»Evie, mein Liebes«, sagt Amy. Ich will gerade den Bezug meiner Decke wechseln, und sie klingt so seltsam, dass ich innehalte. Sie starrt das Bettlaken an. Ich sehe erst jetzt, dass es voller Matsch ist. »Was, um Himmels willen, hast du da gemacht?«, fragt sie und schiebt die Decke zurück, um die Flecken genauer betrachten zu können.

»Das kann man waschen, oder?«

»Ja, sicher«, antwortet Amy, »aber woher kommt der Dreck? Und hier«, fügt sie hinzu und geht zu dem Stuhl, auf den ich immer meine Kleider lege. »Deine Jeans ist auch dreckig … und nass.« Sie dreht sich besorgt zu mir um, mustert mich von Kopf bis Fuß. »Du bist doch nicht etwa in dieser Hose rumgelaufen, mein Liebes? Es wäre schlecht, wenn du so kurz nach der Operation eine Erkältung bekommen würdest.«

»Ich bin fit«, unterbreche ich sie und knülle die dreckigen Kleider und die Laken zusammen. »Ich tue Fleckensalz in die Waschmaschine.«

Amy hält noch die Jeans in der Hand, drückt stirnrunzelnd den Stoff. »Warum ist sie noch so nass? Du hast doch gleich nach dem Abendessen den Pyjama angezogen. Zieht es hier?«, fragt sie, geht zum Fenster und tastet den Rahmen ab, prüft danach, ob die Heizung läuft. »Frierst du nachts?«

»Aber nein. Hier ist es puttwarm.«

Doch als Amy ihren Blick auf die Dreckwäsche in meinen Armen richtet, legt sie die Stirn in noch tiefere Falten. »Wie kann es dann sein, dass die Hose …«

»Ich war heimlich draußen«, erkläre ich hastig. »Letzte Nacht.«

»Letzte Nacht?«, fragt Amy. »Ich habe nicht gehört, wie du durch den Flur gegangen bist.«

»Bin ich auch nicht«, erwidere ich und beeile mich zu sagen: »Ist nur so, dass ich abends und manchmal auch am frühen Morgen hinten im Garten nach etwas schaue. Nach Pilzen«, setze ich hinzu. »Da wachsen super Pilze. Jedenfalls waren sie bis vor kurzem da. Gibt tolle Sachen dort draußen. Und nachts wirkt alles so anders, wie verzaubert. Man findet sogar Brombeeren.«

»Ja, das sehe ich«, sagt Amy und lüpft eine Augenbraue, als sie einen herunterhängenden Ärmel hebt. Sie zeigt auf einen großen lila Fleck gleich unterhalb des Saums. »Du bleibst aber im Garten, Evie, oder? Ich kenne eine gute Brombeerstelle gleich vorn am Treidelpfad, aber du musst diesseits der Bäume bleiben – bitte!«

Ich zucke mit den Schultern, trete von einem Fuß auf den anderen.

»Mein Liebes«, sagt Amy und berührt mich am Arm. »Ich habe nichts dagegen, wenn du dich dreckig machst. Aber du darfst keine Erkältung riskieren, und deshalb halte ich es für keine gute Idee, irgendwelche Streifzüge zu unternehmen. Schon gar nicht nachts. Ich will dir keine Angst einjagen, denn dies hier ist eine ruhige Gegend, aber du solltest trotzdem vorsichtig sein. Man kann nie wissen, wer oder …«

Ich hake mich bei ihr unter, so dass sie mich umarmen kann. Dann lege ich einen Arm um ihre Taille und bugsiere sie behutsam zur Tür. Ich will die verräterische Wäsche so rasch wie möglich unten in die Maschine stecken, damit das Thema ein für alle Mal vom Tisch ist. »Ich verspreche dir, auf mich aufzupassen«, sage ich. »Mir wird schon nichts passieren – glaub mir.«

Amy seufzt. »Du hast dich gestern nach dem Abendessen wieder angezogen und bist rausgegangen, während ich im Bad war, richtig? Denn du kannst es weder vor dem Essen noch heute früh getan haben. Warum …« Sie verstummt mit einem weiteren Seufzer und drückt meine Schultern. »Ich mache mir viel zu viele Sorgen, nicht wahr, mein Liebes? Aber du weißt ja, dass ich das tue, weil ich nicht anders kann. Weil ich dich liebe.«

»Ja, das weiß ich«, erwidere ich und sehe lächelnd zu ihr auf. Ich bette meinen Kopf kurz auf ihre Schulter und trete dann zurück, damit sie vor mir die Treppe hinuntergehen kann. Wenn ich etwas trage, und sei es nur ein Taschentuch, will sie immer vorangehen, damit ich auf sie fallen kann, wenn ich stolpere.

Während Amy das Waschpulver bemisst, stopfe ich die Wäsche in die Maschine. »Amy«, sage ich und lasse meine Stimme ein klein wenig flehentlich klingen, damit sie weiß, dass ich um etwas bitte, das mir am Herzen liegt, »ich werde bald fünfzehn, und da dachte ich … Ich möchte ein bisschen unabhängiger sein, zumal es mir jetzt besser geht.«

»Ja. Gut«, sagt Amy, sieht aber verwirrt aus.

»Ich möchte meine eigene Wäsche machen. Die Kleider selbst waschen, meine ich.«

Amy runzelt die Stirn. »Aber ich bemuttere dich gern, mein Liebes. Wenn du mit dem Rad zu Phee fahren und gemeinsam mit ihr zur Schule gehen willst, dann hätte ich nichts dagegen, außer bei Regen, aber warum …«

Ich schlage die Luke der Waschmaschine etwas zu kräftig zu und bemerke, dass Amy erst zur Maschine und danach zu mir schaut, als würde sie sich fragen, warum mir so viel daran liegt.

»Ich möchte es einfach selbst tun«, sage ich, wobei ich eine gewisse Genervtheit in meine Stimme lege. »Ich kann mich besser strecken, weil die Rippen nicht mehr wehtun, und ich würde es gern selbst machen.«

Amys Brauen schießen nach oben, und sie blinzelt mich kurz an. Aber schließlich zuckt sie lächelnd mit den Schultern. »Wenn du unbedingt willst, mein Liebes. Aber glaub bitte nicht, dass es mir etwas ausmacht, wenn du es wieder anders haben möchtest. Wäschewaschen ist nicht gerade spannend.« Dann runzelt sie wieder die Stirn. »Ich hoffe nur, es hat nichts damit zu tun, dass du weiter heimlich im Dunkeln auf dem Treidelpfad herumstromern willst«, sagt sie.

»Ach, du weißt doch, wie das ist«, sage ich leichthin. »Mit vierzehn muss man vorsichtig mit solchen Versprechen sein. Wir brauchen manchmal die Freiheit, in tiefster Nacht nach draußen gehen zu können, um dort unsere geheimen, magischen Kräfte auszuprobieren … zu einer … Rächerin des Unrechts oder zu einer Retterin von … äh … verschmähten, ungepflückten Brombeeren zu werden.«

»Versuch bitte, tagsüber Brombeeren zu retten«, sagt Amy, »oder sag in Zukunft Paul oder mir Bescheid, bevor du dich rausschleichst, um dich mit Brombeersaft zu bekleckern.«

Ich ziehe ein Gesicht. »Damit ihr den Ruhm für meine mutige Rettungstat einheimst, meinst du?« Ich seufze tief auf. »Na, ich schätze, ich sollte ein paar jener armen Seelen, die ich dem mörderischen Griff der Fäulnis entreiße, mitbringen, damit sie Zeugnis von meiner Größe ablegen«, sage ich.

Dies führt zu der Diskussion, ob wir die Orangenmarmelade in diesem Jahr kochen sollen, wenn die Sevilla-Apfelsinen reif sind, und Amy scheint abgelenkt zu sein. Sobald sie in den Garten gegangen ist, um die abgestorbenen Blätter von den Rosensträuchern zu zupfen, fische ich eine leere Plastikflasche aus dem gelben Sack, fülle sie mit Wasser und verstecke sie in meinem Schrank. Amy darf nicht merken, wie nass und dreckig meine Turnschuhe immer sind, denn sonst würde ich wieder in der Klemme sitzen. Wenn ich sie jede Nacht im Bad abwaschen würde, dann würde ich geradezu darum betteln, ertappt zu werden, und aus dem gleichen Grund kann ich sie auch nicht im Garten verstecken, denn der wird bis in den letzten Winkel gehegt und gepflegt. Also muss ich sie aus dem Fenster halten und abspülen; so kann niemand Lunte riechen.

Heute ist der Hochzeitstag von Onkel Ben und Tante Minnie. Oder besser: Es wäre ihr Hochzeitstag gewesen. Schade, dass Onkel Ben nicht von Tante Minnie erzählt, aber er scheint die Erinnerung an sie nicht ertragen zu können, und ihr Name kommt nie über seine Lippen. In diesem Jahr ist es wie immer, seit ich bei Amy und Paul lebe: Onkel Ben besucht uns am Abend zuvor, fröhlich wie üblich, nur schenkt er sich beim Abendessen ein Glas Wein nach dem anderen ein. Wenn Amy zwischendurch in der Küche steht, versuche ich anzudeuten, dass ich jetzt alt genug sei, um über ernsthafte Themen zu reden, dass ich gern zuhören und dass es mich nicht belasten würde. Ja, dass ich sogar bereit wäre, über den Grund für meine Wut zu sprechen, denn was sie belastet, verraten sie nicht, aber weder Paul noch Onkel Ben nehmen mein Angebot zur Kenntnis. Unsere Unterhaltung beschränkt sich auf lustige, leichtere Themen, aber nachdem Amy und ich zu Bett gegangen sind, reden die beiden noch bis spät in die Nacht. Ich traue mich nicht, sie von der Treppe aus zu belauschen – nicht heute Nacht, denn Amy wird sicher in Abständen nach ihnen schauen.

Am nächsten Morgen sitzt Onkel Ben schon in der Küche, als ich runterkomme, und lässt einen Kaffeebecher zwischen den Händen kreisen, während Amy Pfannkuchen backt.

In diesem Jahr fällt der Hochzeitstag zum ersten Mal, seit ich bei Amy und Paul bin, auf ein Wochenende. Ich muss also nicht zur Schule, Paul fährt nicht zur Arbeit, und Onkel Ben muss sich nicht freinehmen. Stattdessen frühstücken wir alle gemeinsam. Ganz gemütlich. Und schweigend. Amy und Paul haben den Tag offenbar vorher geplant, denn nachdem der Tisch abgeräumt worden ist – Onkel Ben hilft ausnahmsweise nicht, sondern sitzt nur da und dreht seinen Becher unablässig im Kreis, als könnte er darin etwas sehen, sobald der Kaffee im richtigen Tempo schwappt –, holt Amy Hut, Mantel und Schal und bearbeitet Onkel Ben so lange, bis dieser auch den Mantel anzieht. Dann verschwinden sie durch den Garten.

Ich schaue ihnen aus dem Küchenfenster nach, bis Paul neben mich tritt und mir eine Hand auf die Schulter legt. »Wenn du möchtest, können wir auch einen Spaziergang machen«, bietet er an.

Ich schüttele den Kopf. Draußen fällt ein Nieselregen, und es ist nasskalt, ein Wetter, das so gar nichts von dem Reiz jener taufeuchten Nebelmorgen hat, von denen in Kindergedichten oft die Rede ist. An Tagen wie diesem ist die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt, und das Marschland stinkt nach vermoderndem Schilf und trüben Teichen. Der Nebel durchdringt die Kleider, und am Ende ist die Haut so feuchtwarm wie bei Fieber. Ich winde mich bei dieser Vorstellung. »Zu nass«, sage ich.

»Wir sollten ein paar Filme holen. Um Onkel Ben aufzuheitern.«

»Und um ihn abzulenken?«

Paul lächelt. »Na los, zieh dich warm an.«

Unterwegs kann ich Paul ansehen, dass er genauso dringend aufgeheitert werden müsste wie Onkel Ben. Dies wäre der passende Moment, um endlich zu fragen, was sie während ihrer nächtlichen Ausflüge tun, aber ich kann nicht. Oder mag nicht. Als wüsste ich auf einmal nicht mehr, welche Antwort ich hören will.

»Vielleicht sollten wir eine Freundin für Onkel Ben finden. Was meinst du?«, frage ich stattdessen.

Paul schenkt mir ein Grinsen, und es ärgert und erleichtert mich zugleich, dass ich die Gelegenheit für andere Fragen verpasst habe. »Amy hat schon wieder Anatevka geguckt, was? ›Kupplerin, Kupplerin, verkuppele mich‹«, singt er, und dann muss er lachen.

Ich verdrehe die Augen, versuche zu verdrängen, dass ich gerade eine goldene Gelegenheit verschenkt habe, und bin zugleich erleichtert, nichts Belastendes erfahren zu haben. Nichts Gefährliches. »Onkel Ben ist total nett. Er verdient jemanden, der ihn liebt und nur für ihn da ist, meine ich.«

Pauls Lächeln weicht langsam, erst aus dem Mund, dann aus den Augen. »Dein Onkel Ben ist ein wunderbarer Mann, Evie. Aber viele Leute … Tja, sie würden nicht unbedingt … ich will sagen …«

»Du willst sagen, dass Onkel Ben nicht hübsch genug ist.«

Das Auto kommt ein bisschen nach rechts ab, als Paul sich zu mir dreht. Er murmelt etwas und blickt dann wieder auf die Straße. Sein Lachen ist nur ein Brummen. »Genau das wollte ich sagen.«

»Er sieht aber nicht schlecht aus«, widerspreche ich. »Er ist schließlich weder dick noch kahl oder so. Er ist manchmal nur … etwas nachlässig. Wenn er öfter zum Friseur gehen und daran denken würde, seine Kleider zu bügeln, wenn er keine Sachen tragen würde, die farblich nicht zueinander passen … Er sieht nur dann komisch aus, wenn er die Stirn runzelt und ein Gesicht zieht oder schwer zerstreut ist. Wenn er mit mir zusammen ist, ist er immer fröhlich und lustig. Ich denke nie darüber nach, wie er gerade aussieht, also …«

Paul lächelt wieder. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Evie. In deiner Gegenwart ist er immer fröhlich.«

Ich drehe mich zu Paul, zucke zusammen und lasse mich zurückfallen, frustriert wegen all der dummen Kleinigkeiten, die ich wegen meiner Rippen nicht tun kann. Insgesamt gesehen fällt das zwar kaum ins Gewicht, aber es ärgert mich, weil ich nicht in jeder Haltung sitzen und schlafen kann. Ich rufe mir seufzend in Erinnerung, dass alles anders wird, sobald meine Rippen richtig verheilt sind, und richte meine Gedanken wieder auf Onkel Ben.

»Er würde auch in Gegenwart eines Menschen lächeln, den er wirklich mag. Eines Menschen, der ihn glücklich macht. Du und Amy, ihr kennt doch sicher ein paar nette Singlefrauen. Ihr könntet eine zum Abendessen einladen, wenn Onkel Ben da ist … und noch einige andere Leute dazubitten, damit es nicht so offensichtlich ist.«

»Gute Idee, Evie«, sagt Paul ohne echte Begeisterung. »Aber ich glaube, Onkel Ben ist noch nicht so weit.«

»Meinst du?« Ich lasse nicht locker. »Wenn er eine richtig nette Frau kennenlernen würde …«

Paul seufzt. »Ich weiß, dass es Onkel Ben nicht anzumerken ist, Evie, zumal er in deiner Gegenwart fröhlich ist, aber so ist er nicht immer. Nicht im Beisein anderer Erwachsener. Ich glaube zwar nicht, dass er jemanden bewusst vor den Kopf stoßen würde, aber man spürt, ob ein anderer an einem Rendezvous überhaupt interessiert ist oder nicht.«

Ich verziehe aufsässig den Mund.

Paul bemerkt meine Miene und grinst. »Eines könnten wir allerdings tun. Sobald Onkel Ben auch nur ansatzweise auf das Thema Frauen, Rendezvous oder dergleichen zu sprechen kommt, schmeißen Amy und ich eine Party, zu der wir alle in Frage kommenden Frauen einladen. Wäre das nach dem Geschmack von Mademoiselle?«

Ich schaue ihn brummig an. »Man müsste Onkel Ben erst einmal dazu veranlassen, überhaupt einen Gedanken an ein Rendezvous zu verschwenden.«

Paul, der gerade einparkt, erwidert nichts. Als wir ausgestiegen sind, geht er rund um das Auto und legt mir einen Arm um die Schultern. »Ich sage ja nicht, dass du falschliegst, Evie, aber … Wir könnten allerdings ein paar romantische Komödien aussuchen. Wäre das nicht ein Wink mit dem Zaunpfahl?«

Ich zucke mit den Schultern und drücke mich an ihn, als er in Richtung Videothek geht. Drinnen diskutieren wir normalerweise lebhaft darüber, welche Filme es sein sollen, aber heute bin ich nicht richtig bei der Sache. Ich muss an Amy und Paul denken und daran, dass alle Sachen von Adam ganz oben im Schrank auf dem Treppenabsatz verstaut sind. Im ganzen Haus gibt es keinen Hinweis darauf, dass Amy und Paul einen Sohn hatten.

Es gibt nicht einmal Fotos, bis auf eines in Pauls Brieftasche, das ich entdeckte, als er mich bat, seine Kreditkarte zu holen. Amys Bild von Adam befindet sich in dem Medaillon, das sie stets trägt: Adam ist auf der einen Seite zu sehen, auf der anderen ihre Eltern.

Ich habe es nur zwei Mal zu Gesicht bekommen. Zum ersten Mal, als ich gerade bei Paul und Amy eingezogen war. Da kannte ich die beiden schon über ein Jahr und war mehrmals zur Probe bei ihnen zu Besuch gewesen. Ichsaß am einen Ende des Küchentischs und machte Mathehausaufgaben, Paul brütete am anderen Ende über irgendwelchen Steuersachen, und Amy war eifrig mit Kochen beschäftigt und drehte am Radio herum. Ich hätte das Buch am liebsten zugeknallt und gegen die Wand geworfen, genau wie alles andere auf dem Tisch. Obwohl ich wusste, dass Amy mich im schlimmsten Fall ermahnen würde, verkrampfte sich mein Magen, als ich nach dem Buch griff. Ich hatte bei Fionas Eltern nie etwas durch die Gegend geschmissen, und ich würde hier, bei Amy und Paul, die mich immer so gut behandelt hatten, nicht damit anfangen.

Also ließ ich das Buch los, verschränkte die Arme darauf und ließ den Kopf sinken. Ich seufzte tief. Amy setzte sich sofort neben mich und wischte ihre Hände am Geschirrtuch ab.

»Darf ich?«, fragte sie mit ermutigendem Lächeln und zeigte auf das Buch.

Ich richtete mich auf und schob es ihr hin. »Ich kapiere das einfach nicht.«

»Scheint in der Familie zu liegen. Adam hat Bruchrechnen auch immer gehasst«, sagte sie. Ich konnte merken, dass sie das nicht hatte sagen wollen – dass es ihr herausgerutscht war –, denn sie wurde sehr still, und Paul zog die Füße vom freien Stuhl.

»Wie sah Adam aus?«, fragte ich, denn sie hatten noch nie über ihn gesprochen, seit ich bei ihnen war. Nicht, dass sie mir etwas verheimlicht hätten. Ich wusste von Anfang an, dass ihr Sohn sehr jung gestorben war. Und da ich außerdem wusste, dass sie nicht gern darüber sprachen, mochte ich nicht fragen, sondern wartete ab, bis einer von beiden die Rede auf ihn brachte.

Paul und Amy schauten sich über meinen Kopf hinweg an. Unterschiedlichste Gefühle überflogen Amys Gesicht in so rascher Folge, dass man fast hätte glauben können, sie würde zum Spaß Grimassen schneiden. Dann holte sie tief Luft, strich der ganzen Länge nach über ihre Arme. Ich dachte erst, dass sie es tut, weil sie noch feuchte Finger hat, aber vielleicht war die Geste auch instinktiver – ein Versuch, den Schmerz aus der Brust zu ziehen, ihn abwärts zu drücken, wegzuschieben, aus ihren Fingern zu entlassen.

Ich wollte mich gerade entschuldigen, sagen, dass ich es gar nicht wissen muss, dass es mich nichts angeht … Aber Amy war schon aufgestanden.

Ich dachte, sie wollte weggehen, aber sie schob ihren Stuhl zur Seite, setzte sich so hin, dass wir uns fast gegenübersaßen. Sie bewegte sich so gemessen, als wäre höchste Vorsicht geboten. Dann zog sie das Medaillon unter ihrem Pullover hervor und senkte den Kopf, als sie den winzigen Verschluss mit einem Fingernagel öffnete. Ich drehte mich auf meinem Stuhl so, dass ich es betrachten konnte, während sie es mir hinhielt.

»Wer sind die beiden?«, fragte ich, indem ich auf das andere Foto zeigte.

»Das sind meine Eltern.«

Ich zog Amys Hand näher zu mir heran, weil ich die kleinen Gesichter im Licht, das sich im Glas des Medaillons spiegelte, nicht erkennen konnte. Amys Finger waren wie erfroren, kalt und starr. Sie beugte sich vor, Stückchen um Stückchen, bis unsere Köpfe einander berührten. Dann zuckte sie plötzlich auf ihrem Stuhl zurück und drückte das Medaillon gegen ihre Brust, als wollte sie es beschützen.

