Sechstes Kapitel

Nach seiner Rückkehr aus Kopenhagen machte Felix Bloch erste Notizen zu einer Arbeit über das Bremsvermögen von Atomen mit mehreren Elektronen. Zur gleichen Zeit unternahm in Marseille Laura d’Oriano erste Versuche, sich an ihre neue Rolle als Ehefrau und werdende Mutter zu gewöhnen. Rein technisch gesehen wäre es wohl möglich gewesen, dass Emil Fraunholz bei den d’Orianos über der Musikalienhandlung eingezogen wäre, auch wäre es angesichts von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit vernünftig erschienen, die Lebenshaltungskosten für das junge Paar gering zu halten und die Einkünfte zusammenzulegen. Da sie aber alle kluge Menschen waren und wussten, dass daraus auf Dauer nichts Gutes entstehen konnte, machte sich Emil an die Verwirklichung eines Plans, den er sich schon vor einer Weile für den Notfall bereitgelegt hatte. Es hatte ihm nämlich einst ein Legionär, der in seinem früheren Leben Apotheker in Grasse gewesen war und seine alte Existenz aus unbekannten Gründen überstürzt hatte ablegen müssen, die Übernahme seines Geschäfts samt Wohnung zu einem Spottpreis angeboten.

Während Emil Pläne schmiedete, wandte Laura vorsichtig ein, dass erstens Grasse ein Provinznest am Arsch der Welt sei und zweitens Emil selber, wenn sie richtig unterrichtet sei, nicht den Hauch einer Ahnung vom Apothekenwesen habe. Dagegen führte Emil ins Feld, dass erstens die Luft der Alpes Maritimes für das Baby unvergleichlich besser wäre als jene am Hafen von Marseille, und dass zweitens Grasse als Welthauptstadt der Parfümherstellung eine beliebte Destination reicher amerikanischer Touristen sei. Was schließlich drittens den Apothekerberuf betreffe, so sei dieser nun wirklich keine Hexerei; gegen Husten verkaufe man Sirolin und gegen Hühneraugen opiumhaltige Anaxa-Pflaster, bei allen schwierigeren Fällen verweise man an den Hausarzt.

Also packte das junge Ehepaar seine Habseligkeiten und ließ sich von Vater d’Oriano in einem geliehenen Fiat nach Grasse fahren, holte die Hausschlüssel des Legionärs bei dessen Mutter und bezog das neue Heim. Dort machten Laura und Emil die erstaunliche Erfahrung, dass in der Apotheke und in der darüberliegenden Wohnung sämtliche Dinge des täglichen Bedarfs derart ihren Bedürfnissen, ihrem Geschmack und ihren Maßen entsprachen, dass man hätte meinen können, sie selber seien ihre eigenen Vorgänger gewesen. Die Hausschuhe hinter der Wohnungstür passten perfekt an Emils Füße, auch der Bademantel im Schrank hatte exakt seine Größe. Laura entdeckte im Schlafzimmer auf dem Schminktisch einen neuen Kajal-Stift ihrer Marke und ihr bevorzugtes Parfüm, und neben dem Ehebett stand eine Wiege samt Kissen und Daunendecke, die nur auf ihr Baby zu warten schien.

Emil, was soll das, sagte Laura.

Nicht zu fassen, sagte er.

Ist das einer deiner Tricks?

Ich stehe vor einem Rätsel, sagte er. Hand aufs Herz, ich wundere mich genauso wie du.

Das ist nicht lustig, Emil. Ich will jetzt wissen, ob du schon mal hier gewesen bist.

Nie. Ich schwör’s.

Dann glaubte Laura ihm, denn sie wusste, dass Emil zwar ein Schlaumeier, aber kein Lügner war. Er war noch nie in Grasse gewesen, und auch den Legionär kannte er nur aus Briefen; dass dieses Haus zu ihnen passte wie angegossen, war tatsächlich der reine Zufall. In der Folge wunderten Laura und Emil sich schon gar nicht mehr, dass sie in der Apotheke zwei perfekt passende weiße Apothekermäntel vorfanden und die Regale staubfrei und bestens aufgefüllt waren, und dass auf dem Tresen ein Bericht des letzten Inventars in zweifacher Ausführung lag.

Emil brauchte nichts weiter zu tun, als am folgenden Montag um acht Uhr morgens den weißen Mantel überzustreifen und die Ladentür aufzusperren. Laura würde den Haushalt besorgen und sich um das Baby kümmern, und vielleicht würde sie gelegentlich, während das Baby schlief, in der Apotheke aushelfen. Wenn das Geschäft gut lief, würden sie ein gebrauchtes Auto kaufen und an den Wochenenden nach Cannes und Nizza fahren, und zu hohen Feiertagen auch mal nach Marseille zu Lauras Eltern und Geschwistern.

