubigen Kinder.

Er stieg auf den Gipfel des Hügels und schaute ins Tal hinunter.

Unterhalb der Straßenschlange, deren Augen die Scheinwerfer des Feindautos waren, bildete das Dorf ein Rad aus warmem Licht, mit viel blitzendem Blau und Rot an der Nabe. Jenseits, diesseit s davon, überall die undurchdringliche Schwärze der Hügel, über denen die Sterne in Schleifen und Trauben hingen.

Am Tag mochte dies alles wie ein Steppdeckental wirken, klein wie eine Spielzeugstadt. Bei Nacht war es unergründlich, mehr seins als ihres.

Seine Feinde kehrten bereits in ihre Bruchbuden zurück, genau wie er es vorausgesehen hatte. Für heute nacht war die Jagd vorbei.

Er legte sich auf die Erde und schaute einer Sternschnuppe auf ihrer Sturzbahn nach Südwesten zu: Ein kurzer, greller Streif, der den Rand einer Wolke erhellte und dann ausging. Es war noch lang hin bis zum Morgen, erholsame Stunden lagen vor ihm. Bald wäre er wieder bei Kräften, und dann, dann - würde er sie alle verbrennen.

Coot war nicht tot - aber dem Tod so nahe, daß es kaum einen Unterschied machte. Achtzig Prozent der Knochen in seinem Körper waren gebrochen oder entzwei, Gesicht und Hals waren ein Labyrinth aus Fleisch wunden, eine Hand war fast bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Er würde sicher sterben. Es war ausschließlich eine Frage von Zeit und Veranlagung.

Im Dorf bauten jene, die auch nur einen Bruchteil der Ereignis se in der Senke zu Gesicht bekommen hatten, bereits eifrig ihre Geschichten aus, und die Tatsache der Augenzeugenschaft verlieh noch den phantastischsten Erfindungen Glaubwürdigkeit. Das Chaos auf dem Kirchhof, die zertrümmerte Pfarrhaustür, der mit Seilen abgezäunte Wagen auf der Nordstraße.

Was immer in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag vorgefallen war, es würde lange dauern, bis man es vergaß.

Ein Erntedankfest fand nicht statt, was auch niemanden weiter verwunderte.

Maggie war hartnäckig: »Ich finde, wir sollten alle unbedingt heim nach London.«

»Und noch vor einem Tag sollten wir unbedingt hierbleiben.

Uns in die Gemeinschaft eingliedern.«

»Das war am Freitag, ehe diese ganze… diese… Hier läuft ein Wahnsinniger frei rum, Ron.«

»Wenn wir jetzt fahren, kommen wir nicht wieder.«

»Ach, was soll denn das, natürlich kommen wir wieder.«

»Wenn wir abhauen, sobald der Ort mal ernsthaft bedroht ist, dann geben wir ihn damit ganz auf.«

»Das ist lachhaft.«

»Du warst diejenige, die so erpicht drauf war, daß wir uns sehen lassen, daß wir uns für jeden sichtbar am Dorfleben beteiligen. Schön, dann müssen wir uns aber auch an den Todesfällen beteiligen. Und ich bleibe - und steh’ es bis zum Ende durch. Fahr du ruhig heim nach London. Mit den Kindern.«

»Nein.«

Er seufzte schwer. »Ich will dabeisein, wenn man ihn schnappt, egal wer es ist. Ich will Gewißheit haben, daß die ganze Angelegenheit bereinigt ist, es mit eigenen Augen sehen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns hier je sicher fühlen können.«

Widerstrebend nickte sie. »Dann machen wir wenigstens, daß wir ‘ne Weile aus dem Hotel rauskommen. Mrs. Blatter wird langsam meschugge. Können wir nicht irgendwohin fahren?

An die frische Luft …«

»Ja, warum nicht?«

Es war ein milder Septembertag. Die ländliche Umgebung, stets bereit, mit einer Überraschung aufzuwarten, leuchtete vor Lebendigkeit. Späte Blumen erstrahlten in den Hecken am Straßenrand. Vögel stießen nieder und schwirrten wieder hoch von der Straße, auf der die Miltons dahinfuhren. Der Himmel war azurblau, die Wolken eine Fantasie in Cremeweiß. Wenige Kilometer außerhalb des Dorfs verflüchtigten sich alle Greuel der letzten Nacht, und die bloße Überschwenglichkeit des Tages hob allmählich die Gemütsverfassung der Familie. Mit jedem Kilometer, den sie sich von Zeal entfernten, verringerten sich Rons Ängste. Bald fing er zu singen an.

Auf dem Rücksitz quengelte Debbie vor sich hin. Eben noch:

»Daddy, mir is’ heiß«, dann: »Ich will ‘n Orangensaft, Daddy«, gleich darauf: »Ich muß Pipi machen.«

Ron hielt auf einem leeren Straßenabschnitt an und spielte den nachsichtigen Vater. Die Kleinen hatten eine Menge durchgemacht; heute durfte man sie ruhig verwöhnen.

»Also gut, Schätzchen, hier kannst du Pipi machen, und dann schaun wir, daß wir ein Eis für dich kriegen.«

»Wo is’n das Lulu?« fragte sie. So ein saublödes Wort; Schwie germamas verniedlichende Ausdrucksweise.

Maggie mischte sich ein. Wenn Debbie in dieser Stimmung war, kam sie mit ihr besser zurecht als Ron. »Du kannst hinter die Hecke gehn«, sagte sie.

Debbie blickte entsetzt drein. Ron tauschte ein angedeutetes Lächeln mit lan. Der Junge hatte einen abwesenden Gesichtsausdruck. Eine Grimasse schneidend, vergrub er sich wieder in sein eselsohriges Comicbucn. »Beeil dich, ja?« murmelte er.

»Dann könn’ wir endlich zu was Richtigem hinfahrn.«

Zu was Richtigem, dachte Ron. Eine Stadt meint er. Er ist ein Großstadtkind; wird ‘ne Weile dauern, ihn davon zu überzeugen, daß ein Hügel mit Aussicht durchaus was Richtiges ist.

Debbie quengelte immer noch. »Ich kann da nicht hingehn, Mami …«

»Wieso nicht?«

»Es könnt’ mich wer sehn.«

»Niemand sieht dich, Schätzchen«, versicherte ihr Ron. »Jetzt folg schön deiner Mami;« Er wandte sich an Maggie. »Geh mit ihr, Liebes.«

Maggie rührte sich nicht vom Fleck. »Dazu braucht sie mich nicht.«

»Sie kann nicht allein über das Tor klettern.«

»Dann geh doch du mit.«

Ron war entschlossen, sich auf keinen Streit einzulassen. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Also komm schon«, sagte er.

Debbie stieg aus, und Ron half ihr über das Eisentor in das dahinterliegende Feld. Es war bereits abgeerntet. Es roch …

erdig.

»Schau nicht her«, ermahnte sie ihn mit aufgerissenen Augen,

»du darfst nicht herschaun.«

Sie verstand sich bereits aufs Manipulieren, im reifen Alter von neun. Sie spielte mit ihm besser als auf dem Klavier, an dem sie Stunden nahm. Er wußte es, und sie wußte es auch. Er lächelte sie an und schloß die Augen. »In Ordnung. Siehst du ? Ich hab’

die Augen zu. Jetzt beeil dich, Debbie. Bitte.«

»Versprich, daß du nicht guckst.«

»Ich guck’ nicht.« Mein Gott, dachte er, sie macht aber wirklich

‘ne bühnenreife Nummer draus. »Beeil dich.«

Flüchtig blickte er zum Wagen zurück. lan saß auf dem Rücksitz, las noch immer, in irgendwelche billigen Heldengeschichten vertieft, starrte mit versteinertem Gesicht in das Abenteuer. Der Junge war so ernst. Die gelegentliche Andeutung eines Lächelns; das war auch schon alles, was Ron ihm je entlocken konnte. Es war aber keine Pose, kein geheimnistuerisches Gehabe. Er schien ganz zufrieden damit, alle Schauspielerei seiner Schwester zu überlassen.

