III
Ich kann sagen, dass der Sommer eigentlich sehr schnell wieder an die Stelle des Sommers getreten ist. Ich wusste, dass mit dem Einsetzen der ersten Hitze sich etwas Neues für mich ereignen würde. Mein Prozess war für die letzte Sitzungsperiode des Schwurgerichts angesetzt, und diese Periode würde mit dem Monat Juni enden. Die Verhandlung wurde eröffnet, als draußen pralle Sonne schien. Mein Anwalt hatte mir versichert, sie würde nicht länger als zwei oder drei Tage dauern. «Übrigens», hatte er hinzugefügt, «hat das Gericht es eilig, weil Ihr Fall nicht der wichtigste der Sitzungsperiode ist. Gleich anschließend wird ein Vatermord verhandelt.»
Morgens um halb acht hat man mich abgeholt, und der Zellenwagen hat mich zum Gerichtsgebäude gebracht. Die beiden Gendarmen haben mich in einen kleinen Raum geführt, in dem es nach Dunkelheit roch. Wir haben uns gesetzt und in der Nähe einer Tür gewartet, hinter der Stimmen, Rufe, Stühlerücken und ein Hin- und Hergeschiebe zu hören waren, das mich an jene Feste im Viertel erinnerte, bei denen nach dem Konzert der Saal ausgeräumt wird, um tanzen zu können. Die Gendarmen haben mir gesagt, wir müssten auf das Gericht warten, und einer von ihnen hat mir eine Zigarette angeboten, die ich abgelehnt habe. Er hat mich kurz darauf gefragt, «ob ich Manschetten hätte». Ich habe verneint. Und in gewisser Hinsicht würde es mich sogar interessieren, einen Prozess mit anzusehen. Ich hätte nie in meinem Leben Gelegenheit dazu gehabt. «Ja», hat der zweite Gendarm gesagt, «aber auf die Dauer wird es langweilig.»
Nach einiger Zeit hat eine kleine Klingel im Raum geläutet. Da haben sie mir die Handschellen abgenommen. Sie haben die Tür aufgemacht und mich zur Anklagebank geführt. Der Saal war brechend voll. Trotz der Markisen drang an manchen Stellen die Sonne ein, und die Luft war schon zum Ersticken. Man hatte die Fenster geschlossen gelassen. Ich habe mich gesetzt, rechts und links von mir die Gendarmen. Im gleichen Moment habe ich eine Reihe von Gesichtern vor mir erblickt. Alle sahen mich an: Mir ist klar geworden, dass es die Geschworenen waren. Aber ich kann nicht sagen, was sie voneinander unterschied. Ich hatte nur einen Eindruck: Ich war vor einer Straßenbahnbank, und alle diese anonymen Fahrgäste belauerten den Neuankömmling, um seine lächerlichen Seiten herauszufinden. Ich weiß wohl, dass das ein alberner Gedanke war, denn hier suchten sie ja nicht nach dem Lächerlichen, sondern nach dem Verbrechen. Doch der Unterschied ist nicht groß, und das war jedenfalls der Gedanke, der mir gekommen ist.