Emil rechnete fest damit, dass die Apotheke ihn und seine Familie für die Dauer der Wirtschaftskrise ernähren würde, weil die Menschen zu allen Zeiten krank wurden und immer Medikamente brauchten, an die sie glauben konnten. Aber das war ein Irrtum. Am Tag der Wiedereröffnung hatte er eine einzige Kundin, am zweiten Tag niemanden, am dritten Tag zwei. Wie es sich nämlich herausstellte, hatte die Krise erst den Tourismus zum Erliegen gebracht, die Amerikaner blieben aus; dann war auch der Parfümhandel eingebrochen, die Bürger von Grasse verdienten kein Geld mehr. Und weil sie sich das Krankwerden nicht mehr leisten konnten, blieben sie einfach gesund. Jene aber, die doch krank wurden, ließen sich nichts anmerken, weil sie das bisschen Geld, das sie noch hatten, lieber in die Metzgerei trugen als in die Apotheke. Denn der Mensch kann zur Not auch ohne Hühneraugenpflaster und Opiumtinktur leben, aber nicht ohne Rindsschnitzel.

Tagelang stand Emil allein in der Apotheke, die Klingel über der Eingangstür blieb stumm. Als er abends zusperrte, war die Kasse so leer wie am Morgen. Die Ersparnisse und das Brautgeld gingen zur Neige, Laura fand im Städtchen bald keinen Bäcker und keinen Gemüsehändler mehr, bei dem sie anschreiben lassen konnte. Zweimal schon war sie nach Marseille gefahren und hatte die Eltern um Geld gebeten. Ein drittes Mal wollte sie nicht gehen. Im April kam das Baby zur Welt. Es war ein Mädchen, das sie auf den Namen Renée tauften. Die Händler hatten nun Mitleid und gaben Laura wieder Kredit. Als sie wenige Monate später aber ein zweites Mal schwanger wurde und wieder mit rundem Bauch um Wurst und Brot anstand, machten die Gewerbetreibenden strenge Gesichter und schauten durch Laura hindurch, als ob sie Luft wäre, bis sie ein Einsehen hatte und mit leerer Tasche nach Hause lief.

Im März 1933 kam das zweite Mädchen zur Welt. Sie tauften es Anna. Laura und Emils Lage war verzweifelt, es fehlte ihnen an allem. Nachdem Laura sich einigermaßen von der Niederkunft erholt hatte, rief sie alle drei Tanzcafés in Cannes an, bat um ein Gastspiel und erniedrigte sich so weit, dass sie zur Probe in den Telefonhörer sang. Und als sie tatsächlich einen Auftritt erbettelt hatte und an einem Freitagabend im Abendkleid mit dem Omnibus wegfuhr, ließ Emil Fraunholz in einem Anfall rasender Eifersucht, die er an sich selbst zuvor nicht gekannt hatte, die beiden schlafenden Töchter allein in der Wohnung zurück, entwendete das Fahrrad eines Nachbarn und pedalte die ganzen zwanzig Kilometer hinunter nach Cannes, um Lauras Auftritt im Dunkeln zu verfolgen und ihr hinterher die schrecklichste Szene zu machen, weil sie im Scheinwerferlicht ihr Strumpfband und ihr Dekolleté hergezeigt hatte.

Dann kam der Sommer, das Leben wurde ein wenig leichter, weil Südfrankreich von Lebensmitteln überquoll. An einem Oktoberabend aber, als man schon wieder Geld für den Kohleofen brauchte, erkundigte sich Emil Fraunholz nach dem Zubettgehen vorsichtig bei seiner Gattin, ob sie sich eventuell vorstellen könnte, die Zelte in Südfrankreich vorübergehend abzubrechen und das Ende der Wirtschaftskrise auf dem Bauernhof seiner Eltern in der Schweiz abzuwarten.

Da müsstest du doch ins Militär, sagte sie schläfrig.

Die wollen mich jetzt nicht mehr, antwortete er. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder, weißt du?

Da setzte Laura sich im Bett auf und schaltete die Nachttischlampe wieder ein.

Emil, schau mich an und hör mir zu.

Ich höre.

Ich bin dir nach Grasse gefolgt, obwohl ich lieber in Marseille geblieben wäre.

Das stimmt.

Ich bleibe treu an deiner Seite in guten wie in schlechten Zeiten, wie wir es dem Pfarrer versprochen haben.

Ich weiß.

Aber was du jetzt von mir verlangst, geht zu weit. Es übersteigt meine Kräfte, hörst du, eher lasse ich mich scheiden oder erschießen wie ein Hund, als dass ich mich in deinem Bauerndorf begraben lasse.

Wie redest du denn, sagte er, das ist nicht mein Bauerndorf. Wir hätten ein Dach über dem Kopf und die Kinder hätten zu essen. Jede Menge Kartoffeln und Äpfel, und frische Milch.

Wie heißt der Ort noch mal? Bottikov?

Bottighofen. Es muss ja nicht für ewig sein. Ein Jahr oder zwei, bis die Krise vorbei ist.

Bottikov, wo liegt das, in Russland? Und was gibt’s dort, Kühe? Apfelbäume?

Der Bodensee ist schön, du wirst sehen. Die Touristen kommen von weit her.

Ich bleibe hier.

Auf immer in Südfrankreich?

Was hast du gegen Südfrankreich?

Nichts, sagte Emil.

Du hast etwas gegen Südfrankreich.