Hinter der Hecke zog Debbie ihre Sonntagsschlüpfer herunter und ging in die Hocke, aber nach dem ganzen Theater wollte ihr Pipi nicht kommen. Sie konzentrierte sich, aber das machte es nur noch schlimmer.

Rons Augen wanderten das Feld hinauf zum Horizont. Weiter oben waren Möwen, die sich wegen eines Leckerbissens kabbelten. Er sah ihnen eine Zeitlang zu, mit wachsender Ungeduld.

»Jetzt mach’ schon, Liebes«, sagte er.

Er schaute wieder zum Wagen. lan beobachtete ihn jetzt, das Gesicht schlaff vor Langeweile oder etwas Ähnlichem. Lag noch etwas anderes darin, eine tiefe Resignation fragte sich Ron. Der Junge schaute wieder in sein »Utopia«-Comicbuch, ohne den flüchtigen Blick seines Vaters zu erwidern.

Dann schrie Debbie auf: ein ohrendurchdringendes Kreischen.

»Jesus!« Augenblicklich überkletterte Ron das Tor, und Maggie war nicht weit hinter ihm. »Debbie!«

Sie lehnte an der Hecke und starrte mit rotem Gesicht flennend den Boden an.

»Was’n los, um Gottes willen?«

Sie schnatterte zusammenhanglos. Ron folgte ihrem Blick.

»Was is’n passiert?« Maggie hatte Schwierigkeiten, über das Tor zu kommen.

»Nichts, nichts … ‘s alles in Ordnung.«

Fast vergraben im Gestrüpp am Feldrand, lag ein toter Maulwurf, die Augen herausgepickt, das verwesende Fell von Fliegen überwimmelt.

»Mein Gott, Ron.« Maggie sah ihn vorwurfsvoll an, als ober das verdammte Ding dort vorsätzlich hingelegt hätte, »‘s alles gut, Herzilein«, sagte sie, schob mit dem Ellbogen ihren Gatten zur Seite und schloß Debbie fest in die Arme.

Das Schluchzen wurde etwas leiser. Großstadtgören, dachte Ron. Werden sich an solche Sachen gewöhnen müssen, wenn sie auf dem Land leben wollen. Keine Straßenfeger da, um jeden Morgen die überfahrenen Katzen aufzukehren. Maggie wiegte sie hin und her, und der gröbste Tränenstrom war offensichtlich versiegt.

»Sie ist bald wieder okay«, sagte Ron.

»Natürlich ist sie das, nicht wahr, mein Schatz?« Maggie half ihr, den Schlüpfer hochzuziehen. Debbie schniefte noch immer; in ihrem Elend dachte sie gar nicht mehr an die Wahrung der Intimsphäre.

Hinten im Wagen hörte sich lan das Gemaunze seiner Schwester an und versuchte, sich auf seinen Comic zu konzentrieren.

Hauptsache, sie steht im Mittelpunkt, dachte er. Na meinetwegen, soll sie.

Plötzlich wurde es dunkel.

Mit hörbar klopfendem Herzen blickte er auf von der Buchseite. Neben seiner Schulter, fünfzehn Zentimeter von ihm entfernt, bückte sich etwas herunter, um in den Wagen zu spähen, ein Gesicht wie die Hölle. Er konnte nicht schreien, seine Zunge verweigerte jede Bewegung. Er konnte lediglich den Sitz überschwemmen und sinnlos mit den Füßen ausschlagen, während die langen, zerschrammten Arme durch das Fenster nach ihm griffen. Die Nägel des Ungeheuers schälten sich in seine Fesseln, zerrissen eine Socke. Einer seiner neuen Schuhe fiel herunter bei dem Kampf. Jetzt hatte es seinen Fuß, und er wurde über den nassen Sitz Richtung Fenster gezerrt. Er fand seine Stimme wieder. Nicht ganz seine Stimme, es war eine jämmerliche, dümmlich klingende Stimme; sie entsprach nicht dem tödlichen Entsetzen, das er empfand. Und kam sowieso viel zu spät. Es zerrte ihn an den Beinen durch das Fenster, und jetzt war er schon fast mit dem Hintern draußen. Während es seinen Rumpf ins Freie hievte, schaute er durch die Heckscheibe, und wie im Traum sah er Daddy am Tor, der schaute so, so lächerlich drein. Kletterte übers Tor, kam ihm zu Hilfe, kam, ihn zu retten, aber er war viel zu langsam. lan wußte, daß es von vornherein keine Hoffnung auf Rettung gab, war er doch im Schlaf schon bei hundert Gelegenheiten auf dieselbe Weise gestorben, und nie war Daddy rechtzeitig zur Stelle. Das Maul war sogar noch breiter, als er es geträumt hatte, ein Loch, in das er jetzt, mit dem Kopf voran, hineinbefördert wurde. Es roch wie die Mülltonnen hinter der Schulkantine mal eine Million.

Er erbrach sich in den Schlund hinunter, während es ihm die Schädeldecke abbiß.

Ron hatte noch nie in seinem Leben geschrien. Der Schrei hatte immer zum anderen Geschlecht gehört, bis zu diesem Augenblick. Nun aber, beim Anblick des Ungeheuers, das sich aufrichtete und seine Kiefer um den Kopf seines Sohnes schloß, war kein Laut angemessen außer einem Schrei.

Rohkopf hörte das Kreischen, drehte sich ohne eine Spur von Angst auf dem Gesicht um und sah den Schreihals an. Ihre Augen begegneten sich. Der flüchtige Blick des Königs durchbohrte Milton wie ein Spieß, fror ihn auf der Straße fest und drang ihm bis ins Mark.

Maggie war es, die mit ihrer Klageliedstimme den Bann brach.

»Oh … bitte … nicht.«

Ron schüttelte Rohkopfs Blick von seinem Kopf ab und stürzte auf den Wagen, auf seinen Sohn zu. Aber sein Zögern hatte Rohkopf einen sekundenlangen Zeitgewinn verschafft, den er ohnehin kaum nötig hatte, und schon war er auf und davon, seinen links und rechts in die Gegend spritzenden Fang zwischen die Kiefer geklemmt. Die leichte Brise wehte Teilchen von lans Blut die Straße zurück zu Ron; er spürte, wie sie ihm in zartem Schauer das Gesicht besprenkelten.

Declan stand im Altarraum von St. Peter und horchte angespannt auf das Ges umm. Es war noch immer da. Früher oder später müßte er die Geräuschquelle aufsuchen und sie zerstören, selbst wenn dies, was durchaus möglich war, seinen eigenen Tod bedeutete. Sein neuer Herr würde es verlangen.

Aber das war wohl die obligate Gegenleistung; und der Gedanke an den Tod bedrückte ihn ganz und gar nicht. In den letzten Tagen war er sich über Wünsche klargeworden, die er (unausgesprochen, ja ungedacht) jahrelang gehegt hatte.

Zur schwarzen Körpermasse des Ungeheuers aufzuschauen und sich dabei mit Pisse beregnen zu lassen, war für ihn die reinste Glückseligkeit gewesen. Wenn diese Erfahrung, die ihn früher abgestoßen hätte, so vollkommen sein konnte, wie mochte dann wohl der Tod sein? Noch toller. Und wenn er es fertigbrächte, durch Rohkopfs Hand zu sterben, durch diese breite Hand, die so beißend stank - wäre das nicht das Tollste überhaupt?