Gesicht und Augen waren ausdruckslos. Dann kam sie wieder zu sich.

»Meine Güte«, sagte sie in einem Ton, dessen Schwermut die Leichtigkeit ihrer Worte Lügen strafte. »Ich habe mich kurz hinreißen lassen. Jetzt lass uns einen Blick auf deine Mathehausaufgaben werfen.«

Als ich mich wieder den Büchern zuwandte, merkte ich, dass Paul gegangen war.

Das war eines der wenigen Male, dass in Anwesenheit beider die Rede auf Adam kam. Im Laufe der Jahre erfuhr ich noch mehr, aber immer nur, wenn ich mit einem von beiden allein war. Dann blitzten glückliche Erinnerungen auf. Bruchstücke. Fragmente eines anderen Lebens. Unter vier Augen haben sie mir nie eine Antwort auf die wenigen Fragen verweigert, die ich zu stellen wagte, haben das Gespräch jedoch immer rasch beendet. Wenn ich ganz dringend etwas über Adam wissen will, frage ich Onkel Ben, und wenn ich etwas über Tante Minnie in Erfahrung bringen möchte, frage ich Amy und Paul.

Die beiden haben mich zwei Jahre nach Adams Tod bei sich aufgenommen, aber Onkel Ben hat sich seit Tante Minnies Tod mit keiner Frau mehr getroffen. Ich denke immer öfter, dass er einen kleinen Schubs brauchte, damit er sich ein wenig weiterbewegt. Und ich werde mir zum ersten Mal der Unterschiede zwischen den dreien bewusst: Paul und Amy haben ein neues Kind gefunden, das sie lieben können, aber Onkel Ben ist immer noch allein. Doch dann gelange ich zu der überraschenden Erkenntnis, dass Amy und Paul in ihrem Leben im Grunde genauso auf der Stelle treten wie Onkel Ben – sie haben zwar den Versuch unternommen, ein neues Leben zu beginnen, aber haben dafür die Erinnerungen an Adam in ein Zimmer gesperrt, die Tür verriegelt und diese dann übertapeziert, um so tun zu können, als wäre sie nicht mehr vorhanden, als würden weder Tür noch Zimmer existieren. Vielleicht glauben sie sogar, dass all die kaputten Dinge darin vermodert wären, wenn sie die Tür eines Tages wieder öffnen würden; dass sie Holzsplitter und Glasscherben, die im Laufe der Zeit stumpf geworden sind, gefahrlos zur Hand nehmen könnten; dass alles weich wie Asche wäre.

Ich habe das auch versucht. Mit meinen Erinnerungen an Fiona und ihre Eltern. Immer vergeblich. Es hat nie geklappt. Ich konnte wegen meiner schmerzenden Rippen nie so tun, als wäre nichts gewesen, konnte mir nie einreden, schon immer die Tochter von Paul und Amy gewesen zu sein. Und ich habe mir alles Mögliche eingeredet. Aber meine Rippen verschoben sich knirschend, und ihre Enden rieben sich aneinander, oder ich spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, wenn ich mich umdrehte – und dann lag alles nicht mehr in der Vergangenheit, sondern war gegenwärtig. Und die Gegenwart kann man nicht wegreden.

Während ich in der Videothek durch die Gänge schlendere, kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht sogar schlimmer wäre, wenn man alles wegsperren, das Zimmer verriegeln und die Tür übertapezieren könnte. Die Lösung, das Leid einfach wegzusperren, scheint anfangs vielleicht die einfachste zu sein, könnte sich am Ende jedoch als mühsam erweisen, denn wenn der Wind durch einen Spalt pfeift und die Dinge im Zimmer rascheln lässt oder verschiebt, müsste man jedes Mal die Ohren verschließen. Gut möglich, dass es so weniger schmerzt, aber die Vorstellung einer Höhle voller kaputter und aussortierter Dinge, die Teil eines glücklichen Lebens waren, finde ich unsäglich traurig.

Paul stellt mir eine Frage, und ich brumme nur. Das scheint ihm als Antwort zu genügen, denn er geht zur Kasse. Ich folge ihm langsam.

Als ich die Fotos im Medaillon zum ersten Mal sah, wollte ich unbedingt auch meines darin haben. Inzwischen bin ich nicht mehr eifersüchtig. Amy trägt Adams Bild zwar immer bei sich, aber es ist weggeschlossen. Und ich habe alles andere.

»Geht es um das, was Paul und Onkel Ben treiben?«, frage ich schnaufend, während ich auf einem Feld mit Blumenkohl oder einem anderen Gemüse durch eine Furche stapfe. In der fast vollständigen Finsternis des Marschlands sind die Reihen der Pflanzen nur als dunkle Streifen zu erkennen. Es ist so finster, dass ich ebenso gut zwischen kleinen Büschen laufen könnte, an denen Spiralnudeln hängen. »Gibt es denn keinen anderen Weg? Einen schöneren?« Der Drache lässt sich nicht zu einer Antwort herab. Also schweige ich auch.

Die Welt ist lila und samtblau, die Dunkelheit wie schwarzer Nebel. Wie verwandelt. Manchmal bilde ich mir ein, dass sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hätten, aber im nächsten Moment verblasst das Bild der Landschaft und wird zu etwas anderem. Der Horizont, sonst ein fahler, von den Lichtern des fernen Cambridge orange-grau erhellter Strich, ist heute rostbraun wie altes, getrocknetes Blut.

Doch mit dem Drachen auf meiner Schulter fürchte ich mich nicht. Mir schwirrt nur langsam der Kopf, weil ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Der Grund ist uneben, und ich trete in ein Loch in der Furche und danach auf den hohen Rand und komme ins Stolpern.

»Wohin gehen wir?«, zische ich genervt, als ich schwankend und keuchend stehen bleibe. Der Weg durch das Dunkel ist beschwerlich. »Ich dachte, wir hätten heute etwas Besonderes vor.«

Dieser Dunkelmond ist nicht der richtige, sagt der Drache. Wir können noch nicht zur Tat schreiten.

Ich schnaube. »Klingt in meinen Ohren wie eine ziemlich lahme Ausrede.«

Der Drache verstärkt seinen Griff auf meiner Schulter, bis ich seine Klauen sogar durch den Mantel spüre.

»Gut. Dann erzähl mir von dem tollen Plan, den du mitten auf diesem Feld in stockdunkler Nacht verfolgst!«

So bringst du mich nicht dazu, dir etwas Wichtiges zu verraten, erwidert der Drache pikiert und deutet damit an, dass man Drachen einen gewissen Respekt schuldet, ganz gleich, ob man knöcheltief im Matsch steht oder nicht. Jeder Wunsch folgt einem Zweck, lässt sich der Drache schließlich vernehmen. Der Zweck ist der Same eines jeden Plans.

»Tja, du bist ein echter Drache, weil ich mir das gewünscht habe. Das war der Zweck des Wunsches. Was ein Plan damit zu tun hat, weiß ich allerdings nicht, außer, der Plan wäre das Gleiche wie der Zweck …«

Der Drache gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich ein Riesenrindvieh bin.

»Na gut, dann … Weil ich mir gewünscht habe, dass es dich gibt, besteht dein Zweck also darin, Pläne auszubrüten?«, frage ich mürrisch. »Bei Hühnern weiß man wenigstens, was hinterher aus dem Ei schlüpft.«

Ein Teil meiner Aufgabe – und der Hauptbestandteil unseres Vertrages – besteht darin, dir nur so viel zu verraten, wie gut für dich ist. Du musst mir vertrauen. Du hast mich herbeigewünscht, und hier bin ich.

Ich verdrehe die Augen, trotte aber weiter durch die Furche. »Du gibst mir keinen einzigen Hinweis, sondern erzählst nur diesen rätselhaften …« – Blödsinn, will ich sagen, aber der Drache scheint meine Gedanken zu lesen, und seine Verachtung wächst noch weiter – »… Firlefanz?«, beschließe ich den Satz und versuche, dabei so höflich und versöhnlich zu klingen, wie es möglich ist, wenn man in einer mondlosen Nacht über ein Feld stolpert.

Hand ausstrecken, befiehlt der Drache.

Ich ertaste Baumrinde.

Vorsichtig weitergehen.

Hohe Gräser streifen meine Beine, der Boden ist glitschig von Moderlaub. In meinem Haar hängen Zweige, dünn und kalt, als wäre ich in der Schwärze ins Wasser getaucht, als würden sich die langen, an den Kanälen des Marschlandes wachsenden Schilfhalme nach mir recken, um mein Gesicht zu streicheln.

Hier können wir anhalten.

Ich verharre mitten zwischen den Bäumen. Die Äste hegen mich im Dunkeln ein. »Worauf warten wir?«, flüstere ich. »Ich kann nichts sehen!«

Nein, sagt der Drache. Das kannst du nicht.

»Und was soll ich dann hier?«

Du bist nicht hier, um etwas zu sehen.

»Aber dann …«, setze ich an und begreife, bevor ich die Frage ganz ausgesprochen habe. Ich spüre die Zufriedenheit des Drachen.

Ich kann rechts von mir Wasser hören und riechen. Links ertönt ein Rascheln. Ein Fauchen. Ein Kreischen. In den Gräsern wird gekämpft.

Irgendetwas gleitet über mich hinweg. Ich höre Schwingen, kräftig und mit dichtem Gefieder, die fast lautlos schlagen, die Luft gleichsam streicheln, daran zupfen, als wäre sie aus spinnwebfeiner Seide, ohne dass ein Faden gedehnt wird. Die auf meiner Wange liegenden Zweige bewegen sich sanft, ja fast zärtlich, während der Vogel über mich hinwegfliegt, und kommen dann wieder zur Ruhe.

Ich öffne den Mund und schmecke die Luft. Von dem hinter mir liegenden Feld mit herbstlichen Ackerfrüchten dringt ein reicher, würziger Duft zu mir herüber. Ein Geschmack nach Eisen und tiefem, üppigem Grün. Nach Gräsern, während des Sommers lang und golden und nun erschlaffend. Dann mischt sich ein schwüler, feuchter Geschmack hinein: der Geschmack der Feuchtigkeit, die den Stängeln die letzten, schwachen Kräfte raubt, sie weich und faserig werden lässt. Ich rieche säuerliche Brombeeren und süßes Obst, habe den vielschichtigen, geheimnisvollen Geschmack von Quitten auf der Zunge. Äste bewegen sich knackend, brechen und splittern. Überall in der Finsternis bewegen sich Dinge, atmen die Farben der Luft.

Mich erfüllt eine so tiefe Freude, dass ich mich leicht fühle, frei und wild wie die mich umgebende Nacht. Im Dunkeln entfallen alle Beschränkungen und Grenzen: Ich verströme mich in die Weite der Nacht, wachse in die Breite, gewinne an Kraft.

Bei Dunkelmond schreitet man nicht immer zur Tat, sagt der Drache leise. Man kann sich vorbereiten und Kraft sammeln. Bei Dunkelmond schmiedet man Pläne, ohne diese gleich umzusetzen. Und wir müssen viele Pläne schmieden. Aber später, wenn die Tage länger und die Nächte heller sind, werden wir zuschauen, wie die Nymphen sich in Libellen verwandeln, verspricht der Drache. Dann wirst du den säuerlichen Duft im Mondschein wachsender Narzissen kennenlernen und in der lauen, mitternächtlichen Luft mitten in wild wucherndem Geißblatt stehen. Ich werde dir zeigen, wo du Veilchen und Schlüsselblumen am Flussufer pflücken kannst. Wo du auf Minze und wildem Thymian laufen kannst, so dass die Luft bei jedem deiner Schritte von einer duftenden Wolke erfüllt ist. Dann werden wir Fuchsjunge und frisch geschlüpfte schwarze und kugelrunde Teichhühner sehen. Und in der Morgendämmerung werden wir zuschauen, wie sich die Sonne aus dem Wasser erhebt.

»Bitte sehr«, sagt Onkel Ben und drückt mir eine große Tüte in die Hand, noch bevor ich die Tür ganz geöffnet habe.

Ich trage das Geschenk in die Küche, während er seinen Mantel aufhängt. Ein Buch über Dalí: ein herrliches Buch mit Hochglanzseiten, die Reproduktionen von Gemälden und Fotos von Skulpturen und Glasarbeiten zeigen. Ich werfe die Arme lachend Onkel Ben um den Hals. »Vielen Dank!«, will ich sagen, kann aber nur quietschen, denn das Buch ist toll, aber noch toller ist es, einen Onkel zu haben, der mir so etwas schenkt, nur weil ich die Traumsequenz von Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich, den wir am letzten Wochenende geguckt haben, so unglaublich gut fand.

Onkel Ben drückt mir einen Kuss auf die Wange, ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, um das Buch in Ruhe zu betrachten. Dann beugt er sich über mich, um gemeinsam mit mir zu gucken.

Ich will gerade erstarren, weil jemand, den ich nicht sehen kann, mit unbekannter Absicht dicht hinter mir steht … da zieht er den neben mir stehenden Stuhl heran und setzt sich. Als hätte er das sowieso vorgehabt. Ich beuge mich zu ihm hin, will mich entschuldigen, suche nach Worten, um ihm zu erklären, dass es nicht an ihm liegt, aber er legt mir nur einen Arm um die Schultern, drückt mich und wenn: »Vielleicht komme ich ohne eine Rüge von Amy davon, wenn ich dich verwöhne, denn es ist ja ein Kunstband.« Er klingt kein bisschen beleidigt, sondern ganz normal und als wäre nichts weiter passiert.

Ich raffe mich zu einem schwachen Grinsen auf. »Aber nur vielleicht«, erwidere ich und es gelingt mir, fast fröhlich zu klingen.

Onkel Ben verdreht etwas übertrieben die Augen und grinst auch, während er mich davon abhält, die Seite umzublättern. »Alice im Wunderland«, liest er.

Ich starre die Bildunterschrift an, erleichtert, dass ich Alice in dieser Plastik nicht erkennen kann. Sie ist hübsch, aber wenn ich Alice darin erblicken würde, fände ich sie trotzdem scheußlich.

Die Plastik stellt ein Mädchen dar. Sie hat ein Springseil hoch über ihren Kopf geworfen. Sonderbarerweise laufen Hände und Haare in Blumen aus, und das Oberteil ihres Kleides fehlt. Sie ist nackt bis zur Taille. Noch sonderbarer ist, dass sie nicht springt. Sie lehnt oder beugt sich zur Seite wie bei starkem Wind. Und obwohl sie keine Gesichtszüge hat, wirkt ihr Kopf auf Grund der Neigung hochkonzentriert – seine Haltung scheint zu besagen, dass sie alles geplant hat, diesen ganzen erstarrten Augenblick. Sie wurde vom Bildhauer nicht zufällig beim Seilspringen ertappt. Nein, sie hat diesen Augenblick bewusst gewählt. Und das gefällt mir: Ich finde es gut, dass sie selbst entschieden hat, wie man sie sehen soll.

Die rechts neben ihr aufragende Stange verdirbt jedoch alles. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Krücke sein soll, und ich finde sie grässlich. Ich wünschte, ich könnte in das Bild greifen, die Stange rausziehen und wegwerfen. Ich weiß nicht, ob sie dort steht, um dem Betrachter zu sagen, dass das Mädchen sie nicht nötig hat – dass sie alles im Griff hat –, oder ob das Mädchen gleich zur Seite kippt und stürzt, weil die Stange knapp außer Reichweite ist.

Als an der Haustür geklingelt wird, zucken wir zusammen. Ich habe ganz vergessen, dass Miss Winters heute kommt. Onkel Ben folgt mir langsam, als ich zur Tür renne. »Mein Onkel hat mir das tollste Geschenk mitgebracht«, sage ich zur Begrüßung und nehme ihr den Mantel ab.

»Vergesst mich einfach«, sagt er und bleibt lächelnd in der Tür stehen. »Ich habe Amy versprochen, einen Blick auf ihren Computer zu werfen. Ich komme euch nicht in die Quere.«

Miss Winters dreht sich zu ihm um und will ihm höflich die Hand geben – da geschieht etwas Seltsames. Sie hält inne, obwohl ihr Arm für ein bequemes Händeschütteln noch nicht weit genug ausgestreckt ist. Ihr steht etwas wie Überraschung ins Gesicht geschrieben, ihre Augen leuchten auf. Onkel Bens übliches Grinsen ist verflogen. Er zieht ein Gesicht wie jemand, der auf dem Weg nach unten die letzte Treppenstufe übersieht und beinahe stürzt, weil er den Fußboden wider Erwarten noch nicht erreicht hat. Sie scheinen einander zu erkennen … oder auch nicht. Dann ist alles wie immer, beide treten einen Schritt vor, schütteln sich die Hand.

Eigentlich ist alles ganz normal … aber Miss Winters klingt sonderbar, spricht mit einem Unterton, den ich nicht genau einordnen kann, obwohl sie nur sagt: »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen.«

»Ja. Prima. Ich sollte euch jetzt wohl allein lassen«, sagt Onkel Ben, und er klingt fast scheu.

»Ich mache uns erst einen Tee«, sage ich. »Kommt mit.« Und während ich zur Küche gehe, sehe ich über die Schulter, wie Miss Winters und Onkel Ben gleichzeitig zurückweichen, um einander den Vortritt zu lassen. Beide lachen verlegen, als Onkel Ben ihr durch eine Geste zu verstehen gibt, sie solle vorgehen.

»Warum das Geschenk?«, fragt Miss Winters. »Hast du nicht im März Geburtstag, Evie?«

»Ja«, sage ich, hole einen dritten Becher und schalte den Wasserkocher ein. »Aber Onkel Ben verwöhnt mich das ganze Jahr.«

Onkel Ben lächelt, wippt auf den Hacken vor und zurück. »Na ja, bei einem Buch kann man wohl kaum von Verwöhnen sprechen. Zumal es ein Kunstband ist.«

»Er feilt an der Ausrede für Amy«, erkläre ich Miss Winters.

»Meine Schwester hat jede Menge Regeln«, haucht Onkel Ben theatralisch.

Miss Winters Lächeln ist warmherzig, ihr Blick beinahe zärtlich, als sie erwidert: »Schwer vorstellbar, dass sie bei einem so wunderbaren Geschenk zur Anwendung kommen. Ich will damit sagen«, fügt sie hastig hinzu, »dass es immer gut ist, das Interesse an Kunst zu fördern.«

»Ich überlasse die Damen jetzt ihrem Tee und ihren Studien«, sagt er und zerzaust mein Haar. »Bis später.«

Doch als ich aufblicke, nachdem ich meinen Stuhl an den Tisch gezogen habe, steht Onkel Ben immer noch in der Tür, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ich frage mich auf einmal, ob sie einander schon einmal begegnet sind. Schließlich sind sie alle, ob Onkel Ben, Amy oder Paul, in gewisser Weise Opfer. Vielleicht hat Onkel Ben bei Miss Winters’ Wohltätigkeitsverein Rat gesucht? Das wäre durchaus denkbar. Ja, das wäre nicht unmöglich, obwohl ich noch nie darauf gekommen bin.

Dann scheint Onkel Ben sich zusammenzureißen. Er grinst mich an und geht pfeifend die Treppe hinauf.

»Er scheint dich sehr zu mögen«, sagt Miss Winters. »Du hattest offenbar einen guten Tag. Und wie war die Woche?«

Meine gute Laune verfliegt schlagartig. »Sonny Rawlins ist ein Mistkerl«, sage ich und speie den Namen regelrecht aus. Ich weiß natürlich, dass ich Miss Winters nichts über Sonny Rawlins erzählen dürfte, denn er hat ja auch bei ihr Unterricht, und außerdem will ich nicht petzen, aber … »Er hat unsere Haustür mit Eiern beworfen. Hat Laub und anderes Zeug in den Briefkasten gestopft. Ich weiß, dass er es war, denn ich habe gesehen, wie er auf seinem blöden, neuen, protzigen Mountainbike weggefahren ist – letzte Woche und vor ein paar Tagen. Wenn ich ihn noch einmal erwische, dann … dann ziele ich mit einem Backstein nach ihm.«

Miss Winters runzelt die Stirn. »Keine Backsteine, Evie. Ich halte das für keine gute Idee. Oder suchst du Ärger?«

Ich lasse mich seufzend nach vorn sacken, lege mein Kinn auf das Buch und starre die Wand an. »Ich erzähle das nicht, damit Sie ihn ausschimpfen. Das können Sie mir glauben. Aber … Sie wissen ja, wie grässlich er ist. Sie verstehen, was ich meine. Und deshalb können wir darüber reden, stimmt’s? Das bleibt doch unter uns?«, frage ich, indem ich mich zu ihr umdrehe.

Miss Winters lächelt mich an. »Das bleibt unter uns, Evie«, verspricht sie. »Und ich weiß das zu würdigen.«

Ich wende mich wieder ab, kann die Wand aber nicht mehr so grollend anstarren wie zuvor, denn der stolze und zärtliche Unterton von Miss Winters’ Worten entlockt mir ein breites Lächeln.