Ich war auch ein bisschen betäubt von all diesen Leuten in diesem geschlossenen Saal. Ich habe wieder in den Zuhörerraum geschaut und habe kein Gesicht erkannt. Ich glaube, dass mir zuerst nicht bewusst wurde, dass diese ganze Menge sich da drängelte, um mich zu sehen. Gewöhnlich kümmerten sich die Leute nicht um mich. Ich musste mich anstrengen, um zu verstehen, dass ich der Grund für diesen ganzen Trubel war. Ich habe zu dem Gendarmen gesagt: «Was für eine Menge!» Er hat geantwortet, das läge an den Zeitungen, und hat mir eine Gruppe gezeigt, die neben einem Tisch unter der Geschworenenbank herumstand. Er hat gesagt: «Da sind sie.» Ich habe gefragt: «Wer?», und er hat wiederholt: «Die Zeitungen.» Er kannte einen der Journalisten, der ihn in dem Moment gesehen hat und zu uns herüberkam. Es war ein schon älterer sympathischer Mann mit einem etwas grimassierenden Gesicht. Er hat dem Gendarmen sehr herzlich die Hand geschüttelt. Ich habe in dem Moment bemerkt, dass alle sich trafen, sich ansprachen und unterhielten wie in einem Club, wo man froh ist, unter seinesgleichen zu sein. Das erklärte mir auch meinen seltsamen Eindruck, überflüssig, so etwas wie ein Eindringling zu sein. Der Journalist allerdings hat mich lächelnd angesprochen. Er hat gesagt, er hoffte, dass alles gut für mich ausginge. Ich habe ihm gedankt, und er hat hinzugefügt: «Wissen Sie, wir haben Ihren Fall etwas aufgebauscht. Der Sommer ist die Saure-Gurken-Zeit für Zeitungen. Und nur Ihre Geschichte und die des Vatermörders taugten etwas.» Er hat mir dann in der Gruppe, aus der er gekommen war, einen kleinen Mann gezeigt, der Ähnlichkeit mit einem gemästeten Wiesel hatte, mit einer riesigen, schwarz gerahmten Brille. Er hat mir gesagt, das wäre der Sonderkorrespondent einer Pariser Zeitung. «Er ist übrigens nicht Ihretwegen gekommen. Aber da er über den Prozess des Vatermörders berichten soll, hat man ihn gebeten, Ihren Fall gleich mitzukabeln.» Da hätte ich ihm beinah wieder gedankt. Aber ich habe gedacht, das wäre lächerlich. Er hat mir herzlich zugewinkt und ist gegangen. Wir haben noch ein paar Minuten gewartet.
Mein Anwalt, in Robe, ist, von vielen anderen Kollegen umringt, eingetroffen. Er ist zu den Journalisten gegangen, hat Hände geschüttelt. Sie haben gescherzt, gelacht und wirkten ganz unbekümmert, bis zu dem Moment, als die Klingel im Gerichtssaal geläutet hat. Alle haben sich wieder zu ihrem Platz begeben. Mein Anwalt ist zu mir herübergekommen, hat mir die Hand gedrückt und mir geraten, auf die Fragen, die man mir stellen würde, kurz zu antworten, keine Initiativen zu ergreifen und mich bei allem Übrigen auf ihn zu verlassen.
Zu meiner Linken habe ich das Scharren eines Stuhls gehört, der zurückgeschoben wurde, und habe einen großen, schlanken, rotgekleideten Mann mit einem Kneifer gesehen, der beim Hinsetzen seine Robe sorgfältig glatt strich. Das war der Staatsanwalt. Ein Gerichtsdiener hat das Gericht angekündigt. Im gleichen Moment haben zwei große Ventilatoren angefangen zu brummen. Drei Richter, zwei in Schwarz, der dritte in Rot, sind mit Akten hereingekommen und sehr schnell auf das Podium gegangen, das den Saal beherrschte. Der Mann in der roten Robe hat sich auf den mittleren Armstuhl gesetzt, hat sein Barett vor sich hingelegt, seinen kleinen kahlen Schädel mit einem Taschentuch abgewischt und erklärt, die Sitzung wäre eröffnet.
Die Journalisten hielten schon ihren Stift in der Hand. Sie machten alle dasselbe gleichgültige und ein wenig spöttische Gesicht. Einer von ihnen allerdings, sehr viel jünger, in grauem Flanell mit blauem Schlips, hatte seinen Stift vor sich liegen lassen und sah mich an. In seinem etwas unregelmäßigen Gesicht sah ich nur seine sehr hellen Augen, die mich aufmerksam musterten, ohne etwas Bestimmbares auszudrücken. Und ich hatte das sonderbare Gefühl, von mir selbst angesehen zu werden. Vielleicht deswegen und auch, weil ich die dortigen Gepflogenheiten nicht kannte, habe ich alles, was danach geschehen ist, nicht so recht verstanden: die Auslosung der Geschworenen, die Fragen, die vom Vorsitzenden an den Verteidiger, an den Staatsanwalt und an die Geschworenenbank gestellt wurden (bei jeder wandten sich die Köpfe aller Geschworenen gleichzeitig dem Gericht zu), ein schnelles Verlesen der Anklageschrift, in der ich Namen von Orten und Personen erkannte, und neue Fragen an meinen Verteidiger.