Er schaute nach vorn zum Altar, betrachtete die Überreste des Feuers, das die Polizei gelöscht hatte. Coot war kaum tot, da hatten sie schon nach ihm gesucht, aber er kannte ein Dutzend Verstecke, die sie niemals finden würden, und sie hatten bald aufgegeben. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Er sammelte noch einen Arm voll Hymnen auf und warf sie in die feuchte Asche hinein. Die Kerzenleuchter hatten sich verzogen, waren aber noch erkennbar. Das Kreuz war verschwunden, entweder weggeschrumpft oder von einem langfingrigen Gesetzeshüter entwendet worden. Er riß ein paar Handvoll Kirchenlieder aus den Büchern und zündete ein Streichholz an. Die alten Lobgesänge fingen mühelos Feuer.

Ron Milton schmeckte Tränen, ein Geschmack, den er vergessen hatte. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr geweint, insbesondere vor anderen Männern nicht. Aber es machte ihm nichts mehr aus, diese Polizistenmisthunde waren sowieso keine menschlichen Wesen. Sie schauten ihn bloß an, während er seine Geschichte ausbreitete, und nickten wie Idioten.

»Wir haben Männer aus jeder Abteilung im Umkreis von achtzig Kilometern zusammengezogen, Mr. Milton«, sagte das fade Gesicht mit den verständnisvollen Augen. »Die Hügel werden durchgekämmt. Wir schnappen es, ganz gleich was es ist.«

»Es hat meinen Jungen gerissen, verstehen Sie mich? Hat ihn abgeschlachtet, vor meinen Augen…« Sie schienen das Grauenvolle an dem Ganzen nicht wirklich ermessen zu können.

»Wir tun, was in unserer Macht steht.«

»Das reicht nicht. Dieses Wesen … es ist nicht menschlich.«

Ivanhoe mit den verständnisvollen Augen wußte verdammt gut, wie unmenschlich es war. »Es kommen Leute vom Verteidigungsministerium; bevor die sich nicht das Beweismaterial angesehen haben, können wir nicht mehr allzuviel unternehmen«, sagte er. Und fügte dann beschwichtigend hinzu: »Sind alles öffentliche Gelder, Sir.«

»Sie bekackter Idiot! Was spielt’s für ‘ne Rolle, was es kostet, es zu töten? Es ist kein menschliches Wesen. Es stammt aus der Hölle.«

Aus Ivanhoes Blick wich das Mitgefühl. »Wenn es aus der Hölle käme, Sir«, sagte er, »dann hätt’ es sich wohl kaum den Reverend Coot so leicht unter den Nagel gerissen.«

Coot, das war sein Mann. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Coot.

Ron war nie besonders gottesfürchtig gewesen. Aber er war durchaus gewillt, vorurteilslos zu sein, und jetzt, da er den Gegner, respektive einen aus seiner Truppe, gesehen hatte, war er bereit, seine Ansichten zu revidieren. Alles würde er glauben, rundweg alles, sofern es ihm eine Waffe gegen den Teufel lieferte.

Er mußte zu Coot.

»Und was ist mit Ihrer Frau?« rief der Officer ihm nach.

Maggie saß in einer der Nebenkanzleien, stumm vor lauter Tranquilizern, Debbie eingeschlafen neben ihr. Es gab wirklich nichts, was er für die beiden tun konnte. Sie waren hier genauso gut aufgehoben wie irgendwo sonst.

Er mußte zu Coot, bevor der starb.

Er wüßte, was eben ein Reverend so weiß; und er würde seine Qual besser verstehen als diese Affen. Schließlich waren tote Söhne die Crux der Kirche.

Als er in den Wagen stieg, hatte er einen Moment lang den Eindruck, er röche seinen Sohn: den Jungen, der seinen Namen getragen hätte (lan Ronald Milton war er getauft worden), den Jungen, der sein fleischgewordenes Sperma war, den er hatte beschneiden lassen wie sich selbst. Das stille Kind, das ihn aus dem Wagen mit einer derartigen Resignation im Blick angesehen hatte.

Diesmal kamen ihm nicht die Tränen. Diesmal verspürte er nur eine Wut, die beinah wundervoll war.

Es war nachts halb zwölf. Rohkopf Rex lag unter dem Mond in einem der abgeernteten Felder südwestlich von der Nicholson-Farm. Die Stoppeln färbten sich jetzt dunkler, und ein aufreizender Geruch nach verfaulender pflanzlicher Materie stieg von der Erde auf. Neben ihm auf dem Feld lag sein Abendessen, lan Ronald Milton, mit dem Gesicht nach oben, die Bauchdecke weggerissen. Hin und wieder richtete sich die Bestie auf einem Ellbogen auf und rührte mit den Fingern in der erkaltenden Suppe des Knabenkörpers, um sich eine Delikatesse herauszufischen.

Hier, unter dem Vollmond, in Silber badend, die Glieder reckend und das Fleisch der Menschengattung fressend, fühlte er sich unwiderstehlich. Seine Finger zogen eine Niere aus dem Gedeck neben ihm, und er schluckte sie im ganzen hinunter.

Süß.

Coot war wach, trotz der Betäubungsmittel. Er wußte, daß er im Sterben lag, und die Zeit war zu kostbar, um sie zu verdösen. Er kannte nicht den Namen zu dem Gesicht, das ihn im gelben Halbdunkel seines Zimmers ausfragte, aber die Stimme war auf eine so höfliche Weise hartnäckig, daß er zuhören mußte, obwohl sie ihn bei seiner Aussöhnung mit Gott unterbrach. Außerdem hatten sie einige Fragen gemeinsam, und diese Fragen kreisten allesamt um die Bestie, die ihn zu diesem Brei verwandelt hatte.

»Es hat meinen Sohn gerissen«, sagte der Mann. »Was wissen Sie über das Ding? Sagen Sie’s mir, bitte. Egal was Sie mir sagen, ich werd’s Ih nen glauben« - das war jetzt wirkliche Verzweiflung - »bloß erklären Sie …«

Immer wieder, seit er. axii diesen Wiß«\ Kissen lag, vmetx Coot verworrene Gedanken durch den Kopf geschossen. Declans Taufe; die Umarmung der Bestie; der Altar; wie sich seine Haare aufrichteten und auch sein Fleisch. Womöglich war da etwas, das er dem Vater an seinem Krankenbett sagen konnte.

»… in der Kirche …«

Ron beugte sich näher zu Coot hinunter. Er roch bereits nach Erde.

»… der Altar … es hat Angst … der Altar …«

»Sie meinen das Kreuz? Hat es Angst vor dem Kreuz?«

»Nein … nicht …«

»Nicht …«

Der Körper ächzte einmal knirschend auf und hielt dann inne.

Ron sah zu, wie der Tod über das Gesicht kam, wie der Speichel auf Coots Lippen trocknete, die Iris seines übriggebliebenen Auges sich zusammenzog. Eine ganze Weile sah er zu, ehe er nach der Schwester klingelte und sich dann leise davonstahl.

Es war jemand in der Kirche. Die Tür, die von der Polizei mit einem Vorhängeschloß versiegelt worden war, stand halb offen, das Schloß war zertrümmert. Ron stieß sie eine Handbreit weiter auf und schlüpfte hinein. Es brannten keine Lichter in der Kirche, die einzige Beleuchtung war ein offenes Feuer auf den Altarstufen. Ein junger Mann, den Ron ab und an im Dorf gesehen hatte, schürte es. Er blickte auf von seiner Feuerwache, nährte dabei aber weiterhin die Flammen mit Büchereingeweiden.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte er uninteressiert.