»Hast du Amy und Paul erzählt, dass es Sonny war?«

Ich zucke seufzend mit den Schultern. »Sie sagen, ich könnte mich auch geirrt haben, weil ich ihn nur von hinten auf dem Fahrrad gesehen habe. Aber ich bin todsicher, dass er es war. Er hasst mich noch mehr, als ich ihn hasse.«

Miss Winters lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Ob sie wohl weiß, dass sie dabei immer etwas ruckelt? »Wie kommst du darauf, dass Sonny dich blöd findet?«

»Er hasst mich«, verbessere ich sie. »Und zwar so richtig. Warum sollte er so etwas sonst tun?«

Miss Winters zuckt mit den Schultern. »Jungen in diesem Alter verhalten sich oft sonderbar. Sie können ohne jeden ersichtlichen Grund gemein sein. Sind eure Nachbarn auch davon betroffen?«

»Nein.«

Miss Winter’s Mund wird zu einem schmalen Strich, und ich ahne, dass sie hinter der Sache mit den Eiern und dem Laub etwas Persönliches vermutet.

»Warum, glaubst du, verabscheut dich Sonny so sehr«, fragt Miss Winters.

»Er ist gemein zu uns allen – auch zu Lynne und Phee –, aber vor allem zu mir. Das bilde ich mir nicht nur ein. Lynne und Phee sind meiner Meinung. Lynne meint, einer ihrer Brüder habe sich gegenüber einem Mädchen, das er mochte, ganz ähnlich verhalten, aber wir halten es für vollkommen ausgeschlossen, dass Sonny Rawlins mich mag.« Ich ziehe ein Gesicht. »Da ist es besser, wenn er mich hasst. Er ist einfach grässlich. Ätzend. Wäre schrecklich, wenn er mich mögen würde.« Den Abscheu, der mich erbeben lässt, muss ich gar nicht erst vorschützen.

Miss Winters lächelt. Fein, aber wissend. Ob sie eine möglichst normale Reaktion auf die Gemeinheiten von Sonny Rawlins an den Tag legen will? Eine spöttische Amüsiertheit über seine Dummheit? Wenn ja, so hilft mir das auch nicht. Ich würde ihm weiter am liebsten die Kehle durchschneiden.

Er hat mich von Anfang an angeglotzt, schon an meinem ersten Tag an dieser Schule. Sein Blick – teils fragend, teils anerkennend, fast etwas gierig – folgte mir durch die Flure, prickelte im Klassenraum zwischen meinen Schultern, wich selbst dann nicht, wenn ich ihn erwiderte. Während dieser ersten Wochen wechselten wir kein Wort, und so ging es bis nach den Weihnachtsferien. Am Valentinstag stand er dann plötzlich mit einem Blumenstrauß hinter der Tür meines Spinds. Ich nahm ihn automatisch entgegen. Blöderweise.

»Weißt du, wie die Blumen heißen?«, fragte er grinsend.

Ich senkte den Blick darauf, und plötzlich fiel mir das einzige Gute ein, was ich über Sonny Rawlins wusste: Seine Mutter war Gartenarchitektin. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er von jemandem, der Blumen liebte, großgezogen worden war und dass ich seine Blicke vielleicht falsch gedeutet hatte.

Seine selbstzufriedenen Worte hallten in meinen Ohren nach: Weißt du, wie die Blumen heißen?

»Ja«, sagte ich zu den Blumen. »Ja, ich weiß, wie sie heißen.«

Ich sah lächelnd auf. Und dann schmiss ich die Blumen in sein erwartungsvolles, blasiertes Gesicht. »Da hast du deine Tollkirschen zurück. Tausend Dank.«

»Warte! Nein …«

Aber ich übertönte ihn, sprach so laut, dass ich im ganzen Flur zu hören war. »Du musst dich etwas mehr anstrengen«, sagte ich höhnisch, »wenn du willst, dass ich auch nur halb so blöd aussehe wie du selbst. Glaubst du ernsthaft, ich wäre scharf auf Blumen von dir

Sonny Rawlins errötete vor Wut und Scham, und ich merkte zu meiner Überraschung, dass er verletzt dreinschaute. Er hatte Tränen in den Augen, und mir wurde bewusst, dass er dies seit Wochen, vielleicht seit Monaten geplant hatte: ein perfekter Streich, um die kluge Neue vorzuführen. Erster Schritt: Schenk ihr Blumen zum Valentinstag. Zweiter Schritt: Genieße ihre beschämte Freude.

Danach der dritte Schritt: Brüll durch die ganze Schule, dass die Blumen genauso giftig sind wie die Neue, mach sie vor allen lächerlich. Er hatte bestimmt von diesem Moment geträumt, den kommenden Triumph in Gedanken immer wieder ausgekostet …

Aber dann schlug ich ihn in seinem eigenen Spiel, in dem einzigen Bereich, in dem er sich besser auszukennen glaubte als ich.

Die halbe Schule war Zeuge: Sonny Rawlins, der Tränen der Wut zu unterdrücken versuchte, nachdem er von der klugen, stillen Neuen ausmanövriert worden war. Ich sah lächelnd zu, wie sein Plan verpuffte, wie seine Vorfreude zu Scham wurde. Und ich dachte: Warum sollte ich es nicht genießen, seine Bosheit gegen ihn selbst zu kehren, ihn zum Opfer seiner eigenen Intrige zu machen? Warum sollte ich nicht in diesem kurzen Triumph schwelgen? Immerhin war ich Fionas Eltern nicht entronnen, nur damit Sonny Rawlins seine Spielchen mit mir spielte.

»Tja, ich wäre nicht überrascht, wenn Lynne am Ende Recht hätte«, sagt Miss Winters und reißt mich damit aus meinen Erinnerungen. Ich starre sie an, versuche im Nachhinein zu verstehen, was sie gerade gesagt hat, frage mich kurz, ob sie es weiter ausführen wird, aber dann wendet sie schweigend den Blick ab. Unvorstellbar, dass Sonny Rawlins jemals etwas Nettes über mich gesagt haben sollte – ob zu Miss Winters oder jemand anderem –, ganz zu schweigen davon, dass er mich toll finden könnte. Andererseits entgeht Miss Winters fast nichts. Und sie weiß, was in einem vorgeht, was sich tatsächlich hinter Worten und Taten verbirgt. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass ich mit ihr rede: Sie weiß, worum es geht, auch wenn ich es nicht ausspreche.

Ich seufze. »Das ändert nichts daran, dass er mich hasst. Und ich hasse ihn. Ich wünschte, er wäre tot. Es gibt jede Menge Leute, die schreckliche Unfälle erleiden. Warum nicht auch Sonny Rawlins?«

Miss Winters versteht dies offenbar als Scherz, denn sie antwortet nur: »Wenn er dich zu Hause belästigt, sollten Amy und Paul vielleicht ein Wörtchen mit seinen Eltern reden. Soll ich es ihnen vorschlagen?«

»Nein«, antworte ich mürrisch. »Er wohnt zwei Straßen weiter. Er wäre danach umso fieser.«

»Nicht unbedingt«, sagt Miss Winters. »Ich bin seinen Eltern ein paarmal begegnet, und sie wirken sehr nett.«

Ich zucke mit den Schultern, denke an Elternabende und öffentliche Sportveranstaltungen. »Kann sein«, sage ich lahm. »Wenn seine Eltern dabei sind, spielt er sich nicht so auf.« Dann muss ich an den Basar denken, den Miss Winters letztes Jahr für ihren Verein organisiert hatte. Nachdem sich alle Eltern in das Tee-Zelt zurückgezogen hatten, machten wir uns auf die Suche nach Jenny, die bei einem Wettbewerb die Zahl der Smarties im Glas erraten hatte, aber dann stießen wir auf Sonny Rawlins und Fred und ergriffen kreischend die Flucht, weil sie uns mit Kies bewarfen.

Trotzdem hat Sonny Rawlins eine Mutter, die Blumen liebt und sich wie Amy dem Anpflanzen schöner Dinge widmet. Die wie Paul die Namen aller Pflanzen kennt und weiß, wann sie blühen. Die einem all die kleinen Dinge zeigen kann, die man nur bemerkt, wenn man ganz genau hinschaut, etwas, das auch ich nach vier Jahren bei Amy und Paul gelernt habe. Und was hat Sonny Rawlins von seiner Mutter gelernt? Er hat gelernt, wie man anderen mit Blumen wehtut – wie man das Gift darin sieht.

»Vielleicht sprichst du mit Amy und Paul darüber, und wir reden nächste Woche wieder über das Thema. Jetzt sollten wir uns fragen, wie du verhindern kannst, dass Sonny Rawlins dich so aufregt.«

»Onkel Ben hat tolle Vorschläge gemacht. Zum Beispiel den Bau einer Falle. Wie eine Kaninchenschlinge«, sage ich und richte mich auf, um gestikulieren zu können. »So ein Ding, das die Leute in die Luft reißt, so dass sie kopfüber irgendwo runterhängen. Oder eine Schleuder, die faule Eier verschießt, wenn jemand etwas gegen die Haustür wirft. Eine Art Katapult.«

»Und wenn der Postbote die Schleuder versehentlich auslöst? Er wäre bestimmt nicht erfreut«, sagt Miss Winters und sieht dabei aus, als müsste sie gleich lachen.

»Ich weiß. Das hat Onkel Ben auch gesagt. Aber er meinte, wir könnten mit dem Scharfmachen der Falle warten, bis die Post da war, und nachts könnten wir sie wieder entschärfen. Aber am besten findet er eine Armbrust, die mit Spülmittel gefüllte Luftballons verschießt. Denn Spülmittel ist ziemlich glitschig, und wenn man viel davon abbekommt, dauert es wegen des Schaums ewig lange, bis man es ausgewaschen hat. Können Sie sich vorstellen, wie Sonny Rawlins schaumbedeckt durch die Schule zu den Toiletten geht, um sich dort zu waschen, und danach noch mehr schäumt?«, frage ich kichernd. »Ich finde, das wäre auch ohne Katapult eine super Idee. Es wäre allerdings problematisch, einen mit ausreichend Spülmittel gefüllten Luftballon in der Tasche herumzuschleppen. Und in der Schultasche könnte er platzen. Onkel Ben will sich etwas ausdenken, damit ich im Notfall bewaffnet bin.«

»Dein Onkel Ben scheint ein wunderbarer Mann zu sein«, sagt Miss Winters mit einem warmherzigen Lächeln.

Sie hat den Satz kaum vollendet, da ist uns schon bewusst, wie unerwartet ihre Worte sind: voller Zuneigung und Wehmut und Sehnsucht nach Zärtlichkeit.

»Du bist bestimmt froh darüber, dass er dich aufheitert und dir so schöne Geschenke macht«, ergänzt Miss Winters eilig und mit fester Stimme. Die leise Sehnsucht ist daraus verschwunden, und sie senkt ihren Blick wieder auf das Buch.

Ich nicke unbestimmt.

»Die Idee mit dem Spülmittel ist gut, aber du solltest sie dir für den Sommer aufheben. Und für den Fall, dass Sonny zu dir nach Hause kommt. Ich könnte es leider nicht gutheißen, wenn du diese Taktik in der Schule anwendest.«

Ich zucke mit den Schultern. »Mrs Henderson kann auch nicht mehr tun, als mir eine Rüge zu geben, oder? Ist ja nur Seife.«

Miss Winters lächelt. »Ich kann zu diesem Thema nur sagen«, erklärt sie entschieden, »dass ein wenig Seife – nach genauer Abwägung und in Kenntnis männlicher Jugendlicher – Sonny Rawlins sicher mehr als guttun würde.«

Ich grinse.

Phee, Lynne und ich schlendern untergehakt durch das Laub zwischen dem Naturwissenschaftstrakt und den mobilen Unterrichtsbaracken. Wir haben am Wochenende Tausende Folgen diverser Soaps geguckt, jedenfalls unserem Gefühl nach, und Lynne und Phee streiten immer noch darüber, wer der süßeste Schauspieler ist. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keinen mehr richtig vor Augen, aber egal – ich stimme Lynne und Phee abwechselnd zu, damit sie sich weiter über die Top Five streiten können. Mir ist nur wichtig, dass wir endlich wieder etwas gemeinsam erlebt haben, über das wir reden können.

Wir wollen gerade um die Ecke der Sporthalle biegen, da werden wir ruckartig von Lynne gebremst. Sie hat Jenny entdeckt, die mit Sonny Rawlins und Fred James abhängt. Alle drei rauchen.

Bevor ich die beiden zum Umkehren bewegen kann, marschiert Phee auf die Gruppe zu. »Du wolltest doch aufhören, Jenny. Wieso lässt du dich von diesen beiden Idioten wieder zum Qualmen verführen?«

»Hey, sie schnorrt die Zigaretten«, erwidert Fred. »Vielleicht raucht sie einfach gern.«

»Was weiß diese blöde Tusse denn schon? Sie hat doch noch nie eine probiert«, höhnt Sonny. »Na los, nimm eine, wenn du dich traust.«

»Warum sollte ich etwas probieren, das Krebs verursacht?«, fragt Phee. »Komm, Jenny …«

»Bist du wirklich so bescheuert zu glauben, dass du an einem Zug krepierst?«, höhnt Fred.

»Die kleine, zarte Evie würde sicher gleich tot umfallen«, sagt Sonny und schnaubt verächtlich. »Armes Ding.«

»Na gut«, sage ich. »Gib mir eine.«

»Lass den Quatsch, Evie«, sagt Phee und zerrt an meinem Arm. »Willst du dich wirklich von ihm zu diesem Blödsinn überreden lassen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Eine schadet nicht, und danach kann ich mich über ihn lustig machen, sooft ich will.« Fiona begann bald nach der Rückkehr zu ihren Eltern täglich eine Schachtel zu rauchen, genau wie ihre Mutter. Einmal klaute ich eine Zigarette. Das geschah an einem jener Tage, als Fiona und ich nicht mit Weinen aufhören konnten und meine Hände ständig zitterten. Nicht, dass die Zigarette mir damals geholfen hätte, aber ich schätze, dass ich jetzt daran ziehen kann, ohne dass mir schlecht wird, vielleicht sogar ohne Hustenreiz, und dann würde Sonny Rawlins ganz schön blöd gucken.

Jenny tritt von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihr unwohl, zieht ein letztes Mal, tritt die Kippe aus und murmelt vor sich hin. Dann rennt sie weg.

Phee starrt erst mich an, dann Lynne. »Du bist ja wirklich eine große Hilfe, Lynne.«

Lynne breitet entschuldigend die Arme aus. »Ich würde gern sehen, wie Evie es diesem kleinen Stinker zeigt. Du kannst mich gern verpfeifen.«

»Und?«, sage ich und ziehe eine Augenbraue hoch, während ich die Hand ausstrecke.

Sonny Rawlins glotzt mich an, und Fred kramt in der Tasche nach der Schachtel, hält sie mir widerstrebend hin.

»Ja, gib mir auch eine«, sagt Lynne entschlossen.

»Unfassbar«, sagt Fred. »Warum nimmst du nicht gleich die ganze Schachtel?«

Sonny Rawlins holt ein Feuerzeug hervor, hält es aber so, dass die Flamme nicht die Zigarette entzündet, sondern meinen Daumen verbrennt.

Ich reiße die Hand weg, lasse die Zigarette fallen.

»Mann, du bist vielleicht ein Arsch«, sagt Lynne und entreißt ihm das Feuerzeug. Phee gibt ihm einen kräftigen Stoß gegen die Schulter, und er taumelt einen Schritt zurück.

Er springt sofort wieder vor, brüllt ihr ins Gesicht: »Mach das nicht noch mal, Nutte!«

»Was ist denn hier los?«, fragt jemand.

Ich hocke mich hin, verberge die Zigarette in meiner rechten Hand und stecke sie beim Aufstehen heimlich in die Tasche. Ich hätte mir gar nicht so viel Mühe zu geben brauchen, denn Mrs Poole starrt ausschließlich auf die Jungen, streckt ihnen eine Hand hin. Fred schlurft los, um ihr die Schachtel auszuhändigen.

»Wir wollten den Jungs gerade erklären, dass das Rauchen ihre körperliche und geistige Entwicklung stark beeinträchtigen könnte«, sage ich, »und dass sie andere nicht dazu verführen sollten.«

»Deine Sorge um die Gesundheit deiner Klassenkameraden ehrt dich«, erwidert Mrs Poole bissig. »Nur hast du sie recht taktlos formuliert …« – sie wirft mir einen strafenden Blick zu – »… und sie rechtfertigt weder Handgreiflichkeiten noch Beschimpfungen.« Sie senkt ihren Blick demonstrativ auf die Kippe, die Sonny Rawlins bei ihrem Erscheinen in die Erde treten wollte. Er bückt sich brummelnd, hebt die Kippe auf und steckt sie in die Schachtel, die sie ihm hinhält.

»Ach, Sie wissen doch, dass die Hormone von Jungen in unserem Alter verrücktspielen – deshalb wollen sie uns Mädchen unbedingt beeindrucken«, erklärt Lynne. »Die armen Kerle sind ihren Trieben hilflos ausgeliefert.«

»Nur schade, dass sie nicht bedacht haben, wie winzig sie durch das Rauchen geblieben sind. Wir drei sind inzwischen fast größer als Sonny Rawlins«, füge ich zuckersüß lächelnd hinzu.

Mrs Poole, der wir das Wissen über die wachstumshemmenden Folgen des Rauchens verdanken, wirft mir einen strengen Blick zu. »Du solltest deine Sorge etwas freundlicher formulieren, Evie«, sagt sie. »Wenn man jemanden auf seine Fehler hinweisen möchte, hilft Spott nur selten weiter. Und Hohn ist genauso sinnlos, egal, worin die Provokation bestanden haben mag«, sagt Mrs Poole und sieht mir direkt ins Gesicht.

Dann wird ihre Miene plötzlich milder, und ich weiß, dass sie nichts weiter sagen wird. Was auch immer sie vielleicht noch hinzufügen wollte – zu jemand anderem als mir wahrscheinlich gesagt hätte –, wird von einer Welle des Mitleids weggespült. Ich ärgere mich, wenn auch nur kurz. Ich werde nicht gern bemitleidet, aber wenn es mir dabei hilft – und Lynne und Phee noch dazu –, davonzukommen, dann ist es halb so wild.

»Also«, sagt Mrs Poole wieder ganz sachlich. »Lasst euch von mir nicht wieder mit Zigaretten erwischen, denn beim nächsten Mal gehe ich nicht davon aus, dass es die Jungen waren, die damit angefangen haben. Ihr solltet den Rest der Pause besser anderswo verbringen.«

»Entschuldigen Sie, Mrs Poole«, murmeln wir und versuchen, möglichst demütig und zerknirscht zu wirken.

Sie verdreht die Augen, wendet sich aber wieder den Jungen zu. »Und wir reden ein Wörtchen über eure Ausdrucksweise«, verkündet sie ihnen, »bevor wir gemeinsam Mrs Henderson aufsuchen. Und genau das werden wir tun«, fügt sie hinzu und hebt die Stimme, um den Protest der beiden gegen die ungerechte Behandlung zu übertönen, »denn ich habe euch zwei nun wahrlich nicht zum ersten Mal beim Rauchen ertappt.«

Lynne, Phee und ich tauschen ein Grinsen, als wir zu den Mädchentoiletten laufen. Wir bemühen uns, erst zu kichern, nachdem wir außer Hörweite sind.

»Das werden sie dir heimzahlen, Evie!«, japst Lynne.

»Mir? Wieso mir?«

»Ich war doch nur dabei. Du bist diejenige, an der sie sich rächen werden.«

»Na toll.«

Phee hakt sich grinsend bei mir unter. »Aber es hat sich echt gelohnt.«

»Kommt darauf an, wie sie sich rächen«, sage ich reumütig.

Lynne hakt sich auf meiner anderen Seite unter, und diesmal protestieren meine Rippen nicht. »Hat sich trotzdem gelohnt.«

Der Gartentisch ist glitschig, und ich rutsche fast aus. Sogar die unebenen Steinplatten der Terrasse sind glatt. Ich bleibe auf dem Weg, denn das Gras ist frostbedeckt, jeder Halm so eisglitzernd, dass meine Spuren bis zum Morgen sicher nicht verschwunden wären.

Die Berberitze gleicht einer von grün-silbernen Waffen starrenden Rüstkammer. Der Ahornstrauch prunkt mit Weiß auf Rot, an seinen Zweigen hängen winzige Kristalle. Das Baumskelett schimmert in der eiskalten Nachtluft, als wollte es seine Seele dem Himmel darbieten. Die Pflanze darunter, die mit den breiten, unförmigen Blättern – vermutlich ein Unkraut –, sieht aus, als hätte man Spitzenstickereien über Seide gebreitet.

Der Raureif lässt die ganze Welt erglänzen, obwohl der Mond nur eine schmale Sichel ist. Wie tiefer Schnee das Licht absorbiert und zehn Mal so stark zurückwirft, taucht der Raureif sogar die dunkelsten Schatten in ein Zwielicht, nur dass er, anders als der Schnee, alle Dinge ihrer Farben beraubt. Keine späten Feuerdornbeeren, die noch orangen aufleuchten. Die Stiefmütterchen wirken geisterhaft, ihr herrschaftliches Purpur, früher so rotweindunkel und schwer, dass man darin hätte ertrinken können, ist zu einem fahlen Fliederton verblasst. Alles ist in graue, silbrige und weiße Schatten gehüllt. Aber die ganze Welt schimmert. Unterwegs nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, dass die von der Kälte gebeugten, kaum wiederzuerkennenden Pflanzen in den Beeten diamanten glitzern. Und die kahlen Äste der Bäume glänzen metallisch wie Blech.