Aber der Vorsitzende hat gesagt, man müsste jetzt die Zeugen aufrufen. Der Gerichtsdiener hat Namen vorgelesen, die meine Aufmerksamkeit erregt haben. Mitten aus diesem eben noch formlosen Publikum habe ich nacheinander den Leiter und den Pförtner des Altersheims, den alten Thomas Pérez, Raymond, Masson, Salamano, Marie aufstehen und dann durch eine Seitentür verschwinden sehen. Marie hat mir ängstlich zugewinkt. Ich wunderte mich noch, dass ich sie nicht früher bemerkt hatte, als beim Aufrufen seines Namens der Letzte, Céleste, aufgestanden ist. Ich habe neben ihm die kleine Frau aus dem Restaurant wiedererkannt mit ihrer Jacke und ihrem bestimmten, entschlossenen Gesicht. Sie sah mich eindringlich an. Aber ich hatte keine Zeit nachzudenken, weil der Vorsitzende das Wort ergriffen hat. Er hat gesagt, die eigentliche Verhandlung würde gleich beginnen, und er hielte es für unnötig, das Publikum zur Ruhe zu ermahnen. Ihm zufolge war er da, um die Verhandlung einer Strafsache, die er objektiv erwägen wollte, unparteiisch zu leiten. Das von den Geschworenen gefällte Urteil würde im Geiste der Gerechtigkeit getroffen, und er würde den Saal auf jeden Fall bei der geringsten Störung räumen lassen.
Die Hitze nahm zu, und ich sah die Zuhörer im Saal sich mit Zeitungen Luft zufächeln. Das erzeugte ein ununterbrochenes leises Papierrascheln. Der Vorsitzende hat ein Zeichen gegeben, und der Gerichtsdiener hat drei Fächer aus geflochtenem Stroh gebracht, die die drei Richter gleich benutzt haben.
Mein Verhör hat sofort begonnen. Der Vorsitzende hat mich ruhig und, so schien es mir, sogar mit einer Spur Herzlichkeit befragt. Man hat mich noch einmal meine Personalien angeben lassen, und trotz meiner Gereiztheit habe ich gedacht, dass es eigentlich ganz normal war, weil es zu schlimm wäre, einen Mann anstelle eines anderen zu verurteilen. Dann hat der Vorsitzende noch einmal geschildert, was ich getan hatte, wobei er sich nach jedem dritten Satz an mich wandte und fragte: «Ist es so?» Jedes Mal habe ich geantwortet: «Ja, Herr Vorsitzender», entsprechend den Anweisungen meines Verteidigers. Das hat lange gedauert, weil der Vorsitzende viel Gründlichkeit auf seine Schilderung verwandte. Während dieser ganzen Zeit schrieben die Journalisten. Ich spürte die Blicke des jüngsten von ihnen und der roboterhaften kleinen Frau. Die Straßenbahnbank war vollständig dem Vorsitzenden zugewandt. Der hat gehustet, in seiner Akte geblättert, sich an mich gewandt und sich dabei Luft zugefächelt.
Er hat mir gesagt, er müsste jetzt Fragen anschneiden, die mit meiner Sache scheinbar nichts zu tun hätten, die sie aber vielleicht ganz unmittelbar beträfen. Ich habe verstanden, dass er wieder über Mama sprechen würde, und habe gleichzeitig gespürt, wie sehr mich das langweilte. Er hat mich gefragt, warum ich Mama ins Heim gebracht hätte. Ich habe geantwortet, weil ich nicht genug Geld gehabt hätte, um sie pflegen und behandeln zu lassen. Er hat gefragt, ob mir das persönlich schwergefallen wäre, und ich habe geantwortet, sowohl Mama wie ich hätten nichts mehr voneinander erwartet, noch von sonst jemand übrigens, und wir hätten uns beide an unser neues Leben gewöhnt. Der Vorsitzende hat dann gesagt, er wollte diesen Punkt nicht vertiefen, und hat den Staatsanwalt gefragt, ob er mir dazu noch eine Frage stellen wollte.