»Ich bin gekommen, um …« Ron zögerte. Was soll man diesem Mann s agen: die Wahrheit? Nein, irgend etwas stimmte hier nicht.

»Mensch, ich hab’ Sie was gefragt«, sagte der Mann. »Was wollen Sie?«

Während Ron den Mittelgang entlang auf das Feuer zuschlenderte, sah er den Frager allmählich genauer. Morastartige Flecken übersäten seine Kleidung, und seine Augen waren tief in ihre Höhlen versunken, als ob sein Hirn sie eingesaugt hätte.

»Sie haben hier herin nichts zu suchen …«

»‘ne Kirche darf doch wohl jeder betreten«, sagte Ron und starrte die brennenden, schwarz werdenden Seiten an.

»Heute nacht nicht. Los, verpissen Sie sich hier.«

Ron ging unbeirrt auf den Altar zu.

»Sie sollen sich verpissen, hab’ ich gesagt!« Gehässige Blicke und Grimassen durchzuckten das Gesicht vor Ron. Wahnsinn flackerte darin.

»Ich bin gekommen, um mir den Altar anzusehn; ich geh’ hier nicht wieder weg, eh’ ich ihn nicht gesehen hab’.«

»Sie haben mit Coot geredet. Hab’ ich recht?«

»Coot?«

»Was hat Ihn’ der alte Wichser erzählt? Was es auch war, es is’

alles gelogen. Nie hat er die Wahrheit gesagt in seinem beschis senen Leben, klar? Dürfen Sie mir glauben. Is’ immer da raufgestiegen« - er warf ein Gebetbuch nach der Kanzel - »und hat bekackte Lügen erzählt!«

»Ich will mir den Altar selber ansehn. Dann wer’n wir schon sehn, ob er gelogen hat -«

»Nein, das tun Sie nicht!«

Der Mann warf eine weitere Handvoll Bücher ins Feuer und kam die Stufen herunter, um Ron den Weg zu versperren. Er roch nicht nach Morast, sondern nach Scheiße. Ohne Vorwarnung ging er zum Angriff über. Seine Hände packten Ro ns Hals, und die beiden stürzten zu Boden. Declans Finger näherten sich Rons Augen, um an ihnen herumzuquetschen; seine Zähne schnappten nach seiner Nase.

Ron wunderte sich über die Schwäche seiner eigenen Arme.

Warum hatte er nicht Squash gespielt, wie Maggie ihm vorgeschlagen hatte, warum waren seine Muskeln so kraftlos? Wenn er nicht achtgab, dann würde dieser Mann ihn umbringen.

Plötzlich flutete ein Licht, so hell, daß es ein mitternächtlicher Tagesanbruch hätte sein können, durch das Wes tfenster.

Gleich darauf folgte ein Schwärm Schreie. Feuerschein, der den offenen Brand auf den Altarstufen kümmerlich zusammenschrumpfen ließ, färbte die Luft ein. Das Buntglas tanzte.

Einen Moment lang vergaß Declan sein Opfer, und Ron bot alle seine Kraft auf. Er drückte das Kinn des Mannes nach hinten und brachte ein Knie unter seinen Rumpf; dann stieß er mit aller Gewalt zu. Der Feind rollte zur Seite, und mit einem Satz war er über ihm; eine Faust voller Haare hielt das Ziel fest, während seine geballte andere Hand auf das Gesicht des Irrsinnigen einhämmerte, bis es kaputtging. Es genügte nicht, die Nase des Sauhunds bluten zu sehen, oder zu hören, wie ihm die Knorpel zermantscht wurden. Ron schlug ununterbrochen weiter, bis seine Faust blutete. Erst dann ließ er Declan fallen.

Draußen brannte Zeal lichterloh.

Rohkopf hatte schon früher Feuer gelegt, viele Feuer. Aber Benzin war eine neue Waffe, und er war noch dabei, ihre richtige Handhabung herauszukriegen. Das Lernen dauerte bei ihm nicht lange. Der Trick bestand darin, die räderbestückten Kisten zu verwunden, und das war leicht. Die Flanken aufrei

ßen, und schon strömte das Blut heraus, Blut, von dem ihm der Kopf weh tat. Die Schachteln waren leichte Beute, standen aufgereiht in einer Linie auf dem Pflaster, wie Ochsen vor der Schlachtbank. Rasend vor Tötungslust, stürzte er sich auf sie, vergoß spritzend ihr Blut in die High Road hinunter und zündete es an. Bäche flüssigen Feuers strömten in Gärten, über Schwellen. Strohdächer fingen Feuer; Fachwerkhäuser gingen in Flammen auf. Innerhalb von Minuten brannte Zeal von einem Ende zum anderen.

In St. Peter zerrte Ron das verdreckte Tuch vom Altar und versuchte dabei, jeglichen Gedanken an Debbie und Margaret auszuschalten. Ganz gewiß würde die Polizei sie an einen Ort bringen, wo sie in Sicherheit waren. Das anstehende Problem hatte absoluten Vorrang.

Unter dem Altartuch befand sich ein großer Kasten, mit einer groben Schnitzerei auf der Frontplatte. Er schenkte der Darstellung keine Beachtung; s chließlich mußte er sich um dringendere Angelegenheiten kümmern. Draußen lief die Bestie frei herum. Er konnte ihr triumphierendes Gebrüll hören, und irgendwie war er versessen, ja versessen darauf, zu ihr hinzugehen. Sie umzubringen oder umgebracht zu werden. Aber zuerst der Kasten. Er enthielt Macht, ohne jeden Zweifel; eine Macht, die ihm eben jetzt die Haare auf dem Kopf sträubte, die seinen Schwanz bearbeitete und ihm einen schmerzenden Ständer verschaffte. Sie schien sein Fleisch zu durchbrodeln, sie versetzte ihn in Hochstimmung wie die Liebe. Lechzend legte er die Hände auf den Kasten, und ein Schock, der seine Gelenke zu verschmoren schien, lief ihm beide Arme hinauf.

Er wich zurück, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob er wohl bei Bewußtsein bliebe, so schlimm war der Schmerz, aber er verebbte innerhalb von Sekunden. Ron schaute sich nach einem Werkzeug um, nach etwas, mit dem er den Kasten aufbekommen konnte, ohne sein Fleisch damit in Berührung bringen zu müssen.

Verzweifelt umwickelte er seine Hand mit einem Zipfel des Altartuchs und griff sich einen der Messingkerzenleuchter vom Rand des Feuers. Das Tuch begann zu schwelen, während die Hitze sich zu seiner Hand durchfraß. Er trat vom Altar zurück und schlug wie ein Verrückter auf das Holz ein, bis es endlich splitterte. Seine Hände waren jetzt taub. Falls ihm die erhitzten Kerzenleuchter die Handflächen verbrannten, konnte er es zumindest nicht spüren. Überhaupt, was spielte das für eine Rolle ? Hier lag eine Waffe bereit, eine Handbreit von ihm entfernt - wenn er bloß an sie herankommen, sie handhaben könnte. Seine Erektion pulste, seine Eier prickelten.

»Komm her«, hörte er sich unvermuteterweise sagen, »komm schon, komm schon. Komm her. Komm her.« Als würde er sie durch bloße Willenskraft in seine Umarmung hineinzwingen, diese Kostbarkeit, als wäre sie ein Mädchen, das er haben wollte, das sein Ständer haben wollte, und er hypnotisierte es in sein Bett hinein.