Die Kälte prickelt und sticht im Gesicht, dringt eisig in Hals und Brust. Seit dem Nachmittag schmerzen meine Rippen, wie immer, wenn es kälter wird und die Luft feucht ist. Ob Regen, Schnee oder Frost – die beschädigten Knochen wissen früher als jeder Wetterfrosch, was kommt.

Aber das von Raureif bedeckte Marschland ist so schön, dass ich meine Schmerzen vergesse. Der Fluss strömt dunkel und eisfrei zwischen den Ufern. Das orangefarbene Glühen einer fernen Straßenlaterne suppt wie Gift in die Nacht.

Als wir auf die Felder abbiegen, ist die ganze Welt glänzend hell. Alles Feste hat sich in Kristall verwandelt. Sogar der matschige Pfad und das schwarze, spätherbstliche Moderlaub wirken wie verzaubert. Ich hocke mich hin, um die filigranen, phantastischen Formen von Kristallen bedeckter Farnwedel zu betrachten.

Die letzten, noch aufrechten Gräser gleichen in die Erde gepflanzten Schwertklingen. Ich streiche über eine messerscharfe Kante. Das Eis brennt auf der Fingerspitze, und dann erscheint mitten im Silbergrau plötzlich der kleine, goldene Kreis eines winzigen, abperlenden Wassertropfens.

Der Drache und ich sprechen kein Wort, während wir die mit einem eisigen Pelz bedeckten Brombeerblätter betrachten, die vor dornigen Ranken hängen. Ich zertrete kleine Spiegel aus Eis, zerbreche sie in gefährlich spitze Scherben.

Wir waren während vieler Nächte unterwegs, aber diese Nacht gehört dem Drachen. Oder er gehört ihr. Der Zauber von Eis und Kristall. Von Glanz und Fremdheit. Als wäre die Zeit eingefroren worden, damit die unter der Alltagswelt aus Matsch und trägem Wasser verborgene Magie zum Vorschein kommt, sich im kalten Licht der Sterne enthüllt.

Der Drache erstarrt, spannt die Muskeln an. Ich entdecke es mit leichter Verspätung – etwas Geisterhaftes fliegt über die Felder auf uns zu. Der Drache lässt es nicht aus den Augen, bewegt den Kopf so gleitend und beherrscht, als wäre er noch ein halb fertig geschnitzter Knochen. Sein Schwanz schlägt hin und her, und ich rechne damit, dass er gleich aufspringt, um das näher kommende Geschöpf zu packen.

Diese Beute jage ich nicht, erklärt mir der Drache.

Ich erkenne das Tier erst, als es zum Sturzflug ansetzt, die gefiederten Beine lang ausgestreckt, die Klauen gespreizt. Die Eule schlägt eine Maus, fliegt wieder auf. Der auf meiner Handfläche sitzende Drache ist so berauscht von dieser Kraft, dieser Herrscherin der sonderbaren, weiten Welt aus Eis, dass er schnurrt. Und ich bin wie berauscht, weil ich eine Macht in der Hand halte, die alles bietet, was man sich nur wünschen kann: eine Macht, mit der ich nicht durch Blut, sondern durch Knochen verbunden bin.

Meine Augen schmerzen vor Kälte, aber ich versuche, nicht zu blinzeln, während ich den Blick schweifen lasse, um mir das Bild des von Raureif bedeckten Marschlandes und das fast beängstigend herrliche Gefühl einzuprägen, nie wieder hilflos zu sein.

Ich werde dafür sorgen, sagt der Drache. Danach schweigen wir.

In dieser Nacht nehmen wir den langen Heimweg, und die Fußspuren, die ich auf dem frostmürben Rasen des Golfplatzes hinterlasse, gleichen Abschürfungen. Schließlich biegen wir auf den schwärzlich glitzernden Fußweg vor der Friedhofsmauer ein.

Da wird plötzlich laut und heiser gelacht. Ich renne in den Schatten der Steinmauer. Ich spüre das gefrorene Moos unter den Fingern, als ich im Schutz der Dunkelheit nach einem Halt taste. Noch mehr Gelächter. Rufe. Der Strahl einer Taschenlampe sticht in das Astwerk der über mir aufragenden Eibe, tanzt davon.

Irgendjemand stimmt ein Lied auf dem Friedhof an. Andere Stimmen fallen ein. Aber es ist kein Lied über die Schönheit des Eises. Man kann es nicht einmal als Lied bezeichnen. Es ist eher wütendes Gebrüll. Erfüllt von gedankenlosem Trotz und der Bereitschaft zur Gewalt. Ein Lied, wie es Betrunkene grölen, die im Schein der Straßenlaternen heimwärts torkeln.

Mich erfüllt eine Wut, kalt und scharf wie Eis. Adam liegt irgendwo hinter dieser Mauer begraben. Adam und Tante Minnie und Opa Peter und Oma Florrie. Und an diesem Ort der Trauer lärmen und lachen Betrunkene. Ich spähe über die Mauer und erblicke schemenhafte Gestalten, die über den unebenen Boden stolpern.

Da steht der Drache vor mir und sagt: Nein. Wir halten uns raus.

Ich würde gern etwas einwenden, die Namen der Familie von Amy und Paul aufzählen wie einen Zauberspruch, aber der Drache bläst mir warmen, feuchten Rauch ins Gesicht, und ich wende mich ab, schleiche geduckt davon, bis ich den Schmerz nicht mehr ertrage, den diese Haltung in meinen Rippen auslöst. Und dann renne ich. Ich renne, renne, renne. Ein Schmerz löst den anderen ab, denn die Luft sticht in meiner Lunge, als hätte ich Fichtennadeln inhaliert. Ich komme stolpernd zum Stehen, beuge mich keuchend über den Zaun vor dem Weg am Kanal. Der Schmerz lähmt mein Denken.

Der Drache setzt sich auf den Handrücken, der zitternd auf dem Zaunpfahl liegt.

Miss Winters betrachtet mich, als wollte sie abwarten, ob ich doch noch etwas sage, wenn sie schweigt. Heute beiße ich nicht an den Fingern, sondern starre ihre Schultern an. Ich weiß nicht, was ihr durch den Kopf geht. Ihre Miene ist mir neu, und ich frage mich, was sie zu bedeuten hat. Ist dieser unbekannte Gesichtsausdruck ein gutes oder schlechtes Zeichen?

Dann verändert sich Miss Winters’ Miene. Sie scheint einen Beschluss gefasst zu haben, und sagt: »Du wirkst heute glücklicher, Evie.«

Ich warte eine Minute mit der Antwort, weil ich nicht genau weiß, was ich von ihrer Feststellung halten soll – nicht weiß, welche Reaktion sie erwartet. »Meine Rippen tun nicht mehr ständig weh, und ich kann schlafen – jede Nacht«, erwidere ich zögernd. »Und zwar richtig tief und fest. Früher habe ich immer nur leicht geschlafen und bin ständig aufgewacht. Ich habe im Monat eine gute Nacht gehabt und in allen anderen Nächten nur gedämmert. Und nun schlafe ich«, sage ich fast ehrfürchtig, »und das ist herrlich. Warum sollte ich also nicht glücklich sein?«

»Und die Schule?«, fragt Miss Winters, und ich weiß immer noch nicht, ob ihre Fragen wirklich so harmlos sind oder ob sie auf etwas hinauswill.

»Alles gut«, sage ich, bleibe jedoch auf der Hut. »Ich komme wieder rein. Nur nicht bei Sport. Da sitze ich rum und schaue zu und arbeite an meiner blöden Stiftrolle«, sage ich, und bei dem Gedanken daran, wie oft ich vor mich hingeträumt und mir mit der stumpfen Nadel unter den Fingernagel gestochen habe, ziehe ich die Nase kraus. »Lynne streckt mir jedes Mal die Zunge heraus, wenn sie an mir vorbeiläuft.«

»Ärgert es dich, dass sie neidisch ist?«

»Nein.«

Miss Winters seufzt. Sie hält mich für schwierig, und das mag zutreffen, aber ich wünschte, sie würde mir offen sagen, worum es geht.

»Ich wollte andeuten«, fährt Miss Winters fort, »dass du dich vielleicht ärgerst, weil Lynne dich um deine Befreiung vom Sportunterricht beneidet, anstatt zu bedenken, dass du nicht daran teilnehmen kannst … und warum du nicht teilnehmen kannst.«

»Lynne glaubt, ich hätte mir bei einem Autounfall die Rippen gebrochen. Bis auf Sie und Mrs Henderson glauben das alle in der Schule. Und Mrs Henderson weiß es nur, weil meine blöde Sozialarbeiterin darauf bestanden hat«, sage ich, und eine leichte Gereiztheit schleicht sich in meine Stimme. Die richtet sich nicht nur gegen die Sozialarbeiterin; Miss Winters weiß das doch alles, warum also meint sie, dass ich Lynne, die die Wahrheit nicht kennt, Vorwürfe machen würde?

»Findest du nicht, dass du deinen Freundinnen etwas mehr Vertrauen schenken könntest?«, fragt Miss Winters, und ich merke, wie mir das Herz sinkt. »Lynne und Phee sind jetzt seit fast vier Jahren deine besten Freundinnen.«

»Und deshalb darf ich keine Geheimnisse vor ihnen haben?«

»Du darfst natürlich Geheimnisse haben, Evie, aber findest du es gut, dass deine Freundinnen an eine Lüge glauben?«

Ich verdrehe die Augen, sacke auf dem Stuhl zusammen. »Und wennschon. Warum müssen sie alles wissen? Das geht sie nichts an. Sie wären nur gehemmt. Sie würden mich noch mehr bemitleiden, als sie es jetzt schon tun. Sie würden mich anschauen und nur sehen, was …« Ich schließe die Augen und versuche die Bilder zu verdrängen, die mich überfluten. »Immer, wenn sie mich sehen, würden sie an all das denken, was ich vergessen will.«

»Ja, du würdest das vielleicht so empfinden, Evie, aber …«

»Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie an mich denken?«, fauche ich.

Miss Winters’ Miene erstarrt. »Das ist etwas anderes, Evie«, sagt sie, aber ich merke, dass sie darum kämpft, ihre Stimme ruhig zu halten. »Zumal wir hier, außerhalb der Schule, auch über deine Probleme sprechen. Trotzdem sind diese Probleme nicht das, was mir zuerst durch den Kopf geht. Manchmal denke ich, wie schön es ist, eine Schülerin zu haben, die Bücher genauso liebt wie ich – oder wie sehr ich mich darauf freue, meine Lieblingsbücher mit dir zu teilen, vor allem jene, die du noch nicht kennst. Das gibt mir das Gefühl, sie selbst zum allerersten Mal zu lesen.«

Ich drehe mich zum Fenster um. Ein Rotkehlchen saust in den Feuerdorn und reißt dabei einen Zweig mit Beeren ab, dann flattert es wieder davon. »Ist es denn eine Lüge, wenn man falsche Erklärungen vorschützt, weil man die Wahrheit nicht sagen kann?«

»Und warum kannst du die Wahrheit nicht sagen?«, fragt Miss Winters. Ich scheine ein sonderbares Gesicht zu ziehen, denn sie fügt rasch hinzu: »Das soll keine Kritik sein, Evie, und ich halte dich ganz sicher nicht für eine Lügnerin. Nur solltest du vielleicht erwägen, deine besten Freundinnen in deine Probleme einzuweihen.«

»Dann würde bald die ganze Schule davon wissen.«

Miss Winters runzelt die Stirn. »Hältst du Lynne und Phee für so unzuverlässig?«

Ich schüttele den Kopf und frage mich, warum Miss Winters heute so unnachgiebig ist. »Sie sind in Ordnung. Sie sind normal drauf. Sie tratschen gern. Selbst Geheimnisse. Sie erzählen es jemandem, und danach macht es die Runde … Und das nehme ich ihnen nicht mal übel. Aber niemand will diesen Mist hören. Das wäre nur verstörend.«

»Vielleicht würde es Phee und Lynne reichen, untereinander darüber zu sprechen.«

»Sie sind normal drauf«, wiederhole ich und kann nicht verhindern, dass ich scharf und ungeduldig klinge.

»Und was soll das heißen, Evie?«

Ich verdrehe die Augen, sacke auf dem Stuhl noch tiefer. Sie müsste mir das erklären, nicht umgekehrt.

Nun ist es an Miss Winters, unruhig zu werden. Ich schweige, bis sie die Geduld verliert, die Beine seufzend andersherum übereinanderschlägt. Dann seufzt sie noch einmal und sagt: »Du hast vorhin gesagt, dass du besser schläfst, glücklicher bist, weniger Schmerzen hast. Es ist nur natürlich, dass dich all das bis jetzt sehr beschäftigt hat, aber nun, da es dir besser geht, frage ich mich, wie deine Pläne für die Zukunft aussehen, Evie.«

Ich denke immer noch darüber nach, warum sie unbedingt will, dass ich meine Geheimnisse überall herumerzähle, und lege die Stirn in Falten.

»Na schön«, sagt Miss Winters. »Das ist eine heikle Frage, ich weiß. Wir könnten auch zuerst ergründen, worin deine Ziele ganz allgemein bestehen. Was möchtest du erreichen? Kannst du dir vorstellen, was du später tun willst?«

»Meinen Sie in der Schule?«, frage ich zaghaft.

Miss Winters zuckt mit den Schultern. »In der Schule, zu Hause … Möchtest du … gern aufgefordert werden, in einer Mannschaft mitzuspielen? Oder eine Rolle in einem Stück der Theater-AG zu übernehmen? Oder zu einer bestimmten Party eingeladen werden?«

Ich winde mich, zwänge meine Füße unter den Po. »Ich will den Stoff nachholen, den ich verpasst habe«, sage ich.

»Gut, aber das betrifft nur den Unterricht. Was noch?«

Ich fummele eine Haarsträhne aus dem Pferdeschwanz und beginne, sie um einen Finger zu wickeln. Ich versuche zwar, beim Nachdenken nicht mehr auf den Haaren zu kauen, aber das hilft immer noch besser als das Herumwickeln.

»Schwer zu sagen. Manchmal reden sie noch von Sachen, die ich nicht miterlebt habe, aber immer seltener. Und ich verpasse nicht mehr so viel. Jenny will ihren Geburtstag im Schwimmbad feiern, und ich darf wieder ins Wasser, wenn es so weit ist, also … Dann ist da noch der Duke-of-Edinburgh-Wettkampf, aber der ist nicht mehr so oft Thema. Ich glaube, Lynne wird ihn bald hinschmeißen.«

»Und worauf wirst du dich nach Jennys Geburtstag freuen?«

»Weiß nicht«, gestehe ich und bin selbst überrascht, als mir dies bewusst wird. »Ich kann jetzt gut schlafen, weil meine Rippen nicht mehr so wehtun, aber ich habe keine Ahnung, worauf ich mich außerdem freuen soll. Ich muss mich wohl immer noch daran gewöhnen, dass jetzt alles anders ist.«

»Verständlich, dass du eine gewisse Zeit brauchst, um dich umzugewöhnen, Evie. Das waren große Herausforderungen, die kaum Platz für anderes ließen, und nun, da sie weitgehend überwunden sind, ist es nur natürlich, dass du dich etwas verloren fühlst, nicht weißt, was jetzt kommt. Aber jeder von uns braucht Ziele. Etwas, worauf man hinarbeiten kann. Ich finde, du solltest ab jetzt darüber nachdenken.«

Ein Gedanke huscht mir durch den Kopf, so flüchtig, dass ich ihn nicht greifen kann. Er scheint bedeutsam zu sein, und ich weiß, dass ich bei dem Versuch, ihn festzuhalten, die Stirn in Falten lege. Dieser Gedanke hat etwas mit dem Drachen zu tun. Und mit Leichtigkeit – einem Gefühl der Leichtigkeit. Und der Befreiung. Als hätte ich etwas in mir getragen, das aus kaputtem Glas besteht und plötzlich entfernt wurde, wie die gebrochene Rippe.

Ich wickele die Strähne von meinem Finger und kaue darauf herum.

»Es muss ja nicht sofort sein, Evie«, sagt Miss Winters als ich nicht antworte. »Aber vielleicht wäre es eine schöne Hausaufgabe für die nächsten Wochen: Denk darüber nach, was du an Gutem erreichen möchtest, nachdem du so viel Schlechtes überwunden hast. Das kann die Schule betreffen, aber du könntest auch beschließen, auf eine Jeans zu sparen, die du toll findest. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn du mir bis zum Ende des Monats ein neues Ziel nennen könntest – und mir sagst, wie du es erreichen willst.«

»Also ein Ziel und ein Plan«, sage ich versonnen, denn ich habe nicht richtig zugehört. Ich frage mich weiter, was außer der Rippe noch aus meinem Inneren entfernt wurde. Hat sich etwas Schlechtes in etwas Gutes verwandelt wie die Rippe in den Drachen? Und war es der Drache, der mich von diesem Schlechten befreit hat? Ich spucke die feuchte Haarsträhne aus und streiche sie von meiner Wange. »Kann ich machen.«

Ich habe ein Bein über die Fensterbank geschoben, da höre ich, wie hinten im Garten die Pforte quietscht.

»Pssssst!«, zischt jemand.

Ich falle rückwärts in mein Zimmer. Der Schmerz flammt in meinen Rippen auf, und ich beiße auf die Unterlippe, lehne das Fenster wieder an. Als ich die Vorhangringe über die Stange zerre, zittern meine Hände. Ich zerre und zerre … Ich habe vollkommen vergessen, dass heute Freitag ist – jener Tag in der Woche, an dem Paul und Onkel Ben regelmäßig bis zum späten Abend unterwegs sind.

Ich ducke mich unter das Fenster und reibe meine Rippen, kann hören, wie Gartenstühle knirschend über die Steinplatten gezogen werden.

»Sieh dir diesen Dreck an«, sagt Paul. »Die verfluchte Nachbarskatze hat wieder auf dem Tisch gesessen.«

»Ziemlich große Füße für eine Katze«, erwidert Onkel Ben, und ich erstarre.

Wenn ich mich nachts auf den Tisch hinablasse, sind meine Schuhe sauber, aber wenn ich nach einem Abenteuer mit dem Drachen wieder in mein Zimmer klettere, sieht die Sache anders aus.

»Ekelhaftes Biest«, sagt Paul verächtlich. »Ein Schwanz wie ein dreckiger Staubwedel.«

Morgen, denke ich, hole ich ein altes Geschirrtuch aus dem Schuppen und stecke es ein, bevor ich aufbreche, damit ich bei meiner Rückkehr die Fußabdrücke vom Tisch wischen kann.

»Vielleicht haben wir nur unsere Zeit verschwendet, Ben«, sagt Paul und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gespräch. »Amy wird sich nicht gerade freuen, wenn sie merkt, dass meine Hosenbeine zentimeterhoch verdreckt sind. Und was haben wir erreicht?«

»Wir werden früher oder später Erfolg haben«, antwortet Onkel Ben ungewohnt scharf. »Aber wir müssen das nicht unbedingt zu zweit tun. Du musst nicht mitkommen.«

Paul seufzt. »So war das nicht gemeint, Ben«, erwidert er leise. »Aber … Freitagnacht ist falsch. Wir sollten es an einem anderen Tag probieren.«

Sie schweigen eine Weile. »So etwas tut man … Glaubst du nicht auch, dass diese Leute sich lieber in einer stockdunklen Nacht herumtreiben?«

»Es wird immer um dreiundzwanzig Uhr dunkel«, sagt Paul gereizt. Dann seufzt er wieder. »Bewölkte Nächte?«, schlägt er vor.

»Nächte, die hundertprozentig dunkel sind. Neumondnächte.«

»Tja, angeblich treibt der Vollmond die Verrückten aus ihren Löchern. Vielleicht ist das auch bei Neumond so«, sagt Paul, und ich merke, dass er versöhnlich klingen möchte.

Bei dem Gedanken daran, dass mir noch ein Dunkelmond geraubt werden könnte, krampft sich mein Herz zusammen. »Er gehört mir!«, würde ich am liebsten rufen. »Es ist mein Dunkelmond, nicht eurer.«

Onkel Ben lacht leise und gezwungen. »Könnte stimmen, wenn man uns so sieht.«

Paul seufzt. »Passt auch zu unserem Vorhaben.«

»Nein«, erwidert Onkel Ben freundlich. »Wir wollen keinen Ärger, sondern Gerechtigkeit – so lautet unsere Abmachung.«

»Ich weiß, wie unsere Abmachung lautet, Ben. Aber bei dem Gedanken an das, was schieflaufen könnte, wird mir mulmig.«

Sie schweigen so lange, dass ich erwäge, aufzugeben und wieder ins Bett zu gehen, aber dann sagt Onkel Ben: »Ich bin trotzdem der Meinung, dass du mit Evie reden solltest.«

»Und ich bin weiter der Meinung, dass sie es schon schwer genug hat«, erwidert Paul. Seine Worte sind zornig, aber er klingt einfach nur müde.