Dieser kehrte mir halb den Rücken zu und hat, ohne mich anzusehen, erklärt, dass er mit Erlaubnis des Vorsitzenden gern wissen wollte, ob ich mit der Absicht, den Araber zu töten, ganz allein zu der Quelle zurückgekehrt wäre. «Nein», habe ich gesagt. «Warum war er dann bewaffnet, und warum musste er ausgerechnet an diese Stelle zurückgehen?» Ich habe gesagt, dass es Zufall war. Und der Staatsanwalt hat in ungutem Ton festgestellt: «Das wäre vorläufig alles.» Danach ist alles ein bisschen verworren gewesen, zumindest für mich. Aber nach einigem Getuschel hat der Vorsitzende erklärt, die Sitzung wäre unterbrochen und auf den Nachmittag zur Anhörung der Zeugen vertagt.
Ich habe keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Man hat mich weggeführt, in den Zellenwagen steigen lassen und ins Gefängnis gefahren, wo ich gegessen habe. Nach sehr kurzer Zeit, gerade genug, um zu merken, dass ich müde war, wurde ich wieder abgeholt; alles hat wieder angefangen, und ich habe mich in demselben Saal denselben Gesichtern gegenüber befunden. Nur die Hitze war viel größer, und wie durch ein Wunder hatten alle Geschworenen, der Staatsanwalt, mein Verteidiger und auch einige Journalisten Strohfächer. Der junge Journalist und die kleine Frau waren immer noch da. Aber sie fächelten sich keine Luft zu und sahen mich wieder an, ohne etwas zu sagen.
Ich habe mir den Schweiß vom Gesicht gewischt und bin mir erst wieder des Ortes und meiner selbst ein wenig bewusst geworden, als ich gehört habe, wie der Heimleiter aufgerufen wurde. Man hat ihn gefragt, ob Mama sich über mich beschwert hätte, und er hat ja gesagt, dass es aber eine Marotte der Heimbewohner wäre, sich über ihre Angehörigen zu beschweren. Der Vorsitzende wollte genauer wissen, ob sie es mir vorwarf, sie ins Altersheim gebracht zu haben, und der Heimleiter hat wieder bejaht. Aber diesmal hat er nichts hinzugefügt. Auf eine andere Frage hat er geantwortet, dass er sich am Tag der Beerdigung über meine Ruhe gewundert hätte. Man hat ihn gefragt, was er mit Ruhe meinte. Da hat der Heimleiter auf seine Schuhe geblickt und hat gesagt, ich hätte Mama nicht sehen wollen, ich hätte kein einziges Mal geweint, und ich wäre sofort nach der Beerdigung weggegangen, ohne an ihrem Grab in Andacht zu verweilen. Noch etwas hätte ihn gewundert: Ein Angestellter des Bestattungsinstituts hätte ihm gesagt, ich wüsste nicht, wie alt Mama war. Einen Moment hat Schweigen geherrscht, und der Vorsitzende hat ihn gefragt, ob er tatsächlich von mir gesprochen hätte. Da der Heimleiter die Frage nicht verstand, hat er gesagt: «Das Gesetz will es so.» Dann hat der Vorsitzende den Anklagevertreter gefragt, ob er noch eine Frage an den Zeugen hätte, und der Staatsanwalt hat so schallend und mit einem so triumphierenden Blick in meine Richtung «oh, nein, das genügt» gerufen, dass ich zum ersten Mal seit vielen Jahren das unsinnige Bedürfnis zu weinen hatte, weil ich gespürt habe, wie sehr ich von all diesen Leuten verabscheut wurde.