»Komm her, komm her zu mir.«

Die Holzfassade brach. Keuchend benutzte er jetzt die Kanten des Kerzenleuchterfußes, um größere Brocken der Kastenfront wegzustemmen. Der Altar war hohl, das war ihm schon vorher klar gewesen. Und leer.

Leer.

Bis auf eine Steinkugel von der Größe eines kleinen Fußballs.

War das seine Siegesprämie? Einfach unglaublich, wie belanglos sie aussah, und doch vibrierte die Luft um ihn noch immer elektrisch, tanzte noch immer sein Blut. Er langte durch das Loch, das er in den Altar gemacht hatte, und holte die Reliquie heraus.

Draußen jubilierte Rohkopf.

Bilder blitzten auf vor Rons Augen, während er den Stein in seiner abgetöteten Hand wog. Ein Leichnam mit brennenden Füßen. Ein lodernder Verschlag. Ein Hund, der die Straße entlangrannte, als lebender Feuerball. Es befand sich alles da draußen, wartete darauf, sich vor ihm zu enthüllen.

Und gegen den Täter hatte er diesen Stein.

Er hatte auf Gott vertraut, bloß einen halben Tag lang ~\ und war angeschissen worden. Es war bloß ein Stein, bloß ein bekackter Stein. Hin und her drehte er den Fußball in seiner Hand, versuchte seinen Einkerbungen und Ausbuchtungen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Sollte er vielleicht irgend etwas verkörpern; entging ihm seine tiefere Bedeutung?

Geräusche verknäulten sich am ändern Ende der Kirche: ein Krachen, ein Schrei, ein jäh aufbrandendes Flammenzischen draußen vor der Tür.

Zwei Personen torkelten herein, gefolgt von Rauch und flehentlichen Bitten.

»Er brennt das Dorf nieder«, sagte eine Stimme, die Ron kannte. Das war dieser wohlwollende Polizist, der nicht an die Hölle hatte glauben wollen. Er versuchte, halbwegs seine vorgespielte Haltung zu bewahren, vielleicht seiner Begleiterin zuliebe, Mrs. Blatter vom Hotel. Das Nachthemd, in dem sie auf die Straße gerannt war, war zerrissen. Ihre Brüste lagen frei; sie erbebten mit ihren Schluchzern. Sie schien nicht zu wissen, daß sie nackt war, wußte nicht einmal, wo sie sich befand.

»Jesus im Himmel sei uns gnädig«, sagte Ivanhoe.

»‘s gibt kein’ bekackten Jesus hier herin«, ließ sich Declans Stimme vernehmen. Er rappelte sich jetzt hoch und taumelte auf die Eindringlinge zu. Ron konnte Declans Gesicht von seinem Standort aus nicht sehen, aber er wußte, daß es auf alle Fälle so gut wie unkenntlich sein mußte. Mrs. Blatter wich ihm aus, als er auf die Tür zutorkelte, und lief ihrerseits zum Altar.

Dort war sie getraut worden, genau an der Stelle, wo er das Feuer gemacht hatte.

Ron starrte gebannt ihren Körper an.

Sie war ausgesprochen übergewichtig; schwer hingen ihre Brüste herab, der Bauch überschattete ihre Möse, so daß er zweifelte, ob sie sie überhaupt sehen konnte. Aber ebendeswe gen pulsierte seine Schwanzspitze, ebendeswegen war ihm schwindlig …

Ihr Bild war in seiner Hand. Gott ja, sie war hier in seiner Hand, sie war das lebende Gegenstück zu dem, was sich in seine Finger schmiegte. Ein Weib. Der Stein war die Statue eines Weibes, eine Venus, üppiger und plumper noch als Mrs.

Blatter, der Bauch von Kindern aufgebläht, Titten wie Berge, die Möse ein Tal, das beim Nabel begann und der Welt entgegenklaffte. Die ganze Zeit hatten sie sich vor ihr verneigt: vor einer Göttin, unter dem Altartuch und dem Kreuz.

Ron trat vom Altar weg und lief durch den Mittelgang, stieß dabei Mrs. Blatter, den Polizisten und den Wahnsinnigen beiseite.

»Gehn Sie nicht raus«, sagte Ivanhoe, »es ist gleich da draußen.«

Ron hielt die Venus fest, spürte ihr Gewicht in seinen Händen und empfing Sicherheit von ihr. Hinter ihm kreischte der Küster seinem Herrn eine Warnung zu. Ja, es war zweifellos eine Warnung.

Ron stieß die Tür mit dem Fuß auf. Feuer ringsumher. Ein lodernder Verschlag, ein Leichnam (der des Postamtleiters) mit brennenden Füßen, ein von Feuer abgebalgter Hund, der vorbeiwirbelte. Und Rohkopf natürlich; seine Silhouette hob sich ab gegen ein Flammenpanorama. Das Monster sah sich um, vielleicht weil es die Warnungen hörte, die der Küster gellte, aber wahrscheinlicher noch, dachte Ron, weil es wußte, instinktiv wußte, daß man das Weib gefunden hatte.

»Hier!« gellte Ron. »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Es kam ihn jetzt holen, in der unbeirrten, gleichmäßigen Gangart eines Siegers, der heranrückt, um seinen endgültigen und unumschränkten Sieg einzufordern. Zweifel wallten auf in Ron. Wieso trat es ihm so entschlossen entgegen, ohne erkennbare Beunruhigung über die Waffe, die er in seinen Händen trug?

Hatte es sie nicht gesehen, die Warnung nicht gehört?

Außer…

0 Gott im Himmel.

Außer Coot hatte sich geirrt. Außer es war wirklich nur ein Stein, was er da in seiner Hand hielt, ein nutzloser, bedeutungsloser Steinbrocken.

Dann packte ihn ein Paar Hände um den Hals.

Der Wahnsinnige.

Eine leise Stimme spie ihm das Wort »Kacker« ins Ohr.

Ron beobachtete, wie Rohkopf näher kam, und hörte jetzt den Wahnsinnigen kreischen: »Hier ist er. Schnappt ihn Euch.

Bringt ihn um. Hier ist er.«

Ohne Warnung lockerte sich der Griff, und als Ron über die Schulter schaute, sah er, wie Ivanhoe den Wahnsinnigen zur Kirchenmauer zurückzerrte.

Der Mund in dem kaputten Küstergesicht hörte nicht auf zu kreischen. »Hier ist er! Hier!«

Ron wandte den Blick wieder Rohkopf zu. Die Bestie war fast über ihm, und er war zu langsam, um den Stein zur Selbstverteidigung hochzuheben. Aber Rohkopf hatte gar nicht die Absicht, ihn zu reißen. Declan war es, den er roch und hörte.

Ivanhoe gab Declan frei, als Rohkopfs riesige Hände an Ron vorbeischwenkten und nach dem Wahnsinnigen tasteten. Was folgte, entzog sich der Beobachtung. Ron konnte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie die Hände Declan in Stücke rissen. Aber er hörte, wie das flehentliche Geschnatter umschlug in ein Gejaul ungläubigen Kummers. Als er sich gleich darauf umschaute, war nichts erkennbar Menschliches mehr an Boden oder Mauerwerk …

Und jetzt kam Rohkopf ihn holen, kam, um mit ihm dasselbe oder noch Schlimmeres zu machen. Mit aufklaffendem Rachen reckte der riesige Kopf sich herum, um Ron ins Visier zu nehmen, und Ron sah, wie sehr das Feuer Rohkopf verwundet hatte. Das Untier war leichtsinnig gewesen in seiner begeisterten Zerstörungswut. Es hatte sein Gesic ht und die obere Rumpfpartie voll den Flammen ausgesetzt. Seine Körperbehaarung war gekräuselt und versengt, seine Mähne zu Stoppeln weggebrannt, und das Fleisch auf seiner linken Gesichtshälfte war schwarz und blasenbedeckt. Das Feuer hatte ihm die Augäpfel geröstet, sie schwammen in einer klebrigen Masse aus Schleim und Tränen. Deswegen war es Declans Stimme gefolgt und an Ron vorbeigezogen: Es konnte kaum mehr sehen.