Südfrankreich ist schön, sagte Emil.

Aber?

Es gibt auch Schattenseiten, wie überall.

Zum Beispiel?

Lass gut sein.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel ist Südfrankreich der Ort, an dem kapriziöse Kellner jungen Ausländern beibringen, wie man kleine Vögel mit Messer und Gabel isst.

Und deshalb zieht es dich heim nach Bottikov?

Wenn du so willst, jawohl. Wir essen keine kleinen Vögel, dafür haben wir reichlich Kartoffeln und frische Milch.

Laura wollte nichts mehr hören, ein Umzug nach Bottighofen kam für sie nicht in Frage. Sie löschte das Licht und schlief ein, und am nächsten Morgen beim Frühstück schärfte sie Emil noch mal ein, dass er sich jeden Gedanken daran ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen solle. Und sie wäre gewiss standhaft geblieben, wenn nicht drei Tage später der Gerichtsvollzieher gekommen wäre und die Ladentür der Apotheke versiegelt hätte, und wenn nicht weitere fünf Tage später der Vermieter die Wohnung per Ende des Monats gekündigt hätte, weil sie mit der Miete ein halbes Jahr in Verzug waren.

*

Nach der Rückkehr aus Kopenhagen reichte Felix Bloch seine Habilitationsschrift ein, dann hielt er Vorlesungen über die Allgemeine Relativitätstheorie, die Quantentheorie des Magnetismus und die Absorption hochenergetischer Teilchen durch Materie. 1932 war ein fröhliches Jahr für die Naturwissenschaften, die Entdeckung des Neutrons hatte auf weiten Gebieten neue Horizonte eröffnet. In Deutschland aber neigte sich das annus mirabilis, wie die Physiker es nannten, lang vor dem Herbst dem Ende zu.

Felix Bloch bemerkte es daran, dass in der Leipziger Innenstadt immer mehr Fahnen hingen. Ständig gab es Demonstrationen und Fackelzüge, alle paar Tage floss Blut bei Prügeleien und Schießereien. An der Universität besetzten Wachtposten des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDSTB) Eingänge und Treppen und verprügelten die Zettelverteiler anderer Parteien. In den Hörsälen saßen uniformierte Studenten und machten Krawall, wenn sie den Verdacht hatten, dass der Dozent Jude sein könnte. Ein Professor für Radiophysik namens Erich Marx konnte unter dem Gejohle der Uniformierten überhaupt keine Veranstaltungen mehr abhalten und musste demissionieren. Der NSDSTB forderte die Streichung der Quantenphysik aus den Lehrplänen, weil sie jüdisches Gedankengut verbreite. Die Relativitätstheorie durfte an deutschen Universitäten bald nicht mehr gelehrt, Einsteins Name nicht mehr ausgesprochen werden. Am 10. Dezember stiegen Albert und Elsa Einstein am Berliner Lehrter Bahnhof mit sechs Koffern in den Zug nach Antwerpen, wo sie sich für die Überfahrt nach New York einschifften.

Auch Felix Bloch wurde ausgebuht, kurz vor Weihnachten musste er erstmals eine Vorlesung abbrechen. Es begann vermeintlich harmlos, indem ein uniformierter Student eine Kupfermünze zu Boden fallen ließ. Noch bevor aber das Geklimper verklungen war, fiel eine zweite Münze zu Boden und dann in rascher Folge eine fünfte, eine zehnte und eine zwanzigste, und in das Geklimper hinein klatschte ein Student dröhnend mit der flachen Hand auf den Tisch, worauf hundert Hände im Takt auf die Tische klatschten, dass es klang wie Stiefelgetrampel. Felix Bloch schrieb ungerührt weiter seine Formeln an die Wandtafel. Aber als die ersten Kupfermünzen nach vorne flogen, legte er die Kreide ab und verließ den Saal.

An jenem Tag musste Felix zur Kenntnis nehmen, dass sein Pazifismus ihm keinerlei Schutz bot vor dem blinden Hass der Irregeleiteten. Er war machtlos gegen die bösartige Dummheit und die zügellose Gewalt, die sich nicht nur in den Hörsälen der Universität, sondern auch in den Straßen von Leipzig breitgemacht hatten. Wenn er mit dem Rad in die Innenstadt fuhr, wurde er von Studenten erkannt und angepöbelt, manchmal flogen Steine. Bald nahm er nur noch die Straßenbahn und versteckte sich hinter einer Zeitung.

Der Winter ließ in jenem Jahr lang auf sich warten, es blieb bis nach Silvester zu warm. Viele Hausbesitzer glaubten schon, diesmal mit der Hälfte der üblichen Kohle auszukommen, als Mitte Januar 1933 doch noch die große Kälte Einzug hielt. Die Tauben fielen tot von den Dächern, Bäche, Abwasserkanäle und Wasserleitungen froren zu. Die Fensterscheiben der Straßenbahn waren innen und außen dicht mit Eisblumen bedeckt. Felix verpasste mehrmals sein Ziel, weil der Schaffner die Station nicht ausrief.