Nachdem der Vorsitzende die Geschworenen und meinen Anwalt gefragt hatte, ob sie Fragen dazu hätten, hat er den Pförtner vernommen. Bei ihm wie bei allen anderen hat sich das gleiche Zeremoniell wiederholt. Beim Hereinkommen hat der Pförtner mich angesehen und hat die Augen abgewandt. Er hat die ihm gestellten Fragen beantwortet. Er hat gesagt, ich hätte Mama nicht sehen wollen, ich hätte geraucht, geschlafen und Milchkaffee getrunken. Da habe ich etwas gespürt, was den ganzen Saal ergriff, und zum ersten Mal habe ich verstanden, dass ich schuldig war. Man hat den Pförtner die Geschichte mit dem Milchkaffee und die mit der Zigarette wiederholen lassen. Der Ankläger hat mich mit einem ironischen Leuchten in den Augen angesehen. In dem Moment hat mein Anwalt den Pförtner gefragt, ob er nicht mit mir zusammen geraucht hätte. Aber der Staatsanwalt hat heftig gegen diese Frage Einspruch erhoben: «Wer ist hier der Verbrecher, und was sind das für Methoden, die die Zeugen der Anklage verunglimpfen wollen, um Aussagen zu bagatellisieren, die nichtsdestoweniger vernichtend bleiben?» Trotz allem hat der Vorsitzende den Pförtner aufgefordert, die Frage zu beantworten. Der Alte hat verlegen gesagt: «Ich weiß, dass es ein Fehler war. Aber ich habe nicht gewagt, die Zigarette abzulehnen, die der Herr mir angeboten hat.» Zu guter Letzt hat man mich gefragt, ob ich noch etwas hinzuzufügen hätte. «Nein, nichts», habe ich geantwortet, «bloß, dass der Zeuge recht hat. Es stimmt, dass ich ihm eine Zigarette angeboten habe.» Da hat mich der Pförtner etwas erstaunt und irgendwie dankbar angesehen. Er hat gezögert, dann hat er gesagt, den Milchkaffee hätte er mir angeboten. Mein Anwalt hat laut triumphiert und hat erklärt, die Geschworenen würden es zu beurteilen wissen. Aber der Staatsanwalt hat donnernd über unsere Köpfe hinweg gesagt: «Jawohl, die Herren Geschworenen werden es zu beurteilen wissen. Und sie werden zu dem Schluss kommen, dass ein Fremder Kaffee anbieten durfte, dass ein Sohn im Angesicht des Leichnams derer, die ihm das Leben geschenkt hat, ihn aber ablehnen musste.» Der Pförtner ist zu seiner Bank zurückgegangen.
Als die Reihe an Thomas Pérez kam, musste ein Gerichtsdiener ihn bis zum Zeugenstand führen. Pérez hat gesagt, er hätte vor allem meine Mutter gekannt und hätte mich nur einmal, am Tag der Beerdigung, gesehen. Man hat ihn gefragt, was ich an jenem Tag gemacht hätte, und er hat geantwortet: «Sie müssen verstehen, ich selbst hatte zu viel Kummer. Darum habe ich nichts gesehen. Vor lauter Kummer war ich nicht in der Lage, etwas zu sehen. Und ich bin sogar ohnmächtig geworden. Darum habe ich den Herrn nicht sehen können.» Der Ankläger hat ihn gefragt, ob er mich wenigstens hätte weinen sehen. Pérez hat verneint. Da hat der Staatsanwalt seinerseits gesagt: «Die Herren Geschworenen werden es zu beurteilen wissen.» Aber mein Verteidiger ist böse geworden. Er hat Pérez in einem Ton, der mir übertrieben schien, gefragt, «ob er gesehen hätte, dass ich nicht weinte». Pérez hat «nein» gesagt. Das Publikum hat gelacht. Und mein Anwalt hat einen Ärmel hochgeschoben und kategorisch gesagt: «Das ist bezeichnend für diesen Prozess. Alles ist wahr, und nichts ist wahr!» Der Staatsanwalt machte ein verschlossenes Gesicht und stach mit einem Stift in die Aufschriften seiner Akten.