Aber es mußte jetzt sehen. Mußte unbedingt.

»Hier … hier …«, sagte Ron. »Hier bin ich!« Rohkopf hörte.

Er schaute, ohne zu sehen, seine Augen versuchten, etwas zu erkennen.

»Hier! Ich bin hier!«

Rohkopf knurrte tief in der Brust. Sein verbranntes Gesicht peinigte ihn. Er wollte weit weg sein von hier, weit weg in der Kühle eines Birkendickichts, mondüberflutet.

Seine getrübten Augen stießen auf den Stein; der Homo sapiens hätschelte ihn wie ein Baby. Es fiel Rohkopf schwer, ihn deutlich zu sehen, aber er wußte Bescheid. Es brannte in seinem Bewußtsein, diese? Bild. Es ließ ihm keine Ruhe, es quälte ihn.

Natürlich war es nur ein Symbol, ein Zeichen der Macht, nicht die Macht selbst, aber sein Verstand machte keine solche Unterscheidung. Für ihn war der Stein das Ding, das er am meisten fürchtete: das blutende Weib mit dem klaffenden Loch, das Samen fraß und Kinder spie. Es war das Leben, dieses Loch, dieses Weib, es war endlose Fruchtbarkeit. Es jagte ihm gräßliche Angst ein.

Rohkopf trat zurück, ungehindert lief ihm die eigene Scheiße das Bein hinunter. Die Angst auf seinem Gesicht verlieh Ron Stärke. Er nutzte seinen Vorteil voll aus, drängte angriffslustig der sich zurückziehenden Bestie nach, registrierte dabei verschwommen, daß Ivanhoe Verbündete um ihn scharte, bewaffnete Gestalten, die am Rand seines Gesichtskreises warteten, darauf versessen, den Brandstifter zu Fall zu bringen.

Seine eigene Stärke ließ ihn im Stich. Der Stein, hoch emporgehoben über seinen Kopf, damit Rohkopf ihn deutlich sehen konnte, schien jeden Augenblick schwerer zu werden.

»Los doch«, sagte er leise zu den sich zusammenrottenden Zealoten. »Los doch, greift ihn. Greift ihn …«

Sie begannen mit der Umzingelung, noch ehe er zu reden aufgehört hatte.

Rohkopf roch sie mehr, als daß er sie sah; seine schmerzenden Augen waren auf das Weib geheftet.

Seine Zähne glitten aus ihren Scheiden, einsatzbereit für den bevorstehenden Angriff. Der Gestank der Menschengattung drang von allen Seiten auf ihn ein.

Panik bezwang einen Moment lang seinen Aberglauben, und mit Todesverachtung gegen den Stein, schnellte er seine Pranke nach unten, in Rons Richtung. Ron wurde von der Attacke überrumpelt. Die Klauen senkten sich in seine Kopfhaut, Blut strömte ihm übers Gesicht.

Dann ging die Menge unmittelbar zum Angriff über. Menschliche Hände, schwache, weiße menschliche Hände wurden an Rohkopfs Körper gelegt. Fäuste schlugen auf sein Rückgrat ein, Nägel zerkratzten seine Haut.

Er ließ Ron los, als jemand von hinten ein Messer an seine Beine setzte und ihm die Kniesehnen durchtrennte. Vor rasendem Schmerz heulte er den Himmel herab, zumindest schien es so. In Rohkopfs gerösteten Augen wirbelten die Sterne im Kreis herum, während er rückwärts auf die Straße fiel und sein Kreuz unter der Wucht des Aufpralls krachte. Unverzüglich nutzten sie den Vorteil und überwältigten ihn durch ihre bloße zahlenmäßige Überlegenheit. Er biß hier einen Finger ab, dort ein Gesicht, aber sie ließen sich jetzt durch nichts mehr aufhalten. Ihr Haß war alt; in ihren Knochen saß er, nur daß sie das nicht wußten.

Er schlug unter ihren wütenden Attacken mit Armen und Beinen um sich, solange er konnte, aber er wußte, daß derTod unausweichlich war. Diesmal gäbe es keine Auferstehung, kein generationenlanges Abwarten in der Erde, bis ihre Nachkommen ihn vergäßen. Er würde völlig ausgetilgt werden, das blanke Nichts stand vor ihm.

Bei dem Gedanken wurde er ruhiger, und er schaute, so gut er konnte, nach oben, dorthin, wo der kleine Vater stand. Ihre Augen begegneten sich, wie unlängst auf der Straße, als er den Jungen gerissen hatte. Aber jetzt hatte Rohkopfs Blick seine festnagelnde Macht verloren. Sein Gesicht war leer und steril wie der Mond, längst schon geschlagen, als Ron ihm mit aller Wucht den Stein zwischen die Augen hinunterknallte. Der Schädel war weich: Er brach nach innen ein, und Gehirnmatsch bespritzte in dicken Batzen die Straße.

Der König verlöschte. Plötzlich war es vorüber, ohne Zeremo nie oder Feier. Aus, ein für allemal. Tränen gab es keine.

Ron ließ den Stein, wo er lag, halb vergraben im Ge sicht der Bestie. Benommen stand er auf und betastete seinen Kopf. Die Kopfhaut hatte sich gelöst, seine Fingerspitzen berührten den Schädel, unaufhörlich kam Blut heraus. Aber Arme waren da, ihn zu stützen, und nichts zu befürchten, falls er schliefe.

Es geschah zwar unbemerkt, aber im Tod entleerte sich Rohkopfs Blase. Ein Urinbach pulsierte aus der Leiche und rann die Straße hinunter. Das Flüßchen dampfte in der empfindlich kühlen Luft, es schnupperte mit schaumiger Nase nach rechts und links auf der Suche nach einer Abflußmöglichkeit. Nach ein, zwei Metern fand es den Rinnstein und lief ihn eine Weile entlang, bis zu einem Spalt im Asphalt; dort versickerte es in die aufnahmewillige Erde.

Er war einmal Fleisch gewesen. Fleisch und Bein und heißes Streben. Aber das war eine Ewigkeit her, zumindest schien es so, und die Erinnerung an jenes selige Stadium verblaßte schnell.

Einige Spuren seines früheren Lebens hielten sich noch; Zeit und Erschöpfung konnten ihm nicht alles rauben. Klar und schmerzlich konnte er sich die Gesichter jener vergegenwärtigen, die er geliebt und gehaßt hatte. Aus der Vergangenheit schauten sie unverwandt herüber zu ihm, klar und leuchtend.

Noch immer konnte er den herzigen Gutenacht-Ausdruck in den Augen seiner Kinder sehen sowie den gleichen Blick, weniger herzig, aber nicht minder gutenachtartig, in den Augen der brutalen Rohlinge, die er ermordet hatte.

Bei manchen dieser Erinnerungen hätte er am liebsten geweint, nur daß sich aus seinen stärkesteifen Augen keine Tränen herauswringen ließen. Außerdem war es für Reue viel zu spät.

Reue war ein den Lebenden vorbehaltener Luxus: Sie hatten noch die Zeit, den Atem und die Energie zum Handeln.