Irgendetwas drängt mich, aufzustehen, das Fenster zu öffnen und zu rufen: »Erzählt es mir!« Aber etwas anderes flüstert: »Nein. Tu das nicht. Bitte nicht. Damit würdest du alles kaputt machen.«

»Ich bin der festen Überzeugung, dass sie das nicht so sehen würde«, sagt Onkel Ben leise.

Ein Seufzer. »Vielleicht«, sagt Paul. »Vielleicht.«

Onkel Ben geht bald darauf, und ich schleiche zurück zum Bett, streife auf dem Weg dorthin die Kleider ab und werfe die Turnschuhe hinten in den Schrank. Ich wickele mich in den Bademantel, denn meine Rippen tun so weh, dass ich gar nicht erst versuche, mir das Schlaf-T-Shirt überzuziehen, das ich sonst nachts trage. Ich lasse mich auf das weiche Bett sinken, drehe mich auf meine gute Seite und setze den Drachen vor mich auf die Decke.

»Sie haben es wohl verdient, einen Dunkelmond für sich zu haben«, flüstere ich.

Es gibt viele andere Nächte, die unseren Zwecken dienlich sind, sagt der Drache. Und wenn die Zeit reif ist, werden wir sie nicht vertun. Es wird ein Dunkelmond kommen, auf den wir uns gut vorbeiten müssen.

»Weißt du, was sie vorhaben? Onkel Ben meint, dass Paul mir etwas erzählen soll. Nur was?«, frage ich trotz einer vagen Ahnung … Aber möchte ich es wirklich wissen?

Der Drache schweigt.

Ich rolle mich seufzend auf den Rücken und starre die Decke an. »Glaubst du …« Ich traue mich nicht, meinen Verdacht in Worte zu fassen, weil ich, falls es zutrifft, vielleicht so tiefe Schuldgefühle hätte und mir so große Sorgen um Paul und Onkel Ben machen müsste, dass es unerträglich wäre. Aber da ist noch etwas – ein sonderbares, fast wütendes Gefühl. Ich seufze wieder. Obwohl ich mich dagegen sträube, kehren meine Gedanken immer wieder zu der Nacht zurück, als ich die drei oben auf der Treppe belauschte, als meine Operationsnarbe noch frisch war und der Drache halb fertig in meiner Hand lag. Erinnerungen an das heutige Gespräch zwischen Paul und Onkel Ben vermischen sich mit ihren damaligen Worten. Paul sagte: »Wie soll ich Evie erklären, dass sie keine Gerechtigkeit erwarten kann?« Und Onkel Bens Erwiderung: »Ich wäre nicht mutig genug für so etwas …«

Phee, Lynne und ich sitzen am Beckenrand, planschen mit den Füßen und schauen zu, wie Fred die vor Lachen kreischende Jenny ins Tiefe scheucht.

»Glaubt ihr wirklich, dass sie ihn mag?«, fragt Phee halb erstaunt und halb angewidert. »Es sieht fast so aus.«

»Er scheint sie zu mögen. Und zwar so richtig«, sagt Lynne, als Jenny langsamer wird, damit Fred sie einfangen und unter Wasser drücken kann. »Wer hätte gedacht, dass er es schafft, volle zehn Minuten kein kompletter Idiot zu sein?«

»Warten wir ab, was passiert, wenn Sonny Rawlins aufkreuzt«, sage ich.

Lynne seufzt dramatisch.

»Leute werden ständig von Autos überfahren«, sagt Phee nachdenklich. »Vielleicht hat es Sonny auch erwischt …«    

»Platt wie eine Flunder!«, kräht Lynne. »Oooh, eine tolle Vorstellung.«

»Wir haben kein Glück«, seufze ich, als Sonny Rawlins aus dem Umkleideraum marschiert. Wir drehen uns gleichzeitig nach ihm um.

»Na, wachsen dir endlich Titten?«, fragt Sonny höhnisch und starrt mir auf die Brust, als er unsere Blicke bemerkt.

»Immerhin ist ihr Bikini nicht ausgestopft. Im Gegensatz zu deiner Badehose«, spottet Phee und greift nach meiner Hand, denn ich zucke bei seinen Worten unwillkürlich zusammen und bekomme eine Gänsehaut.

»Hast du Schiss, dass der Bademeister dich ohne Socke in der Hose zum Planschbecken schickt?«, fauche ich zurück, damit meine Stimme nicht schwankt, und lehne mich gegen die warme Phee.

»Pass ja auf, dass die Socke nicht rausrutscht. Arschbomben kannst du vergessen«, fügt Lynne hinzu und legt einen Arm um meine Schultern.

Ich hole tief Luft und recke trotzig das Kinn, denn Sonny Rawlins’ Lippen werden zum schmalen Strich, sein Blick ist kalt und gehässig. »Ab ins Wasser mit dir, bevor jemand merkt, was du nicht hast«, sage ich und wende mich ab, um nicht hören zu müssen, was er mir daraufhin an den Kopf wirft.

Lynne lacht ihn verächtlich aus. Kurz darauf geht er zum flachen Ende des Beckens, und ich kann spüren, wie sein Schatten über uns hinweggleitet.

»Vielleicht ertränken Fred und Sonny sich aus Versehen gegenseitig«, sagt Lynne laut.

»Man soll die Hoffnung nicht aufgeben«, pflichte ich ihr bei, aber meine Worte klingen lahmer als beabsichtigt.

»Tja«, sagt Phee energisch und kommt auf die Beine. »Kommt ihr mit rein oder wollt ihr den ganzen Tag hier rumsitzen?« Sie hält mir grinsend eine Hand hin. »Komm, Evie.«

Ich grinse zurück und lasse mir von ihr aufhelfen. Wir senken den Blick auf Lynne, die eine Augenbraue lüpft. »Freiwillig Sport treiben? Soll das ein Witz sein? Nein, besten Dank – ich werde mich hier weiter aalen, eine gute Figur machen und alles beobachten.«

»Ist immer nett, ein bewunderndes Publikum zu haben«, sage ich. Phee schnaubt nur und geht dann zum flachen Ende voran. Ich will ihr folgen, tue zwei Schritte …

Da bäumt sich plötzlich der Boden auf, die Decke saust nach unten. Ich bin auf einmal federleicht, die Welt ist weiß. So weiß, dass meine Augen brennen, wie geblendet von einem grellen, endlos lange aufflammenden Blitzlicht. Druck und Gewicht und Wucht bedrängen mich, als ich ins Wasser tauche. Mein Kopf fliegt nach hinten. Ich reiße instinktiv den Mund auf, aber meine Brust wird so heftig zusammengepresst, dass ich nicht schreien kann.

Wasser strömt in meinen offenen Mund.

Meine Augen öffnen sich – wann haben sie sich geschlossen? –, und die Welt ringsumher ist blau und verzerrt, krumm und schief. Dumpf hallende Geräusche.

Ich sinke tiefer, immer tiefer und tiefer … Mein Blickfeld ist von wehenden Haarsträhnen gerahmt. Über mir schwankt eine meiner Hände mit schlaffen Fingern.

Dann verfliegt der Druck. Ich atme gedankenlos ein. Wasser strömt in meine Kehle.

Die Welt dreht und windet sich, als ich mich vor Schmerzen krümme, Wasser statt Luft einatme. Meine Haare umwehen mich rotgolden, wütend und wild. Ich atme noch einmal Wasser ein. Und Schmerz, das Gefühl, dass etwas grundfalsch ist, Schmerz und Verzweiflung, rasende Wut.

Ich rudere mit Armen und Beinen, das Wasser brodelt. Dann spüre ich jemanden neben mir, irgendetwas schiebt sich unter meinen Arm, über meine Brust. In meinem Blickfeld flammt noch einmal ein grellweißer Blitz auf, blendet mich. Die Welt wird ins Dunkel gerissen.

Es tut weh.

Weh, weh, weh.

Meine Brust schmerzt. Mein Hals.

Meine Kehle brennt wie Feuer. Mein Körper bebt vor Schmerzen.

Nass. Meine Haare sind nass, liegen wirr auf meinem Gesicht, kleben auf meinem Hals.

Meine Rippen tun weh, weh, weh, und über mir bellt ein Hund. Heiseres, feuchtes, fauchendes Gebell. Seine Stimme versagt. Er winselt. Dann bellt er wieder. Bellt und bellt.

Und irgendjemand schluchzt, und Leute schreien, wütend und verängstigt.

Ich liege auf der linken Seite, und es tut weh, weh, weh. Meine Rippen schmerzen. Auf dieser Seite zu liegen, ist unerträglich. Ich will mich umdrehen, aber jemand bremst mich.

Der Hund knurrt. Bellt und knurrt. Ich will mich umdrehen, aber es geht nicht.

Dem Hund versagt wieder die Stimme. Er winselt.

»Evie«, sagt jemand. Ein Mann. »Hörst du mich, Evie? Drück meine Hand, wenn du mich hören kannst.« Die ruhige, leise, sanfte Stimme kann das Hundegebell nicht zum Verstummen bringen.

»Drück meine Hand, Evie. Na komm, drücken.«

Etwas Warmes schließt sich um meine Finger. Etwas Warmes hält meine Hand. Aber meine Rippen tun weh, weh, weh, und irgendetwas hindert mich am Umdrehen.

Muss mich umdrehen. Tut weh. Muss mich umdrehen. Und ich drücke und strampele, schlage auf das ein, was mich am Umdrehen hindert. Der Hund winselt schrill, er winselt, und dann bellt er, winselt und bellt.

Das Ding, das mich am Umdrehen hindert, hält mich fest. Ich trete und kratze, winde mich auf dem kalten, nassen Boden. Da lässt der Druck nach, und ich werfe mich herum, rolle mich auf die rechte Seite.

Das tut gut. Oh, das tut gut.

Ich erbebe, als ein blutroter Schmerz durch meine Knochen und die Rippen in meiner Brust zuckt.

Wieder schließt sich etwas Warmes um meine Finger.

»Evie. Wenn du mich hören kannst, Evie, dann musst du jetzt meine Finger drücken.«

Ich krümme die Finger um die Hand.

»Super, Evie. Klasse. Und jetzt noch einmal drücken. Braves Mädchen. So ist es gut.«

Man breitet etwas Weiches über mir aus. Jemand streicht mir die Haare aus dem Gesicht, legt mir dann sanft eine Hand auf den Kopf, drückt meine Schulter.

»Evie, tut dein Kopf weh?«

Der Schmerz in meinen Rippen flaut ab, flaut ab. Ich friere. Ich friere wie ein Schneider. Der Hund bellt leiser. Heult ein letztes Mal auf und verstummt. Ich erschaudere am ganzen Körper.

»Hast du deinen Kopf gestoßen, als du gestürzt bist, Evie? Bitte antworte mit Nicken oder Kopfschütteln.«

Habe ich meinen Kopf gestoßen? Wann bin ich gestürzt?

Die ganze Welt dreht sich, als wäre ich wieder leicht wie eine Feder. Luft und Fliesen – alles scheint an mir zu zerren.

Und dann ist es vorbei, und alles ist wieder ruhig und klar und normal.

Ich liege auf der Seite auf den Fliesen, mitten in einer flachen Pfütze.

Ich liege am Beckenrand. Ich bin in das Becken gestürzt. Ich bin irgendwie in das Becken gestürzt, und irgendjemand hat mich rausgefischt. Rausgefischt und auf meine schlimme Seite gelegt. Auf meine schlimme Seite gelegt, und … Ich habe gehustet. Das war kein Hund, natürlich nicht. Ich habe gehustet. Ich hatte Wasser geschluckt …

»Evie? Drückst du bitte meine Hand, wenn dein Kopf wehtut, Evie?«

Ich drehe den Kopf, um die Person sehen zu können, die sich über mich beugt. Hals und Brust schmerzen so sehr, dass mir Tränen in die Augen treten, meinen Blick trüben.

»Hallo«, sage ich. Das Wort wird zwischen den Silben durch einen leisen Schluckauf unterbrochen.

»Hallo, Evie«, sagt der Mann und lächelt mich an. »Wie geht es deinem Kopf?«

Habe ich meinen Kopf gestoßen? Ich weiß es nicht. Ich kann mich an nichts erinnern. Er tut weh, aber ob das an dem Wasser liegt, das ich geschluckt habe, oder an der Bewusstlosigkeit oder daran, dass ich im Fallen auf die Kante geknallt bin, weiß ich nicht – und es ist mir auch egal. Denn es sind vor allem meine Rippen, die wehtun …

»Evie?«, fragt der Mann wieder, und ich begreife, dass er ein Bademeister ist.

»Gut«, keuche ich und blinzele die Tränen weg, die mir der schmerzende Hals in die Augen treibt. Darf nicht wieder husten. Darf nicht. Darf nie wieder so heftig husten. »Ich frie-iere

Der Bademeister grinst, wickelt das Handtuch enger um mich und reibt meine Schulter. »Du hast ziemlich gezappelt, also denke ich, dass wir eine Rückgratverletzung oder dergleichen ausschließen können. Magst du dich hinsetzen? Dann können wir dich wärmer einpacken.«

»Ich mache das selbst!«, stoße ich hervor. »Nicht anfassen.«

Der Bademeister runzelt die Stirn.

»Hatte eine … Operation. Weiß, wie ich mich bewegen muss … damit es nicht wehtut«, erkläre ich ihm, immer wieder unterbrochen von diesem nervigen, hustenden Schluckauf.

Der Bademeister lächelt wieder. Er wippt auf den Hacken zurück und hebt die Hände, lässt mich aber nicht aus den Augen.

Ich atme flach und japsend gegen den Schmerz an, drücke eine Hand auf die Rippen, um den gebrochenen Knochen zu stützen, der nicht mehr vorhanden ist, der jetzt der Drache ist. Ich stemme mich auf einen Ellbogen, drehe mich so hin, dass ich die Beine zur Seite schieben und mich mit ihrer Hilfe aufrichten kann. Ich ziehe die Knie an, um meine Brust zu entlasten, den Schmerz der Narbe zu lindern, das Ziehen der Rippen im Brustkasten. Dr. Barstow sagte, sie hätten die Rippen auf beiden Seiten der Bruchstelle abgefeilt. Sie sind also nicht spitz, aber ob stumpf oder nicht – es fehlt ein Stück in der Mitte, und der Knochen drückt immer noch von innen gegen die Haut, wenn ich mich nach links drehe.

Ich hocke mich hin und beuge mich über die Knie, presse den linken Arm gegen die Seite. Der Schmerz zieht sich von den Rippen bis zur Schulter, von dort in den Nacken und dann in den Arm. Als hätte jemand Säure auf meine Schulter gekippt, die über den Oberarm fließt, den Ellbogen, den Unterarm und schließlich auf der Handfläche brennt, im kleinen Finger und im Ringfinger. Ich würde mich gern tief bücken, aber das geht nicht, weil die Enden der Rippen gegen das verheilende Narbengewebe stoßen.

Der Schmerz hat jetzt eine andere Qualität: stechend und sauber. Aber darunter pocht der dumpfe, schmutzige Schmerz beschädigter Knochen – als würden sich die Enden der Rippen aneinanderreiben. Der von den Rippen ausgehende Schmerz zuckt stoßweise durch meinen Arm und bis in die Finger. Meine Hals- und Rückenmuskeln verkrampfen sich, als ich versuche, den Schmerz einzudämmen, und das macht es noch schlimmer, steigert das wunde Gefühl in den müden Muskeln. Mehrere, übereinanderliegende Arten von Schmerz. Und meine Finger brennen wie verätzt. Ich hebe die Hand, weil ich befürchte, dass sie sich durch den Schmerz aufgelöst haben könnte.

Durch den Vorhang meiner Haare sehe ich Lynne und Phee, eng umschlungen. Neben ihnen steht Jennys Mutter, bleich im Gesicht, einen Arm um Phees bebende Schultern gelegt. Lynnes Maskara ist verlaufen. Glitzernder Schnodder rinnt auf ihre Oberlippe. Sie leckt ihn weg, verschmiert den Rest mit der Hand auf ihrem Gesicht.

Hinter ihnen stehen fast alle Schulkameraden aus meinem Jahrgang und starren mich an.

Jennys Mutter schluchzt. Schluchzt und entschuldigt sich. Aber die meiste Zeit betont sie, nicht geahnt zu haben, »dass Sonny Rawlins so brutal sein könnte«, mich in das Becken zu stoßen, dass er »immer ein bisschen bockig gewirkt hat«, aber sie hätte nie gedacht, dass er bei seiner Schikane so weit gehen würde, »ein Mädchen körperlich zu attackieren«, sie habe ja nicht ahnen können, dass es besser gewesen wäre, Jenny davon abzubringen, ihn einzuladen …

Ich bin fast dankbar für die regelmäßigen Unterbrechungen durch Ärzte und Krankenschwestern. Man hat mich in einen Krankenhausmantel gesteckt und in Decken gewickelt. Dann hat man mich geröntgt, meine Brust abgehört, Blutdruck und Temperatur gemessen und mir eine Million Fragen danach gestellt, was mir wehtat und wo und wie sehr. Jennys Mum ringt immer noch ihre Hände – wringt sie regelrecht aus – und klagt, sie wisse nicht, was sie Amy sagen solle.

Eigentlich müsste ich froh sein, dass sie in dieser Verfassung ist, denn so hat sie nicht gemerkt, wie ich den Fragen der Krankenschwestern und Ärzte nach dem Grund für meine kaputten Rippen ausgewichen bin. Paul und ich sind darin übereingekommen, dass Therapeuten Bescheid wissen müssen, Ärzte und Krankenschwestern aber nicht, denn sie brauchen nur zu wissen, was zu behandeln ist. Ihre Neugier bezüglich meines beschädigten Brustkastens zu befriedigen, wäre überflüssig, weil das hier sowieso keine Rolle spielt.

Ich tippe mit dem Zeigefinger, auf dem der Sauerstoffmesser befestigt ist, auf die Matratze und seufze tief.

»Möchtest du etwas essen, Evie, Liebes? Oder noch eine heiße Schokolade?«

Die erste Schokolade war grau und körnig und wegen des Zuckers fast sirupartig zäh. Angeblich hilft Zucker bei der Überwindung eines Schocks, die heiße Flüssigkeit dabei, die Körpertemperatur wieder anzuheben. Aber alle waren der Ansicht, dass meine Lunge frei und meine Rippen nicht weiter verletzt seien und dass auch keine Unterkühlung vorliege.

Eine Frau, die in einem anderen Notaufnahmebett liegt, stimmt ein unablässiges Stöhnen an. Meine Finger zucken, denn ich würde ihr am liebsten sagen, sie solle die Klappe halten. So stöhnt niemand, der wirklich leidet. Nein, ihr Gestöhne ist künstlich – eine Kette dick aufgetragener Klischees.

»Oje«, sagt Jennys Mutter und übt sich weiter fleißig im Händeringen. »Oh, oh, oh – soll ich eine Krankenschwester holen? Was meinst du?«

Ich schließe die Augen und atme in einem regelmäßigen Rhythmus. Vielleicht ist Jenny auch ein Adoptivkind, denn Frauen, die Kinder geboren haben, müssten doch eigentlich wissen, was wahre Schmerzen sind, und Jennys Mutter ahnt offenbar nicht, dass die stöhnende Frau nur Aufmerksamkeit erregen will.

Ich lausche den Geräuschen auf der Station, bin froh, dass erst Mittag ist. Als ich vor einem Jahr mit dem Fahrrad stürzte, bestanden Amy und Paul darauf, ins Krankenhaus zu fahren, um meinen dick angeschwollenen Knöchel untersuchen zu lassen. Damals war ich zum ersten Mal in der Notaufnahme, und da es recht spät war, war diese voller brüllender, schreiender und schluchzender Betrunkener. Dazu die vielen brüllenden, schreienden, schluchzenden und gleichfalls betrunkenen Verwandten und Freunde. Wie gut, dass jetzt nur eine Simulantin stöhnt.

Eine Krankenschwester erscheint und kümmert sich um die stöhnende Frau. Ein paar Tränen, ein leiser Schluckauf. Dann eilt jemand schnellen Schrittes durch die Station – so klingen Amys Schritte, wenn sie gestresst ist.

»Gleich hier. Wir haben die Vorhänge zugezogen, damit …«, sagt jemand.

Die restlichen Worte gehen im Rauschen unter, mit dem die Vorhänge aufgerissen werden.

»Evie«, sagt Amy.

Einfach nur »Evie«. In der kurzen Zeit, die sie braucht, um vor das Bett zu treten, mustert sie mich von oben bis unten. Sie legt eine Hand auf meine Wange und streicht mit der anderen über meinen Kopf, während sie mich stürmisch auf die Stirn küsst. »Hast du Schmerzmittel bekommen?«

»Kodein. Ich wollte eigentlich …«

Amy gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn und dreht sich dann zur Krankenschwester um. »Sie müssen meiner Tochter Oramorph verschreiben. Für zu Hause. Eine 100-Milliliter-Ampulle müsste reichen.«

Die Krankenschwester zieht eine Miene, die Mitgefühl und Bedauern ausdrücken soll. »Tja, Morphine verabreichen wir Jugendlichen eigentlich nur bei gravierenden Beschwerden. Sie müssen wissen …«

»Meine Tochter erholt sich von einer Operation. Ihr fehlt ein zehn Zentimeter langes Stück Rippe im Brustkorb, die Narbe ist frisch, und ihre Knochen sind noch nicht verheilt. Und Sie behaupten, dass sie kein anständiges Schmerzmittel braucht, nachdem sie in ein Schwimmbecken gestoßen und von einem Bademeister geborgen wurde und sich danach die Lunge aus dem Leib gehustet hat, weil sie jede Menge Wasser geschluckt hatte? Ich will so rasch wie möglich den Arzt sprechen. In der Zwischenzeit können Sie ihm ausrichten, dass meine Tochter ein schmerzstillendes Mittel braucht, das ihre Schmerzen tatsächlich stillt

Die Krankenschwester setzt eine andere Miene auf (die kein bisschen bedauernd ist) und stampft davon.