Um vor dem ständigen Hassgeschrei zu fliehen, fuhr er sonntags oft zur Eisbahn; die Rodelbahn war wegen Schneemangel noch geschlossen. Abends ging er, weil ihn in seiner Dachkammer fror, ins Kino. In der Alberthalle und im Königspavillon lief »Tarzans Rückkehr« mit Tom Tyler, im Capitol »Blonde Venus« mit Marlene Dietrich.

Am letzten Tag der Kältewelle demonstrierten zwanzigtausend sozialistische Arbeiter auf dem Messplatz, am folgenden Morgen brach um sieben Uhr ein heftiges Wintergewitter über Leipzig herein. Unter Blitz und Donner fielen dreißig Zentimeter Schnee, dann wurde es wärmer. Als am Nachmittag der Nationalsozialistische Studentenbund auf dem Universitätshof seine tägliche Demonstration abhielt, verwandelte sich der Schnee unter den Stiefeln der Uniformierten in grauen Matsch.

Felix Bloch muss damals schon gewusst haben, dass seine Zeit in Leipzig abgelaufen war. Nach der Reichstagswahl vom 5. März erhielt die Universität einen neuen Rektor, der zum Amtsantritt vor versammelter Belegschaft auf dem Dach seines Instituts eigenhändig die Hakenkreuzfahne aufzog. Neue Veranstaltungen wie »Blut und Boden« und »Volk ohne Raum« wurden in den Lehrplan aufgenommen. Am 21. März marschierte ein Fackelumzug mit dreihunderttausend Menschen vom Messplatz zum Augustusplatz. Schüler, Studenten, Soldaten, Arbeiter, Bürger, Bauern – alle machten mit.

Das Stampfen der Stiefel und die vieltausendstimmigen Gesänge drangen durch die Gassen bis hinaus ans Institut für theoretische Physik, wo Felix Bloch und Werner Heisenberg sie wohl hörten, aber nicht über sie redeten. Die Zeichen waren so offensichtlich und die aufziehende Katastrophe schien so unausweichlich, dass es nichts zu sagen gab. Deshalb schwiegen sie darüber, wenn sie frühmorgens gemeinsam Kaffee tranken und die Geschäfte des Tages besprachen. Sie schwiegen auch, wenn sie abends im Keller Pingpong spielten. Und als Heisenberg und seine Freunde zu Ostern 1933 für eine Woche in die bayrischen Alpen zum Skilaufen fuhren, schwiegen sie ebenfalls.

Es war schon vier Uhr nachmittags, als Heisenberg mit Niels Bohr und dessen Sohn Christian sowie von Weizsäcker und Felix Bloch an der Bahnstation Oberaudorf unweit der österreichischen Grenze aufbrach. Der Aufstieg zur Skihütte, die am Südhang des Großen Traithen auf der Steilen Alm stand, war anstrengend; im Sommer wäre er leicht in zwei oder drei Stunden zu schaffen gewesen, aber weil tags zuvor ein Meter Schnee gefallen war, würde es nun doppelt oder dreimal so lange dauern.

Der Weg führte steil bergan durch tief verschneiten Wald, das Gepäck wog schwer. Während der ersten Rast gab Heisenberg zum Besten, dass jetzt »inversives Bergsteigen« angenehm wäre, wie er es in Amerika am Grand Canyon erlebt habe. Dort komme man im Schlafwagen auf zweitausend Metern Höhe am Rande einer großen Wüstenebene an und könne bequem bis zum Colorado River absteigen, der sich praktisch auf Meeresniveau befinde; allerdings müsse man hernach auf dem Rückweg zum Schlafwagen die zweitausend Meter wieder hochklettern.

Der mühsamste Teil des Aufstiegs stand ihnen nach Anbruch der Nacht bevor, als sie eine Höhe erreichten, in welcher der Schnee keine Festigkeit mehr hatte und besorgniserregend pulvrig war. Heisenberg stapfte schweigend voran, hinter ihm folgten Niels und Christian Bohr und dann Carl Friedrich von Weizsäcker, der den Weg mit einem Windlicht beleuchtete. Den Abschluss bildete Felix Bloch, weil er der erfahrenste und ausdauerndste Berggänger war.

Die Männer keuchten, niemand sprach ein Wort. Der Aufstieg ging langsam voran, weil Bohr, der um zwanzig Jahre der Älteste war, schon ein wenig ermüdete. Kurz nach zehn Uhr hatte Heisenberg, wie er später in »Der Teil und das Ganze« schrieb, plötzlich die sonderbare Empfindung, in der Schwärze der Nacht ins Schwimmen zu geraten. Untereins war er von Schnee umgeben und hatte keine Herrschaft mehr über seine Gliedmaßen, und eine Weile konnte er nicht mehr atmen, obwohl sein Kopf oberhalb der Schneemassen blieb. Dann kam alles zur Ruhe. Heisenberg befreite sich aus dem Schnee und drehte sich nach seinen Freunden um, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er rief »Niels!« und erhielt keine Antwort. Da erschrak er, weil er annehmen musste, dass seine Freunde von der Lawine mitgerissen worden waren. Unter größter Anstrengung grub er seine Ski aus dem Schnee, spähte noch einmal in die Nacht und entdeckte weit oben am Hang ein Licht – es war von Weizsäckers Windlicht. Da begriff Heisenberg, dass die Lawine nicht die Freunde, sondern ihn mitgenommen hatte, während jene auf dem Pfad stehengeblieben waren. Rasch schnallte er sich die Ski an die Füße und stieg zu den anderen auf. Nachdem sie einander atemlos versichert hatten, dass sie alle wohlauf seien, setzten sie schweigend ihren Weg fort.