Er war über all das hinaus. Er, Mutterns kleiner Ronnie (ach, wenn sie ihn jetzt sehen könnte), er war fast drei Wochen tot.

Bei weitem zu spät für Reuegefühle.

Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um die Fehler, die er begangen hatte, wiedergutzumachen. Er hatte seine Spannweite bis an ihre Grenzen in die Länge gezogen und darüber hinaus; kostbare Zeit hatte er sich selber abgeluchst, um die losen Enden seiner ausgefransten Existenz zu vernähen. Mutterns kleiner Ronnie war immer pingelig proper gewesen: ein Ausbund an Ordentlichkeit. Das war einer d er Gründe, weshalb er an Buchführung Gefallen gefunden hatte.

Die Verfolgung von ein paar falsch eingetragenen Pence durch Hunderte von Ziffern war ein Spiel nach seinem Geschmack; und wie befriedigend dann der akkurate Bücherabschluß am Ende des Tages. Un glücklicherweise war das Leben nicht so perfektionierbar, wie ihm jetzt, zu spät am Tag, klar wurde.

Und doch, er hatte sein Möglichstes getan, und das war, wie Mutter zu sagen pflegte, alles, was einer zu tun sich erhoffen konnte. Nichts blieb ihm mehr übrig, als zu beichten und nach dem Sündenbekenntnis vor sein Strafgericht zu treten, mit leeren Händen und zerknirscht. Wie er so dasaß, über den vom Gebrauch polierten Beichtstuhlsitz in St. Mary Magdalene drapiert, härmte er sich ab, daß die Gestalt seines widerrechtlich angeeigneten Körpers nicht mehr standhielte, nicht lange genug, um sich all der Sünden, die in seinem Leinenherzen erschlaffend dahinsiechten, zu entledigen. Er konzentrierte sich darauf, Leib und Seele für diese letzten, lebenswichtigen paar Minuten beisammenzuhalten.

Bald würde Pater Rooney kommen, sich hinter das Trenngitter des Beichtstuhls setzen und Worte des Trostes, des Verstehens, der Vergebung finden; dann konnte Ronnie Glass in den noch verbleibenden Minuten seiner gestohlenen Existenz seine Ge schichte erzählen.

Anfangen würde er damit, jenen schrecklichsten Schandfleck auf seinem Charakter abzustreiten: die Beschuldigung, Pornograph zu sein.

Pornograph.

Der Gedanke war absurd. Nicht die leiseste Spur eines Pornographen steckte in ihm. Jeder, der ihn in seinen zweiunddreißig Jahren näher kennengelernt hatte, hätte das bezeugt. Lieber Gott, nicht mal Sex mochte er besonders gern. Darin lag die Ironie. Von allen Leuten, die man hätte beschuldigen können, mit Schweinkram hausieren zu gehen, kam er wohl am wenigsten in Betracht. Während es den Anschein gehabt hatte, als stellte jeder um ihn herum seinen Ehebruch wie ein drittes Bein zur Schau, hatte er einen untadeligen Lebenswandel geführt.

Das verbotene Leben des Leibes passierte - wie ein Verkehrsunfall - anderen Leuten; nicht ihm. Sex war bloß eine Achterbahnfahrt, die man sich etwa einmal jährlich genehmigen konnte. Zweimal mochte noch hingehen; dreimal war ekelerregend. Was Wunder also, daß in neun Jahren Ehe mit einem braven katholischen Mädchen dieser brave katholische Junge nur zwei Kinder zeugte ?

Aber er war ein liebevoller Gatte gewesen, auf seine lustlose Art, und seine Frau Bernadette hatte seine Gleichgültigkeit gegenüber Sex geteilt, weswegen sein unenthusiastisches Glied nie zu einem Zankapfel zwischen ihnen geworden war. Und die Kinder waren eine Freude. Samantha entwickelte sich bereits zu einem Muster an Artigkeit und Adrettheit, und Imogen (obzwar kaum zwei) hatte das Lächeln ihrer Mutter.

Das Leben war schön gewesen, alles in allem. Er war beinahe Eigentümer einer nichtssagenden Doppelhaushälfte in der belaubteren Vorortgegend von London-Süd gewesen. Er hatte einen kleinen Garten besessen, sonntags-gepflegt, und eine Seele vom selben Schlag. Es war, soweit er es beurteilen konnte, ein Musterleben gewesen: anspruchslos und frei von Schmutz.

Und das wäre es auch geblieben, hätte es nicht diesen Wurm der Habgier in seinem Wesen gegeben. Habgier hatte ihn zugrunde gerichtet, ohne Zweifel.

Wäre er nicht habgierig gewesen, hätte er den Job gleich von vornherein abgelehnt, den Maguire ihm angeboten hatte.

Dann hätte er sich auf seinen Instinkt verlassen, sich mit einem Blick in dem engen, verrauchten Büro über der ungarischen Konditorei in Soho umg esehn - und das Weite gesucht. Aber sein brennendes Verlangen nach Wohlhabenheit lenkte ihn von der nackten Wahrheit ab, so daß er all seine buchhalterischen Fähigkeiten einsetzte, um einem Unternehmen, das nach Korruption stank, einen Anstrich von Seriosität zu verleihen.

Im Grunde seines Herzens hatte er natürlich alles gewußt.

Gewußt, daß Maguire trotz seines endlosen Geredes von moralischer Wiederaufrüstung, seiner zärtlichen Zuneigung zu seinen Kindern und seiner besessenen Hingabe an die vornehme Freizeitkunst des Bonsai ein mieses Schwein war. Der Gemeinste der Gemeinen. Aber Ronnie hatte dieses Wissen erfolgreich ausgesperrt und sich mit seinem Job zufriedengegeben: der Bilanz der Bücher. Maguire war großzügig, und dadurch ließ sich die Blindheit leichter aufrechterhalten. Ronnie fing sogar an, den Mann und seine Kompagnons zu mögen. Er gewöhnte sich nachgerade an den Anblick der watschelnden Masse, die Dennis »Dork« Luzzati hieß und der unentwegt Reste einer frischen Sahnetorte an den fetten Lippen hingen; gewöhnte sich gleichfalls an den kleinen dreifingrigen Henry B. Henry mit seinen Kartentricks und den dazugehörigen Quasselarien, eine neue Nummer täglich. Sie waren nicht die geistig anspruchsvollsten Gesprächspartner, und im Tennisclub wären sie mit Sicherheit nicht willkommen gewesen, aber sie schienen durchaus harmlos zu sein.

Es war folglich ein Schock, ein schrecklicher Schock, als er schließlich den Schleier lüftete und Dork, Henry und Maguire als die Bestien sah, die sie in Wirklichkeit waren.

Zu der Enthüllung kam es rein zufällig.

Eines Nachts, nach dem späten Abschluß einer Steuerarbeit, hatte Ronnie sich schnell noch ein Taxi genommen, in der Absicht, Maguire im Lagerhaus seinen Bericht persönlich auszuhändigen. Tatsächlich hatte er zuvor noch nie das Lagerhaus aufgesucht, obwohl es die drei in seinem Beisein oft genug erwähnten. Maguire bewahrte dort seine Büchervorräte für einige Monate im voraus auf. Hauptsächlich Kochbücher aus Europa, zumindest wußte Ronnie von nichts anderem. In dieser Nacht, dieser letzten Nacht der Reinlichkeit, stolperte er über die Wahrheit in all ihrer farbgetreuen Glorie.

Maguire war da; umgeben von Paketen und Kisten, saß er in einem der unverputzten Räume auf einem Stuhl. Eine nackte Glühbirne warf einen Heiligenschein um sein sich lichtendes Haupt, die Kopfhaut schimmerte rosa. Dork war auch da, in eine Torte vertieft. Henry B. legte gerade eine Patience. Rings um das Trio türmten sich in hohen Stapeln Magazine zu Abertausenden übereinander, mit glänzenden Titelseiten, jungfräulich-unberührt und irgendwie fleischig.