»Oh, Amy«, sagt Jennys Mutter und führt ihre frisch geübte Kunst des Händeringens vor. »Oh, Amy, es tut mir ja so leid. Ich hätte nie gedacht …«

»Danke, dass du Evie ins Krankenhaus begleitet hast, Janet«, unterbricht Amy sie. »Aber würdest du bitte still sein, damit ich schauen kann, wie es meiner Tochter geht?«

Der Mund von Jennys Mutter klappt auf wie der eines Nussknackers. Ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlt. Sie murmelt etwas Unverständliches und geht. Amy sitzt schon rechts auf dem Bett, da ist Jennys Mutter noch nicht ganz verschwunden. Sie massiert mit einer Hand meine verspannte linke Schulter und streicht mit der anderen über mein Haar.

»Was sagen sie zu dem vielen Wasser, das du geschluckt hast?«, fragt Amy.

»Sie machen viel Wirbel, weil sie nicht verstehen, was mit meinen Rippen los ist, aber es geht mir gut. Ich bin nur …« Ich verstumme. Ich mag nicht daran denken, wie sehr ich gedemütigt worden bin und was die Geburtstagsgäste jetzt reden, und ich mag erst recht nicht daran denken, was am Montag in der Schule erzählt werden wird.

Amy hebt behutsam mein Gesicht und schaut mir in die Augen. Dann hört sie auf, über mein Haar zu streichen, weil sie in der Handtasche kramt.

»Ich habe deinen Drachen mitgebracht«, sagt sie.

Da kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, und der Schmerz in meiner Brust wird schwer und fest.

»Oh, Evie, und ich dachte, du …«

»Gib«, japse ich und muss beim Sprechen so sehr gegen den Schmerz ankämpfen, dass ich tonlos klinge. Ich greife nach der kleinen Glasflasche, noch bevor Amy sie ganz aus der Handtasche geholt hat. Ich lasse zu, dass sie sich an meinen Rücken schmiegt und ihre Arme von hinten um mich legt, und weil es Amy ist, muss ich sie nicht daran erinnern, dass ihr Arm nicht zu tief liegen darf, weil er sonst gegen meine Rippe drückt.

Ich fummele den Drachen aus der Glasflasche und presse ihn gegen mein Brustbein. Der Schmerz ist so herrlich sauber, scharf und frisch wie Tee mit Zitrone. Ich kämpfe keuchend gegen die Tränen an – atme flach und japsend, um den Schmerz in den Rippen und den auf der Brust zu lindern, ein Schmerz, der sich anfühlt wie eine Mischung aus Entsetzen und Wut und Verletztheit.

»Blaue Tablette«, presse ich hervor, weil ich weiß, dass Amy für den Notfall immer eine kleine Dose mit Schmerzmittel und ein paar meiner blauen Tabletten dabeihat.

»Wir müssen erst den Arzt fragen, Evie.«

Ein hoher, spitzer Ton dringt unbeabsichtigt tief aus meiner Kehle. So klingt wahre Qual, denke ich, während mein Blick zu der stöhnenden Frau zuckt.

Amy gibt mir einen Kuss auf die Schläfe und holt die Dose mit den Tabletten aus der Handtasche. Sie öffnet die Dose und hat den Inhalt noch nicht ganz auf ihre Handfläche geschüttelt, da stopfe ich die hellblaue, längliche Kapsel schon in den Mund. Ich muss husten, weil ich sie trocken runterschlucke. Amy klopft mir auf den Rücken, genau dort, wo sie den Husten lindern kann, ohne meinen Rippen wehzutun. Nachdem ich die überzähligen Tabletten wieder in die Dose getan und sie die Dose wieder in ihre Tasche gesteckt hat, massiert sie weiter meine Schultern, ohne dass ich sie darum hätte bitten müssen.

»Widele, Wedele«, beginnt Amy, ihr warmer Atem in meinen Haaren.

»Hinterm … Städele«, japse ich.

»Hat der Bettelmann Hochzeit …«

»Pfeift ihm’s Läusele …«

Der Drache ist fest in meiner Hand, und ich versuche, mich in Gedanken ganz auf sein Bild zu konzentrieren, male die Verse des Gedichts darunter, damit keine unerwünschten Gedanken aus den Winkeln kriechen.

Die Vorhänge rascheln, und bevor ich mich’s versehe, öffne ich die Augen, aber es ist nur Zugluft.

»Tanzt ein Mäusele …«

Das Zimmer wirkt seltsam verzerrt, ohne dass ich wüsste, warum. Und am Rand meines Blickfelds regt sich etwas. Wie wehende Vorhänge oder Spinnennetze. Ich weiß, dass alles, was sich da regt, von Bildern bedeckt ist, wie das magische Tuch, das die Dame von Shalott gewebt hat.

»Tanzt ein Mäusele«, wiederholt Amy.

»Igele … schlägt die … Trommel.«

Amy küsst mich auf den Kopf.

Das Gedicht aufsagen gleicht dem Weben der Dame. Wenn ich jetzt aufhöre, wenn ich mir einen Blick auf das gestatte, was aus den Winkeln kriecht, wird sich der Fluch erfüllen: Das Netz wird sich ausbreiten und mich einfangen, mich in die Tiefe zu den Bildern ziehen, und mir wird bewusst, dass es sich um Bilder von Fiona, ihren Eltern und deren Haus handelt – von Wirklichkeiten, die nicht mehr wirklich sind. Inzwischen sind es nur noch Bruchstücke, im Hintergrund wabernde Gespenster, die Kälte in den Raum hauchen.

»Alle Tiere, die Wedele haben, sollen zur Hochzeit kommen.«

»Zur Hochzeit kommen«, wiederhole ich und kneife die Augen fest zu. »Zur Hochzeit kommen.«

»Widele, Wedele«, flüstert Amy in mein Haar, leise und sanft und geduldig. »Hinterm Städele.«

So geht es die ganze Zeit: Widele, Wedele. Schließlich wird es wärmer im Zimmer, und es beginnt zu schwanken, ganz sanft und hin und her, als wären wir auf See. In einem Boot auf hoher See.

Ich seufze und kann Amys warmen Atem im Ohr spüren, als auch sie seufzt.

Kälte, Furcht und Wut verdämmern langsam in meiner Brust. Sie schlagen ihre Klauen nicht mehr in Herz und Lunge. Sie winden sich nicht mehr fauchend in meiner Brust. Ruhe und Frieden halten Einzug.

Ich öffne die Augen, lasse mich sanft vom Zimmer wiegen. Da lauert nichts mehr in den Ecken. Sie sind trübe und wie vernebelt, alle Kanten abgemildert, und mein Blickfeld ist eingeengt. Ich gähne blinzelnd – meine Lider fallen träge zu, heben sich so zögernd, wie Lynne einem über den Rand gerollten Korbball nachtrabt. Rand? Heißt das bei Korbball so? Aus … Wenn er im Aus ist …

Ich muss noch einmal gähnen.

»Wie geht es deinen Rippen?«, fragt Amy.

Wieder ein Gähnen. »Gut. Is’ mir egal.«

Ich liebe die blauen Tabletten. Dr. Barstow hatte die Idee. Mein Hausarzt war nicht überzeugt, erlaubte mir aber, sie auszuprobieren, und sie wirken Wunder. Da sie nur für den Notfall gedacht sind, nehme ich sie selten. Nur, wenn es gar nicht anders geht. Wenn alles zur Seite wegrutscht, als wäre ich, obwohl ich noch wach bin, in einen Albtraum gestürzt, von einem schwarzen, fauchenden Kaninchen mit roten Augen und spitzen Zähnen und Krallen in ein Kaninchenloch gezerrt worden … Die blauen Tabletten drängen die Welt ein Stück zurück, ermöglichen es mir, für eine Weile jenseits der Realität zu schweben.

Ich weiß, dass meine Rippen wehtun, aber der Schmerz ist mir entrückt. Er stört mich nicht mehr.

Ich müsste jetzt eigentlich frierend am Rand des Spielfelds kauern, und Lynne und Phee müssten ausgeschimpft werden, weil sie den Puck ignorieren und mit mir plaudern. Ich müsste meine Aufmerksamkeit sowohl dem chaotischen Lacrosse-Spiel als auch meiner blöden Stiftrolle widmen. Ich müsste, weil ich so friere und zittere, noch mehr Probleme mit der dicken Nadel haben und das Nähen am Ende aufgeben, weil ich sie mir versehentlich unter einen Fingernagel steche. Doch ich kauere nicht dort, kaue auch nicht auf den Haaren und warte nicht darauf, dass Lynne und Phee zu mir kommen, um mich abzulenken. Stattdessen sitze ich mit Amy und Paul im Büro der Schuldirektorin und warte darauf, dass sie das Gespräch mit ihrer Sekretärin beendet, damit wir über Sonny Rawlins reden können.

Ich kann mich ganz darauf konzentrieren, wie sehr ich Sonny Rawlins hasse, und vermutlich ist dies die einzige Gelegenheit, das zu tun, ohne dass mir jemand deshalb Vorwürfe macht. Aber aus irgendeinem rätselhaften Grund, den noch nicht mal ich selbst genau kenne, kann ich Amy nicht dabei helfen, ihm das Leben so sauer wie möglich zu machen.

Ich spitze die Ohren, um zu hören, was Mrs Henderson im Nebenraum sagt, aber dort reden zu viele Leute durcheinander, und im Übrigen ist mir Mrs Hendersons Meinung ziemlich egal. Paul setzt sich seufzend anders hin, reibt seine Nase. Amy starrt ihn an und beginnt dann, den Rock über ihren Knien in kleine Falten zu legen, während Paul so tief einatmet, als wollte er wieder seufzen. Doch er zieht nur ein Gesicht und atmet leise aus.

Amy, Paul und ich haben voneinander die Nase voll. Amy möchte mir vor Augen führen, dass sie bereit sind, für mich einzutreten, dass sie niemanden davonkommen lassen wollen, der mir wehgetan hat. Und das verstehe ich. Wirklich. Ich weiß es auch zu würdigen. Das weiß ich wahrhaftig, aber … Ich weiß nicht recht, worin dieses »aber« besteht. Es ist nur ein aber. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Amy nach Blut schreit, Paul jedoch zögert, durch Hinzuziehung der Polizei oder eines Anwalts in der Schule für noch mehr Aufruhr zu sorgen. Also ist Amy sauer auf Paul, und ich bin eindeutig sauer auf Amy, weil sie so viel Druck macht, und weniger eindeutig sauer auf Paul, weil er zaudert.

Ich freue mich auf mein Gespräch heute Abend mit Miss Winters, denn vielleicht kann sie mir dabei helfen, die Dinge klarer zu sehen, vorausgesetzt, sie hat sich jetzt oft genug bei mir entschuldigt. Sie kam am Tag nach dem Vorfall im Schwimmbad bei mir vorbei und war ganz aufgelöst, weil sie sich vorwarf, die Sache nicht vorhergesehen zu haben … Aber nachdem ich ihr überzeugend erklärt hatte, schlimmstenfalls damit gerechnet zu haben, dass Sonny Rawlins mir im Flur ein Bein stellt, verblassten die roten Flecken auf ihren Wangen, und sie wurde wieder normal. Dann machte Amy uns einen großen Becher heiße Schokolade und spielte eine Stunde Cluedo mit uns.

Aber meine Haltung war schon damals sonderbar. Als Miss Winters schwor, sie werde Mrs Henderson klipp und klar zu verstehen geben, dass der Vorfall im Schwimmbad keine Bagatelle sei, bat ich sie, dies nicht zu tun. Sie glaubte, dass ich unsere Treffen vor Mrs Henderson geheim halten wollte, aber das ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht der wahre. Nein, es liegt daran, dass ich nach allem, was passiert ist, ganz durcheinander bin – dass wir alle so durcheinander sind.

Mir ist durchaus bewusst, dass ich Sonny Rawlins in meinen Gedanken mit Fiona und ihren Eltern vermische, und mir ist auch bewusst, dass es Amy und Paul genauso geht. Das ist mir klar, aber warum ich nicht will, dass zu viel Wirbel um Sonny Rawlins’ Tat gemacht wird, weiß ich trotzdem nicht. Es liegt zum Teil sicher daran, dass ich das Getuschel in der Schule schon ätzend genug finde, ganz zu schweigen davon, dass mich sogar Schüler anderer Jahrgangsstufen gefragt haben, ob Sonny Rawlins verhaftet wurde und ob ich vor Gericht gegen ihn aussagen werde. Aber auch das ist nicht der wahre Grund.

Amy schlug vor, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Nicht, dass Sonny Rawlins dann ins Gefängnis müsste oder so, aber er hätte daran zu knabbern. Ich hasse es jedoch, mit der Polizei zu reden. Onkel Ben sagte, die Polizei müsse feststellen, ob eine Aussage vor Gericht Bestand habe, und das verstehe ich, aber Polizisten sind meist unfreundlich. Die Frau, die mich damals über Fiona und deren Eltern befragte, war grauenhaft. Ich hasse sie zehn Mal mehr als jeden Sonny Rawlins. Sie erlaubte mir keine Ausflüchte. Und sie notierte alles, was ich gesagt hatte, mit ungefähr sieben Millionen Rechtschreibfehlern und lausiger Grammatik. Was sie aus mir herausquetschte, hätte ich niemals laut gesagt … ganz sicher niemals irgendjemandem erzählt … Und sie notierte alles mit ich weiß nicht wie vielen Fehlern.

Ich bin froh, diese Gedanken beiseiteschieben zu können, als Mrs Henderson zurückkehrt und durch das Zimmer zu ihrem Schreibtisch geht.

Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück, stützt die Ellbogen auf die Armlehnen, legt die Fingerspitzen beider Hände aneinander.

»Bitte verzeihen Sie«, sagt sie lächelnd, aber ihre Finger verkrampfen sich so fest ineinander, dass die Knöchel weiß werden. Ich bekomme ihre nächsten Worte nicht mit, weil ich inständig hoffe, dass sie mit ihren verschränkten Fingern wackelt, als wären es die Beine eines Tausendfüßlers, der auf dem Rücken liegt, nachdem man im Garten einen Stein angehoben hat, um zu schauen, was sich darunter verbirgt.

»Evie?«, souffliert Amy, und mir wird bewusst, dass sie die Antwort auf eine Frage erwarten, die ich nicht gehört habe.

Mrs Henderson legt die Fingerspitzen wieder aneinander, und ich frage mich, ob sie im Stillen um Geduld betet. »Was ist deiner Meinung nach zu tun, Evie?«

Was soll ich darauf antworten? Werfen Sie ihn bitte in ein Fass mit siedendem Öl? Sie glauben vielleicht, dass sie mir Genugtuung verschaffen können, aber ich will mich nicht aufregen, solange sie mir nur zuhören. Und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass sie mich so lange bearbeiten, bis ich einem schon längst gefassten Beschluss zustimme.

»Ich halte Sonny Rawlins für einen ätzenden Brutalo, aber er wollte mich vermutlich einfach nur ins Wasser stoßen, so wie er es bei jedem anderen auch gemacht hätte. Er hat wahrscheinlich gewusst, dass ich empfindlicher bin als andere, aber ich glaube nicht, dass er abschätzen konnte, welche Folgen seine Tat haben würde«, sage ich, obwohl ich nicht weiß, warum. Was mich betrifft, so könnte Sonny Rawlins auf der Stelle tot umfallen.

»Das ist eine sehr erwachsene Sichtweise, Evie«, sagt Mrs Henderson. Die langen, lackierten Fingernägel ihrer rechten Hand gleiten unter die langen, lackierten Fingernägel ihrer linken Hand.

»Wir wissen alle, dass Evie sehr erwachsen ist«, faucht Amy. Paul beugt sich vor, als wollte er eine ihrer Hände ergreifen, aber sie rutscht von ihm fort, stopft sie in die Taschen.

»Freut mich zu hören, dass du weißt, wie Sonnys Tat einzuschätzen ist, Evie«, wirft Mrs Henderson ein und seufzt dann etwas zu laut. »Aber die Frage nach seiner Bestrafung hast du noch nicht beantwortet.«

Ich zucke mit den Schultern, betrachte weiter ihre Hände. Sie hat unbewusst an dem Fleck auf einem Ordner gekratzt, und dabei ist etwas Nagellack abgesplittert. Ihre Wangenmuskeln sind in heftiger Bewegung, als sie den gelblichen Fleck anstarrt, der unter dem weißen Nagellack zum Vorschein gekommen ist.

Ich würde gern höhnisch den Mund verziehen, aber meine Stimme bleibt zum Glück neutral. »Amy und Paul haben mir erzählt, dass Sie ihn nicht angemessen bestrafen können, weil er es in der Badeanstalt und nicht in der Schule getan hat, und dass Sie ihn deshalb wegen schweren Mobbings drankriegen wollen. Sie haben mir erzählt, dass Sie ihm mindestens zwei Wochen Schulverbot erteilen können.«

»Und du findest das gut.« Eine Feststellung, keine Frage.

Aber das macht nichts, denn ich weiß sowieso nicht, was ich denken soll. In der Schule tuscheln alle, und manche meinen schon jetzt, es sei nicht Sonny Rawlins’ Schuld, dass ich so superempfindlich bin. Andere unterstellen mir, dass ich den ganzen Wirbel nur mache, weil ich im Mittelpunkt stehen will. Und ich möchte ganz sicher nicht bei jeder Gelegenheit von Sonny Rawlins oder seinen miesen kleinen Kumpanen in den Fluren geschubst werden – die Sache im Schwimmbad war so demütigend, dass es für mehrere Leben reicht. Da muss ich nicht auch noch vor den Augen der ganzen Schule in irgendeinem Flur das Bewusstsein verlieren.

Miss Winters wird mich bei unserem nächsten Treffen sicher fragen, ob ich mich jetzt vor Sonny Rawlins fürchte. Ich würde das gern verneinen, aber so einfach ist die Sache nicht. Einerseits habe ich keine Angst vor ihm, denn ich weiß, dass er nicht davonkäme, wenn er mich ernsthaft verletzen würde – er kommt ja nicht einmal jetzt davon, auf jeden Fall nicht ganz –, und dass er es nur dann ein zweites Mal versuchen würde, wenn er die Gewissheit hätte, nicht dafür bestraft zu werden. Trotzdem könnte er mir das Leben weiter zur Hölle machen.

Nein, ich habe Angst, weil ich mir wünsche, es möge ihm mindestens genauso mies gehen wie mir, nachdem er mir das angetan hat, am besten sogar noch viel mieser. Das ist das eine. Andererseits möchte ich, dass er sich vor mir fürchtet – was damit zusammenhängt, dass die einzige Revanche, die mir gestattet ist, in diesem blöden Schulverbot besteht. Ich könnte natürlich auch zur Polizei gehen, aber damit würde ich mich nur selbst quälen. Alles hat damit zu tun, dass ich wütend, stinkwütend bin, weil ich niemandem auch nur halb so wehtun kann, wie man mir wehtut. Das ist mir nur ein einziges Mal geglückt, und die Erinnerung daran wärmt mich, strömt heiß durch meine Adern. Wie herrlich, so mächtig gewesen zu sein. Habe ich je etwas Schöneres erlebt? Ja, ich würde Sonny Rawlins gern zeigen, wie mächtig ich bin.

»Hat ein Schulverbot Folgen für später?«, frage ich. »Zum Beispiel bei einer Bewerbung an der Universität?«

»Tja, so etwas macht sich nie gut«, sagt Mrs Henderson, aber ihr Blick gleitet an mir vorbei, und sie sieht auch Amy nicht an.

»Wenn wir beschließen würden, die Polizei einzuschalten, würde sich das noch schlechter machen«, sagt Amy.

Mrs Henderson verengt die Lippen zu einem Strich des Bedauerns. »Ich begreife, dass Sie diese Möglichkeit reizvoll finden, denke aber, dass beides auf das Gleiche hinausläuft, denn solche Vorstrafen werden später nicht anders behandelt als Rügen aus der Schule. Wenn Sie diesen Weg einschlagen, wäre das traumatisch und …«

»Glauben Sie, es wäre nicht traumatisch für meine Tochter, wenn dieser Halbstarke, der sie ertränken wollte, wieder am Unterricht teilnimmt?« Amy wird meist laut, wenn sie wütend ist, aber heute ist sie leise. Eisig und leise.

»Er wollte mich nicht ertränken«, sage ich. »Er ist ätzend, aber auf normale Art ätzend, Amy.«

Amys Blick wirkt gequält. »Das ist nicht gerecht«, sagt sie, und ihre Stimme zittert.

»Ich bin überzeugt, dass der Vorschlag, den Ihr Mann gestern Abend gemacht hat – Sonnys Eltern zu veranlassen, ihren Sohn in Therapie zu geben, auch, damit er lernt, mit seinen Aggressionen umzugehen –, viel mehr bewirken würde.«

»Würde außerdem weniger Wirbel bedeuten«, bemerkt Amy bissig.