Nach einer fünfminütigen Unterbrechung, in der mein Anwalt mir sagte, alles liefe bestens, wurde Céleste vernommen, der von der Verteidigung vorgeladen war. Die Verteidigung, das war ich. Céleste warf ab und zu Blicke zu mir hinüber und drehte einen Panamahut in den Händen. Er trug den neuen Anzug, den er anhatte, wenn er manchmal sonntags mit mir zum Pferderennen ging. Aber ich glaube, er hatte seinen Kragen nicht anlegen können, denn sein Hemd wurde nur von einem Kupferknopf zusammengehalten. Er wurde gefragt, ob ich Gast bei ihm wäre, und er hat gesagt: «Ja, aber er war auch ein Freund»; was er von mir hielte, und er hat geantwortet, ich wäre ein Mann; was er damit meinte, und er hat erklärt, jeder wüsste doch, was das hieße; ob er bemerkt hätte, dass ich verschlossen war, und er hat nur eingeräumt, dass ich nicht redete, um nichts zu sagen. Der Ankläger hat ihn gefragt, ob ich regelmäßig mein Kostgeld bezahlte. Céleste hat gelacht und hat erklärt: «Das war nebensächlich zwischen uns.» Er wurde noch gefragt, was er von meinem Verbrechen hielte. Da hat er die Hände auf das Geländer gelegt, und man sah, dass er etwas vorbereitet hatte. Er hat gesagt: «Für mich ist es ein Unglück. Ein Unglück, jeder weiß, was das ist. Dagegen ist man schutzlos. Jawohl, für mich ist es ein Unglück.» Er wollte fortfahren, aber der Vorsitzende hat ihm gesagt, es wäre gut, und man dankte ihm. Da war Céleste ein bisschen verdutzt. Aber er hat erklärt, er wollte noch etwas sagen. Man hat ihn aufgefordert, sich kurz zu fassen. Er hat noch einmal wiederholt, dass es ein Unglück wäre. Und der Vorsitzende hat zu ihm gesagt: «Ja, gut. Aber wir sind da, um über solche Unglücksfälle zu urteilen. Wir danken Ihnen.» Da hat sich Céleste, als wäre er mit seinem Latein und mit seinem guten Willen am Ende, zu mir umgedreht. Mir schien, dass seine Augen schimmerten und seine Lippen zitterten. Er sah aus, als würde er mich fragen, was er noch tun könnte. Ich habe nichts gesagt, habe keine Geste gemacht, aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Lust, einen Mann zu küssen. Der Vorsitzende hat ihm noch einmal befohlen, den Zeugenstand zu verlassen. Céleste ist in den Zuhörerraum gegangen und hat sich gesetzt. Während der ganzen übrigen Sitzung hat er, etwas vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, den Panamahut in den Händen, so dagesessen und hat sich alles angehört, was gesagt wurde. Marie ist hereingekommen. Sie hatte einen Hut auf und war wieder schön. Aber mir gefiel sie mit offenem Haar besser. Von meinem Platz aus ahnte ich das leichte Gewicht ihres Busens, und mir fiel ihre immer etwas geschwollene Unterlippe wieder auf. Sie wirkte sehr nervös. Sofort hat man sie gefragt, seit wann sie mich kennen würde. Sie hat die Zeit angegeben, als sie bei uns arbeitete. Der Vorsitzende wollte wissen, welche Beziehung sie zu mir hätte. Sie hat gesagt, sie wäre meine Freundin. Auf eine andere Frage hat sie geantwortet, es stimmte, dass sie die Absicht hätte, mich zu heiraten. Der Staatsanwalt, der in einer Akte blätterte, hat sie plötzlich gefragt, seit wann wir ein Verhältnis hätten. Sie hat den Tag angegeben. Der Staatsanwalt hat mit gleichgültiger Miene bemerkt, es schiene ihm der Tag nach Mamas Tod zu sein. Dann hat er etwas ironisch gesagt, er wollte eine delikate Situation nicht breittreten, er verstände Maries