Sie erreichten die Skihütte am nächsten Morgen durch blendend weiße Schneemassen unter einem dunkelblauen Himmel. Nach dem Schrecken und den Anstrengungen der Nacht stand ihnen der Sinn noch nicht nach Skifahren, also schaufelten sie das Hüttendach frei und legten sich in die Sonne. Und als sie die Sprache wiedergefunden hatten, sprachen sie nicht etwa über den Leipziger Polizeipräsidenten, der per Dekret die »Leipziger Volkszeitung« verboten hatte, und auch nicht über die SA-Horden, die das jüdische Kaufhaus Held an der Merseburger Straße geschlossen hatten; sie sprachen nicht darüber, dass die Stadt Leipzig wenige Tage zuvor Hitler und Hindenburg das Ehrenbürgerrecht verliehen hatte, und auch nicht darüber, dass an der Universität schon acht Professoren per sofort beurlaubt worden waren.

Über all das sprachen sie nicht, weil sie sich ihrer Ohnmacht schämten, und weil es keine Worte gab, die der Katastrophe angemessen gewesen wären. So diskutierten sie stattdessen vor dem prächtigen Alpenpanorama die Frage, ob es nebst Neutronen und negativ geladenen Elektronen auch positiv geladene Anti-Teilchen geben könne, wie ihre amerikanischen Kollegen Dirac und Anderson unlängst behauptet hatten. Niels Bohr zog die jüngste Nummer der »Physical Review« aus dem Rucksack, in der eine Nebelkammerfotografie abgebildet war, die das zu beweisen schien. Zu sehen war der Kondensstreifen eines Teilchens, das in der Nebelkammer eine Bleiplatte durchschlagen und an einem starken Magneten vorbeigeflogen war. Erstaunlich an der Aufnahme war, dass der Kondensstreifen sich nicht zum Magneten hin krümmte, wie er es hätte tun müssen, wenn es sich um ein negativ geladenes Elektron gehandelt hätte, sondern sich im Gegenteil vom Magneten abwandte, was auf eine positive Ladung schließen ließ.

Darüber sprachen die fünf Männer stundenlang. Immer wieder reichten sie einander die Zeitschrift und betrachteten stirnrunzelnd die Fotografie, auf der nebst dem Kondensstreifen nichts weiter zu sehen war als vier Schraubenköpfe und die Bleiplatte in seitlicher Ansicht, und suchten nach Erklärungen für die sonderbar gekrümmte Flugbahn, bis die Sonne hinter den verschneiten Bergspitzen untergegangen war.

Dann gingen sie ins Haus. Heisenberg machte Feuer im Kanonenofen. Sie tranken Grog, pokerten im Schein der Petrollampe um Spielgeld und spielten auf einem alten Grammophon schlechte Schlagerplatten ab, und weil nach Anbruch der Nacht bissige Kälte durch die Ritzen drang, legten sie sich schon bald ohne weitere Worte auf den Strohsäcken des Nachtlagers zur Ruhe.

Am nächsten Morgen unternahmen die Männer, weil die Schneedecke sich unter der Sonne verfestigt hatte, eine Skitour, am Nachmittag vertrieben sie sich die Zeit auf dem Hüttendach mit einer weiteren physikalisch-philosophischen Diskussion; über alles andere schwiegen sie. Heisenberg sprach nicht darüber, dass er nun jede Vorlesung mit dem Hitlergruß zu eröffnen hatte. Carl Friedrich von Weizsäcker behielt für sich, dass er den Judenhass der Nazis zwar primitiv, die wiedergewonnene Hoffnung im deutschen Volk hingegen faszinierend fand; auch gab er nicht zum Besten, dass er in zwei Wochen an der Leipziger 1.-Mai-Feier teilnehmen würde, an welcher der Führer als Redner angekündigt war. Felix Bloch seinerseits schwieg darüber, dass das neue Berufsbeamtengesetz vom 7. April ihn gezwungen hatte, seine jüdischen Großeltern zu deklarieren, und er informierte die Freunde auch nicht über die Tatsache, dass er ab 1. Oktober ein Rockefeller-Stipendium von hundertfünfzig Dollar pro Monat haben und finanziell unabhängig und frei sein würde, irgendwo auf der Welt nach Belieben seine Forschung weiterzutreiben.

So vergingen die Tage. Am Ostermontag, dem 16. April 1933, waren die Ferien vorüber, die fünf schnallten die Ski an die Füße und fuhren mit ihrem Gepäck auf der kürzeren westlichen Abstiegsroute ins Tal zwischen Bayrischzell und Landl. Es war ein warmer und sonniger Tag. Der Schnee war ein bisschen karstig geworden, bot aber eine recht feste Unterlage. Unten im Tal, wo kein Schnee mehr lag, blühten die Leberblümchen zwischen den Bäumen, und die Wiesen waren übersät mit Himmelschlüsseln.