Maguire schaute auf von seinen Berechnungen.

»Glassy«, sagte er. Er gebrauchte immer diesen Spitznamen.

Ronnie starrte in den Raum und erriet sogar von weitem, worum es sich bei diesen aufgehäuften Schätzen handelte.

»Na, komm’ Sie schon rein«, sagte Henry B. »Lust auf ‘n Spielchen?«

»Gucken Sie nicht so streng«, beschwichtigte ihn Maguire,

»das ist Ware wie jede andere.«

Eine Art unterschwelliges dumpfes Grauen bewog Ronnie, an einen der Magazinstöße heranzutreten und das oberste Exemplar aufzuschlagen.

»Sex pur«, stand auf der Titelseite, »Ekstasen der Erotik in Farbe. Der Superporno für anspruchsvolle Erwachsene. Text: Englisch/Deutsch/Französisch.« Außerstande, sich zurückzuhalten, fing er an, das Magazin durchzusehen. Sein Gesicht brannte dabei vor Verlegenheit; nur mit halbem Ohr hörte er den Schwall von Witzeleien und Drohungen, den Maguire heraussprudelte.

Schwärme obszöner Bilder flogen ihm in gräßlicher Überfülle aus allen Seiten entgegen. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas Derartiges gesehen. Jede sexuelle Handlung, die zwischen sich dazu bereit findenden Erwachsenen möglich war (und nur ein paar Akrobaten, gedopte Akrobaten, konnten sich zu solchen Handlungen bereitfinden), war in prächtiger Detailtreue wiedergegeben. Aus einem öligen Sexmorast hochkletternd, lächelten die Darsteller dieser unaussprechlichen Akte Ronnie mit glasigen Augen an; weder Scham noch Schuldbewußtsein zeichneten ihre lustgedunsenen Gesichter. Jeder Schlitz, jeder Spalt, jede Runzel und Pustel ihrer Körper war zur Schau gestellt, nackter noch als nackt. Der sich ausstülpende, keuchend zuckende Exzeß dieser Entblößungen versengte Ronnie den Magen.

Er klappte das Magazin zu und schaute sich flüchtig noch einen Haufen daneben an. Andere Gesichter, dasselbe rasende Sich-Paaren. Noch die abartigste Lasterhaftigkeit wurde mit dazu passendem Bildmaterial versorgt. Allein schon die Titel bezeugten die Wonnen, die im jeweiligen Heft zu erwarten waren. »Rassefrauen in Ketten«, lautete einer, »Sklaven des Gummis«, verhieß ein anderer. »Neufundländer Lover« präsentierte sich ein drittes Heft, in perfekter Scharfeinstellung bis aufs allerletzte nasse Schnauzhaar.

Langsam drang Michael Maguires zigaretten-ramponierte Stimme in Ronnies taumelndes Hirn. Sie beschwatzte ihn, versuchte es zumindest, und, was schlimmer war, sie verspottete ihn auf ihre subtile Art wegen seiner Naivität.

»Sie mußten ja früher oder später drauf kommen«, sagte er. »Je früher, um so besser, nä? Schadet niemand. Doch recht amü sant, das Ganze.«

Ronnie schüttelte heftig den Kopf, versuchte, die Bilder zu verscheuchen, die hinter seinen Augen Wurzeln geschlagen hatten. Sie vervielfältigten sich bereits, drangen erobernd in ein Territorium ein, das so gänzlich unbeleckt von derartigen Möglichkeiten gewesen war. In seiner Vorstellung tollten Neufundländer in Leder herum und schlürften aus den Körpern ihrer gefesselten Huren. Es war beängstigend, wie diese Abbildungen ihm die Augen überfluteten, jede Seite ein neuer Gegenstand des Abscheus. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, es sei denn, er unternahm etwas.

»Grauenvoll«, mehr brachte er nicht heraus. »Grauenvoll.

Grauenvoll. Grauenvoll.«

Er versetzte einem Stoß »Rassefrauen in Ketten« einen Fußtritt. Als dieser umkippte, breitete sich das Bild der Titelseite in mehrfacher Wiederholung über den schmutzigen Boden aus.

»Lassen Sie das«, sagte Maguire sehr ruhig.

»Grauenvoll«, sagte Ronnie. »Sie sind alle grauenvoll.«

»Herrscht ‘ne lebhafte Nachfrage danach.«

»Nicht bei mir!« sagte er, als hätte Maguire behauptet, daß er irgendein persönliches Interesse daran habe.

»Schön, dann mögen Sie sie eben nicht. Er mag sie nicht, Dork.«

Dork wis chte sich mit einem exquisiten Taschentuch Schlagsahne von den kurzen Fingern.

»Wieso nicht?«

»Sind ihm zu schmutzig.«

»Grauenvoll«, sagte Ronnie nochmals.

»Also, du steckst bis zum Hals in der Sache drin, mein Sohn«, sagte Maguire. War seine Stimme nicht die des Teufels?

Jawohl, die Stimme des Teufels. »Mach lieber halblang, und trag’s mit Fassung!«

»Halblang soll er’n machen«, wieherte Dork, »gelungen, Mick, echt gelungen.«

Ronnie schaute Maguire an. Der Mann war fünfundvierzig, vielleicht fünfzig; aber sein Gesicht hatte einen vergrämten, kaputten Ausdruck, vorzeitig gealtert. Der Charme war dahin; es war kaum menschlich, dieses Gesicht, mit dem er einem den Blick festleimte. Der Schweiß, die Borsten, der gespitzte Mund erinnerten Ronnie an den einladend hergereckten Hintern von einer der aufgespreizt-roten Schlampen in den Pornoheften.

»Wir drei sind durch die Bank stadtbekannte Schurken«, sagte selbiges Organ, »und wir haben nichts zu verlieren, wenn sie uns wieder erwischen.«

»Nichts«, sagte Dork.

»Du hingegen, mein Sohn, du bist ein Profi mit absolut reiner Weste. Also, wie ich das sehe: Wenn du über dieses schmutzige Geschäft rumtratschen willst, dann isses bald aus mit deinem guten Ruf als gewissenhafter, rechtschaffener Buchhalter. Ich würd’ sogar so weit gehen und behaupten, daß du nie mehr Arbeit kriegst. Kapiert, was ich meine?«

Ronnie wollte Maguire eine reinhauen, also tat er es; mit voller Wucht noch dazu. Es gab ein befriedigendes Knacken, als Maguires Zähne mit ebendieser Wucht gegeneinanderstießen, und rasch quoll Blut zwischen seinen Lippen heraus. Es war das erste Mal seit seiner Schulzeit, daß Ronnie sich prügelte, und er war zu langsam, um dem unvermeidlichen Vergeltungsschlag auszuweichen. Der Hieb, mit dem Maguire konterte, streckte Ronnie blutbefleckt zu Boden, mitten unter die »Rassefrauen«.

Ehe er sich aufrappeln konnte, hatte Dork ihm den Absatz ins Gesicht geknallt und zermalmte ihm damit den Nasenknorpel.

Während Ronnie sich das Blut aus den Augen wischte, hievte ihn Dork auf die Beine und hielt ihn als unfreiwillige Zielscheibe Maguire vor die Nase. Die beringte Hand wurde zur Faust, und in den nächsten fünf Minuten benutzte Maguire Ronnie als Sandsack: fing unterm Gürtel an und arbeitete sich nach oben.