Skrupel, aber (und hier wurde sein Ton härter) seine Pflicht geböte ihm, sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Er hat Marie also aufgefordert, den Tag kurz zu schildern, an dem ich sie näher kennengelernt hatte. Marie wollte nicht reden, aber angesichts der Beharrlichkeit des Staatsanwalts hat sie von unserem Bad, unserem Kinobesuch und unserer Rückkehr zu mir erzählt. Der Ankläger hat gesagt, er hätte im Anschluss an Maries Aussagen während der Ermittlung die Kinoprogramme jenes Tages durchgesehen. Er hat hinzugefügt, Marie selbst würde sagen, welcher Film damals lief. Mit fast tonloser Stimme hat sie tatsächlich angegeben, dass es ein Film mit Fernandel war. Es herrschte vollkommene Stille im Saal, als sie geendet hatte. Der Staatsanwalt hat sich dann sehr ernst erhoben, hat mit dem Zeigefinger auf mich gedeutet und mit einer Stimme, die ich für aufrichtig erschüttert hielt, langsam und deutlich gesagt: «Meine Herren Geschworenen, einen Tag nach dem Tod seiner Mutter ging dieser Mann zum Baden, begann ein ungehöriges Verhältnis und ging ins Kino, um über einen komischen Film zu lachen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.» Er hat sich, immer noch von Stille umgeben, gesetzt. Aber auf einmal hat Marie angefangen, laut zu schluchzen, hat gesagt, dass es nicht so wäre, dass es um etwas anderes ginge, dass man sie zwänge, das Gegenteil von dem zu sagen, was sie dächte, dass sie mich gut kennen würde und dass ich nichts Böses getan hätte. Aber der Gerichtsdiener hat sie auf einen Wink des Vorsitzenden hin weggeführt, und die Sitzung ging weiter.
Dann hat man so gerade eben Masson angehört, der erklärte, ich wäre ein anständiger Mensch, «und er würde sogar sagen, ein guter Kerl». Wieder so gerade eben hat man Salamano angehört, als er daran erinnerte, dass ich gut zu seinem Hund gewesen wäre, und als er eine Frage zu meiner Mutter und zu mir beantwortete, nämlich, dass ich Mama nichts mehr zu sagen gehabt hätte und sie deshalb ins Heim gebracht hätte. «Man muss das verstehen», sagte Salamano, «man muss das verstehen.» Aber niemand schien zu verstehen. Man hat ihn weggeführt.
Dann kam die Reihe an Raymond, der der letzte Zeuge war. Raymond gab mir ein kleines Zeichen und hat sofort gesagt, ich wäre unschuldig. Aber der Vorsitzende hat erklärt, man wollte von ihm keine Beurteilungen, sondern Tatsachen hören. Er hat ihn aufgefordert, Fragen abzuwarten, bevor er antwortete. Man hat ihn seine Beziehung zu dem Opfer erläutern lassen. Raymond hat dies genutzt, um zu sagen, dass das Opfer ihn hasste, seit er dessen Schwester geohrfeigt hatte. Der Vorsitzende hat ihn jedoch gefragt, ob das Opfer keinen Grund gehabt hätte, mich zu hassen. Raymond hat gesagt, meine Anwesenheit am Strand hätte sich zufällig ergeben. Der Staatsanwalt hat ihn dann gefragt, wie es käme, dass der Brief, mit dem das Drama seinen Ausgang nahm, von mir geschrieben worden war. Raymond hat geantwortet, das wäre ein Zufall. Der Staatsanwalt hat entgegnet, der Zufall hätte bei dieser Geschichte schon viele Missetaten auf dem Gewissen. Er wollte wissen, ob es Zufall gewesen wäre, dass ich nicht eingegriffen hatte, als Raymond seine Geliebte geohrfeigt hatte, Zufall, dass ich auf dem Polizeirevier als Zeuge aufgetreten war, wieder Zufall, dass meine damaligen Aussagen sich als pure Gefälligkeit erwiesen