Beim Zipfelwirt ließen die Atomphysiker zwei Pferde anspannen und fuhren im offenen Bauernwagen durch den bayrischen Frühling zur nächsten Station der Oberlandbahn. Und weil sie die ganze Zeit schon kein Wort über die dunkle Nacht gesprochen hatten, die sich über Deutschland und Leipzig, über die Universität und jeden Einzelnen von ihnen gelegt hatte, redeten sie auch während der Bahnfahrt nur übers Wetter und das Aufspalten von Atomkernen und schwiegen über die unausweichliche Tatsache, dass sich ihre Wege im Münchner Hauptbahnhof trennen würden. Niels und Christian Bohr würden, weil sie dänische Staatsbürger waren, zurückkehren nach Dänemark. Heisenberg und von Weizsäcker würden, weil sie ihr Institut nicht im Stich lassen wollten, in den Zug nach Leipzig steigen, um ihre Insel der Kultur über die Zeit der Barbarei hinweg zu retten. Felix Bloch aber würde allein den Zug nach Zürich nehmen und zeitlebens keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen.

*

So geschah es, dass Emil und Laura mit den zwei Mädchen Ende Oktober 1933 zum Bahnhof gingen und über Cannes, Aix und Lyon nordwärts reisten. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie an einem jener leuchtend klaren Herbsttage in der Schweiz eingetroffen wären, an denen ein warmer Fallwind aus den Schneebergen einen letzten Hauch von Spätsommer in die Täler trägt, die Luft noch einmal voll Insektengewimmel ist und die Frauen ein letztes Mal leichte Röcke tragen. Dann hätte die Bahnreise von Genf an den Bodensee für Emil Fraunholz zur Triumphfahrt werden können, weil er Laura das lodernde Spektakel der herbstlichen Weinberge hätte zeigen können und die Majestät des weißen Alpenbogens, der sich während der gesamten Fahrt im rechten Fenster präsentiert hätte, und vielleicht hätten sie in Zürich einen Zwischenhalt eingelegt und wären über die Bahnhofstraße an den See spaziert, hätten das Opernhaus besichtigt und wären womöglich Felix Bloch über den Weg gelaufen, der in jenen Tagen unmittelbar hinter dem eigenen Haus bei den Eltern an der Seehofstraße wohnte und seine Auswanderung nach Amerika vorbereitete, und natürlich hätten Felix Bloch und Laura d’Oriano einander keinesfalls wiedererkannt und Laura wäre mit Ehemann und Kindern zum Schauspielhaus hinaufspaziert, dann am Kunstmuseum vorbei durchs Niederdorf und zurück zum Bahnhof; vermutlich wären sie dann erst spätabends in Kreuzlingen angekommen, als der letzte Bus nach Bottighofen schon weggefahren war, und dann hätten sie die Nacht im Hotel verbracht und hätten am nächsten Morgen, weil das Wetter immer noch schön war, mit einem schmucken weißen Raddampfer eine Rundfahrt auf dem Bodensee unternommen, bevor sie mit dem Bus nach Bottighofen gefahren wären und ihre Aufwartung bei Emils Eltern gemacht hätten.

Aber so war es nicht. Es regnete während der ganzen Bahnfahrt in Strömen und der Himmel war so schwarz verhangen, dass es mitten am Nachmittag schon dunkel wurde, und dazu klatschte ein eisiger Wind das Regenwasser wie aus Eimern gegen die Fenster, weshalb Emil und Laura beim Umsteigen keinen Gedanken an touristische Lustbarkeiten verschwendeten, sondern nur darauf achtgaben, ihre Koffer und die beiden Kinder trockenzuhalten. Die Busfahrt vom Hauptbahnhof Kreuzlingen zum Postamt Bottighofen in der Abenddämmerung dauerte zwanzig Minuten, der Fußmarsch hinauf zum Hof der Eltern eine Viertelstunde.

Und dann standen sie vor dem Haus im Dunkeln. Die Koffer hatten sie im Gasthof »Zum Bären« abgestellt, auf den Armen trugen sie die schlafenden Kinder. Es hatte aufgehört zu regnen. Emil rief erst den Vater und dann die Mutter. Die Tür ging auf, die Eltern traten in Holzschuhen auf den schlammigen Vorplatz hinaus, die Mutter leuchtete ihnen mit einer Petrollampe entgegen. Es folgten ungelenke Begrüßungen und Umarmungen, die Ankömmlinge wurden ins Haus gebeten.

Die Kinder wurden bewundert und in ihre Betten gelegt, in der guten Stube standen Brot, Wurst und Käse auf dem Tisch, dazu eine Flasche Rotwein und ein Krug Milch. Der Vater hieß Laura mit ein paar französischen Brocken willkommen, die er im Militärdienst aufgeschnappt hatte. Die Mutter lächelte Laura aufmunternd zu, tätschelte ihr den Unterarm und forderte sie mit Gebärden auf, bei Speis’ und Trank herzhaft zuzugreifen.