»Ja«, sagt Mrs Henderson, und ihr Ton ist plötzlich scharf. »Wesentlich weniger Wirbel. Und zwar für alle. Sie kommen nicht weit, wenn Sie die Polizei einschalten. Was nicht bedeutet, dass ich Ihre Beweggründe nicht verstehe«, fügt sie hastig hinzu und hebt eine Hand, obwohl Amy keine Anstalten macht, sie zu unterbrechen, »oder keinen Druck auf Sonnys Eltern ausüben würde. Ich bin mir sicher, dass sie sehr unglücklich sein werden, wenn sie feststellen, dass die hier getroffene Übereinkunft nicht zur Diskussion steht. Zumal ich andernfalls dazu gezwungen wäre, etwas wesentlich Drastischeres als ein kurzes Schulverbot zu erwägen. Und diesen Ärger werden sie nicht in Kauf nehmen wollen.« Mrs Henderson schaut mich an, und was in ihrem Blick liegt, überrascht mich. »Das wäre besser als nichts«, sagt sie zu mir. Und dieses Mal ist ihr Bedauern aufrichtig.

Genau wie mein Lächeln. Mir gefällt die Vorstellung, dass Mrs Henderson Sonny Rawlins und seine Eltern erpresst, denn ich weiß, dass es nach hinten losgehen würde, wenn Sonny Rawlins büßen müsste – richtig büßen. Trotzdem finde ich es falsch, dass die Dinge sind, wie sie sind: Es ist falsch, dass manche Leute davonkommen, während andere die Zähne zusammenbeißen müssen, weil sie wissen, dass sie nicht davonkommen würden.

Ich habe jetzt zwar Amy und Paul und Onkel Ben, und ich möchte das um nichts in der Welt aufs Spiel setzen, aber ich befürchte, dass diese Ungerechtigkeit eines Tages in mir hochkocht, dass ich dann nur noch daran denke, dass mich alles, was ich zu verlieren habe, daran hindert, frei zu sein. Mächtig zu sein. Selbst für Gerechtigkeit zu sorgen.

Amy hat mir oft erzählt, dass wir alle bald blind wären, wenn wir uns an das Prinzip »Auge um Auge« halten würden. Das stammt von Gandhi, ich weiß, und wenn man in einer guten Welt leben möchte, ist es natürlich richtig, das zu sagen. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Außerdem weiß ich leider ganz genau, dass Sonny Rawlins es nie mehr wagen würde, mich auch nur anzugucken, wenn er mal so richtig büßen müsste. Das wäre dann nicht wie damals mit den Blumen oder mit den Zigaretten oder bei all den anderen Gelegenheiten, bei denen ich mich zu wehren versuchte, immer mit der Folge, dass er mich noch stärker drangsalierte. Nein, das wäre kein kleiner, flüchtiger Sieg, sondern einer, der Sonny seine eigene Bösartigkeit spüren lassen würde – Ja, ich weiß, wie diese Blumen heißen. Wenn ich ihn so richtig büßen lassen könnte, dann würde er für immer Ruhe geben.

»Miss Winters hat angeboten, nach Sonnys Rückkehr in die Schule besonders gut achtzugeben. Ich hoffe, das gibt Evie ein besseres Gefühl«, sagt Mrs Henderson, als ich endlich wieder zuhöre, »und ich bin sehr zuversichtlich, dass ihn das zukünftig im Zaum halten wird. Gibt es noch etwas, das du ansprechen möchtest, Evie?«

Paul drückt mein Schulter. Als ich mich zu Amy umdrehe, stelle ich fest, dass sie immer noch wütend und frustriert dreinschaut.

»Nein«, sage ich. »Nichts.« Ich verschließe die Ohren vor den Abschiedsworten Mrs Hendersons.

Als wir gehen, ist der Unterricht zu Ende und wir holen nur noch meine Sachen aus der Klasse. Auf der Heimfahrt starrt Amy aus dem Fenster, und Paul trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Er hat kaum gehalten, da springt Amy schon aus dem Auto.

Paul zieht ein Gesicht und seufzt. Wir gehen in die Küche. Amy reißt Schranktüren auf, öffnet die Schubladen mit so großer Wucht, dass das Besteck klirrt. Eine Gabel fällt zu Boden, prallt ab und kullert dann mit einem Geräusch wie ein Trommelwirbel über die Fliesen, als wollte sie unbedingt in der Luft bleiben. Sobald die Gabel still daliegt, blicke ich auf und sehe, dass Amy beide Arme auf die Spüle gestemmt hat.

»Tut mir leid, Evie.« Sie klingt heiser.

»Schon gut«, flüstere ich. Schlucke und wiederhole lauter: »Schon gut.«

Amy schüttelt den Kopf, dreht sich jedoch nicht um.

Paul will sie am Arm berühren, aber sie weicht aus, zieht die Finger durch ihr Haar. »Ich weiß, dass du mich für zu nachgiebig hältst«, sagt Paul beklommen, »aber Evie schleppt auch ohne eine sinnlose Schlacht genug mit sich herum.«

»Sie wäre nicht sinnlos, Paul«, zischt Amy, die uns immer noch nicht anschaut.

»Doch«, sagt Paul, während ich einen lautlosen Schritt zur Tür tue, »das wäre sie.«

»Wir würden vielleicht nicht siegen, aber sinnlos wäre sie deshalb noch lange nicht«, flüstert Amy. Ich tue noch einen Schritt. »Manchmal muss man kämpfen, Paul. Wir können nicht immer klein beigeben.«

»Und in welche Schlacht sollten wir ziehen?«, fragt Paul abrupt. »In die kleine oder in die große? Wir könnten beide nicht gewinnen, und Evie würde sie ausfechten müssen, denn sie hätte die meiste Last damit. Welche der zwei Niederlagen wäre besser für sie?«

Ich wende mich ab und lasse sie allein. Sie verstummen, als ich nach oben gehe.

»Wir sollten unsere Kraft in Sinnvolleres stecken«, höre ich Paul sagen, als ich oben angekommen bin. »Es gibt nicht nur einen Weg zum Ziel, Amy.«

Ich mache es mir mit einem Buch im Bett gemütlich, habe jedoch kaum eine Zeile gelesen, als Amy eine Stunde später kommt, um mich zum Essen zu rufen. Ihre Augen sind rot. Wir essen schweigend, aber die Spannung, die während der ganzen Woche geherrscht hat, ist vorerst verflogen. Amy geht früh zu Bett, und Paul und ich gucken noch einen Film. Nur dass keiner von uns beiden hinschaut. Ich beobachte stattdessen Paul, der den Fernseher mit leerem Blick anstarrt, und frage mich, ob wir beide über das Gleiche nachdenken: über andere Möglichkeiten, Gerechigkeit zu erlangen, und über seine nächtlichen Abenteuer mit Onkel Ben. Und da wird mir bewusst, worin mein »aber« besteht, warum ich in der Sache mit Sonny Rawlins eher auf Pauls denn auf Amys Seite stehe. Ich finde es zwar toll, dass sie es auf meine Bitte hin tun würden, aber ich will nicht, dass Amy und Paul diese Schlacht für mich schlagen, weil sie nicht ansatzweise ahnen, wie sehr ich mich danach sehne, dass Sonny Rawlins büßt. Sie würden ihn nie dazu bringen, dass er ernsthaft bereut. Sie haben einfach nicht das Zeug dazu.

Und dafür liebe ich sie. Ich liebe sie, weil sie nicht wissen, dass Macht herrlich und schrecklich zugleich ist, und es wäre unerträglich, wenn sie diese Ahnungslosigkeit durch mich verlieren würden – das wäre zutiefst falsch. Wenn, dann hätten sie es beim Tod von Adam und Tante Minnie, Oma Florrie und Opa Peter lernen müssen, aber so war es nicht. Und jetzt darf es auch nicht dazu kommen, schon gar nicht meinetwegen. Denn wenn es geschähe, würde das bedeuten, dass Fiona und ihre Eltern Amy, Paul und Onkel Ben etwas von dem rauben würden, was die drei so anders sein lässt. Es würde bedeuten, dass die besten Menschen, die ich kenne, ein bisschen wie die schlimmsten wären.

Doch Paul begreift das nicht. Man begreift das sowieso erst, wenn alles zu spät ist.

»Was ist diese Woche nur los mit dir?«, zischt Lynne und gibt mir einen Tritt gegen den Fußknöchel, damit ich mich wieder auf die Tafel und den Quatsch konzentriere, den wir abschreiben sollen. Ich kratze mit dem Füller auf der Seite herum, denke aber weiter an letzten Freitag: die Nacht des zweiten Dunkelmonds, seit ich mir den Drachen herbeigewünscht habe.

Der Drache und ich waren zu Hause geblieben, aber ich hatte die ganze Zeit auf die Rückkehr von Paul und Onkel Ben gehorcht und war beim ersten Geräusch zum Fenster gerannt. Doch Paul war allein. Er ging direkt zur Hintertür, schloss auf und verschwand in die Küche, und das war alles.

Am nächsten Morgen beim Frühstück war er gereizt, leerte hastig den Kaffee und brach zeitig zur Arbeit auf. War er einfach nur müde oder dachte er über die möglichen Folgen seines Dunkelmond-Abenteuers nach? War er enttäuscht, weil ihr Plan nicht aufgegangen oder, schlimmer noch, weil etwas schiefgelaufen war? Ich habe das ganze Wochenende darüber nachgegrübelt und bin immer noch zu keinem Ergebnis gekommen.

Lynne gibt mir noch einen Tritt, und als ich den Kopf hebe, merke ich, dass Mrs Poole mich anstarrt. Ich blinzele kurz, bekomme einen dritten Tritt und begreife, dass mir eine Frage gestellt worden ist.

»Ich weiß nicht?«, antworte ich fragend und zucke beinahe zusammen, weil ich befürchte, Mrs Poole könnte mich etwas gefragt haben wie: »Schüler, die während des Unterrichts nicht aufpassen, müssten eigentlich in den Karzer, findest du nicht auch?« Aber Mrs Poole seufzt nur und wendet sich an Jenny.

»Bist du krank?«, flüstert Lynne. »Tut deine Rippe weh?«

Ich schüttele den Kopf, zucke mit den Schultern. »Irgendwie schon. Ein bisschen. Habe schlecht geschlafen.«

»Soll ich mit dir zur Krankenschwester gehen?«, fragt Lynne.

Ich seufze wieder. »Nein. Ist sowieso gleich Pause.«

Ich versuche, mich während der letzten zehn Minuten zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen wieder zu Paul und Onkel Ben ab. Ich weiß nur, dass Amy sauer auf Paul war, weil er so spät nach Hause gekommen war und sich dann unruhig im Bett gewälzt hatte. (Außerdem hatte er das Haus mit schmutzigen Schuhen betreten und sich so der schlimmsten aller Sünden schuldig gemacht.)

Der Tag zieht sich zäh dahin. Phee und Lynne hören schon vor dem Mittag auf, mich durch Tritte zur Aufmerksamkeit zu ermahnen, weil sie mich zu Recht als hoffnungslosen Fall einstufen. Ich rechne damit, nachmittags eine Ermahnung nach der anderen zu kassieren, aber die Lehrer setzen nur diesen sonderbar traurigen Blick auf und ignorieren meine Tagträumerei, und manche fragen, ob ich mich hinlegen möchte. Noch sonderbarer ist, dass meine Mitschüler mich wegen dieser Vorzugsbehandlung nicht triezen – niemand verliert ein Wort darüber, dass ich heute eigentlich fetten Ärger am Hals haben müsste. Stattdessen erzählen mir sechs Klassenkameraden, wie froh sie seien, dass es mir gut gehe und dass ich nicht wieder ins Krankenhaus müsse, oder etwas in der Art.

Als die Schule endlich zu Ende ist, bin ich so verwirrt darüber, dass mein Kopf schmerzt.

Phee spielt montags Tennis und kann deshalb nicht mit mir nach Hause radeln, also holt Amy mich an diesem Tag meist ab. Aber da Lynne heute zu ihrer Großmutter geht, die ganz in unserer Nähe wohnt, meinte Amy, ich solle mit ihr nach Hause gehen.

Wir haben die Schule gerade verlassen und biegen um die Ecke, da sagt Lynne zu mir: »Die Leute mögen dich. Hast du gemerkt?« Sie klingt, als würde sie ein unterbrochenes Gespräch wiederaufnehmen. »Du musst nicht immer das Schlimmste vermuten.«

»Tue ich doch gar nicht!«, wende ich ein, aber Lynne hakt sich bei mir unter und sagt: »Doch, das tust du, Evie. Kann sein, dass es unbewusst geschieht, aber du bildest dir immer ein, die Leute würden dich nicht mögen, sobald sie sich ein bisschen komisch verhalten. Du kommst nie darauf, dass sie vielleicht einfach nicht wissen, was sie sagen sollen.«

Ich würde gern fragen: »Wozu?«, halte aber den Mund.

Vor unserem Tor überrascht mich Lynne mit einer Umarmung. Sie drückt mich fest und streicht über meinen Hinterkopf, und bevor ich ihre Umarmung erwidern oder ihr hinterherrufen kann: »Bis morgen!«, ist sie schon auf und davon. Ich schaue ihr nach, als sie in die Straße einbiegt, in der ihre Großmutter wohnt, und wünsche mir wider besseres Wissen, dass sie sich noch einmal zu mir umdreht. Sie tut es tatsächlich, wirbelt grinsend herum und winkt mir. Ich winke zurück, und dann ist sie verschwunden.

Als ich unser Haus betrete, ist Amy gerade oben beschäftigt, ruft aber ein »Hallo!«, und ich antworte, dass ich einen Tee kochen wolle. Zuerst gehe ich jedoch zum Fernseher, um die Nachrichten zu gucken, setze mich ganz vorn auf den Rand des Sofas und beuge mich gespannt vor … Aber da ist nichts, rein gar nichts, und bei den Sportnachrichten stapfe ich in die Küche und schalte wütend den Wasserkocher ein, sacke mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Anrichte und glotze grimmig den Kühlschrank an.

Vielleicht wird erst morgen darüber berichtet, rede ich mir ein. Man findet nicht immer sofort heraus, was passiert ist. Das kann Tage dauern, eine ganze Woche …

Mich schaudert, und ich stoße mich ab, hole die Becher und die Milch, fülle Zucker in ein Schälchen, tue Kekse auf einen Teller. Ich muss mein Denken ändern, denn so kann es nicht weitergehen, ich kann nicht Tag für Tag warten, hoffen und wünschen. Ich knalle den Deckel so heftig auf die Teedose, dass er eine Delle bekommt. Plötzlich kommen mir die Tränen, und ich klammere mich mit hängenden Schultern an die Anrichte, denn ich war überzeugt, fest davon überzeugt, dass Paul und Onkel Ben während des Dunkelmonds irgendetwas unternehmen würden, obwohl ich mir natürlich immer wieder eingeredet habe, dass es ebenso gut andere Gründe für ihre nächtlichen Ausflüge und jene Geheimnisse geben könnte, die sie nach Meinung Onkel Bens nicht mit Amy, wohl aber mit mir teilen könnten … All die Sorgen und die Schuldgefühle und die vielen Nächte, in denen der Drache und ich zu Hause geblieben sind – alles umsonst.

Ich stoße mich von der Anrichte ab und poltere die Treppe hinauf, knalle die Tür hinter mir zu, werfe mich auf mein Bett.

»Evie? Ist alles in Ordnung, Evie, mein Liebes?«, ruft Amy.

»Komme gleich!«, stoße ich trotz der Tränen hervor und bohre die Fingernägel in die Handfläche, damit meine Stimme nicht schwankt.

Ich höre, wie Amy die Treppe hinuntergeht, und beiße mir auf die Lippen, um nicht zu schluchzen. Ich packe den Drachen und rolle mich auf den Bauch, presse mein Gesicht in mein Kissen.

Der Drache windet sich um meinen Daumen und drückt die Schnauze gegen meine Nase. Jenseits des Tränenschleiers wabert sein Umriss wie verfliegender Dunst. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich so furchtbar fühle. Ein Teil von mir ist glücklich und erleichtert darüber, dass Paul und Onkel Ben nichts getan haben, was sie unglücklich machen würde oder böse Folgen hätte. Ein anderer Teil ist wütend, enttäuscht und fühlt sich verraten … Außerdem bin ich vor Erwartung außer Atem, obwohl ich vorhin so benommen war.

Ich zucke zusammen, als sich eine nadelspitze Klaue in meinen Finger bohrt.

Mutmaßungen sind unsinnig, sagt der Drache. Wir müssen wachsam bleiben. Wir wissen nicht, was geschehen ist oder noch geschehen wird. Wir müssen abwarten.

Der Umriss des Drachen verschwimmt wieder, und meine Verwirrung hinsichtlich der Frage, ob Paul und Onkel Ben etwas angestellt haben – und ob das gut wäre oder schlecht, schlecht, schlecht –, wird von der Angst verdrängt, dass sich der Drache vor meinen Augen auflösen könnte.

Ich bin noch da, sagt der Drache.

Ich liege zitternd und mit weit aufgerissenen Augen da, als könnte sich beim kleinsten Blinzeln herausstellen, dass es keinen Drachen gibt, sondern nur mein kleines, geschnitztes Stück Rippe.

Ich bin noch da, wiederholt der Drache.

Ich hole tief Luft und blinzele unabsichtlich.

Der Drache betrachtet mich mit festem Blick.

Ich hole noch einmal Luft. Und blinzele.

Der Atem des Drachen wärmt meine Handfläche.

Ich bin noch da, sagt der Drache wieder. Was brauchst du mehr?

Noch ein Atemzug. Noch ein Blinzeln.

Ich begegne dem Blick des Drachen.

»Nichts«, sage ich.

Der Drache lächelt.

»Evie, Schätzchen? Lynne und Phee sind da«, ruft Amy aus dem Flur.

Ich werfe das Buch weg und renne nach unten. Paul, der auf dem Sofa sitzt, hebt lächelnd den Kopf. »Bist du so wild darauf, an einem Samstagvormittag deinen in die Jahre gekommenen Eltern zu entfliehen?«

Ich umkurve lächelnd das Sofa, überhöre Amys Ermahnung, vorsichtig zu sein. Lynne und Phee stehen dick eingemummt im Flur und grinsen hochzufrieden.

»Man sehe sich dieses Grinsen an«, sagt Onkel Ben zu mir. »Das verheißt nichts Gutes. Habt ihr mit Rattengift versetzte Napfkuchen an Sonny Rawlins verfüttert und braucht jetzt Evies Hilfe, um ein tiefes Loch zu buddeln? Na, ich will das gar nicht wissen.«

Lynne rümpft die Nase.

»Wenn ich ihn um die Ecke gebracht hätte, würde ich ihn bestimmt nicht auch noch begraben«, sagt Phee.

»Genau! Glauben Sie, wir würden uns für ihn die Hände schmutzig machen?«, fragt Lynne.

»Ihr wollt ihn also in eure Garage locken und in Salzsäure auflösen?«, fragt Onkel Ben.

»Puuuh!«, sagt Lynne. »Ich habe meine Lieblingsjeans an. Die werde ich doch nicht mit Säure bekleckern.«

Amy will meine Haare glatt streichen. Ich schlage ihre Hände weg, und sie tritt seufzend zurück und versucht, ein Lächeln für meine Freundinnen aufzusetzen.

»Wir haben eine super Idee, und sie hat nichts mit Sonny Rawlins zu tun«, sagt Phee.

»Ja. Denn wir sind pro-aktiv«, fügt Lynne genüsslich hinzu.

Ich frage mich, woher sie diesen Begriff hat. Wahrscheinlich aus dem allerneuesten Lebensratgeber ihrer Mutter.

»Wir wollen es uns gut gehen lassen, anstatt seinetwegen über unser Leid nachzugrübeln.«

Amy blinzelt überrascht. »Das … das ist sehr löblich, Lynne«, sagt sie.

Phee verdreht die Augen. »Alles nur blöder Psychokram, würde mein Dad sagen.« Lynne stößt sie mit dem Ellbogen an. »Aber Spaß tut immer gut. Und deshalb nehmen wir Evie mit. Denn wird sind die treuesten Freundinnen auf der Welt.«

»Sie darf doch mitkommen, oder?«, fragt Lynne mit großen grünen Augen und schaut Amy seelenvoll an. »Wir passen auch ganz bestimmt auf sie auf, achten darauf, dass sie sich nicht die Hacken abläuft und dass sie sich hinsetzt und etwas Warmes trinkt und isst …«

»Meine Mum wartet draußen, um uns in die Stadt zu fahren, und sie hat gesagt, sie holt uns wieder ab, sobald wir keine Lust mehr haben. Die Sorge, dass Evie im Bus angerempelt wird, müssen Sie also auch nicht haben.«

»Ja, und wir versprechen, dass sie zum Abendessen wieder hier ist, nachdem wir …«

»Psst!«, zischt Phee. »Das soll doch eine Überraschung sein.«

»Oh«, sagt Lynne. »Jedenfalls … na ja … nach dem, was wir unternehmen wollen. Ich meine – diese Sache … Sie wird auf jeden Fall pünktlich zu Ende sein …«

»Wir bringen Evie bis achtzehn Uhr nach Hause«, unterbricht Phee sie. »Bitte, Amy.«

»Ja, bitte«, sagt Lynne wie ein Echo.