hätten. Zum Schluss hat er Raymond gefragt, was seine Existenzgrundlage wäre, und als dieser «Lagerverwalter» antwortete, hat der Ankläger den Geschworenen erklärt, es wäre allgemein bekannt, dass der Zeuge den Beruf Zuhälter ausübte. Ich wäre sein Komplize und sein Freund. Es handelte sich hier um ein abscheuliches Drama der niedrigsten Sorte, zu dem erschwerend hinzukäme, dass man es mit einem moralischen Ungeheuer zu tun hätte. Raymond wollte sich verteidigen, und mein Anwalt hat protestiert, aber man hat ihnen gesagt, sie müssten den Staatsanwalt ausreden lassen. Dieser hat gesagt: «Ich habe dem nur wenig hinzuzufügen. War er Ihr Freund?», hat er Raymond gefragt. «Ja», hat der gesagt, «er war mein Kumpel.» Der Ankläger hat mir dann dieselbe Frage gestellt, und ich habe Raymond angesehen, der die Augen nicht abgewandt hat. Ich habe «ja» geantwortet. Da hat sich der Staatsanwalt zu den Geschworenen umgedreht und hat erklärt: «Derselbe Mann, der sich einen Tag nach dem Tod seiner Mutter der schändlichsten Ausschweifung hingab, hat aus nichtigen Gründen und um eine widerliche Bettgeschichte zu regeln getötet.»
Er hat sich dann gesetzt. Aber mein Anwalt, am Ende mit seiner Geduld, hat die Arme gehoben, sodass seine herunterrutschenden Ärmel die Falten eines gestärkten Hemdes entblößten, und hat ausgerufen: «Ist er eigentlich angeklagt, seine Mutter beerdigt zu haben oder einen Menschen getötet zu haben?» Das Publikum hat gelacht. Aber der Staatsanwalt hat sich wieder erhoben, hat den Faltenwurf seiner Robe zurechtgelegt und hat erklärt, man müsste schon die Naivität des ehrenwerten Verteidigers haben, um nicht zu merken, dass es zwischen diesen beiden Tatbeständen einen tiefen, erregenden, wesentlichen Zusammenhang gäbe. «Jawohl», hat er mit Nachdruck gerufen, «ich beschuldige diesen Mann, mit dem Herzen eines Verbrechers eine Mutter beerdigt zu haben.» Diese Erklärung schien einen gewaltigen Eindruck auf das Publikum zu machen. Mein Anwalt hat die Achseln gezuckt und sich den Schweiß abgewischt, der ihm auf der Stirn stand. Aber er wirkte selbst erschüttert, und mir ist klar geworden, dass es nicht gut für mich lief.
Die Sitzung wurde geschlossen. Als ich aus dem Gerichtsgebäude herauskam, um in den Wagen zu steigen, habe ich einen kurzen Augenblick lang den Geruch und die Farbe des Sommerabends wiedererkannt. In der Dunkelheit meines rollenden Gefängnisses habe ich nacheinander, wie aus der Tiefe meiner Erschöpfung, alle vertrauten Geräusche einer Stadt wiedergefunden, die ich liebte, und einer bestimmten Stunde, in der es vorkam, dass ich mich wohlfühlte. Der Schrei der Zeitungsverkäufer in der schon weichen Luft, die letzten Vögel in der Grünanlage, der Ruf der Sandwichhändler, das Ächzen der Straßenbahnen in den hochgelegenen kurvigen Straßen der Stadt und dieses Brausen des Himmels, ehe die Nacht über dem Hafen zusammenschlägt – all das setzte eine unsichtbare Route für mich zusammen, die ich gut kannte, bevor ich ins Gefängnis kam. Ja, es war die Stunde, in der ich mich, vor langer Zeit, wohlfühlte. Dann erwartete mich immer ein leichter, traumloser Schlaf. Und doch war etwas anders geworden, denn mit dem Warten auf den nächsten Tag habe ich meine Zelle wiedergefunden. Als könnten die in den Sommerhimmel gezeichneten vertrauten Wege genauso gut ins Gefängnis wie in unschuldigen Schlaf führen.