Laura lächelte ebenfalls und ließ über Emil ausrichten, dass sie es bedaure, noch kein Wort Schweizerdeutsch zu verstehen, dann lehnte sie sich zurück und lauschte dem Gespräch der Schwiegereltern mit ihrem Sohn, den sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatten. Sie betrachtete ihre gerührten Gesichter und ihre knotigen Hände, und sie sagte sich, dass sie bei guten, friedfertigen und fleißigen Menschen angekommen sei, mit denen eine Weile in Frieden zu leben ihr nicht allzu schwerfallen dürfe.

Nach dem Essen liefen Emil und sein Vater noch einmal hinunter zum »Bären«, um die Koffer zu holen, und Laura ließ sich von der Mutter den Weg zur Toilette und zur Waschküche zeigen. Vor dem Schlafengehen räumte sie die Kleider in den Schrank mit dem festen Vorsatz, sich hier niederzulassen und nicht gleich wieder an Abreise zu denken.

In Bottighofen war es seit alters her Brauch, dass die Bauern in der letzten Oktoberwoche Vorfenster in ihre Fenster hängten und wurstförmige Kissen auf die Fensterbänke legten. Laura verstand, dass der Winter hart und lang werden würde, und dass die Fenster nun fest verriegelt waren und bis zum Frühling nicht mehr geöffnet würden.

Es war die trübste Zeit des Jahres. Die Nächte waren lang und die Tage so kurz, dass die Morgendämmerung direkt in die Abenddämmerung überging. Manchmal fiel ein wenig Schnee. Auf den Weiden standen nasse Kühe unter kahlen Apfelbäumen und ließen die Köpfe hängen. Emil machte sich nützlich, indem er mit dem Vater eine Scheune mit neuen Schindeln deckte. Laura ging der Schwiegermutter in der Küche zur Hand und unternahm, damit die Kinder an die frische Luft kamen, Spaziergänge in die Hügel über dem Dorf.

In der zweiten Woche aber gab die Schwiegermutter Laura mit freundlichen Gebärden zu verstehen, dass es draußen kalt sei und sie die Kleinen ruhig bei ihr in der Küche lassen könne, wenn sie an die frische Luft wolle. Und als Laura dann von einem langen, unbeschwerten Spaziergang zurückkehrte, bei dem sie erstmals seit langer Zeit auf nichts anderes als auf ihre eigenen Schritte hatte aufpassen müssen, fand sie in der Küche die zwei Mädchen und ihre Großmutter in einer Atmosphäre geradezu summenden Glücks vor. Als sie am nächsten Tag wiederum allein aufbrach, nahm das niemand im Haus zur Kenntnis, und so ging sie fortan immer allein spazieren und blieb so lange weg, wie es ihr gefiel.

Es gab oben bei der Ruine Liebburg eine Sitzbank, auf der Laura eine schöne Aussicht auf den Bodensee hatte, der sich bleigrau in der Ferne verlor und am deutschen Ufer mit dem Nebel verschmolz. Dort saß sie jeden Nachmittag, rauchte Zigaretten und übte die schweizerdeutschen Wörter, die ihr die Schwiegermutter mit verschämtem Stolz auf das eigensinnig-bäuerliche Idiom beigebracht hatte: Meassi, Wenziwenzoguezi, Danggenadie, Wotschau, Nüützdangge. Sie behielt die Wörter mit Leichtigkeit im Gedächtnis – und übte die helle, zarte Färbung des Thurgauer Dialekts, der den Frauen so gut stand und auch den Männern eine feminine Note gab, mit dem Fleiß einer Musikerin, die den richtigen Ton schon im Ohr hat und ehrgeizig genug ist, diesen auch präzise zu treffen.

Laura war festen Willens, in möglichst kurzer Zeit möglichst akzentfrei Schweizerdeutsch zu lernen, denn sie war in Bottighofen bei gutmütigen, liebenswerten und großherzigen Menschen angelangt. Bei ihnen wollte sie bleiben, besser konnte es ihr nirgends ergehen.

Und wenn ihr das Herz schwer wurde beim Abstieg auf dem morastigen Feldweg, beim Anblick der geduckten Bauernhäuser und der Krähen, die zwischen den Ackerfurchen umherhüpften und Saatgut herauspickten, so tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass nach Weihnachten die Tage wieder länger würden und es dann nicht mehr lange dauern würde, bis die tausend Apfelbäume, die jetzt so schwarz und scheintot an den Hängen Bottighofens standen, aufs Neue weißrosa erblühen würden.

Aber dann kam jener sonnige Morgen, an dem Laura mit einem Korb Wäsche aus der Waschküche trat, die sich einige Schritte neben dem Wohnhaus in einem kleinen Schopf befand. Von den Dächern tropfte das Schmelzwasser, auf dem Fußweg zum Vorplatz stand Emil Fraunholz und legte die linke Hand an die Wange wie einer, der eine zwar nicht sehr bedeutsame, aber unangenehme Nachricht zu überbringen hat. Laura blieb stehen und schaute ihn an.