»Ich hole meine Sachen«, sage ich und bleibe kurz stehen, um Amy einen Kuss auf die Wange zu geben.

»Nicht … die Treppe … raufrennen …«, höre ich sie rufen (vollkommen vergeblich), als ich nach oben rase, um meine Lieblingsjacke zu holen; die, die ich in meinen Nächten mit dem Drachen immer trage.

Es ist ein rundum schöner Tag. Wir gehen shoppen. Onkel Ben hat mir zwei Zwanziger – zwei! – in die Tasche gesteckt, bevor wir aufgebrochen sind, und dann hat Amy mir noch einen gegeben, nur für den Fall, dass unser Magen knurrt, also gönnen wir uns doppelte Burger, Pommes frites und Zwiebelringe und futtern zum Nachtisch Schokokuchen, obwohl Lynne jammert: »Ich werde morgen irre fett sein!« Mein Hamburger ist so gigantisch, dass ich die Hälfte in eine Serviette wickele und für später einstecke. »Er ist zu lecker, um ihn zu verschmähen, aber ich brauche noch Platz für den Kuchen«, lautet mein Argument, und Phee stimmt mir grinsend zu: »Wäre eine Sünde, keinen Platz mehr dafür zu haben, vor allem bei einem Ausflug unter Mädchen. Den Kuchen darfst du nicht auslassen, und wenn wir uns nicht wenigstens ein Stück teilen, bin ich die längste Zeit deine Freundin gewesen«. Danach gehen wir ins Kino, in einen Film, den ich schon seit einer Ewigkeit sehen wollte, aber nie ernsthaft vorgeschlagen habe, weil er weder Phee noch Lynne so richtig gefällt. Wir sind high von Cola und süßem Popcorn und Lynne brummt ständig: »Ich werde ein Jahr Diät machen müssen!«, als wir das Kino verlassen und durch die Läden bummeln, um nach dem Kleid zu schauen, das Phee so super steht, das sie aber eigentlich nicht braucht, aber trotzdem …

All das haben wir natürlich schon oft getan, nur ist es wegen der Rippen längere Zeit nicht vorgekommen. Und doch ist es heute anders. Ich habe sonst gar nichts dagegen, die Dinge mitzumachen, die Phee und Lynne gefallen, und es ist auch nicht so, dass sie, wenn wir zusammen etwas unternehmen, nie tun, was ich gern tun würde … Aber heute geht es nur darum, was mir gefällt. Alles dreht sich um mich. Und das nicht, weil ich Geburtstag hätte oder dergleichen, sondern einfach nur so. Sie wollen, dass ich glücklich bin, mehr nicht.

Beide umarmen mich, als wir vor unserem Haus stehen, sie drücken mich scheinbar unbedacht, aber ich muss sie nicht daran erinnern, auf meine Rippen zu achten. Es ist ein rundum gelungener Tag. Beide winken vom Rücksitz, als sie im Auto von Phees Mutter davonfahren. Amy steht schon in der Tür, um mich zu begrüßen, und ich bleibe mitten im Vorgarten stehen, um ihr Lächeln in mich aufzunehmen.    

Ich bin froh und glücklich, und meine Rippen tun nicht weh, und die Welt ist wunderschön. Ich gehe zu einem Haus voller Menschen, die mich lieben.

Onkel Ben fordert Paul und mich zu Monopoly heraus, wir verbünden uns gegen ihn und verlieren trotzdem. Angesichts der absehbaren Niederlage steige ich aus und gehe in die Küche, um Amy beim Abendessen zu helfen. Sie öffnet eine Pappschachtel wie die für Kleenextücher, holt aber etwas heraus, das wie eine verunglückte Plastiktüte aussieht – weiß und klumpig.

»Ich wollte dich gerade rufen«, sagt sie und lacht, als ich die Dinger skeptisch anstarre. »Wegwerfhandschuhe«, erklärt sie und hebt einen am Finger hoch. »Aber wir brauchen sie nicht für das Essen. Weißt du noch, dass Dr. Barstow ein Rezept für eine Betäubungssalbe ausgestellt hat? Für den Fall, dass deine Wunde nach dem Verheilen noch wehtut? Ich habe sie heute Nachmittag abgeholt, und der Apotheker meinte, dass wir Handschuhe brauchen, sonst bekommen wir schon durchs Einreiben taube Finger.«

Ich nehme den Beipackzettel zur Hand, den Amy auf die Anrichte gelegt hat. Capsaicinsalbe, lese ich und frage mich, wie man das ausspricht. »Sie wird angeblich aus echten Chilischoten hergestellt.«

Amy drückt ein Tröpfchen auf meine Fingerspitze. »Aber nicht direkt auf der Narbe auftragen«, warnt sie mich, und wir beißen uns beide auf die Unterlippe, während ich die Salbe auf meiner Haut verteile. Dafür, dass sie aus Chilis besteht, finde ich sie viel zu weiß, und wir tauschen einen skeptischen Blick, als ich mein Top wieder runterziehe. Danach will ich den Handschuh in der Spüle abwaschen.

»Einfach wegwerfen, Liebes«, sagt Amy. »Es ist eine Hunderterpackung. Wir können also jedes Mal neue nehmen.«

»Laut des Beipackzettels muss ich sie ›zwei- bis dreimal pro Tag‹ auftragen. Morgens mache ich es hier in der Küche, aber darf ich ein Paar Handschuhe mitnehmen, damit ich sie abends oben auftragen kann?«, frage ich und dehne einen neuen Handschuh.

»Wenn du dich vorsiehst«, sagt Amy.

Ich bringe Salbe und Handschuhe nach oben, und als ich wieder unten bin, duftet alles köstlich nach Ingwer, Knoblauch und Frühlingszwiebeln.

»Kannst du das Zitronengras klopfen?«, fragt Amy, die im Kochbuch nachliest, während sie mir die Packung reicht.

Ich nehme den Fleischklopfer und haue ordentlich drauflos, atme den frischen Zitronenduft ein, während ich die Stängel zu Brei schlage (wenn mich ein Rezept dazu einlädt, etwas kurz und klein zu schlagen, dann tue ich das gründlich).

»Das reicht wohl, Liebes«, sagt Amy, als sie den Matsch auf dem Hackbrett erblickt.

Sie klingt, als wollte sie eigentlich fragen, ob mich etwas belastet, und normalerweise würde ich lächelnd die Augen verdrehen. Aber heute lenke ich sie ab. Ich war noch nicht fertig mit dem Zitronengras, und ich habe nicht die Absicht, über das zu sprechen, was mich tatsächlich beschäftigt.

»Miss Winters hat mich gebeten, über Ziele nachzudenken«, sage ich, bevor Amy den Mund öffnen kann.

Amy lächelt erleichtert und schneidet weiter, aber immer, wenn der Fleischklopfer auf das Hackbrett knallt, zuckt ihr Blick zu mir. »Und? Ist dir etwas eingefallen?«

Ich zucke mit den Schultern, sinke gegen die Anrichte und zupfe Korianderblätter von den Stängeln. »Heute war ein super Tag. Wäre es ein Ziel, wenn ich mir wünschte, immer gute Freunde zu haben, die so etwas für mich tun?«

Amy lächelt. »Das wäre ein sehr weises Ziel, Evie.«

Ich ziehe die Nase kraus und verbeiße mir eine schnodderige Bemerkung. »Ich bin echt glücklich«, sage ich. »Ich habe dich und Paul und Onkel Ben … und Phee und Lynne. Und letzte Woche habe ich die beste Geschichtsarbeit geschrieben, und das einzige Fach, in dem ich schlecht bin, ist Handarbeit, aber das ist mir egal, zumal das für den Abschluss nicht zählt. Mir fallen keine Ziele ein – ich möchte einfach, dass alles beim Alten bleibt … Bis die Schule zu Ende ist, meine ich. Aber jetzt … im Moment ist alles bestens, verstehst du? Ich bin wunschlos glücklich.«

Amy hat aufgehört zu hacken. Ich betrachte ihre Hände, denn ich ahne, wie sie gerade guckt, und es wäre mir zu peinlich, sie anzuschauen.

»Ich liebe dich so sehr, Evie«, sagt Amy, denn Amy sagt solche Sachen. Ganz direkt. Unverblümt.

Ich starre die Pilze an, die sie gerade fertig geschnitten hat. »Ich weiß«, sage ich, denn Amy versteht, was ich damit meine.

»Vielleicht sollte ich trotzdem ein brennendes Verlangen nach einem Sportwagen entwickeln«, sage ich. »Damit ich Miss Winters etwas erzählen kann.«

Amy lacht und wendet sich dem Pak Choi zu.

Wir müssen etwas erledigen, sagt der Drache, als ich im Dunkeln die Augen aufschlage.

Ich falle fast aus dem Bett, weil er so drängend klingt, und in der Eile komme ich auf der Gartenmauer ins Stolpern. Ich falle auf ein Knie, kralle meine Finger in die Mauerfugen, versuche schwankend, das Gleichgewicht zu halten. Der Drache zischelt aufgebracht. Ich hocke da, obwohl ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr abrutschen kann, und warte keuchend ab, bis sich mein Herzschlag beruhigt hat. Als ich langsam aufstehe, spüre ich den bebenden Nachhall des Adrenalinstoßes. Dann lasse ich mich vorsichtig auf den Boden hinab.

Wir gehen schweigend durch den Wald und auf dem Treidelpfad bis zur Straße.

Die Nacht ist bewölkt, die Luft taufeucht. Wegen des Laubs sind die Bürgersteige gefährlich glitschig.

»Wohin gehen wir?«, flüstere ich. »In dieser Richtung gibt es nichts. Nur Häuser.«

Der Drache schweigt.

Wir biegen in eine Gasse ein und erreichen einen Pfad, der hinter Reihenhäusern verläuft. Als der Drache auf meinem Arm nach oben zu krabbeln beginnt, bleibe ich stehen und erblicke einen gepflegten Garten mit akkurat angelegten Blumenbeeten und gestutzten Sträuchern, und dort, an einer Wand, lehnt achtlos das nagelneue, supercoole Mountainbike von Sonny Rawlins.

Er hat es am Fallrohr angeschlossen – wirklich! Als ob das jemanden abhalten würde. Ich schließe mein Fahrrad nie an, aber es steht auch im Garten, zwischen Zaun und Schuppen, und wird von den Bäumen verdeckt, und deshalb kann man es nicht sehen. Sonny Rawlins stellt sein Fahrrad natürlich so hin, dass jeder es bewundern kann. Ist ja klar.

»Was tun wir hier?«, zische ich den Drachen an, der sich auf meiner Handfläche niederlässt wie auf einem Thron.

Du hast Fleisch in der Tasche, sagt der Drache.

Ich betrachte verständnislos sein selbstzufriedenes Gesicht.

Hol das Fleisch heraus, sagt der Drache streng.

Ich fasse erst in die linke, dann in die rechte Tasche. Endlich begreife ich, was der Drache meint: den halb aufgegessenen Hamburger, den ich gestern eingesteckt habe.

Ich hole ihn verdutzt heraus, frage mich, ob Drachen ebenso gern Hamburger essen wie Menschen. Das würde mich überraschen. Beim Anblick des grau angelaufenen Fleisches im labberigen Brötchen verziehe ich das Gesicht. Ich versuche, die Serviette mit einer Hand abzupulen, weil ich den Drachen nicht stören will, der es sich auf meiner anderen Hand gemütlich gemacht hat. Doch er springt auf die Hand mit dem Hamburger … und packt das kalte Fleisch mit den Klauen und beschmiert seine Hinterläufe und den Schwanz damit.

Du kannst mir später beim Waschen helfen, lässt der Drache mich wissen, und er klingt angewidert.

Ich starre ihn ungläubig an.

Steck den Rest wieder ein.

Der Drache kauert sich auf die Hinterbeine wie eine Katze vor dem Sprung. Dann saust er durch die Luft und landet genau auf dem Hinterreifen von Sonny Rawlins’ Fahrrad.

Ich stehe wie erstarrt vor der Gartenpforte. Ich wage weder, den Drachen zurückzurufen, noch traue ich mich, über die Pforte zu klettern und zu ihm zu gehen.

Der Drache dreht sich zu mir um, betrachtet mich feierlich und mit stolz geschwellter Brust. Dann lächelt er so breit, dass seine nadelspitzen Zähne blitzen … und schlägt sie in den Reifen. Und wieder. Und wieder. Und auch noch in den Vorderreifen. Danach springt er auf die Lenkstange, seine messerscharfen Krallen klackern über das Metall, zerkratzen den Lack. Dann schlägt er die Zähne in den Bremsschlauch. Zu guter Letzt klettert er auf die Gangschaltung und fummelt in einer der kleinen Öffnungen herum.

»Rasch, rasch … Hauen wir ab. Los, hauen wir ab«, sage ich flüstend zu mir selbst, und mein Puls geht so schnell, dass ich mich an der Pforte festhalten muss, um nicht umzufallen.

Schließlich zieht der Drache die Klauen aus dem Kasten mit der Gangschaltung und versenkt seine Zähne in einem Kabel, das er herausgezogen hat. Mir ist nicht bewusst, dass er fertig ist, da saust er schon wieder auf mich zu.

Doch er ändert mitten im Sprung die Richtung und landet auf einem schwarzen Müllbeutel, der neben der Mülltonne liegt. Ich schaue zu, wie der Drache das Plastik aufreißt, reißt und reißt, bis der Boden von schwarzen Plastikfetzen und Abfall bedeckt ist.

Endlich springt er wieder zu mir. Ich strecke ihm eine Hand hin. Sobald ich seine Klauen auf den Fingerspitzen fühle, nehme ich die Beine in die Hand und renne zur Gasse und von dort auf die Straße, muss aber nach nicht einmal hundert Schritten anhalten. Ich biege in eine andere Gasse ein und schnappe nach Luft. Der Drache krabbelt auf meine Schulter, während ich eine Faust gegen die Brust drücke und versuche, flacher zu atmen. Auf einmal habe ich Magensäure im Mund und kämpfe hustend und spuckend gegen den Brechreiz an.

Warum so eilig?, fragt der Drache gelassen. Du hast keinen Grund, so zu rennen. Auch das gehört zu unserem Vertrag. Ich werde dich nie in Gefahr bringen.

Ich würde gern fragen, welchen Vertrag der Drache meint, denn ich kann mich nicht erinnern, etwas unterschrieben zu haben, aber dann bekomme ich meine Übelkeit endlich in den Griff und halte den Mund, um sie nicht wieder heraufzubeschwören.

Wir gehen zum Fluss, sagt der Drache. Diese Unternehmung war überaus erfolgreich. Nun musst du dich beruhigen, damit du gut schlafen kannst.

Fledermäuse sind unterwegs: Sie flitzen schemenhaft und so schnell wie Schwalben über dem Ufer hin und her. Wir sitzen auf der Kante der kaputten Mauer, ganz in der Nähe unseres Hauses, und betrachten das träge Wasser des Kanals. Plötzlich kommt Hektik unter den Fledermäusen auf, und sie schießen davon.

Auf dem anderen Ufer taucht ein Fuchs aus dem Schilf auf. Er dreht sich zu mir um, und ich bilde mir ein, dass er mir zuzwinkert. Vielleicht würde er sogar grinsen, aber er hat eine traurige, kleine Wühlmaus im Maul. Dann trottet er in das Brombeergestrüpp.

Siehst du?, sagt der Drache. Wer weise jagt, der muss nicht rennen.

»Füchse müssen sowieso nicht wegrennen«, erwidere ich und reibe mürrisch meine schmerzende Brust. »Denn sie sind viel größer und stärker als alle anderen Tiere am Fluss.«

Das würde einem Fuchs nicht helfen, wenn er hinterrücks von einem wütenden Nerz angegriffen werden würde. Nerze sind nicht sehr groß, aber sowohl wild als auch gerissen. Sie jagen planvoll und verfolgen geduldig ihre Beute. Sie sind zu allem entschlossen.

»Hätte ich verhindern müssen, dass du dich für mich an Sonny Rawlins rächst?«, frage ich seufzend.

Der Drache drückt seine Klauen in meinen Oberschenkel. Nein!

Das klingt weder nach Ausruf noch Einwand, und es ist auch kein Schrei, aber es schwingt etwas Leidenschaftliches und Unbedingtes darin mit.

Ich betrachte die Augen des Drachen, die den nächtlichen Nebel über dem Fluss reflektieren. Im Schwarz der großen Pupillen scheinen sich Schlieren zu bilden wie bei Öl auf dunklem Wasser.

Ich bin dein Beschützer, sagt der Drache. Das ist der Kern unseres Vertrags. Ich bin bei dir, damit du wieder frei sein kannst.

Ich reibe meine Nasenwurzel. Nachdem ich so gerannt bin, habe ich auf einmal schreckliche Kopfschmerzen. »Keine Ahnung, was du da redest. Welcher Vertrag? Frei wovon?«, fauche ich.

Du hast mich herbeigewünscht, sagt der Drache. Und indem du mich so herbeigewünscht hast, wie ich bin, bist du einen Vertrag eingegangen – allein durch deinen Wunsch nach einem machtvollen Omen. Weder stärker noch schwächer als erforderlich.

Vermutlich ist es normal, dass Drachen in Rätseln sprechen. So wie sie alte Hamburger zum Glück doch nicht lecker finden – alles andere wäre auch ziemlich undrachenhaft. Aber dieses rätselhafte Geschwafel kann einem manchmal ziemlich auf die Nerven gehen.

»Ich verstehe dich nicht«, sage ich.

Der Drache schaut mich unverwandt an. Auch das ist Teil des Vertrags.

Ich verdrehe die Augen zum Himmel und stoße einen Seufzer aus, der zu einem Husten wird, das meine Kopfschmerzen wiederum fast bis zur Migräne steigert. »Ich gebe auf.«

Der Drache lächelt – natürlich geheimnisvoll. Wir kehren jetzt heim.

Wieder in meinem Zimmer, stopfe ich Kleider und Schuhe hinten in den Schrank und schleiche dann ins Bad. Ich helfe dem Drachen beim Waschen und suche im Anschluss das Paracetamol. Da wird leise an der Tür geklopft.

»Geht es dir gut, Evie, mein Liebes?«

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, flüstere ich, als ich die Tür öffne. »Ich habe nur Kopfschmerzen. Ich finde das Paracetamol nicht.«

Amy streicht mir die Haare aus den Augen und befühlt meine Stirn. »Du bist ja eiskalt, Evie. Geht es dir wirklich gut? Oder ist die Heizung in deinem Zimmer kaputt?«

Ich blinzele sie an. »Ich habe den Kopf kurz aus dem Fenster gesteckt«, sage ich. »Weil ich dachte, das würde die Kopfschmerzen lindern.«

»Ach, Evie«, seufzt Amy, reicht mir das Paracetamol und bugsiert mich dann wieder in mein Zimmer. »Du holst dir noch eine Lungenentzündung, und das wäre gar nicht gut.«

Während ich die Tabletten schlucke, zupft Amy an meinem Bettzeug.

»Soll die Stereoanlage ausbleiben, mein Liebes? Wegen der Kopfschmerzen?«

»Hm? Oh. Nein. Ich würde jetzt gern etwas hören«, sage ich.

Amy lächelt, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und schaltet den Kassettenrecorder ein.

Sie schließt die Tür behutsam hinter sich, und ich schaue zu, wie der Streifen Licht immer schmaler wird und schließlich erlischt. Ich rolle mich auf die andere Seite, hole den Drachen aus der Tasche und setze ihn auf den Nachttisch. Während ich versuche, mich möglichst bequem hinzulegen, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sich der Drache niederlässt und den Schwanz ordentlich über seine Füße legt. Seine Haltung verrät, dass er mir gleich eine Lektion erteilen wird, und mein Seufzen geht in ein Gähnen über.

Du musst deine Schuhe putzen, befiehlt der Drache.

»Das kann warten«, murmele ich, wobei ich ein zweites Gähnen unterdrücke, und schließe die Augen.

Nein, sagt der Drache.

Ich wende mein Gesicht ab, sinke auf das Kopfkissen.    

Nein, wiederholt der Drache. Das kann nicht warten. Nicht heute Nacht. In keiner Nacht. Du darfst nie vergessen, deine Schuhe zu putzen, außer bei Frost. Es darf keine Ausnahmen geben. Das muss so selbstverständlich geschehen wie das Atmen.

Seine Besserwisserei reizt mich zum Widerspruch. Unsere nächtlichen Abenteuer sind kein bisschen selbstverständlich. Wie sollten sie auch?

Du darfst bestimmte Dinge nie vergessen. Du musst sie sogar im Schlaf tun können.

Ich schnaube leise, denn ich fühle mich zu warm und wohlig und zu schläfrig, um meinen Unwillen laut zu äußern.

Nein, befiehlt der Drache. Du weißt genau, warum ich bei dir bin. Also los.

Ich richte mich seufzend im Bett auf und reibe müde meine Augen. »Bist du etwa bei mir, um mir zu sagen, dass ich meine Schuhe sogar im Halbschlaf putzen muss?«, frage ich genervt.

Ja, sagt der Drache. Ja, auch das gehört dazu.