Alles in Ordnung? fragte er.

Laura nickte.

Gehst du Wäsche aufhängen?

Wie du siehst.

Laura, hör zu. Emil rieb sich den Nacken und warf ihr einen verlegenen Seitenblick zu. Ich habe mich gefragt …

Was?

Ich habe mich gefragt, ob du bitte in Zukunft deine Wäsche nicht mehr im Vorgarten, sondern hinter dem Haus aufhängen könntest. Beim Ziegenstall.

Dort hat’s keine Wäscheleine.

Meine Mutter hat gerade eben eine gespannt.

Hinter dem Haus ist es schattig und windstill, sagte Laura. Dort trocknet die Wäsche nie.

Die dicken Sachen trocknen da nicht, da hast du recht, sagte Emil. Aber die dünnen schon.

Ich soll die dicken Sachen vor dem Haus aufhängen und die dünnen dahinter?

Nur die Unterwäsche, sagte Emil. Nur deine Unterwäsche.

Nur meine Unterwäsche?

Meine Mutter bittet dich drum.

Deine Mutter hat eine Leine eigens für mich gespannt? Für meine Unterwäsche?

Emil nickte.

Was hat sie gegen meine Unterwäsche?

Nichts, versteh das bitte nicht falsch.

Nein?

Es ist nur so, dass die Leute deine Wäsche sehen können, wenn sie im Vorgarten hängt.

Ich trage ganz normale Unterwäsche. Die ist nicht im Geringsten …

Das ist es nicht, sagte Emil.

Was ist es dann?

Die Leute können deine Wäsche sehen, das ist alles. Gib mir bitte den Korb, ich trage ihn für dich.

Laura lachte und wandte sich ab, damit er ihr den Korb nicht wegnehmen konnte.

Und die Unterwäsche deiner Mutter? Ist die etwa unsichtbar?

Das nicht. Aber man sieht ihr nicht von weitem an, wem sie gehört.

Und meiner Unterwäsche sieht man das an?

Sie leuchtet weithin in die Gegend hinaus, sagte Emil.

Das ist lächerlich, sagte Laura. Meine Unterwäsche ist fast so brav wie die deiner Mutter, ich nehme weiß Gott Rücksicht.

Darum geht’s nicht. Bitte gib mir jetzt diesen Korb.

Worum geht’s dann?

Deiner Unterwäsche sehen die Leute auf den ersten Blick an, dass sie nicht von hier ist. Es ist, als ob dein Name drauf geschrieben stände, verstehst du? Die Unterwäsche meiner Mutter hingegen ist ganz gewöhnliche hiesige Unterwäsche, deshalb sieht ihr niemand an, dass sie meiner Mutter gehört. Sie sieht genau gleich aus wie die Unterwäsche meiner Schwester. Oder die der Nachbarin.

Das stimmt allerdings, sagte Laura. Oder wie die deines Vaters.

Meine Mutter findet deine Unterwäsche übrigens sehr hübsch. Aber die Leute können nun mal sehen, dass sie dir gehört.

Es tut mir leid, dass meine Unterwäsche dir peinlich ist.

Du musst das verstehen, wir sind hier nicht in Marseille. Die Leute schauen sich unsere Wäscheleine an und merken sich genau, was da für Unterwäsche hängt. Und dann verdrehen sie sich sonntags in der Kirche die Hälse und grinsen, weil sie wissen, was du unter dem Rock anhast.

Ist das so?

Es tut mir leid.

Emil und Laura schauten einander an. Der Wäschekorb hing zwischen ihnen. Weitere Worte waren nicht nötig, beide hatten alles gesagt und alles verstanden. Emil breitete die Arme aus und hielt die Handflächen nach oben wie einer, der für eine offensichtliche Tatsache um Verständnis wirbt. Laura nickte bedächtig.

Dann gehe ich jetzt mal hinters Haus.

Am Nachmittag nahm sie ihre trockene Unterwäsche von der Leine, trug sie aufs Zimmer und packte sie in ihren alten, edlen Handkoffer zu ihren Röcken, den Toilettensachen und ihrem Reisepass. Dann trug sie den Koffer leise aus dem Haus und versteckte ihn hinter einem Stapel Brennholz.

Nach dem Abendessen brachte sie die Kinder zu Bett, versorgte den Ofen mit Kohle für die Nacht und ging noch mal aus dem Haus, um wie gewohnt im Apfelhain ein paar Schritte zu gehen und die letzte Zigarette des Tages zu rauchen. Und als sie am Brennholzstapel vorbeikam, packte sie in einer einzigen fließenden Bewegung ihren Koffer und ging ohne Hast ans Ende des Apfelhains, kletterte über den Zaun und lief am Stichbach entlang bis zur Mühle und dann hügelan. Oben bei der Ruine Liebburg angekommen, setzte sie sich auf ihre Bank, schaute zum Abschied hinunter aufs nächtlich dunkle Bottighofen und weinte um ihre zwei Töchter und um Emil Fraunholz. Sie nahm ein Taschentuch und trocknete ihre Tränen, stand auf und ging entschlossen weiter südwärts, dem nächsten Bahnhof entgegen.